Sabine Wilke

(Seattle)

Eine Rhapsodie über Klimawandel und Flucht
Norbert Gstreins Roman «Die kommenden Jahre»

[A Rhapsody on Climate Change and Flight. Norbert Gstrein’s Novel «The Years to Come»]

abstract. Norbert Gstrein’s novel Die kommenden Jahre (2018) addresses two central themes discussed in the media and public sphere of today, climate and migration. The main argument is that in the novel this occurs aesthetically in form of a rhapsodic connection between the two topics. How such a literary rhapsody works is shown in three steps: a discussion of the thematic articulation of climate and climate change by the characters (the majority of the main figures are climate researchers), an analysis of the poetic construction of rhapsodic movements on the level of the range of characters and their development, and a reading of the reciprocal relationship between climate, migration, and writing. In this novel, Gstrein develops a poetic model of narrating climate and migration.

Eine unerhörte Begebenheit ereignet sich in Norbert Gstreins Die kommenden Jahre (2018) erst am Schluss des Romans und auch nur als eine von drei Plot-Optionen, die die Romanhandlung beschließen: Herr Farhi, der syrische Bauingenieur und geflüchtete Familienvater, der vorübergehend das Haus am See der Familie Farländer mit Frau und zwei Söhnen bewohnt, schießt mit der Pistole des Erzählers und Klimaforschers Richard (dessen Nachnamen wir nie erfahren) auf die Bande von Jugendlichen, die ihn seit einiger Zeit und zunehmend heftiger bedroht. Es gibt zwei Tote, zwei Schwerverletzte und einen leicht Verletzten. Herr Fahri kommt daraufhin in Untersuchungshaft (KJ, 284)[1]. Das ist der Ausgang – in Form einer tragischen Option – von Gstreins literarischer Rhapsodie über den Klimawandel. Der Musikwissenschaftler Tobias Widmeier hat auf die Herkunft dieses seit dem neunzehnten Jahrhundert vorsätzlich im musikalischen Kontext gebräuchlichen Genres der Rhapsodie aufmerksam gemacht; er erläutert: «[d]as Begriffswort Rhapsodie dient zur Definition von Textsorten, die in spezifischer Weise von präfixierten Teilen […] oder, weiter gefaßt, durch Reihung und Verknüpfung unterschiedlichen Materials geformt werden […]»[2]. Ursprünglich aus dem Griechischen stammend, in dem Rhapsodie eine Vortragsform für mündliche Epen und Gesänge bezeichnet, hat der Begriff aber literarische Wurzeln. Gstrein bedient sich rhapsodischer Reihungen und Verknüpfungen unterschiedlichen Materials, mit denen er das Thema Klimawandel literarisch auf eine komplexe Art gestaltet. Wie das auf der Textebene geschieht, soll in diesem Beitrag in drei Schritten untersucht werden.

Ein Motto aus den Gesängen eines Aztekenkönigs gibt gleich zu Beginn den elegischen Ton dieser Rhapsodie an und signalisiert die globale Dimension der Thematik: «Nicht für immer hier auf der Erde / nur für eine kurze Zeit» soll Nezahualcóyotl, der mächtige und für seine Gesänge berühmte prä-kolumbianische Herrscher von Texoco, über die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens auf der Erde gesagt haben[3]. Es ist vielleicht nicht ganz zufällig, dass Gstrein gerade eine indigene Stimme zitiert, um die Idee von Flucht und Migration, die der Roman als sein zweites Thema anschlägt, einzurahmen. Nezahualcóyotl war als exilierter Aztekenkönig, der seinen Stadtstaat von Angreifern zurückerobern musste, sicher mit der Idee von der Flüchtigkeit der menschlichen Existenz auf Erden vertraut. Aber das Motto erlaubt gleichzeitig auch einen rhapsodischen Bezug zu einer der Hauptcharaktere in diesem Roman, Idea Selig, die jüdische Exilantin aus Nazideutschland, die in Argentinien aufgewachsen ist und jetzt in Mexico City als Gletscherforscherin lehrt. In dieser Figur treffen die Themen Klimawandel und Flucht in einer Person zusammen, wenn auch nicht ursächlich verkettet, sondern rhapsodisch verknüpft. Dieses Prinzip der rhapsodischen Verknüpfung von Gletscherschmelze und Migration soll hier anhand von drei Aspekten diskutiert werden werden: erstens anhand der thematischen Artikulation von Klima und Klimamigration in den wissenschaftlichen Arbeiten der Gletscherforscher, die zu Beginn des Romans auf einer Fachtagung in New York und daran anschließend auf dem Landsitz eines wohlhabenden Unternehmers zusammenkommen; zweitens mittels einer Analyse der rhapsodischen Verknüpfung von Klimawandel und Flucht auf der Ebene von Figurenkonstellation und Charakterentwicklung; und drittens mit einer Interpretation der reflexiven Verbindung zwischen Klima, Flucht und literarischem Schreiben. Gstrein rückt dabei die poetologischen Aspekte einer Fiktionalisierung von Klimawandel und Flucht in den Blick. Dadurch erhält der Roman die Aura eines säkularisierten, selbstreflexiven magischen Realismus, wie ihn Timothy Clark für den literarischen Umgang mit Klimawandel attestiert hat[4]. Als hybride Mischform verhandelt der Roman multiple Perspektiven und bricht mit dem einsinnigen Erzählen von Lebensentwürfen, die für den Realismus noch typisch waren.

