Gregor Babelotzky

(Cambridge, UK)

Der «vacirende Gott». Arthur Schnitzlers Reflexionen
auf die eigenen Schaffens(un)möglichkeiten

[The «Unemployed God». Arthur Schnitzlers Reflexions on his own Creative (In)Capabilities]

abstract. This article deals with Arthur Schnitzler’s early sketch Er wartet auf den vazierenden Gott (1886) (He is Waiting for the Unemployed God), which reveals Schnitzler’s poetological reflections on his own writing. Not unlike a «vazierender Gott», he too had to wait for moments of inspiration, even in later years. This attitude helps to explain Schnitzler’s doubts about his own capability to finalise his literary sketches and his uncertainty about his status as a «real» author. The «vazierende Gott» thus becomes an important metaphor for any discussion of the problems of Schnitzler’s literary production.

Zu dem eigentümlichsten Typus von Künstlertum gehört der Künstler ohne Werk. Ein Künstler kann man auch sein, ohne seine Kunst nach au­ßen beweisen zu müssen; sie findet statt allein im subjektiven Bewusstsein des Künstlertums. Der «Dilettantismus» der Jahrhundertwende ist ein sol­ches «Künstlertum ohne Werk» (Pontzen 307). Auch Arthur Schnitzler ringt, nicht nur in seinen frühen Jahren, mit dem Problem des Dilettantis­mus – und bringt dennoch eine gewaltige literarische Produktion hervor. Er entgeht dem Schicksal des «vacirenden Gottes», des Künstlers, der ohne Werk bleibt, weil er immerzu auf Inspiration wartet; auch, indem Schnitzler sich schreibend davon befreit. Die Metapher ist Schnitzlers früher Erzäh­lung Er wartet auf den vacirenden Gott entnommen, von der die folgende Be­trachtung ihren Ausgang nimmt. Sie reflektiert Probleme der poetischen Probleme, die ihn ein Leben lang begleiten.

Poetologie entsteht, wenn der logos auf den Vorgang der poiesis zu reflektieren beginnt, wenn sich der Schreibende dem eigenen Schreiben reflexiv zuwendet. Der Sprechende kennt dabei aber keinen archimedischen Punkt, vom dem aus er sich das eigene Tun vollständig transparent machen könnte. In diesem Sinne schreibt Schnitzler an Hugo von Hofmannsthal: «Denken Sie nur, was ‹Production› für ein unfassbares, unmeßbares und unbegreifliches Ding ist – wie wir zuweilen schaffen, ohne es zu bemerken und ein andres Mal (mir geht es öfter so!) in aller Geschäftigkeit so gut wie nichts geleistet haben». (HvH 161).

Für Schnitzler ist klar, «daß Produktion in höherem Sinn eine viel zu komplizierte und aus bewußten und unbewußten Elementen allzu geheim­nisvoll zusammengesetzte Angelegenheit der Seele darstellt als daß man nach getaner Arbeit die Lust verspüren oder auch nur das Recht für sich in Anspruch nehmen dürfte sich theoretisch über Vorgeschichte, Anlaß, Ent­stehung und allerlei Details seines Werks zu äußern». (Br. II 22). Trotz die­ser Aussagen finden sich eine Vielzahl von Reflexionen auf den Schaffens­prozess in seinen Schriften.

Die Rede vom «vazierenden Gott» taucht nicht nur literarisch auf, son­dern erscheint auch nur etwa ein Jahr nach Veröffentlichung der frühen Erzählung Er wartet auf den vacirenden Gott in einem Brief an Olga Waissnix. Schnitzler bremst ihre Euphorie für «das was ich ‹dichte u componire›», lässt die Bezeichnung «Dichter» für sich aber gelten:

[…] sehn Sie, wenn so die Poesie über mich kommt – wie bei andern Kranken ein Fieber, dann spür ich manchmal oder glaube zu spüren, dass irgend was in meinem Kopf oder Herzen rege wird, dass die All­gemeinheit nicht mit mir theilt. Man irrt sich da freilich: man glaubt Schöpfer zu sein und ist nur Enthusiast – gleichviel. Es gibt da wun­derbare Momente – man ist ganz wo anders – man ist höher, man ist überall – man ist ein Gott. – Freilich ein vacirender. (16. September 1887, OW 103)

Die Poesie «kommt über ihn» und versetzt ihn in manchen Momenten in eine schöpferische, enthusiasmierte Hochstimmung. Da Schnitzler mit der Wendung vom «vacirenden Gott» nicht nur an dieser Stelle auf sich selbst als Schriftsteller Bezug nimmt, erscheint es gerechtfertigt, der Erzäh­lung einen besonderen Aussagewert über Schnitzlers poetologische Refle-xion zuzuschreiben – er selbst nennt sie retrospektiv eine «Skizze»: «Ende 86 hatte die ‹Deutsche Wochenschrift› ein paar Aphorismen sowie eine Skizze von mir abgedruckt, die den Titel führte: ‹Er wartet auf den vazie­renden Gott›» (JuW 264).

In diesem frühen Text ist ein grundlegendes Problem des Schnitz­ler’schen Schaffens angekündigt, das mutatis mutandis immer wieder zum Vorschein kommt. Es handelt sich um die Unfähigkeit, sich auf die Aus­führung allein eines Stoffes ganz konzentrieren zu können; so auch im Ta­gebuch des Jahres 1902 notiert, als er neben anderen Arbeiten auch den vacirenden Gott wieder liest:

War im Kopf beim Roman, nahm dann die Famil.-Scenen vor, wollte eigentlich «Wohlthat» bessern, scribelte an Memoiren, die auch in der Anlage unklar sind, las «vac. Gott», ordnete «Kritik», fand innerlich eigentlich, dass ich am «Junggesell» zu arbeiten hätte – war im Lesen beim Schreiben, im Schreiben beim Lesen, hätte auch gern wieder zu «ordnen» angefangen – – und hatte immer Ausreden nichts zu arbei­ten – und war endlich froh ins Gasthaus zu gehen … mangelnde Ela­stizität – und bin beruhigt weil ichs notire. (22. März 1902, Tgb. 367)

Dieses Tagebuchzitat beschreibt das Problem des «vacirenden Gottes», der über die Vielzahl der Einfälle und der Beschäftigung mit alten Texten, z. B. dem «vac. Gott», nicht zum Schreiben kommt und vor lauter Arbeit – nichts tut. Das «Ordnen» erscheint als Übersprungshandlung und noch das Aufschreiben im Tagebuch wird selbstkritisch als Beruhigung erkannt. In einem Brief aus dem Jahr 1887 nimmt Schnitzler einzelne Motive und For­mulierungen der Erzählung dann auch direkt wieder auf.

Schnitzler berichtet, er wolle «jetzt irgend was ausgedehnteres schrei­ben», es käme aber nur «alle heiligen Zeiten einmal eine Seite». Seine Stoffe könnte er nur dann ausführen, «wenn der Moment käme». Dieser schöpfe­rische Augenblick aber wolle sich zur Zeit nicht einstellen, mit der Konse­quenz, dass sein Schreiben stocke: «so aber muß ich mich begnügen den vacirenden Gott zu spielen, und die wallenden Gewänder schleppen im Kothe nach … Nach dem Stempel der Göttlichkeit suchen Sie freilich ver­gebens auf einer Stirn, welche die Muse leider zu küssen vergessen hat». (18. Januar 1887, OW 65).

