Jennifer Jenkins

(Tacoma)

Edition und Kommentar zu K. L. Hib (Hermann Broch)
«Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur» (1918)

[Edition and Commentary of K. L. Hib (Hermann Broch)
«An Officious Busybody of Culture» (1918)
]

abstract. Edition and commentary of a rediscovered polemic from the year 1918, titled «Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur [An Officious Busybody of Culture]», published by Hermann Broch under the pseudonym K. L. Hib in Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Vol. 21, Issue 27 of July 6, 1918, pp. 433-8. The text is a biting critique of the anthropoge­ographer Erwin Hanslik (1880-1940), co-founder and director of the Institut für Kultur­wissenschaft in Vienna.

K. L. Hib – Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur

Ein Mensch, der mit 30 Jahren entdeckte, daß er einen Nabel besitzt, könnte sich nicht inniger freuen, als der Professor Erwin Hanslick [sic!][1], ausrufend: «Heureka, wir haben die Menschheit gefunden!»[2].

 

Cover of Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift
Vol. 21, Issue 27 of July 6, 1918
Image supplied by The University of Chicago Library

Dieser Professor schürft nämlich tief. Das Kardinalproblem aller Ge­schichtsphilosophie, die Frage nach der Gesetzmäßigkeit des geschichtli­chen Geschehens und nach der wissenschaftlichen Aufgabe der Ge­schichtsforschung löst er mit einem Griff. Dieser Griff ist, soviel aus den Schriften zu ersehen ist, vor allem ein biologischer und dürfte sich beiläufig mit den Milieutheorien decken: Abhängigkeit der Kulturentstehung von ge­ographischen, botanischen, klimatischen Vorbedingungen. Auf diese Art wird in 30 Tafeln gezeigt[3], wie die fünf oder richtig sechs Gesellschaftsper­sonen entstanden sind, wo die Wiegen der Menschheit geschaukelt haben, und [man] ist froh, so unbekümmert apodiktisch über diese Dinge orientiert zu werden.

Doch nicht nur die Wichtigkeit der Entdeckung empfiehlt den Entdecker selbst zu hören: «Bisher hatte [in Hansliks Originaltext: «hat», JJ] man Ge­schichte und Gesellschaftsverhältnisse immer nur oberflächlich beschreiben müssen. Seit die sechs Gesellschaftspersonen der Erde gefunden worden [«worden» steht nicht im Original, JJ] sind, drei großen der weißen, indischen und gelben Rassen [im Original: «Rasse», JJ], [434] und die drei Teilpersonen der weißen Welt, der Westen, Osten und Orient, ist es möglich, tiefer zu drin­gen und endlich Völker und Staaten zu erklären». Pedanten könnten finden, daß es nur fünf Personen sind, wenn sich von den drei großen eine in drei kleinere spaltet, aber das tut nichts zur Sache. Das Wesentliche und wissen­schaftlich Bedeutsame ist: «Erde und Seele sind die beiden Elemente, aus de­nen sich alles historische Leben national und politisch bildet. Es gibt kein drittes Element. Die Heimat und die Zeit sind die beiden Grundfaktoren im Leben der Völker» … was, da es kein drittes Element gibt, eine schließlich zu vertretende Identifikation von Seele und Zeit involviert …; «man kann Völ­ker erklären, ihr Schicksal, wie es durch ihre feste Heimat und durch den Wechsel der Zeiten gegeben ist, in seiner ganzen Gesetzmäßigkeit und Har­monie klarlegen. Nicht Willkür ist, was die Völker treibt, sondern eine unge­heure Gesetzmäßigkeit waltet in der Geschichte».

Aber diese Entdeckungen sind nur Mittel zum Zwecke. «Nicht um der Entdeckung der Bazillen willen forscht der Mediziner, er will eine Krank­heit behandeln. Ebenso der Kulturforscher. Dort handelt es sich um kör­perliche Leiden, hier um geistige, um den Völkerhaß und die Vergiftung zwischen den Nationen». Ein hohes Ziel! Aber ist derjenige, der guten Wil­lens an ein Krankenbett tritt, schon sacrosankt? Ist der Kurpfuscher ein Arzt, wenn er die Sentenz «Gesundheit ist das höchste Gut» im Munde führt?