Gstreins Roman ist in der Presse sehr unterschiedlich bewertet worden: als Drehbuch-Vorlage für einen neuen Tatort (Dicks), als ein «fein wie kühl gezeichnetes Werk der Widersprüchlichkeiten und Doppeldeutigkeiten» (Küchemann), als Kommentar auf Gstreins eigene Position (Häming), letztlich aber in der Aussage und in seinen Figuren diffus bleibender Roman (Schröter)[5]. Vor Gstrein haben sich, im Gegensatz zur anglophonen «climate fiction», die Clark analysiert, bisher nicht viele deutschsprachige Schriftsteller an das Thema Klimawandel herangewagt. Antonia Mehnert und Gregers Andersen haben in ihrem Blog die Rolle des Klimawandels in der deutschsprachigen Literatur als «Hintergrundschauplatz für die eigentliche Handlung, als Ursache für eine größere Katastrophe, oder auch als ein wichtiges Thema für die einzelnen Charaktere» bezeichnet, wobei die ethische Dimension der von ihnen diskutierten Beispiele (Frank Schätzings Der Schwarm, Nele Neuhaus’ Wer Wind sät, Sven Böttchers Prophezeiung, Ilija Trojanows Eis Tau und Dirk C. Flecks Maeva!) in den Vordergrund gerückt wird[6]. Gstrein findet durch die rhapsodische Verknüpfung des Themas Klimawandel mit dem Thema Migration zu einer neuen literarischen Gestaltung, die in einigen Aspekten an Trojanows Eis Tau (2011) anschließt, aber auch entscheidend darüber hinausgeht[7]. So wie Trojanows Hauptfigur Zeno Hintermeier empört sich der Erzähler über die künstlerische Nutzbarmachung von Klimawandel (siehe KJ, 197); in beiden Romanen verbringen Charaktere Zeit in Ushuaia und auf Forschungsschiffen in der Antarktis (siehe KJ, 200 u. 251). Aber im Gegensatz zu Trojanow bietet Gstrein am Ende des Romans seinen Lesern drei Optionen in verschiedenen Tonlagen und Modi für den Ausgang der Handlung an. Das «Ende für Literaturliebhaber» schließt dabei an Trojanows Elegie an: Richard liebäugelt mit einer Dozentur auf einem norwegischen Tourismusschiff (siehe KJ, 251). Ein anderes, eher utopisches Ende hinterlässt den ausgewanderten Erzähler in Montreal; und in «Was wirklich geschehen ist» fällt der tragische Schuss von dem zu Anfang die Rede war. Doch bevor wir uns den poetologischen Aspekten dieses Romans zuwenden, soll zunächst untersucht werden, wie das Thema Klima und Klimawandel in den Arbeiten, Vorträgen und Gesprächen der Klimaforscher zum Ausdruck kommt und in dem Roman thematisch Gestalt annimmt.

I

In seinem Beitrag zum Klimawandel wirft der Umwelthistoriker Philipp Blom einen Blick auf das Thema und zeigt, inwiefern Klimawandel zwar kein ursächlicher Faktor in der Entstehung einer neuen europäischen Ordnung in der frühen Neuzeit war, aber als dauernder Druckfaktor doch die Funktion eines Katalysators gespielt hat, der gesellschaftliche Umbrüche beschleunigt und intensiviert hat[8]. Das einundzwanzigste Jahrhundert bezeichnet Blom von daher als Amplitude der Unsicherheit, wobei er prophezeiht, dass der Klimawandel eine massive Krise der Landwirtschaft auslösen wird, die wiederum unvorhersehbare Wanderbewegungen, politische Instabilität und Verteilungskriege mit sich bringen wird. In Die kommenden Jahre tauchen gleich mehrere Figuren auf, die sich wissenschaftlich mit dem Thema Klima und Klimamigration auseinandersetzen. Im ersten Teil des Romans, «Kanada», nimmt der Ich-Erzähler Richard, ein Tiroler, der in Hamburg lebt und dort an der Universität lehrt, an einer Fachtagung in New York teil, die von seinem kanadischen Freund und Kollegen Tim Markowich mitorganisiert wurde, der ihn auch im Anschluss daran nach Montreal eingeladen hat. Es ist die Zeit vor der Trumpwahl 2016, als unter Kollegen viel von Auswanderung nach Kanada die Rede war, falls der schlimmste Fall eintreten sollte. Tim Markowichs Vater ist selber aus Jugoslawien nach Deutschland geflohen und von da aus nach Kanada ausgewandert. Tim will Richard dazu überreden, ebenfalls nach Kanada überzusiedeln, dort zu lehren und seiner Familie in Deutschland den Rücken zu kehren.