Ein Jahr zuvor war die Erzählung publiziert worden. Zu Er wartet auf den vacirenden Gott ist ein Typoskript erhalten, das handschriftliche Zusätze von Otto Paul Schinnerer aufweist. Seine Änderungen entsprechen dem Stand des Erstdruckes in der Deutschen Wochenschrift[1]: «Korrekturen von O. P. S. nach dem gedruckten Text». Das Typoskript zeigt den Stand der Erzählung vor dem ersten Druck. Das Typoskript ist «nach dem ersten Manuscript diktiert» und an wenigen Stellen von Schnitzler selbst korrigiert.

Der zweite Druck wird dann von Schinnerer selbst in die Wege geleitet. In seiner Ausgabe Die kleine Komödie von 1932 erscheint der Zweitdruck von Er wartet auf den vacirenden Gott[2]. Im Jahr 1928 ist Schinnerer das erste Mal bei Schnitzler zu Gast[3]. Bei diesem ersten Aufenthalt hat Schinnerer wohl die Spuren auf dem Typoskript hinterlassen; im Jahr 1929 erscheint ein Ar­tikel in der Germanic Review. Schinnerer will frühe, nur in Zeitschriften ver­öffentlichte Texte und deren Manuskripte untersuchen, um den Weg zum «genius» verfolgen zu können. Er kommt zu dem Schluss: «It was not the sudden blossoming forth of a unique literary talent, but the fruit of years of patient labor». (Schinnerer 153).

Unter den Texten, die er in Schnitzlers Haus untersucht, findet sich auch Er wartet auf den vacirenden Gott. Diese Erzählung, so Schinnerer, bezeuge Schnitzlers ironische Distanz zu den Kaffeehausliteraten. Schinnerer zitiert in seinen Ausführungen dabei einen Schluss, der weder im Erstdruck noch im Zweitdruck, d. h. auch in dem Band Die kleine Komödie, den er selbst herausgibt, vorhanden ist: «When he joins the narrator in his café-corner, the latter experiences such a deep feeling of reverence that he scarceley da-res offer him a cigar. But Albin fortunately accommodates by asking for one». (Schinnerer 1929, 162). Nur durch Einsicht in das Typoskript konnte er von diesem Schluss Kenntnis haben.

Das Typoskript entsteht, indem Schnitzler das erste, nicht erhaltene Ma­nuskript in Maschinentype festhält. Das Versehen mit der Jahreszahl – Schnitzler korrigiert das Jahr der Veröffentlichung – legt nahe, dass das Diktat mit einigem Abstand geschieht, wie es Schnitzler öfter mit Texten hält, die er später diktierte, um der Unlesbarkeit seiner Handschrift etwas Lesbares entgegenzusetzen. Schinnerer gleicht das Typoskript dann an den Erstdruck an, wobei Schnitzler die ersten beiden Änderungen selbst vor­nimmt. Nicht nur markiert Schinnerer die Absätze des Erstdruckes, er imi­tiert auch die maschinenschriftliche, abgekürzte Unterschrift Schnitzlers auf der letzten Seite des Erstdrucks.

Auf der formalen Ebene fallen im Verhältnis von Typoskript und Über­arbeitung global verschiedene Änderungen auf. Zum einen sind es orthogra­phische Änderungen, da der Fremdwortcharakter in der Überarbeitung wie­der hergestellt wird. So wird «vazierend» grundsätzlich zu «vacirend», «pikiert» wird zu «piquirt», «Szenen» wird zu «Scenen», «Kapitel» wird zu «Capitel». «Enttronter» wird zu «Entthronter», «strabanzt» wird zu «strabantzt», «tun» wird zu «thun», «gemütlich» zu «gemüthlich» und «Kote» wird «Kothe».

Bei der Zeichensetzung wurden die Anführungszeichen für die wörtliche Rede gestrichen. Sie wird so auf eine Ebene mit dem restlichen Text gesetzt. Einige Gedankenstriche wurden neu eingefügt. Der Zweitdruck in Die kleine Komödie nimmt auf orthographischer Ebene und bei der Zeichensetzung vieles zurück, was im Typoskript geändert wurde, da er der neueren Recht­schreibung folgt. Dies betrifft das «th», die Kleinschreibung von bestimm­ten Substantivierungen, die Eindeutschung von Fremdwörtern und den Apostroph. Allein das Wort «höhnisch» wird, ohne ersichtlichen Grund, nicht wiedergegeben (A 251 3r).

Im Sommer des Jahres 1929 ist Schinnerer erneut in Wien zu Gast. Wäh-rend des Aufenthalts taucht sein Name immer wieder im Tagebuch[4] auf, Schnitzler hebt besonders hervor: «Sein hübscher Artikel (in der Germ. Rev.) über meine z.Th. ungedruckten Jugendarbeiten». (21. Juni 1929, Tgb. 258f.). Er ist mit Entwürfen und unveröffentlichtem Material beschäftigt und hilft dabei, Schnitzlers Schriften zu ordnen. Nicht erst in fortgeschrit­tenem Alter ist Schnitzler sein eigener Archivar, der sein Material sorgfältig ordnet und viel Zeit darin investiert, es in Mappen gesammelt nach Themen und Gattungen zusammenzufassen. Zu den literarischen Texten kommt noch seine umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten über sich selbst.

Die äußere Ordnung soll das innere Chaos lindern und günstige Produk­tionsbedingungen schaffen. Oft hilft Schnitzler das Ordnen und die Durch­sicht alter Entwürfe, um wieder ins Schreiben hineinzukommen und ent­weder an Altem weiterzufeilen oder aber etwas Neues zu beginnen: «This excessive zeal in ordering and preserving the record of his life was not prompted by personal vanity; in fact, Schnitzler was remarkably free from this rather common failing. It was due partly to a highly developed pedantic trait of his character which he had early cultivated, to counteract, as he stated, a tendency to easygoing playfulness and lack of concentration». (Schinnerer 1933, 114).

Schinnerer kehrt im Jahr 1931 nach Wien zurück[5]. Ein Freund «über das Grab hinaus» (22. August 1918, Tgb. 173), ist er auch nach Arthur Schnitz­lers Tod bei dessen Sohn Heinrich zu Gast, um den Nachlass zu sichten und erhält weitere Einblicke in Schnitzlers Archiv: «Several folders contain ideas, plans, and subjects jotted down at the moment for possible future use. They formed a convenient storehouse to which he turnded when in need of material, either for independent elaboration or for incorporation in other works». (Schinnerer 1933, 116). Er lebt dazu im Sommer 1932 drei Monate lang in Schnitzlers Wiener Haus in der Sternwartestraße und sichtet die Texte für seinen Band mit den weniger bekannten kurzen Prosastücken, zu denen auch Er wartet auf den vacirenden Gott gehört. Diese Erzählung soll im Folgenden nähere Betrachtung finden, da sie für Schnitzler mehr ist als nur eine Satire auf die Kaffeehausliteraten, wie sie von Karl Kraus 1896/97 in Die demolirte Literatur beschrieben wurden[6].