Um es endlich zu sagen: Hier wird mit Kulturpfuschermethoden gear­beitet!

Nämlich: «Lieber Leser, Du siehst eine kleine Zeitung … sicher die kleinste Zeitung der Welt und doch soll sie alles, ein Bild der ganzen Welt bringen. Jede Angst vor dem Leben ist unbegründet. Du wirst sehen, es wird nichts Wesentliches auf den paar Seiten fehlen»[4] (die Angst vor dem Leben scheint wirklich unbegründet zu sein) «… Du bist nur ein Blatt am Baume der Menschheit und [im Original: «Du», JJ] hast 1600 Millionen Blattbrüder … und Dir Armen wird angst und bange … faß hin mit der Seele und Du umfängst alles Menschliche … Du umfängst das Gesetz und trinkst ewige Gesundheit, Glück und Klarheit. Du trinkst am Brunnen der Erkenntnis … darum heißt diese Zeitschrift “Erde”[5] und [im Original: «sie», JJ] ist eine Zeitung für Geistesarbeit …»

In dieser sicherlich nicht professoralen Sprache wird das Organ des In­stituts für Kulturforschung empfohlen. Von diesem Organ berichtet man, es habe zu bestehen aufgehört; aber – wie steht es mit dem Institut selbst?

Das Institut für Kulturforschung, aus öffentlichen oder privaten Mitteln (was immerhin zu fragen wäre[6]) errichtet, befindet sich – noch? – in Wien, I. Mölkerbastei 10, oder wie es in dem dort eben gebräuchlichen Idiom heißt, «auf den Höhen der alten Mölkerbastei, angesichts des Denkmals des tapferen Bürgermeisters Liebenberg, der gegen die Türken kämpfte, an ei­ner Stelle, [435] wo die Erde mit deutschem, slawischem und orientali­schem Blut [im Original: «in gleicher Weise», JJ] getränkt ist – extra muros, jenseits der Mauern der staatlich organisierten Wissenschaft und Kunst»[7]. Trotz dieser unzweifelhaft günstigen Lage erschien es aber auch noch not­wendig, außerdem für besonders intensive geistige Arbeit, beispielsweise für jene, bis fünf zu zählen, kurzum für Arbeit, «die unbedingt Ruhe erfordert [im Original: «Arbeiten, die unbedingt Ruhe brauchen», JJ]»[8], ein Atelier im Grünen (Grinzing) zu mieten.

Die Entdeckungen des Institutes werden mit großer Ausdrücklichkeit als wissenschaftliche bezeichnet. Allerdings besonderer Art. «Keine ge­wappneten neuen Ritter treten mit den scharfen Waffen modernster Wis­senschaft auf den Plan, mit Gasmasken zur Abwehr der giftigen Dünste der Vergangenheit, mit Maschinengewehren einer alles zerschmetternden Dia­lektik, mit den Riesengeschützen einer mächtigen wissenschaftlichen Fabrik, wie sie etwa in Paris, London, New-York [im Original: «Neuyork», JJ], Berlin, Washington und überall sonst errichtet wird. In Wien gibt es solche wissenschaftliche Fabriken nicht, am allerwenigsten ist das Insti­tut für Kulturforschung eine solche. Es soll auch nie eine solche werden»[9]. Das kann Wort für Wort unterstrichen werden. Auch die dialektische Ent­haltsamkeit ist durch die fortgesetzte Verwechslung von Singular und Plural ja sehr hübsch exemplifiziert …: welche Position ist aber in solch starker Negation enthalten?