Das Klima als Katalysator von weltweiten Wanderungsbewegungen wird während der Wochenendeinladung an den Hudson zum erstenmal im Roman thematisiert. Am Abend hält ein Wissenschaftler aus Turin, Matteo Kraler, einen Vortrag über die großen Migrationsbewegungen, «die durch den Klimawandel in naher Zukunft zu erwarten seien» (KJ, 54).

Matteo Kraler sprach auch über seinen Landsmann Leone Caetani, der Anfang des vergangenen Jahrhunderts die These aufgestellt hatte, dass die arabische Halbinsel und die arabische Wüste einst fruchtbar gewesen seien und erst ihre Austrocknung und Überbevölkerung die großen islamischen Eroberungszüge in Gang gesetzt hätten. Sein zehnbändiges Werk Annali dell’Islam galt als Grundstein der modernen Islamwissenschaft, und ausgerechnet er, ein Historiker, der nicht aus den Naturwissenschaften kam, stellte umweltbedingte Faktoren ins Zentrum und nicht oder nicht nur die Religion, wenn es um das kriegerische Auftreten ganzer Stämme ging. (KJ, 55)

Kraler diskutiert in seinem Vortrag in Anlehnung an die Thesen Caetanis die Dürre in Syrien und in dem Fruchtbaren Halbmond, der versanden wird, als Ursache für die zeitgenössischen Migrationsbewegungen. Er bezeichnet diese von Klimawandel betroffene Gegend als ein Gebiet, von wo aus sich «die Millionen und Abermillionen von Menschen, die dort leben, in Bewebung setzen und sich von nichts und niemandem aufhalten lassen» (KJ, 56). Dabei wählt er für seine Analyse des Phänomens der Klimamigration das Apokalypsenarrativ, das Gabriele Dürbeck als eines der Narrative identifiziert hat, mithilfe derer heutzutage über Umweltprobleme gesprochen werde[9].

Neben Markowich, Selig, Kraler und Caetani ist noch von einem weiteren Klimaforscher die Rede, Bülent Aydin aus Ankara, der nicht mehr in seine Heimat zurückkehren und in Amerika Asyl beantragen will. Somit wird die rhapsodische Verknüpfung von Klima und Migration in den einzelnen Biographien der verschiedenen Figuren zunächst thematisch angeschnitten, dann aber gleichzeitig in der spezifischen Figurenkonstellation ironisch reflektiert: Klima steht hier eben nicht metaphorisch ein für menschliche Beziehungen, wie das Perez und Aycock noch der anglophonen Klimafiktion attestiert haben, sondern in allen Fällen immer rhapsodisch verknüpft mit Flucht, wobei allerdings das Verhältnis zwischen den zwei Phänomenen nicht eindeutig erkennbar ist[10]. Gstrein entwickelt für diese Uneindeutigkeit eine Figurenkonstellation, in der sich die einzelnen Charaktere gegenseitig spiegeln und kommentieren: Matteo Kraler mit seinem Apokalypsenarrativ, Tim Markowich mit seinem Zynismus und Idea Selig mit ihrer Dritte-Welt-Pose, die alle Schuld und Verantwortung für den Klimawandel an die Erste Welt abschiebt. Alle diese Positionen wirken auf den Erzähler ein, der angesichts dieser Multiperspektivität die Geschichte der syrischen Familie in dem Haus am See in der mecklenburgischen Provinz mittels einer Reihe von rhapsodischen Verknüpfungen aufrollt. Klimamigration setzt sich somit literarisch zusammen als eine Polyphonie von rhapsodischen Stimmen, die sich gegenseitig spiegeln. Mit dieser Technik der Spiegelung gestaltet Gstrein das Thema Klimawandel, indem er auf die Unsichtbarkeit des Phänomens, dessen langsame Gewalt und historisch naheliegende, aber nicht kausal nachweisbare Verknüpfung mit Flucht, Asyl und Auswanderung eingeht[11].

Wie artikuliert sich diese Polyphonie rhapsodischer Stimmen auf der Textebene?

II

Fritz Heidorn meint zum Thema literarische Gestaltung von Klimawandel: «[o]hne emotionale Bezüge – besser noch: romantische Verwicklungen – wird die Bereitschaft der Bevölkerung, Anpassungsmaßnahmen im Alltag zu ergreifen oder zu initiieren, gering bleiben»[12]. Heidorn bezeichnet den Klimawandel in dem Zusammenhang als eine unendliche Novelle. Im Gegensatz zu abstrakten soziologischen Analysen trügen fiktionale Texte durch ihre emotionalisierenden Verfahren viel mehr zum Verständnis dieses unsichtbaren Phänomens bei, weil sie die individuelle und persönliche Seite in den Blick rücken[13]. Im Kontext ihrer Analyse des Genres der anglophonen Klimafiktion haben Adam Trexler und Adeline Johns-Putra darüberhinaus für eine Öffnung des «Ecocriticism» gegenüber dem Klimawandel plädiert:

[…] many novels do more than employ climate change in terms of setting; they begin to explore the relationship between climate change and humanity in psychological and social terms, exploring how climate change occurs not just as a metereological or ecological crisis «out there» but as something filtered through our inner and outer lives. In this way, climate change asks for authorial innovation, demanding plotlines and characterizations that participate in the global, networked, and controversial nature of climate change.[14]

Gstrein weicht von diesem Trend ab. Er gestaltet das Thema Klimawandel nicht, indem er innovative Handlungslinien und global vernetzte Charaktere gestaltet, sondern indem er das Thema mit einem zweiten Thema rhapsodisch verknüpft. Er schreibt damit Trojanows Projekt – wie erzählt man den Klimawandel – fort und gibt ihm durch die Verkettung mit dem Thema Migration eine noch komplexere literarische Gestalt.

Zeno Hintermeier hatte sich bereits gefragt, was die Naturwissenschaft zur Lösung des Problems von Klimawandel beitrage: seit zwanzig Jahren seien die Ereignisse schlimmer als die Prognosen; die Naturwissenschaft sei lediglich beschreibend, nicht transformierend, ein Thema, dass der Autor selber ebenfalls in einem Gespräch angeschnitten hat[15]. Hintermeier findet aber in Eis Tau zu keiner tragfähigen Lösung. Axel Goodbody zufolge ist es die Nähe des Autors zu seiner Hauptfigur, die problematisch sei:

Although […] the book actually seeks to challenge readers to find a third way between the tourists” indifference to climate change and Zeno’s misanthropy, despair, and eventual suicide, some passages read embassasingly like a straightforward outpouring of the author’s feelings.[16]

Diese Nähe führe dazu, dass der Leser sich nicht genug von der Figur distanziere und dass der Text dadurch eine didaktische Note annehme – eine Position, die der Heidorns diametral entgegengesetzt ist[17]. Der Zugang zum Thema über den Affekt unterstreiche allerdings gleichzeitig wiederum die ethische Dimension des Romans, wie auch Frauke Matthes betont hat[18]. Matthes interpretiert «Zeno’s consciously felt “sense of belatedness” and his documentation of the melting glaciers as well as people’s growing ignorance of “otherness” as an attempted “ethical act”»[19]. Zenos körperliche Begegnungen mit «seinem» Gletscher seien als Weiterführung des islamischen Begrüßungsritual, das Trojanows Hauptfigur in dessen Roman Der Weltensammler (2011) erlernt habe, zu verstehen, was Zenos Reise in die Antarktis zu einer Art Pilgerschaft mache[20]. Zenos “Pilgerschaft” steht damit in krassem Gegensatz zu Dan Quentins Kunstinstallation, die sich eher reißerisch und medien-manipulativ mit dem Thema Gletscherschmelze auseinandersetzt. Quentin fotographiert die gesamte Besatzung des Kreuzfahrtschiffes in Form eines SOS auf dem antarktischen Eis aus der Luft, um so auf das Schicksal des schmelzenden Eises aufmerksam zu machen[21]. Trojanow verhandelt somit das Thema Klimawandel in seinem Roman auf mehreren Ebenen und stellt verschiedene ästhetische Lösungen zur Debatte: auf der einen Seite erfindet er eine spektakuläre Künstlerfigur, die in ihrer Installation die Kalamität des schmelzenden Eises thematisiert; auf der anderen Seite wird der melancholische Wissenschaftler zum Anti-Held, der in einem spektakulären Akt der Selbstauslöschung die gesamte Schiffsbesatzung gefährdet. Auf welche Seite sollen sich die Leser schlagen?

Gstrein kompliziert Trojanows Gegenüberstellung von zwei Figuren und zwei ästhetischen Lösungen noch mehr, indem er Klimawandel mit Migration thematisch verknüpft und in einer spezifischen Figurenkonstellation verschränkt. Im ersten Teil des Romans erzählt Richard die Geschichte der syrischen Flüchtlingsfamilie aus der Distanz von New York. Dabei wechselt er in den einzelnen Kapiteln jeweils zwischen Klima und Flucht hin und her, wobei deren Verstrickung mit dem allmählichen Fortschreiten der Handlung immer deutlicher wird. Zum erstenmal ist von der Flüchtlingsfamilie am Ende des ersten Kapitels die Rede kurz nachdem Tim Markowich Richard aufgefordert hat, nach Kanada auszuwandern:

Ich hatte ihm [Tim] nicht erzählt, dass wir unser Sommerhaus knapp eine Stunde außerhalb von Hamburg erst drei Monate zuvor an eine Familie aus Damaskus vermietet hatten, aber alles was er von einem bestimmten Punkt an sagte, bezog sich darauf. (KJ, 25).

Die rhapsodische Verschränkung von Klima und Migration in einem Nebensatz muss also immer trianguliert werden mit den Themen, die die Klimaforscher in New York diskutieren. Ästhetisch geschieht diese Triangulierung in der rhapsodischen Verknüpfung von Klima und Flucht in der Figur des sich erinnernden Erzählers.