Am Anfang der Erzählung gibt es eine signifikante Überarbeitung, die «Nämlich mein Freund Albin wartet auf mich» in «wartet auf ihn» ändert, als scheine Schnitzlers persönliche Identifikation mit dem «vacirenden Gott» zunächst auf. Danach wird diese Identifikation konsequent aufgeho­ben und die Erzählung konsequent aus der Sicht des Freundes, nicht aber aus der des «vacirenden Gottes» erzählt. Vielleicht ergab sich dieses anfäng­liche Versehen im Diktat «nach dem ersten Manuskript», wie auf der letzten Seite vermerkt, als Schnitzler sich retrospektiv selbst als der beschriebene «vacirende Gott» sah.

Der Titel lässt sich auch begreifen als objektivierende Selbstanrede, wel­che die Möglichkeit der Ankunft des «vacirenden Gottes», und damit die Möglichkeit, diese Erzählung schreiben zu können, erst eröffnen soll. Schnitzler schafft eine Leerstelle, um auf deren Erfüllung warten zu kön­nen; die Vakanz entwickelt eine Sogkraft, welche die Leere schließlich füllt. «Vazierend» bedeutet, «frei, dienstlos sein»; der Begriff stammt etymolo­gisch von lat. «vacare», «frei sein». Das Wort «vacirend» heißt: «ungebunden, frei, noch zu haben» (Teuschl 241). Das weiße Papier fordert die Schrift.

Der Name des Freundes Albin (lat. «weiß») stellt selbst eine Vakanz aus. Das Weiße zeigt eine Leere an, die erst durch das Hinzukommen eines Zweiten, vornehmlich des Schwarzen, sichtbar und sprechend wird. Das Problem: Wie kommt das Schwarze der Schrift auf die weiße Seite? Tritt man einen Schritt zurück, lässt sich die Erzählung als Mittel der Selbstver­gewisserung von Schnitzler selbst begreifen, der sein Schaffensproblem hier objektiviert und damit in actu es hinter sich lassen kann.

Da der bestimmte Artikel «der» vacirende Gott Indikator für etwas schon Bekanntes ist, dessen Identität aber im linearen Verlauf der Lektüre an dieser Stelle noch verborgen ist, wird auch der Leser selbst in den Zu­stand des Wartens versetzt. Wie Albin auf Inspiration wartet, wartet auch der Leser auf das Erscheinen des vacirenden Gottes, der erst ganz am Ende der Erzählung vorstellig wird.

Die Wendung «wie ein vacirender Gott» beschließt die Erzählung; die eröffnete Leerstelle wird mit ihr gefüllt. Im Erstdruck in der Deutschen Wo­chenschrift erscheint im Anschluss zusätzlich die Signatur «Arth. Sch».: Schnitzler und der «vacirende Gott» werden auf diese Weise in eine enge Beziehung gebracht. Figur und Autor sind in Probleme der poetischen Pro­duktion verstrickt; mit der Differenz, dass Schnitzler, um diese Erzählung schreiben zu können, die gänzliche Untätigkeit, die Albin kennzeichnet, be­reits überwunden haben muss.

Nachdem Albin zunächst nur als «Freund» eingeführt worden war, wird er nun als «Poet» bezeichnet. Aus der Einschränkung des Entwurfs, Albin sei «wahrscheinlich» ein großer Poet, wird im Druck die Bekräftigung dieser Behauptung. Das bedeutet, dass auch ein Schriftsteller, der nur Fragmente hervorbringt, in den Augen des Erzählers ein «Genie» sein kann.

Plötzlich kommen die Ideen über Albin und bedrängen ihn. Diesen Mo­ment der Inspiration will der Erzähler selbst bezeugen. Der Erzähler glaubt – was den Leser skeptisch werden lässt –, Einsicht in diesen bewunderns­werten Vorgang zu haben («Ich faßte es sofort auf»). Aus seiner bisherigen Erfahrung sagt der Erzähler voraus, was am nächsten Tag geschehen wird: Albin würde berichten, dass er nachts, die Zeit der Inspiration par excellence, wieder Anfänge und Fragmente hervorgebracht habe. Diese sind aller Art: Novelle, Drama, «Reflexionen», «abgerissene Sätze», «Worte mit überra­schendem Epitheton». Auch der Text selbst gehört einer skizzenhaften Gattung an. Schinnerer nennt die Erzählung in seinem Artikel eine «no-vellette». Schnitzler unterscheidet Roman und Novelle nach dem Grad der Fixierung auf den Helden; die Novelle vernachlässigt Hintergründe.

Den Erzähler befremdet es, die losen Papiere zu sehen. Es sind «abge-rissene Scenen», «Brouillons», «erste Capitel», «Ideen», «Skizzen», «Pläne». Die Umarbeitung von «Blätter» zu «Papier» hebt die Materialität des Schrei­bens hervor. «Blätter» haben schon immer einen bestimmten Zweck, «Pa­pier» dagegen ist ihr Basisstoff. Die «abgerissene[n]» «Sätze, Worte» werden zu «kurzen Sätzen, Worten». Es folgt die ehrfürchtige Erkenntnis: Albin führt nichts zu Ende, weil ihm zu viel einfällt und bei der Ausführung da­zwischen kommt. Der Erzähler begegnet der Irritation durch die Notizen, indem er sie als Ausfluss einer besonderen genialen Begabung rechtfertigt – und erliegt damit der Suggestion des Künstlers, die Schnitzler hier aus­stellt. Der Autor selbst lässt eben das nicht als Ausrede zu.

Das Niedergeschriebene wird von Albin selbst insgesamt als «Plötzli­ches» charakterisiert. Das Adverb stammt etymologisch von «Blitz», einem Phänomen, das Entzweiung anzeigt und in seiner Gewalt unverfügbar ist und daher göttliche Attribute gewinnt (Paul 754). Der Erzähler stellt so­gleich die grundlegende hermeneutische Frage angesichts des Vortrages des Freundes: «Was bedeutet das?» Indem die Antworten der Frage ausweichen, zeigen sie den ereignishaften Charakter poetischer Sprache: «Ich weiss es selber nicht mehr». Die erste Antwort exkulpiert den Autor vom Erklären seines eigenen Textes, da Transparenz bezüglich des eigenen Schaffens nur im Moment des Schaffens intuitiv bestanden hat, und nun, retrospektiv, unwiederbringlich verloren ist.

Die zweite Antwort, «Das gehört in irgendetwas hinein, was mir noch nicht eingefallen ist», wird selbst erst in der Überarbeitung eingefügt. Sie «gehört in irgendetwas hinein», was Schnitzler an dieser Stelle des Diktats tatsächlich noch nicht eingefallen war. Einzelne Worte, Sätze oder gar Texte können potentiell Teil eines Ganzen werden, das erst aus dem Zusammen­spiel des schon Geschriebenen und des noch zu Schreibenden entsteht. Das Ganze ist im Moment der Niederschrift unbekannt; die Teile harren noch ihrer Vermittlung. Hierauf zielt auch die Antwort: «Das wird nur im Zu­sammenhange klar» und «Das gehört wo hinein». Erst in der gegenseitigen

Beleuchtung der Versatzstücke ergibt sich das Ganze, das den in sich ver­mittelten Sinn der Teile aufscheinen lässt.