Hier setzt die dritte Idee des Professors Hanslick ein. Beiläufig folgen­dermaßen: Mittelpunkte sind immer leer, daher nennt man Städte ohne In­dustrie Industriezentren. Wien ist die einzige Stadt ohne wissenschaftliche Fabriken – selbst Berlin muß diese Schmach (eine feine Spitze) mit der En­tente teilen –, folglich ist Wien zum geistigen Zentrum der Welt auserkoren. Positiv beweist sich aber dies in doppelter Weise: Erstens durch Gottes Fü­gung in dreierlei Offenbarung (Preisfrage: in wie vielerlei Formen wird also der Beweis erbracht?) und zwar a) indem Wien die Musikstadt Haydns, Beethovens, Mozarts, Schuberts war, b) indem Gustav Klimt hier nicht etwa Bilder gemalt hat, sondern «die bildende Weltkunst begründete»[10], c) was bescheidener Weise erst an dritter Stelle angeführt wird, indem sich in Wien, eben wegen der Industriereinheit, das Institut für Kulturforschung auftat. Diesem stringenten Beweis in dreifacher Entfaltung folgt die Über­legung: die Menschheit wäre gefunden und ist alles in allem ein übernatio­nales Gebilde. Österreich ist ebenfalls ein übernationales Gebilde, wenigs­tens seiner Idee nach, und könnte daher als Paradigma einer übernationalen Staatlichkeit gelten, was ein vollkommen akzeptabler Gedanke ist, den Ren­ner[11] in einem jedenfalls ernsten Buche[12] im Jahre 1902 systematisch darge­legt hatte. Man könnte natürlich auch auf die Schweiz hinweisen, in welcher das Prinzip der Übernationalität des Staates in ungleich glücklicherer Weise gelöst erscheint, aber immerhin wäre es möglich, daß ein derartiger Zustand auch einmal für Österreich eintreten könnte. Für Hanslick ist aber die Sache ausgemacht, umsomehr [436] als er entdeckt, daß Wien eine Ostmarkgrün-dung und daher notwendig an der Grenze zwischen seiner Ost- und West­welt, slawischem und deutschem Gebiet liegen muß. Er hat dies in einer eigenen Schrift niedergelegt[,] «Österreich als Naturforderung»[13], der Ver­trautheit mit der österreichischen Ethnographie sicherlich nicht abzuspre­chen ist. Die Zuordnung Polens, Rumäniens, Serbiens und sogar Bulgariens zum «österreichischen Raum»[14], und zwar aus geographischen Gründen, sieht zwar für den Augenblick recht annexionistisch aus, kann aber mit Hin­blick auf die Irredenta aller dieser Nationen immerhin einmal zur Ausfüh­rung kommen, wenn Österreich als ökonomisches Ganzes diesen Nationen ein föderalistisches Heim gewährt. Andererseits ist aber der Entente-Ge­danke, daß aus entgegengesetzten Gründen der Gesamtstaat eben in diese einzelnen Nationalstaaten zerfallen müsse, zumindest nicht fernerliegend. Jedenfalls dürfte es vielleicht etwas voreilig sein, gleich den kategorischen Schluß zu ziehen, daß es «Österreichs große welthistorische Aufgabe sei, die Menschheit von der Vielheit zu erlösen, ihr den Weg zur Einheit zu weisen [im Original: «zeigen», JJ]»[15], doch muß es wohl akzeptiert werden, wenn man bedenkt, daß sich daraus der weitere Schluß auf die Errichtung einer «Weltkulturgesellschaft» in dem Zentrum Wien als historische Not­wendigkeit ergibt.

Damit wäre man aber wieder in Wien, wo es sich freilich sehr fragt, was hier und jetzt geschehen solle. Aber das ist für Professor Hanslick keine Frage mehr: «Wir in Wien können nicht viel mehr machen, als mit Anspan­nung aller Kräfte neue Erkenntnisse produzieren»[16] – eine Aufgabe, die bei­spielsweise in Königsberg nie und nimmer zu leisten gewesen wäre – das übrige, «die Verbreitung und Auswirkung dieser Erkenntnisse» muß anderen überlassen werden, wo die Gründung einer Weltkulturgesellschaft unbedingt erforderlich erscheint. Daß es ein Verein werden mußte, ist nur selbstver­ständlich: das alte Österreich Kraliks[17] gipfelt in einem Veteranenverein, das neuentdeckte Hanslicks muß sich folgerichtig als Kulturverein etablieren.