Von New York aus berichtet er, wie es zu dieser Situation gekommen ist: von der Entscheidung seiner Frau Natascha, ihr Haus am See an die Familie Farhi zu vermieten; von der Lage des Hauses im ehemaligen Osten, von der Skepsis der Nachbarn und den einbandagierten Schönheitspatienten aus dem nahegelegenen Sanatorium, vom Einzug der Fahis und der allmählich sich steigernden Bedrohung durch eine Bande Jugendlicher. Dabei ist zentral, dass Richard immer auch die Perspektive der Farhis – vor allem Herrn Farhis – versucht wiederzugeben, wobei er sich zumindest teilweise über die Projektivität seiner Darstellung im Klaren ist:

Herr Farhi schien die ganze Zeit ein Lächeln um den Mund zu haben, wenn sie [Natascha] ihn auf etwas hinwies, als wolle er ihr zu verstehen geben, darum gehe es doch nicht, […]. Dabei bedankte er sich unaufhörlich, und vielleicht interpretierte ich die Blicke auch falsch, die er mit seiner Frau wechselte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, vielleicht war es nicht Panik, die darin zum Ausdruck kam, sondern stiller Protest und ein Unbehagen, sich überhaupt auf die Situation eingelassen zu haben. (KJ, 32-33).

Diese vermeintliche Perspektive der Farhis wird gefiltert durch die Perspektive des Erzählers zu einem Teil der Polyphonie von Stimmen, die den Roman kennzeichnet.

Die Handlung wird dann komplizierter mit der Einführung neuer Charaktere und Schauplätze: der verstorbenen Zwillingsschwester Nataschas, Katja, der Tochter Fanny, des katholischen Pastors aus Hamburg, der Situation im Asylheim am Rande von Hamburg sowie der zunehmenden Bedrohung durch die Jugendbande. Der erste Teil des Romans, «Kanada», endet mit der Erzählung von Richards Fahrradunfall im Norden von New York, der ihn hilfesuchend in das Dorf «Canaan» führt. Dabei hilft ihm die Vorstellung,

dass ich nicht ein Pechvogel war, der einen banalen Fahrradunfall gehabt hatte, sondern ein Indianerhäuptling, dem sie das Pferd unter dem Hintern weggeschossen hatten und der jetzt seinen Verfolgern zu entkommen trachtete und leichtfüßig durch die Wildnis lief. (KJ, 103)

Hier imaginiert sich der Erzähler in ein Opfer von Geschichte, eine Rolle, die ihm als Kind Tiroler Eltern, die ihren Gasthof während des Sommers an arrogante deutsche Touristen vermietet haben, wie auf den Leib geschrieben ist (siehe KJ, 23). Je näher Richards Rückkehr nach Hamburg rückt, desto größer wird die Bedrohung der syrischen Familie durch die Jugendlichen. Natascha setzt sich immer mehr für die Farhis ein und die Spalte, die Richards Gletscherwelt von Nataschas Bücherwelt trennt, wird immer tiefer. Die rhapsodische Verstrickung von Klima und Migration, die in «Kanada» noch aus der Ferne erzählt wird, nimmt im zweiten Teil des Romans, «Canaan», immer mehr novellistische Strukturen an, wobei sich eine unerhörte Begebenheit an die nächste reiht.

An das biblische Canaan erinnert aber weder der Ort im Bundesstaat New York noch die Gegend um das Sommerhaus am See. Nach einem Vorfall am Tag des Schulabschlussflohmarkts in dem nahegelegenen Städtchen (vgl. KJ, 123), ist es die Entführung der zwei syrischen Jungen und eines ihrer deutschen Freunde, die die Handlung vorantreibt. Diese unerhörte Begebenheit wird dabei vom Ende her erzählt. Richard beginnt seine Erzählung mit der Wiederauffindung der drei Jungens nachts um zwei Uhr und entfaltet dann episodisch und szenisch, wie es dazu gekommen ist: er berichtet von den anderen jungen Flüchtlingen, die Herr Farhi zur Verstärkung bei der Suche engagiert hat (siehe KJ, 145ff.), von dem Dorfpolizisten und von dem Gerücht über das Baumhaus, in dem die Entführten dann tatsächlich aneinandergefesselt und geknebelt aufgefunden werden. Danach überstürzt sich die Handlung: Natascha mietet ein Hotelzimmer am Hauptplatz des nahegelegenen Städtchens, Richard und Fanny reisen zu «seinem» Hausgletscher in Tirol, Richard erwirbt drei Flugtickets nach New York, er erhält ständig anonyme Emails mit Fotos von Natascha und Herrn Farhi, die beiden veranstalten eine gemeinsame Lesung des zusammen verfassten literarischen Materials, und Richard besucht zum letztenmal das Sommerhaus und die Farhis. Auch Idea meldet sich hin und wieder aus der Ferne und kommentiert das Motto des Romans über die kommenden Jahre:

Ideas Erklärung, dass sie aus den Gesängen eines Aztekenkönigs stamme, der einer der mächtigsten Herrscher seiner Epoche gewesen sei und der als solcher eine Vielzahl von Menschenopfern angeordnet habe, gab den Worten «No para siempre en la tierra, solo un poco aqui» neben ihrer natürlichen Melancholie eine ganz andere Dringlichkeit, und ich konnte kaum erwarten, dass es hell wurde, um wieder an den See hinauszufahren. (KJ, 167-68)

Das Wissen um die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens auf dieser Erde wird rhapsodisch mit dem Kanaan der Farhis verknüpft, das in Richards Erzählung sich in rasendem Tempo von der Idylle zur Hölle verwandelt.