«Wie? das begreifst du nicht?» – Diese Antwort wiederum weist den Vor­wurf der Unverständlichkeit als Mangel des Textes zurück und gibt ihn an den Rezipienten zurück. Albin gibt fünf Beispiele enigmatischer Sätze, de­ren Sinn sich erst durch Kontextualisierung ergibt. So wie die Tangente den Kreis nur berührt, aber nicht in das Innere vorstößt, sondern an seiner Grenze verbleibt (daher wird «im» zu «am»), bleibt diese Aussage nur sug­gestiv. Die Unmöglichkeit der Paraphrase ist das Signifikante von Literatur: dass das eine nur genau so gesagt werden kann; dass jede Reformulierung oder Erklärung schon davon abweicht, weil es die Übersetzung des Litera­rischen in Begriffe notwendig macht.

Wie Szenenanweisungen in einem dramatischen Text setzt Schnitzler drei eingeklammerte Pausen. Sie geben dem jeweils zuvor Gesagtem Raum, sich in diesem Innehalten zu entfalten (sie wurden, wie die Wendung «Todter Orkan», nachträglich hinzugefügt, um diese Stelle theatralischer zu gestalten). Der nächste Satz, den Albin vorliest, könnte als erster Satz einer Novelle gelten, als Exposition einer Figur in der ersten Begegnung – aller­dings, was man bei Schnitzler selbst häufig beobachten kann, ohne über die Eröffnung hinauszukommen. Dem schließt sich unvermittelt ein Satz an, der den Bogen zum Titel schlägt und das erste Mal die Rede vom «vaciren­den Gott» auch in die Erzählung selbst einführt: als Bestandteil eines litera­rischen Textes im literarischen Text selbst. Der fiktive Einfall dieser Wen­dung hat selbst den Bericht des Erzählers zur Erklärung dieser Wendung fiktiv provoziert; die Erzählung entstand vielleicht nur, damit Schnitzler sich selbst diese Wendung literarisch erklären konnte.

Albin weist es zurück, zu erklären, was ein «vacirender Gott» genau sei – vielleicht ist er die Notwendigkeit der Phantasie, dem Einfall literarisches Leben einzuhauchen. Mit Vernunft lasse es sich nicht erfassen, man müsse es «empfinden». Der «vacirende Gott» habe ein Bewusstsein seiner Gött­lichkeit, so der Erzähler, aber er könne nichts damit anfangen. Er sei wie der oberste griechische Gott, der keine Anstellung finde und somit zur Un­tätigkeit verdammt sei. Indem Albin ihn weiter ermuntert, lässt er sich schon darauf ein, seine Literatur doch zu erklären. Die weitere Auslegung überlässt er dem Erzähler. Der imaginiert einen Herrscher, der, seiner Herr­schaft verlustig, noch immer mit den Insignien der Macht ausgestattet, ziel­los und unfreiwillig komisch umhergeht.

Als ein junges Mädchen am Fenster vorbeikommt, beharrt Alib darauf, dass allein die Betrachtung dieses Mädchen nach Albin ausreiche, um zu be­greifen, was mit dem vazierenden Gott gemeint sei. Feierlich spricht Albin diese Erkenntnis aus, was bei dem Erzähler Scham und Erlösung hervorruft: «Scham», so begriffsstutzig und blind zu sein; «Erlösung», nun zu den Ein­geweihten zu gehören, die sich gegenseitig in ihrer Auffassung, das Mädchen mit der Musikmappe sei die «Künstlerin ohne Engagement», die «vacirende Göttin», bestätigen können. Die begriffliche Entfaltung wird hier selbst vazierend, bleibt im Bereich der tautologischen Andeutung und bloßen Sug­gestion. Die Erfahrung ist nicht artikulierbar, sie bleibt unausgesprochen und damit im Bereich des Vagen. Das bedeutet aber auch, dass die Rede leer und ohne Verantwortung bleibt, wie Martin Swales in dem Kapitel zur Be-ziehung von Sprache und Moral bei Schnitzler beschreibt (Swales 150-80).

Das Vazieren aber berge auch eine Gefahr, phantasiert Albin fort: dieje­nige, der eigenen «hohen Abstammung» zu vergessen, wie es in der Grund­schicht heißt, oder, in der Überarbeitung, «die letzte Spur des herrlichen Wesens zu verlieren». Die erste Formulierung betont den Aspekt des Gött­lichen als Herkunft, die zweite die Souveränität und Erhabenheit des vazie­renden Gottes. Durch allzu langes Nichtstun kann das Besondere, das Po­tential eines solchen Menschen verloren gehen: Die Herrschaftsabzeichen schleifen im Dreck, wie der Erzähler in Albins Phantasie einsteigt.

Sogar der «Herrgott der Bibel», des Buches der Bücher, sei einmal vazie­rend gewesen. Diese Bemerkung erstaunt Albin (in der Grundschicht «be­stürzte» sie ihn noch). Der Erzähler bezieht sich dabei auf den Zeitraum vor der Schöpfung, die er als «faux pas» bezeichnet, als Geburt des «un­glückseligen Menschen». Sofort nach dem Aussprechen dieses Satzes no­tiert er ihn, ehe er wieder verflogen ist. Das «Aperçu» wird ins Notizheft mit dem bereit liegenden Bleistift notiert. Der Erzähler kommentiert: Es wird der «Nachwelt» erhalten bleiben, wie auch Schnitzlers Einfall der Rede vom «vacirenden Gott».

Wenn die «letzte Inspiration», die «letzte Feile» fehlt, können die vazie-renden Götter ihr eigentliches geniales Potential nicht ausschöpfen, sie kommen nicht in den «Himmel», ihre «Heimat». Wenn die «Natur» an den «Genies» nicht recht geschliffen hat, obwohl sie «grosse Geister» sind und den «göttlichen Funken» (die Rede vom «Funken» taucht immer wieder in Schnitzlers Aufzeichnungen auf, um den Moment des Anfangs schöpferi­scher Tätigkeit zu bezeichnen. Der Beginn aber ist unverfügbar, vgl. Kam­mer 29-42) in sich tragen, müssen sie leidend an ihrer verwehrten Möglich­keit unter den Alltäglichen umhergehen, ohne sich ihrer Anlage gemäß ent­falten zu können. Dies ist genau, was Schnitzler oft beklagt: seine Unfähig­keit, trotz vieler kleiner Einfälle, etwas wirklich Großes zu schaffen. Dazu fehlt ihm die Stimmung, der letzte Funke des Genies.

Der Freund will den Künstler zu mehr Selbstverantwortung führen, in­dem er die Unverfügbarkeit der Inspiration umdeutet in eine partielle Ver­antwortlichkeit des vazierenden Gottes: Er sei selbst Schuld, wenn er durch «Bummelei» seine Göttlichkeit einbüße, wo er doch «alles vollbringen» könnte. Dem stimmt Albin zu. Der Gemeinschaft der vazierenden Götter gehört der Erzähler selbst aber nicht an, wie Albin klar macht, ehe er geht, nun ganz literarische Figur, «wie ein vacirender Gott». Für den Erzähler ist am Ende der Geschichte die Phrase lebendig und leibhaftig geworden.

Hier endet die Überarbeitung. Der Abschnitt, der in der Grundschicht hier noch anschließt, wiederholt nochmals die Außergewöhnlichkeit Albins, der in seiner poetischen Kraft sogar dem «Schöpfer» gleichgesetzt wird. Gleichzeitig wird aber diese Ehrfurcht gemildert durch den komischen Ef­fekt, den Albins sehr irdische Bitte um eine Zigarre hervorruft. Diese Man­gelhaftigkeit rückt ihn wieder auf eine Stufe mit dem befreundeten Erzähler und relativiert ironisch Albins poetische Potenz. Dass dieser relativierende Schluss gestrichen wurde, passt zu den restlichen Überarbeitungen, die in Richtung einer Pointierung mehr als in die einer Milderung zielen.