Das Verfahren selbst ist von großer Einfachheit. Ebenso wie die Ent­deckungen des Institutes als Welt-Kulturwissenschaft zu gelten haben, wird alles, was in Wien geschieht oder geschehen sollte, mit dem Epitheton Welt – oder Menschheit – versehen. Es ist gleich einer von Kindern angezettelten Kulturverschwörung, bei der nun die Rollen verteilt werden sollen: Der Knabe Kokoschka[18] muß Welt-Malerei mimen, der Knabe Strnad[19] be­kommt den Welt-Menschheitstempel zu bauen, ein glücklich aufgefundener Musiker, Hauer[20], wird mit der «internationalen»[21] Musik betraut, einem, der angeblich chinesisch versteht, wird die Ostkultur in Bausch und Bogen übertragen (ob die Betreffenden von den ihnen zugeteilten Rollen nicht ein wenig überrascht sind, steht allerdings noch dahin), das Schönste aber ist, wenn die Großen mitspielen, und da jedes Spiel so tut, «als ob» es «Wirk­lichkeit» wäre, so tritt diese Struktur hier besonders deutlich zutage: ein of­fener Brief an [437] «Professor Woodrow Wilson, Präsidenten der Verei­nigten Staaten, Washington, Weißes Haus»[22], wird verfaßt, der seine Inhalt­losigkeit und wohl selbstgefühlte Lächerlichkeit durch die Präzision der Ad­resse wettzumachen sucht[23], und mit Ernsthaftigkeit wird uns mitgeteilt, daß nicht nur der k. k. Statthalter in Mähren, Exzellenz Dr. Karl Freiherr von Heinold-Udynski[24], sondern auch Major Nybläus[25] sich für die Arbeiten des Institutes interessieren; Selma Lagerlöf[26] «kennt die Arbeiten»[27] und ebenso Ellen Key[28], die «allerdings nicht im Recht [im Original: «mit ihrer Meinung», JJ] ist, daß diese Arbeit Zeit hätte»; Harry Torczyner[29] hilft wa­cker mit und dem holländischen Außenminister wurde die Sache durch un­seren Gesandten «vorgetragen», wohingegen sowohl Svante Arrhenius[30] und Sven Hedin[31] hiefür Verständnis haben. Von Huysmans[32] und Romain Rolland[33], Charles Moor[34] und Gorki[35], Bertrand Russel[l][36] (der im übrigen ein Industriesklave mit Gasmaske sein dürfte!) und Bernard Shaw[37] gar nicht zu sprechen, die zwar die Sache nicht kennen, die aber als Mitarbeiter zu haben, ja sehr erwünscht wären. Man wird ihnen offene Briefe schreiben und ihnen in Referenzen andere Mitarbeiter, die auch nicht mitarbeiten, an den Kopf werfen. Denn Hauptsache ist, – man ist ja schließlich doch in Wien – daß Namen genannt werden. Im übrigen darf man nicht ungerecht sein: es gibt wirklich Leute, die «mitarbeiten», beispielsweise Hofrat Alfred Roller[38], dessen Hofratstitel niemals vergessen wird, oder zumindest die un­ter seiner Leitung stehende Kunstgewerbeschule. Inwieferne er an den her­gestellten Mittelschulbildln – die Menschheit in Mercato[r]projektion, wo die Kultur sitzt, ist’s schraffiert – beteiligt ist, kann nicht ermessen werden: daß jedes jener primitiven Kärtchen den Vermerk: «Ausführung k. k. Kunstgewerbeschule, Wien» trägt, besagt nichts gegen die Kunstgewerbe­schule, die unter anderem auch eine Jugendklasse besitzt.