Richards und Fannys Abstecher auf «seinen» Hausgletscher verknüpft das Thema Gletscher und Wüste (Klimamigration) auf rhapsodische Weise zu einem dialektischen Bild:

An einem Tage war die Gletscheroberfläche leuchtend gelb von Sahara-Sand, und Fanny hörte nicht auf, sich um die eigene Achse zu drehen vor diesem Wunder, bis ihr schwindlig wurde und sie hinfiel und sich gleich darauf im Schnee und im Sand wälzte. Dann wieder legte sie sich vorsichtig nieder, machte mit Armen und Beinen Flappbewegungen, bis sie ihren ersten Engel im Schnee hatte, einen Wüstenbewohner, und wiederholte das, als sollten es Legionen werden, für all die kommenden Jahre, für meine und ihre, oder wenigstens für jedes Jahr einen. (KJ, 187)

Diese kommenden Jahre (der Klimamigration) brauchen offensichtlich Legionen von Engeln im Schnee, die gleichzeitig auch Wüstenbewohner sind, um die Welt von der Gletscherschmelze, der Versandung und der kommenden Flüchtlingswelle zu bewahren. Dieses Bild spiegelt die zentralen Begegnungen, die der Erzähler mit Tim, Idea, anderen Kollegen, Natascha, Katja und Fanny hat, in einem dramatischen Tableau. Nach diesem Besuch «seines» Gletschers weitet sich der Graben zwischen Richard und Natascha; die gemeinsame Reise nach New York wird abgesagt und Richard kehrt ein letztesmal an den See zurück, um Herrn Farhi zu erklären, dass Deutschland nicht das verheißene Land sei (siehe KJ, 230), bevor er alleine nach New York fliegt, um sich von der Situation mit den Farhis und seiner Verstrickung mit ihrem Schicksal zu entfernen. Die drei Schlussoptionen, die der Erzähler seinen Lesern anbietet, spielen dabei mögliche Varianten für das Romanende in verschiedenen Modi und Tonlagen durch.

III

Die Romanhandlung kommt eigentlich erst richtig in Gang mit einem Fernsehbeitrag über die Farländers und deren großzügiges Angebot, Nataschas Sommerhaus der Familie Farhi zu überlassen:

Darin waren Natascha und ich mit den Farhis zu sehen, sie vorgestellt als die erfolgreiche Schriftstellerin, die sie war, ich als der Gletscherwissenschaftler aus Tirol, der in Hamburg lehre und dessen Wort in Sachen Erderwärmung auf der ganzen Welt zähle, was mehr als nur eine kleine Übertreibung war. […] Ich hatte vor dem Haus den Grill aufgebaut und drehte mit der Grillzange die Fleischstücke und Würstchen um, eine Flasche Bier in der Hand, während die Farhis um den Holztisch im Garten saßen und Natascha ihnen aus einer Karaffe Limonade einschenkte. (KJ, 46-47)

Die Fernseh-Einstellungen sind dabei so gewählt, dass die idyllische Lage des Sommerhauses am See betont wird und der Beitrag als Pastorale lesbar wird. Eine Sprecherin berichtet darin über den Beruf von Herrn Farhi und dessen Flucht übers Meer, wobei im Hintergrund eine Szene eingeblendet wird, die zwar Menschen auf der Flucht zeigt, aber eben nicht die Flucht der Farhis dokumentiert:

[M]an konnte ein auf den Wellen schaukelndes, überfülltes Schlauchboot sehen, Rettungsweste an Rettungsweste, orange leuchtend in der aufgehenden Sonne, und in jeder einen winzig wirkenden und wie nur von diesem Stützkorsett aufrecht gehaltenen Kopf. (KJ, 47)

Mit solchen allgemeinen Bildern, die zwar das Narrativ der Sprecherin unterfüttern, aber die Verbindung zwischen Text und Bild nicht konkret machen, werden Klischees bedient (die aufgehende Sonne), gleichzeitig ein Katastrophennarrativ gestrickt, das die flüchtenden Menschen im Kontext einer gefährlichen Natur situiert (Wellen, winziger gestützter Kopf). Als nächstes wird Natascha eingeblendet, die von Menschlichkeit und Selbstverständlichkeit spricht, allerdings dabei der Redakteurin des Fernsehbeitrags einen zu grimmigen Ausdruck macht, der der Botschaft des Films widerspricht (siehe KJ, 48). Zum Schluss sieht man Richard, «einen im Hintergrund an seinem Grill herumhantierenden Fremden, der kaum aufblickte, obwohl er offensichtlich wahrnahm, dass er im Fokus stand» (KJ, 48). Im Hintergrund erkennt man die beiden Jungen der Farhis beim Federballspiel und Fanny, die im Garten herumtanzt «als wäre sie selbst ein Schmetterling» (KJ, 48). Damit ist die Idylle perfekt: alle wirken entspannt, freundlich und eins mit der Natur.