Albin wird zur Verkörperung der «problematische[n] Mittelstellung ei­nes modernen Autors zwischen dem handwerklich-selbstbewußten Erzäh­ler älterer Prägung und dem sich durch die Identifikation mit dem Literari­schen auflösenden Avantgardisten» (Spinnen 90). Er verlässt am Ende das Kaffeehaus als vazierender Gott, als «jenes genialische Bewußtsein, dem kein Arbeitsethos und Bereitschaft zur intellektuellen Elaboration und äs-thetischen Konzentration entsprechen» (Pontzen 292f.), der sein Leben nicht mehr im Kaffeehaus literarisch[7], sondern nahezu vollständig unpro­duktiv verbummelt. Er ist nicht länger Produzent von Literatur, sondern ist selbst Teil einer poetischen Konfiguration, die vom Freund, der dichteri­scher als Albin selbst ist, so gelesen wird, ohne tatsächlich literarisch tätig zu sein. In der Reparaturleistung des Erzählers wird «die schöpferische Un­produktivität zum voluntativen und moralisch hochstehenden Akt des Künstlers» (Pontzen 294).

Produktives Bummeln, Zweifel am eigenen Arbeitsethos, die poetische Produktion von Einfällen, die Notwendigkeit der Inspiration: Schnitzler bleiben zeitlebens Zweifel, den Publikationsanforderungen, und vor allem den eigenen Erwartungen, gerecht zu werden[8]. Olga Waissnix berichtet er von dem Zweifel, ein echter Künstler zu sein und nicht bloß ein «Literat». Er komme sich «oft lächerlich vor wie einer, der nur die Gebärden des Künstlers hat, sehe mich selbst als Wurstl dessen, was ich sein möchte». (29. März 1897, OW 319).

Schreiben – die «Pathologie des Schaffens»[9] – wird von Schnitzler cha­rakterisiert nicht als planbarer Prozess, sondern als ein chaotischer Vor-gang. Dies bedingt das Glück des Schreibens, wenn es denn glückt; aber auch die Verzweiflung, wenn es scheitert. Diese Ambivalenz des Schaffens bringt den Dichter immer wieder in die Nähe des Krankhaften. Schnitzler selbst beklagt oft das Krankhafte seiner charakterlichen Unzulänglichkeit, die sein Schaffen stark behindert: Hypochondrie[10], Ungeduld, geringes Be­harrungsvermögen und dass er immer von der rechten Stimmung zum Schreiben abhängig ist[11].

Der Geist im Wort und der Geist in der Tat (AphB 135-66) ist Schnitzlers Versuch, durch begriffliche Klassifizierung verschiedene Typen von Men­schen einander gegenüberzustellen. Er unterscheidet Dichter und Literat. Durch einen «bedeutenden Anlaß» kann der Literat zwar für beschränkte Dauer scheinbar zum Dichter werden: «ein Literat unter dem Einfluß eines starken persönlichen Erlebnisses in irgendeinem seiner Werke wie ein Dich­ter wirken» (AphB 140f.), aber die Grenze zwischen ihnen steht für Schnitz­ler klar fest.

Dem Literaten ist das Schreiben äußerlich, während es der Dichter aus innerem Drang ausübt. Er ist dabei der «Spiegel der Welt»; der Literat da­gegen sucht nur nach «Stoffen», er instrumentalisiert die eigenen Erfahrun­gen: «Er betrachtet seine Erlebnisse, seine Beziehungen und auch seine Stimmungen daraufhin, wie er sie etwa zugunsten seiner Produktion ver­wenden und ausnützen könnte». So kann er den Menschen aber nicht mehr «wahrhaft reinen Herzens» begegnen (AphB 151).

Der «vacirende Gott» Albin ist so ein Literat und Dilettant, weil er nichts zustande bringt, was Wert hätte; er hat Talent, aber kein Genie. Dilettant ist, wer zwar Talent hat, aber aus Gründen des Charakters dieses nicht nut­zen kann: «Es gibt nur spezifische Begabungen irgendwelcher Art in Ver­bindung mit einer dilettantischen Anlage oder einem dilettantischen Seelen­zustand». (AphB 159). So gäbe es «eine Sorte von Dichtern, deren Talent weit genug geht, um eine Art von nebelhafter poetischer Atmosphäre zu erzeugen». Der Kenner spürt aber, «dass dort immerhin wirkliche, redlich bemühte Dichter am Werk waren, deren Talent der ungeduldige Schöpfer nur eben zu früh aus der Pfanne nahm» (AphB 368).

Eine solche «dilettantische Anlage»[12] ist die Abhängigkeit von der «Gnade des Augenblicks». «Stimmung» kann zwar angestrebt, aber nicht herbeigezwungen werden. «Gnade» wird einem gewährt, man kann sie nicht einfordern. Das Subjekt erfährt sich hier in seiner Abhängigkeit von nicht kontrollierbaren externen Faktoren. Zwar ist der Dichter «Gestalter und Bewahrer aus innerer Notwendigkeit», doch in den «unfruchtbaren» Mo­menten «verliert die ganze Welt für ihn ihren Glanz oder erlischt geradezu. Keiner ist so sehr wie er Mensch von Gnaden des Augenblicks» (AphB 150).

Das Schwanken zwischen inspiriertem Schaffen und uninspirierter De­pression: Die Rede von der «Gnade des Augenblicks» beschreibt das Prob­lem, das in der Erzählung vom «vacirenden Gott» verhandelt wird. So sehr der Künstler auch den freien Willen repräsentiert, der durch literarische Neu-Schöpfung und Neu-Ordnung sich dem kontingenten Chaos der realen Welt entgegenstellt, so abhängig ist er doch von der Gnade der Inspiration, die nur gewährt, nie aber eingefordert oder gar herbeigezwungen werden kann: «Das Facit bleibt eine horrende Confusion» (3. März 1881, Tgb. 98).

Sein Freund Richard Hell drücke Schnitzlers «tiefinnersten Gedanken» aus, wenn er sage, dass «die Künstlerschaft […] kein neidenswerthes Ge­schenk der Natur» sei. Denn: «Uns ist es versagt, immer wir selbst zu sein, und dennoch sind wir nur dadurch, dass wir Künstler sind». Künstler zu sein, heißt, von etwas Unverfügbarem abhängig zu sein: «Wir sind Men­schen von Gnaden des Augenblicks –» (3. März 1881, Tgb. 98). Schnitzler ist dem eigenen Schreiben gegenüber nicht souverän: Ob es glückt, hängt von nicht kontrollierbaren Faktoren ab. Im Jahr 1890 schließlich gab er die Wendung seines Freundes Hell schon als eigene aus:

Warum ich nichts thue –? weil ich geisteslahm geworden bin und ich nicht zwei vernünftige Sätze hintereinander schreiben kann. Wenn das noch einige Wochen so fort geht, bekomme ich einen solchen Ekel vor mir – aber einen solchen –! Menschen von Gnaden des Augen­blicks hat einmal einer die Künstler genannt; wie sehr würde mich das trösten – wenn dieser eine nicht zufällig ich gewesen wäre. (März 1890, OW 181)

Eng verbunden mit der Unverfügbarkeit der Gnade ist die Rede von der Inspiration. Nur in Augenblicken der Inspiration kann er schreiben, auch wenn Schnitzler das Schreiben gerne allein durch Willenskraft herbeizwin­gen würde: «Wissen Sie, wie ich mir meine Inspiration wünschen würde? Leidenschaftlich, und vor allem, ganz allein mein Eigenthum –» (6. Septem­ber 1890, OW 219). Doch liegt sie nicht in seiner Gewalt: «Die Inspiration kommt und rauscht über mich» (September 1890, OW 224). Hat sie sich eingestellt, gelingt das Schreiben; doch kann sie sich im nächsten Moment schon wieder entziehen: «Kaum aber wird sie etwas schwächer (die Inspi­ration nemlich), so bin ich auch schon fertig, und so, zu einer Zeit, wo andre erst in das richtige Schreiben hinein kämen, bin ich gelähmt, fertig – voll­kommen! –» (September 1890, OW 224).