Es wäre einzuwenden, daß es heute ohnehin vielleicht schon abgebro­chene, harmlose Spielereien und Unarten wären, und daß man die Blattbrü­der als Gründer, Stifter, ordentliche, ausübende und außerordentliche Mit­glieder der Weltkultur auf ihre Fasson selig werden lassen möge. So ge­schmackvoll die revolutionäre Pose dieses Professors «mit dem anderen Forschungstrieb in der Brust»[39] auch ist, der doch über alle Maßen glücklich ist, wenn er sich auf einen k. k. Hofrat berufen kann, so könnten einem diese Dinge letzten Endes gleichgiltig bleiben und fast zu billig mag es uns dünken, sich gegen sie zu wenden[40]. Ja, besonders Wohlwollende dürften sogar sagen, daß man sich nicht gegen einen Idealisten wenden dürfe, weil er etwa weltfremd ist – denn nur das Weltfremde hat die Welt vorwärtsge­bracht –, daß es platt sei, das Pathos einer Jugend zu verhöhnen, das sich nur allzubald in das Pathos der Alterserfahrung wandle. Aber darum han­delt es sich hier gar nicht. Hier wird die Weltfremdheit des Idealisten als eine Allüre angenommen, die in gleicher Weise den Regenschirm stehen läßt, um die Wissenschaft zu markieren, und hier wird mit einer salbungs- [438] vollen Ausruferstimme das Pathos eines Weltbeglückertums mar­kiert, das jetzt die Friedenskonjunktur in der gleichen Weise ausnützt wie einst der Schlachtendichter die Kriegskonjunktur[41]. Und all dies mag noch dahin gehen: wenn man aber hört, daß die «philosophische» Basis der Ar­beiten des Institutes «das geisteswissenschaftliche System des verstorbenen Berliner Professors Wilhelm Diltheys»[42] und nicht das Berlitz’s[43] oder Le­schitzkys [sic!][44] sei, wenn man von der famosen «Entdeckung» hört, «daß alle Kultur gebunden ist an bestimmte Träger, an die größten, sozialen Ein­heiten, deren Umriß und Gestalt bisher noch nicht in dieser Klarheit erfaßt worden ist», und wenn man bedenkt, daß solch ein Kohl Dilthey in die Schuhe geschoben werden soll, dann mag man über diesen als Philosophen wie immer denken, mag überzeugt sein, daß sein System eigentlich kein Sys­tem ist, aber man wird sich verpflichtet fühlen, die Blattbrüder von den Blättern dieses wirklichen Baumes deutscher Geschichtsschreibung abzu­räumen.

Hanslick glaubt mit seiner Vereinsmeierei die Internationale des Geistes gegen die materialistische des Proletariates aufrichten zu können[45] und fühlt sich durch das Stockholmer Fiasko[46] hierin bestärkt. Wäre aber dieses noch zehnmal größer gewesen, so ist es noch immer verschwindend gegenüber dem Fiasko des Geistes, das durch Hanslick statuiert wäre, wenn überhaupt das, was er expliziert, mit Geist identisch sein soll. Gerade dies aber ist die Gefahr. Immer war es das Prärogativ der Schwätzer, vom Geiste und von der Kultur zu reden, ohne zu wissen, was darunter zu verstehen ist.

Der Göttinger Professor Johann Christian Lichtenberg[47] sagte einmal: «Wer vom Geiste schwätzt, ohne ihn definieren zu können, versündigt wi­der ihn».



[1] Erwin Hanslik (1880-1940), österreichisch-polnischer Geograph und Kulturhistoriker, Vorstand des Instituts für Kulturforschung (Wien) und Privatdozent an der Universität Wien. Hanslik wurde 1940 Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms «Aktion T4». Vgl. Erich Zöllner, «Erwin Hanslik (1880-1940). Ein deutsch-polnischer Kulturhistoriker, Anthropogeograph und Publizist, Opfer der nationalsozialistischen Euthanasieaktion». Be­richt über den achtzehnten österreichischen Historikertag in Linz, Bd. 27 (1990), 114-15; hier: 114 und Franz Smola, «Vom “Menschenbewusstsein” zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropogeograph Erwin Hanslik». Die ästhetische Gnosis der Moderne. Hrsg. Leander Kai­ser und Michael Ley. Wien: Passagen, 2008. 123-46; hier: 123-4.

[2] Erde. Organ der Weltkulturgesellschaft. Zeitung für Geistesarbeit der gesamten Menschheit, Nr. 1-2 (6. März 1918), S. 2.

[3] Erwin Hanslik, Die Menschheit in 30 Weltbildern. Bd. 6, Schriften des Instituts für Kul­turforschung. Wien: Institut für Kulturforschung, 1917.