Idea liest die Szene allerdings gegen ihre Intention: sie erkennt die latente Bedrohung, die von Richards erhobener Grillzange ausgeht, und kritisiert Natascha als «ein blondes Monster der Moral» (KJ, 51). Kurz nach der Ausstrahlung dieses Fernsehbeitrags erscheint ein Artikel in einem Wochenmagazin mit dem Titel «Syrische Flüchtlingsfamilie hilft bekannter Schriftstellerin über den Verlust der geliebten Schwester hinweg» (KJ, 65). Richard findet ihn abstoßend, weil er das Material auf typische Art und Weise der Boulevard Presse reisserisch ausschlachtet und auf eine emotionale Ebene herabspielt. Eine solche journalistische Verarbeitungsweise triefe vor falschem Mitleid (vgl. KJ, 65), was eine Verkürzung der komplexen Situation darstelle.

Selbstbestimmter wird es, wenn Natascha sich dazu entscheidet, eine Kolumne für eine Berliner Zeitung zu schreiben, die in mehreren Folgen die ersten Tage der Familie am See literarisch gestaltet (siehe KJ, 91). Richard äußert auch dazu seine Bedenken und Zweifel:

Einerseits verstand ich den Sinn, damit das Beispiel sichtbar zu machen, andererseits musste sie wissen, wie sehr mir diese unmittelbare journalistische Bewirtschaftung, diese schriftstellerische Nutzbarmachung um jeden Preis gegen den Strich ging, ganz abgesehen davon, dass nicht nur wir dadurch mit unserem Haus noch mehr in die Öffentlichkeit rückten, sondern dass auch die Farhis für die Zeitungsleser einen Namen und eine Anschrift bekamen. (KJ, 91-92)

Dass Natascha sich zu dem Zeitpunkt mehr und mehr der schriftstellerischen Verwendung der Situation der Farhis zuwendet, mag ein Grund für die sich allmählich auseinander entwickelnde Beziehung von Richard und Natscha sein. Indem Gstrein dieses Moment der schriftstellerischen Verarbeitung des Flüchtlingsthemas intensiviert und in die zu ihrem tragischen Ende voranschreitende Romanhandlung einbaut, zeigt deutlich, dass es sich bei der Erzählung von Nataschas Schreibprojekt um ein poetologisches Projekt handelt, das das Thema Klimamigration literarisch fragwürdig ausschlachtet.

In diesem Schreibprojekt arbeitet Natascha zusammen mit Bassam, wie Herr Farhi mittlerweile von ihr genannt wird, an einer Fiktionalisierung der Erfahrung von Flucht. Richard und Natascha streiten sich über die Bedeutung künstlerischer Ansätze, «die immer gerade ein paar von den Ärmsten für eine Performance brauchten» (KJ, 197). Richard geht es dabei um die problematische Rolle des Performativen: «ein Leben auf der Bühne sei immer nur ein Bühnenleben, […] ein Flüchtling könne einen Flüchtling spielen, aber er sei dann eben ein gespielter Flüchtling, echt sei am Ende nur der Tod» (KJ, 198). Damit wird die Authentizität einer gespielten Szene in Frage gestellt, eine Position, die in der folgenden Passage literarisch in Szene gesetzt wird wird. Natascha und Bassam treten in der Bücherei des nahegelegenen Städtchens gemeinsam auf, wobei dieser Auftritt stark choreographiert ist und die Bewegungen stilisiert wirken:

Zuerst kam Natascha allein auf die Bühne. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt und trug ein Kleid, das ich nicht kannte, mit einer verwirrend von einer Perspektive in die andere kippender Quadermuster. […] Dann trat Herr Farhi auf und Natascha stellte ihn als ihren Freund Bassam vor. […] Er trug einen übergroßen, schwarzen Anzug, in dem er fast verschwand, dazu ein weißes Hemd. Wenn er seinen Raubvogelblick über die Anwesenden streichen ließ, schwankte er zwischen Wachsamkeit und Ironie. (KJ, 202-3).

Wir Leser verfolgen somit den Auftritt von Natascha und Hern Farhi aus Richards Perspektive, der sich gleichzeitig Gedanken darüber macht, was der Dorfpolizist wohl über die ganze Sache denke und somit das Vorgetragene durch zwei Perspektiven gefiltert wird. In dem vorgetragenen Text wird gefundenes Material in stark abgewandelter Form präsentiert, wobei die einzelnen Handlungselemente intensiviert sind, um die dramatische Spannung zu erhöhen.