Die Bedingung der künstlerischen Produktion ist sehr labil und vielen Gefahren ausgesetzt. Als inspirationsfördernd erweist sich ihm bisweilen die Lektüre alter Aufzeichnungen, die den Schaffensprozess begünstigen kann: «Um aber in die Stimmung zu kommen, nehm ich mir meist meine Papiere her, stöbre darin umher, lasse von dem einen oder andern Gedan­ken aus meine Phantasie weiterschweifen». (29. August 1889, OW 165).

Nur selten gelingt das Schreiben mühelos: «Manchmal wieder packt es mich, dass ich schreiben muß, es fliegt nur so hin –». Doch dann versiegt es unvermittelt wieder: «plötzlich, oft nach Minuten schon, zuweilen auch nach Stunden, ist mir, als wenn etwas in mir erstarrte. Und die Wellen ver­sickern im öden Sande». Vor dem Geschriebenen empfindet Schnitzler dann einen «gelinde[n] Schauer»; er traut sich nicht, es zu lesen, so fremd ist es plötzlich geworden. Nach diesem inspirierten, lebendigen Moment können Tage oder Wochen «in der Erstarrung» folgen, «die langen, grauen Stunden, wo einem zu allem die Lust fehlt» (29. August 1889, OW 165).

Die Stimmungen[13], denen Schnitzler sich ausgesetzt sieht, bedrohen seine gesamte Existenz. Die Lustlosigkeit erstreckt sich in solchen Phasen auf alle Bereiche seines Lebens: «Ich schrumpfe ein, mir ist, als hätt mein Geist nicht für einen Heller Schwungkraft mehr». Wenn dieser Zustand nicht vorüberginge, «könnt ich die Bude zusperren». Denn: «Stimmungslo­sigkeit – kennen Sie das?! Wissen Sie, was das für einen Menschen heißt, der sozusagen seinen täglichen gemütlichen Unterhalt von seinen Stimmun­gen bestreitet? –» (Ende April 1888, OW 127).

Ohne Stimmung kann Schnitzler nicht schreiben. Diese Wechselhaf­tigkeit der Schreibstimmung führt dazu, dass seine literarischen Pläne oft gar nicht – oder nur unter großen Schwierigkeiten – bis zum Ende ausge­führt werden können. Solange jene Stimmung abwesend ist, gerät Schnitzler in Selbstzweifel bezüglich seines Schaffens; seine Produktionskraft scheint versiegt. Ist die Stimmung aber da, wird er euphorisch. Bedingung für die Stimmung ist Muße – und die kann nur sich einstellen, wenn Schnitzler neben seinem Beruf genügend Ruhe findet, was oft genug nicht der Fall ist:

Nur zuweilen die Möglichkeit, sich in Stimmung zu versetzen. – Für­chterlich labil anfangs. Ein Misklang von woimmerher und ich kann alles wieder ins Pult hineinwerfen, ohne ein Wort geschrieben zu ha­ben – An eine große Arbeit getrau ich mich nicht, denn wie ich so in die Mitte hineinkomme und plötzlich wieder – durch den Beruf – durch Zufälligkeiten die Stimmung verliere, so stehe ich ganz peinli­ches aus. (29. August 1889, OW 166)

Der Beruf erscheint als Umstand, welcher der Stimmung, die zum Schreiben unabdingbar ist, abträglich ist. Schnitzler vermutet, dass «unter einer Bedingung doch irgendetwas gutes von mir hervorgebracht werden könnte – nemlich wenn ich tun könnte, was ich wollte, wenn das ver­dammte Berufhaben nicht wäre» (29. August 1889, OW 166). In dem Zwie­spalt zwischen Beruf und Berufung «in die wahre große Stimmung zu jenem andern hinzutreiben fehlt es an Ruhe, Klarheit, und an dem wirklichen Ta­lent». Enttäuscht blickt er im Jahr 1888 im Tagebuch auf das Produzierte zurück: «Der Göttliche Funke war wohl nur Glimmerpapier!» (20. Septem­ber 1888, Tgb. 237).

Schnitzlers Konzentration und Stimmung, die Bedingungen für eine ge­lingende poetische Produktion sind, ist insbesondere die Ablenkung durch den Arztberuf abträglich[14]. Den Beruf sieht er als Hindernis an, sein ganzes literarisches Potential entfalten zu können. Immer wieder findet sich bei Schnitzler der Gedanke, dass etwas dem Schreiben im Wege steht, das ihn davon abhält, etwas wirklich Großes zu schaffen. Etwas hält das Talent in der Schwebe, sodass es nicht zum Genie werden kann. Wie beim «vaciren­den Gott» fehlt die «letzte Feile»[15].

Neben dem eigenen Charakter, der zur Zerstreuung und Wankelmütig­keit neigt, ist es der Arztberuf der ihm als Grund für die unzulängliche lite­rarische Produktion gilt: «Hin und hergeworfen zwischen Wissenschaft und Kunst bringe ich zu keinem von beiden mein ganzes Ich mit und werde in der Arbeit durchs Dichten, im Dichten durch die Arbeit gestört». (15. De­zember 1880, Tgb. 91). Zwar will er oft genug schreiben, doch ist damit nicht gewährleistet, «daß sich zu gleicher Zeit Begeisterung, Inspiration ein­stellt». (15. Dezember 1880, Tgb. 91f.).

Die Sehnsucht, zu schreiben, koinzidiert nicht immer mit dem Vermö­gen, es auch tun zu können. Die Erfahrung dieses Unvermögens des «va­cirenden Gottes» nährt den inneren Zwiespalt, von dem besonders die Stu­dienjahre geprägt sind. «Ich weiß es noch nicht […], ob in mir ein wahres Talent für die Kunst steckt», hielt Schnitzler im Jahr 1885 im Tagebuch fest. Eines aber sei gewiss: «daß ich aber mit allen Fasern meines Lebens, meines höheren Denkens dahin gravitiere». Er habe – wieder fällt das Stichwort aus dem zuvor zitierten Eintrag – «Heimweh» nach dem Schreiben, das wäh­rend des Studiums umso stärker werde, je weniger er schreibe: «es ist ein-fach eine unbeschreibliche Hinneigung zu jenem Berufe, der mir so einzig schön dünkt –» (7. Mai 1885, Tgb. 33f.)