[4] Erde, Nr. 1-2, S. 8.

[5] Erde. Organ der Weltkulturgesellschaft, Zeitung für Geistesarbeit der gesamten Menschheit. Wien: Institut für Kulturforschung (erschien 1918-19, Nr. 1-6. Vgl. Markus Flatscher und Richard Hörmann, Hrsg. Ferdinand Ebner. Tagebuch 1918. Wien: LIT Verlag, 2014. 236-7).

[6] In einem Artikel über das Institut für Kulturforschung («Bei den Kulturforschern») im Neuen Wiener Journal vom 25.12.1917 heißt es diesbezüglich: «Kein Nationalitätengegen­satz, keine politische Schranke soll [die Arbeit des Instituts für Kulturforschung] aufhalten – es ist eine ideale Arbeit, die hier gepflegt wird: die Einheit des Geistes. Und deshalb durfte die Anstalt auch kein österreichisches Staatsinstitut, keine Universitätslehrkanzel werden, mußte auf ihre Subventionen verzichten und von den 500 Mitgliedern der Kultur­gesellschaft leben» (8). Nach Franz Smola fand Hanslik «[i]n der Person des Zuckerfabri­kanten Dr. Victor Ritter von Bauer […] den notwendigen Finanzier für das Institut» («Vom “Menschenbewusstsein” zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropoge­ograph Erwin Hanslik», in Die ästhetische Gnosis der Moderne, Hrsg. Leander Kaiser und Mi­chael Ley, Wien: Passagen, 2008, 124). Bauer habe sich «von Hanslik von der Notwendig­keit der Forschungen auf [dem Gebiet der Anthropogeographie] überzeugen [lassen] und kam für etwa drei Jahre für die gesamten Kosten des Instituts auf» (125).

[7] Erde, Nr. 1-2, S. 3.

[8] Erde, Nr. 1-2, S. 5.

[9] Erde, Nr. 1-2, S. 3.

[10] Erde, Nr. 1-2, S. 4.

[11] Karl Renner (1870-1950), österreichischer sozialdemokratischer Politiker; Kanzler Österreichs (1918-20), erster Bundespräsident der 2. Republik (1945-50).

[12] Es handelt sich hier vermutlich um den von Renner unter dem Pseudonym Rudolf Springer veröffentlichten Band Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat. Band 1: Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage. Wien und Leipzig: Deuticke, 1902.

[13] Erwin Hanslik, Österreich als Naturforderung: Mit 15 Karten. Bd. 4, Schriften des Instituts für Kulturforschung. Wien: Institut für Kulturforschung, 1917.

[14] Vgl.: «Der Tscheche, Pole, Ukrainer, Slowake, Madjare, Rumäne, Slowene, Serbe, Bulgare, und Albanese, sie alle sind als Glieder der österreichischen West-Ostgemeinschaft neu aufzufassen. Wien, Budapest, Konstantinopel, Prag, Lemberg, Krakau, Warschau, Ag­ram, Belgrad, Triest, Sarajewo, Sofia und Skutari sind als Träger des werdenden österrei­chischen Geistes vorzuführen» (Hanslik, Österreich als Naturforderung 9).

[15] Erde, Nr. 1-2, S. 4.

[16] Erde, Nr. 1-2, S. 1.

[17] Richard Ritter Kralik von Meyrswalden (1852-1934), deutschnationaler, erzkatholi­scher österreichischer Schriftsteller und Kulturphilosoph.