Oft fehlt Schnitzler durch die Belastung durch den Beruf die nötige Sammlung und Konzentration für die Literatur. Die vielen Notizen, Skiz­zen und Pläne in Schnitzlers Nachlass zeugen von diesem Einfallsreichtum, wie auch von der Unfähigkeit, alle Pläne bis zum Ende auszuführen und die Stücke in der richtigen Weise zusammenzufügen: «Manchmal allerdings bringt sie [die Inspiration, G.B.] mich gewaltig in Stimmung und entwickelt mir Stoffe, für die ich dankbar wäre, wär ich der Mensch, alles auszuführen». (28. Januar 1887, OW 67-69). Und wenig später erscheint auch schon wie­der das Bild aus Er wartet auf den vacirenden Gott: «Ihre Hoheit, die Muse be­schäftigt sich in der letzten Zeit wieder damit mich auf die Stirne zu küssen. […] Manchmal schwebt sie nur an mir vorbei und läßt mich in ungestilltem Sehnen einsam unter Tausenden zurück –» (22. März 1887, OW 77).

In Anlehnung an Horaz’ «disperta membra poetae» bemerkt Schnitzler: «[…] nicht jeder besitzt die eigentümliche elektrische Kraft, in den einzel­nen Stücken den richtigen Funken zu entdecken und sie in der richtigen Weise zusammenzufügen». Die Entfaltung dieser «elektrische[n] Kraft», die alles Verstreute erst aus- und zusammenführen könnte, bleibt durch seine beruflichen Verpflichtungen beeinträchtigt. Der Dichter Schnitzler kann sich nicht sammeln.

Als ob der Anklang von «Schnitzeln», «Schnipseln», in seinem eigenen Namen Realität wird, beschreibt Schnitzler sich selbst als in Einzelteile zer­streuter Dichter: «Ich bin kein Buch; ich bin – lose Blätter. Und wenn sich jemand die Mühe eines groß angelegten Buchgebindes nehmen und zusam­menheften wollte, so würde ein geneigter Leser finden, daß gerade dort, wo die Geschichte am spannendesten wird, ein paar Seiten fehlen – davonge­flattert, verweht, zerrissen». Unterschrieben ist der Brief mit «Ihr ungebun­dener Arth Sch» (22. März 1887, OW 77). Die schöpferische Lust wird im Zwiespalt zwischen Beruf als Mediziner und Berufung als Schriftsteller oft selbst zur Quelle von Frustration: «Ich habe wieder in meinen Plänen her­umgeblättert und es packte mich wie eine Verpflichtung: du musst das schrei­ben, du musst die papierenen Leute auf die Beine stellen, du musst dieses papirene Leben in Luft und Bewegung tauchen». (Juni 1888, OW 133f.)

Dieser «Verpflichtung» folgend habe er «das und jenes wieder angefan­gen». Das Problem sei nur, auch wenn das «komisch» klinge, formuliert er: «hätt ich nur Zeit, oder besser noch: hätt ich nur Zeit zur Stimmung». Die «Stimmung» erfordert Zeit, weil sie Raum braucht, sich einzustellen. Man kann Bedingungen schaffen, die es wahrscheinlicher machen, dass «Stim-mung» als Ermöglichung des Schreibens erscheint. Schnitzler spürt den Drang zu schreiben gerade dann besonders intensiv, wenn die «Stimmung» längere Zeit ausbleibt: «es will sich formiren, will Gestalt, Athem, Leben – mir fehlt die Ruhe, richtiger die Zeit zur Ruhe». (Juni 1888, OW 133f.).

Schnitzlers Zweifel über das eigene literarisches Können hielten trotz des Erfolgs bis an sein Lebensende an. Aber er war auch reflektiert, ehrgei­zig und zugleich selbstbewusst genug, Ausreden sich selbst gegenüber nicht gelten zu lassen. So sehr er auch die Fatalität seines Schreibens und seines Charakters fühlte, so sehr insistierte er doch auf der Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens – und unterschied sich so signifikant von dem sein literarisches Leben verbummelnden Albin in der Erzählung vom «vacirenden Gott».

Die Spannung zwischen Selbsterwartung und Selbstbestätigung, zwi­schen Fremderwartung und Fremdbestätigung machte Schnitzler Kritik sei­ner poetischen Produktion gegenüber empfindlich. Er fühlte sich anderen – in seinen Augen produktiveren – Schriftstellern unterlegen, da seine Ar­beitsfähigkeit stark von seinen «Stimmungen» abhängig war. Darin sah der «Quartaldichter» Schnitzler neben der Neigung zum Bummeln und zur Oberflächlichkeit sein größtes Defizit. Er fragte sich, ob er jemals die «Ruhe» und das «Talent» haben werde, um seine «großen Stoffe ausführen» zu können, wenn er doch nicht kontinuierlich an ihnen arbeiten könne.

Die «Wirklichen» hätten immerzu an ihren Texten gearbeitet: «ihre Ar­beit war Leben – ich bin doch eigentlich nur ein Quartaldichter (so wie es Quartalsäufer gibt)». Schnitzler charakterisiert sich selbst als «nachlässig, verbummelt, oberflächlich, schlecht erzogen». Seine Klage darüber bleibt konstant, «dass für die beträchtliche Zahl meiner Ein-, Aus- und Abfälle weder meine Arbeitskraft, noch meine künstlerischen Fähigkeiten ausrei­chen». Das aber könne «eine Lebenslüge oder eine Sterbensausrede sein» (20. Juni 1906, OB 231). Die Rede vom «vacirenden Gott» ist Anzeige des grundlegenden Problems und zugleich der (früh erfolgreiche) Versuch, seine Schaffensunmöglichkeiten schreibend hinter sich zu lassen, was sein umfangreiches Werk eindrucksvoll belegt. Künstler und Werk finden sich durch Beharrlichkeit und Selbstkritik.

Bibliographie

Siglen

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Br. II – Arthur Schnitzler: Briefe 1913-1931. Eds. Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, and Heinrich Schnitzler. Frankfurt am Main, 1984. Print.

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Die Signatur «Mp». bezieht sich auf den Nachlass Arthur Schnitzlers im Bestand des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar; die Signatur «A» auf den Be­stand der Cambridge University Library.

Forschungsliteratur

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Teuschl, Wolfgang. Wiener Dialekt Lexikon. Wien, 1990. Print.



[1] Am 12. Dezember 1886. Jahrgang VI, Nr. 50. 644f. In der Mappe A 251 im Bestand der Cambridge University Library liegen unter der Signatur A 251,1 neun Blatt (und neun Blatt Durchschlag) vor. Die Verso-Seiten sind bis auf 3v unbeschrieben. Sie sind mit Ma­schinentype ab der zweiten Seite durchnummeriert, beginnend mit 2. Der Zweitdruck fin­det sich in Schinnerers Ausgabe 1932, 13-19. Später findet der Text Aufnahme in die ge­sammelten Werke: Schnitzler, Arthur. Die erzählenden Schriften. Gesammelte Werke, vol. 1. Frank­furt am Main, 1961. 10-14.

[2] Neben den verlagsbedingten orthographischen Änderungen verschwindet das Wort «höhnisch». Der Text folgt ansonsten dem bearbeiteten Typoskript.

[3] Die erste Erwähnung des Besuches im Tagebuch: «Dr. Schinnerer kam; ich zeigte ihm allerlei von Manuscripten und erzählte mancherlei». (23. Juli 1928, Tgb. 174).