[18] Oskar Kokoschka (1886-1980) gehörte zu den von Broch nach van Gogh am höchst­geschätzten bildenden Künstlern: «Die l’art pour l’art-Bewegung […] ist ein Klischeeismus mit logischen Krücken. Abseits von all dem stehen Erkenner, die die Kunst im Wiedersu­chen der Ursensation suchen: solch ein Mächtiger ist van Gogh; auf diesem Wege ist Ko­koschka» (Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe [im Folgenden: KW]. 13 Bde. Hrsg. Paul Michael Lützeler, Frankfurt 1974-81, hier: KW 10/1, 13); auch: «[I]m Portrait war [van Gogh] der einzige, der optische Psychologie trieb und aus seiner Gesamtanlage treiben mußte (nur Kokoschka ist hier auf dieser Linie nach ihm zu nennen)» (KW 10/2, 57). Im pseudonym veröffentlichten Aufsatz «Über die Möglichkeit des modernen Porträts» in Der Friede (Bd. 1, Nr. 19 vom 31.05.1918) schrieb Broch ferner: «[Das] Irrationale ist sowohl bei van Gogh als auch bei Kokoschka, der “Dämon”, das absolut “Nackte” des Anderen und ist erfüllt von der tiefen nackten Groteskheit des Menschlichen. Nichts aber fürchtet der Bürger mehr, als etwas und sich nackt zu sehen, und darum lehnt er hier glattwegs ab. Niemals werden van Gogh oder Kokoschka populär werden, während [Felix Albrecht] Harta und [Egon] Schiele immerhin ihren Weg machen dürften» (458). Schiele hatte phrenologische Zeichnungen für Hansliks Wesen der Menschheit (1917) geliefert.

[19] Oskar Strnad (1879-1935), österreichischer Architekt und Gründungsmitglied des Österreichischen Werkbunds.

[20] Josef Matthias Hauer (1883-1959), österreichischer Komponist, entwickelte vor Schönberg eine Variante der Zwölftonmusik.

[21] Erde, Nr. 1-2, S. 6.

[22] Erde, Nr. 1-2, S. 1.

[23] Auch andere nahmen Anstoß an diesem Schreiben, vor allem was den Adressaten betrifft: In einer Ankündigung zur ersten Nummer der Erde in Heft 19: 9/10 (1918) des Geographischen Anzeigers (Gotha) schrieben dessen Herausgeber Hermann Haack und Albert Müller: «Die Eröffnungsnummer bringt an einführender Stelle einen offenen Brief “An Professor Woodrow Wilson, Präsidenten der Vereinigten Staaten, Washing­ton, Weißes Haus”, der mit den Sätzen beginnt: “Ihre Reden, besonders die letzten, sind so getragen vom Geiste der Menschlichkeit, daß wir uns heute genötigt sehen, noch einmal das Wort an Sie zu richten. Wir haben bereits vor einem Jahre die Empfindung gehabt, daß Sie der Vertreter des [hier fehlt das im Original stehende «amerikanischen», JJ] Idealismus sind, und aus diesem Grunde haben wir die ersten Blätter der großen Aus­gabe des Menschheitswerkes in Ihre Hände gelangen lassen”. Diesen schlechten Witz, Herrn Wilson einen Vertreter des Idealismus zu nennen, wagt eine deutsche Zeitschrift ihren Lesern zu bieten noch dazu in ihrer Eröffnungsnummer und das glaubt ihr Schrift­leiter, Dr. Erwin Hanslik unbeschadet seiner Stellung als Dozent an der Wiener, also einer deutschen, Universität vertreten zu können» (212).

[24] Karl Freiherr von Heinold-Udyński (1862-1943), österreichischer Politiker.

[25] Generalmajor Gustaf Adolf Nyblæus (1853-1928), schwedischer Kavallerieinspek­tor, hatte 1882-83 im Dragoner-Regiment Nr. 4 («Erzherzog Albrecht») der österreichi­schen Armee gedient.

[26] Selma Lagerlöf (1858-1940), schwedische Schriftstellerin.

[27] Erde, Nr. 1-2, S. 6.

[28] Ellen Key (1849-1926), schwedische Reformpädagogin.

[29] Naftali Herz Tur-Sinai (1886-1973), österreichischer (später israelischer) Semitist und Bibelübersetzer.

[30] Svante August Arrhenius (1859-1927), schwedischer Physiker und Nobelpreisträger für Chemie (1903).

[31] Sven Anders Hedin (1865-1952); schwedischer Geograph und Schriftsteller.

[32] Camille Huysmans (1871-1968), belgischer sozialistischer Politiker, Premierminister Belgiens 1946-47.

[33] Romain Rolland (1866-1944), französischer Schriftsteller.

[34] Nicht eindeutig ermittelt; es könnte sich hier um den amerikanischen Urbanisten Charles Moore (1855-1942) handeln.

[35] Maxim Gorki (1868-1936), russischer Schriftsteller.

[36] Bertrand Russell (1872-1970), britischer Philosoph und Mathematiker.

[37] George Bernard Shaw (1856-1950), irischer Dramatiker.

[38] Alfred Roller (1864-1935), österreichischer Bühnenbildner; Mitbegründer der Wie­ner Sezession. Der junge Adolf Hitler war ein Bewunderer Rollers (vgl. Wolfram Pyta, Hitler: Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. München: Siedler, 2015, 50-1).

[39] Erde, Nr. 1-2, S. 3.

[40] Ähnlich drückt sich Benno Imendörffer, Mittelschullehrer und Erdkundeforscher in Wien, in seinem Verriss des Hanslikschen Projekts («Weltkultur?». Ostdeutsche Rundschau. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Kunst und Literatur, 14. März 1918, 5) aus: «Im Vorausgehenden wurde der Ton tändelnder Ironie gewählt. Der Leser fühlt aber vielleicht, daß er nur notgedrungene Maske ist. Wollte man nämlich die Entrüstung sprechen lassen, die in uns aufsteigen muß, wenn wir dieses Gemenge von, gelinde gesagt, unberechtigtem Selbstbewußtsein und Phrase, von Unklarheit und völliger Unfähigkeit, die Dinge zu se­hen, wie sie sind, von Weltfremdheit und verschwommenem Weltbürgertum, von Lehr­haftigkeit und Berauschung am eigenen Worte usw. betrachten, so wäre man genötigt, harte Worte zu gebrauchen, und die Gefahr läge nahe, einer verfehlten Sache eine Bedeu­tung zu geben, die ihr in keiner Weise zukommt».

[41] Hier klingt der Begriff der «Kollektivberauschung» an, der Jahrzehnte später in Brochs Massenwahntheorie (KW 12) theoretisch ausgearbeitet wird. In einem Brief an seinen Freund Volkmar von Zühlsdorff schrieb Broch 1948 in diesem Sinne: «[I]ch nehme, wo immer ich [Stefan] George begegne, gegen ihn Stellung. Er war für vieles in Deutschland verantwortlich, weit mehr als Nietzsche, dessen gesunde Skepsis ihm gefehlt hat. Er hat sich an Monumentalworten berauscht und damit auch die andern» (KW 13/3, 270).

[42] Erde, Nr. 1-2, S. 5. Wilhelm Dilthey (1833-1911), deutscher Philosoph.

[43] Maximilian Berlitz (1852-1921), deutsch-amerikanischer Sprachpädagoge; Gründer der «Berlitz-Methode» für den Sprachunterricht.

[44] Theodor Hermann Leschetizky (1830-1915), polnischer Pianist und Musikpädagoge; Gründer der «Leschetizky-Methode» für den Klavierunterricht. Berlitz und Leschetizky werden von Broch in diesem Zusammenhang pejorativ als Vertreter bzw. Verbreiter einer rein mechanistischen Methode zur Aneignung von Wissen genannt.

[45] Vgl. hierzu Monika Platzer: «[Hansliks] anmaßende Idee von der Schaffung einer Weltkultur unter der Führung Österreichs ist als Gegenkonzept zum Sozialismus im Sinne einer Restauration einer (monarchistischen) Donauföderation zu interpretieren» («Kinetis­mus = Pädagogik – Weltanschauung – Avantgarde», in: Kinetismus: Wien entdeckt die Avant­garde. Hrsg. Monika Platzer und Ursula Storch. Ostfildern: Hatje Cantz, 2006, 8-59; hier: 25).

[46] Mit dieser Formulierung weist Broch auf das Scheitern der sozialistischen Stockhol­mer Friedenskonferenz im Sommer 1917 hin.

[47] Vermutlich meint Broch stattdessen Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Aphoristiker und Mathematiker an der Universität Göttingen. Der hier zitierte Spruch konnte Lichtenberg jedoch nicht eindeutig zugeordnet werden.