[4] «Schinnerer arbeitet bei mir (Reigen-Ausschnitte). Isst bei mir, mit Kolap. – Im Gar­ten mit ihm». (3. Juli 1929, Tgb. 261); «Zu Tisch (mit Kolap) Schinnerer (der heute einige meiner ungedruckten schlechten Einakter gelesen (Delorme, Gouvernante, Nil) und auch sehr gut fand, dass ich sie nicht veröffentlicht)». (20. Juli 1929, Tgb. 266); «(Kolap und) Schinnerer zu Tisch bei mir. Er liest allerlei unveröffentlichtes von mir». (27. Juli 1929, Tgb. 268); «Zu Tisch (mit Kolap) Schinnerer; nachher red ich mit ihm über Nachlass und Tgb.-Angelgegenheiten». (1. August 1929, Tgb. 269); «Zu Tisch auch Schinnerer. – Er bringt prächtig Ordnung in meine Sachen; Kolap hilft dabei». (5. August 1929, Tgb. 270).

[5] Vgl. die entsprechenden Einträge im Tagebuch: «Zu Tisch Schinnerer, der in Heini’s Zimmer Ausschnitte und allerlei Briefe (Schuster Simon etc.) durchgesehn. […] Die No­vellensammlung ‹Viennese Novels› angelangt. Die Introduction von Schinnerer hatt ich (Separatdruck) schon auf dem Semmering gelesen. –» (29. Juli 1931, Tgb. 61); «Schinnerers Absicht eines Schn.– Breviers. – Ich begleite Sch. 8 Abd. zur Bahn; er fährt (über Berlin) nach Amerika. Ein Freund. –» (17. August 1931, Tgb. 66).

[6] Wiener Rundschau. Wien [Jg. 1]. Nr. 1 v. 15. Nov. 1896. 19-27 [I]; Nr. 2 v. 1. Dez. 1896. 68-72 [II]; Nr. 3 v. 15. Dez.1896. 113-18 [III]; Nr. 4 v. 1. Jan. 1897. 153-57 [IV].

[7] Vgl. Schnitzlers eigenes Schreiben im Kaffeehaus: «Vorgestern habe ich meine No­velle beendet. – – Ich hoffe, sie wird, wenn sie erst durchgefeilt ist, als ehrenwerte Studie gelten können. Ich habe sie plötzlich zu Ende schreiben müssen, nachts im Café, während schläfrige Kellner bereits die Sessel aufeinander türmten». (29. Juli 1892, Tgb. 25).

[8] Vgl. z.B.: «Ich weiß, daß ich nicht zu den großen Dichtern zähle; nie ein absolutes Kunstwerk schaffen werde; – fühle aber stark die Merkwürdigkeit meines Gesammtwe­sens, in dem auch dichterische Elemente ersten Ranges sind – die nur als ganzes keine Dichterkraft ersten Ranges bilden. –» (3. Januar 1911, Tgb. 208).

[9] Über «Krankheiten der Produktionskraft», z. B. über deren Versiegen: vgl. AphB, 369, sowie: «Wie immer beinah hab ich auch diesmal das beinah täuschende Verlangen: wenn ich nur das Endgültige doch einem anderen überlassen könnte, der mehr Künstler wäre als ich. Über den Sinn der Gestalten, über den Geist ihrer gegenseitigen Beziehungen kann jetzt kein Zweifel mehr sein, und ihre Schicksale sind festgestellt. Was jetzt zu machen ist, könnten andere besser machen als ich, den es eigentlich schon zu anderen Phantastereien und Realistereien lockt». (28. Juli 1906, Br. I 541).

[10] Zur «Krankheit als Auszeichnung», die den Kranken von der «langweiligen Norm» der Gesunden abhebt vgl. Rasch 198f.

[11] Vgl. auch die paradoxe Wendung: «Als Künstlernatur bezeichen wir im allgemeinen die Summe von Eigenschaften, die den Künstler im Produzieren behindert». (AphB, 115). Verwandt ist dieser Aphorismus folgendem: «Manchmal möchten wir uns einbilden, dass gewisse unserer Eigenschaften als Hemmungen unseres Talents wirken, das ohne diese [jene] imstande sein müsste sich viel bedeutender zu entwickeln.B Und doch stellen schein gerade diese [jene] scheinbar hemmenden Eigenschaften zuweilen ein sehr wesentliches Element unserer Begabung dar, so dass der Wegfall dieser [jener] Eigenschaften vielleicht die letzten Entfaltungsmöglichkeiten unseres Talents überhaupt in Frage stellen würden». (A 16,20).

[12] Vgl. die Skizze: «Ein Dilettant, der zu einigen anerkannten Künstlern aufschaut, gläu­big und bescheiden. Er beginnt selbst zu schreiben. Allmälige Veränderung. Wie er alle Kleinlichkeiten, ja selbst Niedrigkeiten des Litteratentums allmälig annimmt, wie er um seine Biographie besorgt ist, wie er sich Stimmungen vorlügt, von denen ihm bekannt ist, dass Künstler unter ihnen leiden. | ‹Mit diesem Buch hab’ ich Viele erlöst›» (DLA Marbach, Gestalten und Scenen, Mp. 83,4). Die Definition des Begriffes ist in der zeitgenössischen Debatte unscharf: «Die Bezeichnung Dilettantismus gehört ja zu denjenigen, mit denen der Sprachgebrauch am willkürlichsten zu verfahren pflegt. Bald bezeichnet man als Dilet­tanten einen Künstler von einer gewissen aristokratischen inneren Lebenshaltung, einen spielerisch angelegten Geist, dem es weniger auf die Vollendung eines Werkes ankommt als auf die Schaffens- oder Spielfreude an sich. Manchmal wieder nennt man so irgendein mäßig begabtes Individuum, das sich an Aufgaben heranwagt, denen es nicht gewachsen ist und das durch seine unbegründeten Ambitionen kläglich oder lächerlich erscheint». (AphB 158).

[13] «Als Stimmungen bezeichnen wir Seelenzustände, die am stärksten von äußeren Ein­flüssen abhängig und von verhältnismäßig vorübergehender Natur sind, wie Lustigkeit, Ver­drossenheit, Zorn usw. – Stimmungen, die sich häufig wiederholen, auch ohne ersichtlichen oder genügenden äußeren Anlaß, deuten auf eine vorhandene Anlage hin». (AphB 159).

[14] Für die Entstehung von Professor Bernhardi ist der Arztberuf dagegen Inspiration. Sol Liptzin, der wie Schinnerer Einblick in Schnitzlers Entwürfe hatte, beschreibt die Genese des Dramas von der ersten Notiz bis zum Druck als Abfolge langwieriger Erwägungen (vgl. Liptzin 1931).

[15] An Olga Waissnix schreibt der Arzt und (noch verhinderte) Dichter Schnitzler aus der eigenen Klinikerfahrung während seiner Medizinerausbildung, dass der Wahnsinn auf ihn «einen zauberischen Reiz» ausübe, und was passiere, wenn ein «normaler» Mensch auf einmal verrückt werde: «Plötzlich ist er geistreich, amusant. Er redet Unsinn – aber es steckt Originalität – manchmal vielleicht was grosses darin! Sein Geist spinnt Fäden zwi­schen den heterogensten Dingen, die er früher mit seinem armseligen Normalverstand niemals hätte knüpfen können. Er wird phantastisch – er wird ein Pöet – wenn auch der letzte Zug fehlt». (31. Oktober 1886, OW 46).