Wichtig dabei ist zu verstehen, wie der Text abgewandelt wird. Als erstes wird ein billiger Witz eingefügt, der auf Kosten einer lispelnden Beamtin geht, die Herrn Fahri mit «Sie als Syrer» anspricht, es tatsächlich aber als «Sie als Führer» herauskommt (vgl. KJ, 205). Dann wird in einem zweiten Schritt die hyperbolische Intensivierung des Materials in der Fiktionalisierung problematisiert, weil sie dem Muster der Boulevard Presse folgt: statt von der Flucht über die Türkei nach Griechenland, die die tatsächliche Fluchtroute der Farhis darstellt, wird dieser Teil des vorgetragenen Schreibprojekts mit einer wesentlich längeren und gefährlicheren Überfahrt von Libyen nach Lampedusa ersetzt (siehe KJ, 205). Als eine der Zuhörerinnen eine Nachfrage stellt zu der Authentizität des Beschriebenen, treibt es Natascha und Bassam zu einer detaillierten Ausschmückung der möglichen Gefahrenmomente einer solchen Reise:

«Wollen Sie also sagen, dass nichts davon wahr ist?»
«Natürlich ist es wahr».

«Aber Sie haben es nicht mit eigenen Augen gesehen».
«Ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen», sagte er. «Es ist aber trotzdem geschehen und geschieht weiter, während wir hier Daumen drehen». (KJ, 206)

Richard sieht das Problem in der Fiktionalisierung des Themas Flucht selbst und in der Tatsache, dass Natascha in erster Linie die Geschichte erzähle und Herr Farhi wenig zu Wort komme (siehe KJ, 207). Das sei eine schriftstellerische Nutzbarmachung des Flucht Materials, die die Mittel der Fiktion zwar einsetzt, um eine Situation zu vergrößern und literarisch zu gestalten, das angesprochene Subjekt aber nicht selber sprechen lässt.

Damit kommentiert der Erzähler auf selbst-reflexive Weise die ethischen Konsequenzen der verschiedenen poetologischen Optionen, in denen die rhapsodische Verknüpfung von Klimawandel und Flucht in diesem Roman schriftstellerische Verwendung findet. Die Reflexion auf die Rolle der Fiktion in der deutschen Rhapsodie von Klimawandel und Flucht schließt damit an eine zentrale Diskussion in der Literatur zum Klimawandel an, die von dem indischen Schriftsteller Amitash Gosh in seinem Buch The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable (2016) jüngst thematisiert worden ist[22]. Gosh bezweifelt darin, dass Literatur, Geschichte und Politik effektiv mit dem Klimawandel umgehen können, weil sie das Ausmaß und die Gewalt des Phänomens nicht in den Blick bekommen. Auf seiner Webseite fasst er das Fazit von The Great Derangement wie folgt zusammen:

The extreme nature of today’s climate events […] makes them peculiarly resistant to contemporary modes of thinking and imagining. This is particularly true of serious literary fiction: hundred-year storms and freakish tornadoes simply feel too improbable for the novel; they are automatically consigned to other genres. In the writing of history, too, the climate crisis has sometimes led to gross simplifications […][23]

Entgegen Goshs Pessimismus, was die literarische Darstellung von Klimawandel angeht, findet Gstrein in seinem Roman zu einer tragbaren Lösung dieses Problems, indem er auf der Figuren- und Handlungsebene eine Reihe von Konstellationen schafft und am Ende des Romans verschiedene literarische Optionen durchspielt, die sich gegenseitig spiegeln und kritisch kommentieren. Durch die Struktur der rhapsodischen Reihung und Verknüpfung der einzelnen Themen entwickelt er eine Romanform, die sich poetologisch und ethisch mit dem Erzählen von Klimawandel und Flucht auseinandersetzt. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur Diskussion von zwei zentralen Themen unserer Gegenwart, die hier in ihrer rhapsodischen Verknüpfung in den Blick rücken.

Literaturverzeichnis

Blom, Phillip. «Zeiten des Klimawandels: Ein historischer Brückenschlag von der kleinen Eiszeit bis heute». APuZ: Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 68 (Mai 2018): 4-10.

Casimir, Torsten. «Gespräch mit Ilija Trojanow auf der Frankfurter Buchmesse» (15. Oktober 2011). Web: https://www.youtube.com/watch?v=XxfT4-XCtVo.

Clark, Timothy. «Some Climate Change Ironies: Deconstruction, Environmental Politics and the Closure of Ecocriticism». The Oxford Literary Review 32 (2010): 131-49.

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Dicks, Joachim. «Die Welt im Umbruch: “Die kommenden Jahre” von Norbert Gstrein». NDR (27. 2. 2018).

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[1] Norbert Gstrein, Die kommenden Jahre, München: Hanser, 2018. Alle Verweise auf diesen Roman sind im Fließtext mit der Sigle KJ und einer Seitenzahl gekennzeichnet.

[2] Tobias Widmeier», Rhapsodie», Fachbibliothek Musikwissenschaft, Web: LINK. Siehe auch Walter Salmen, Geschichte der Rhapsodie, Freiburg: Atlantis Verlag, 1996, S. 15ff.

[3] Siehe zum Hintergrund dieser Figur die deutsche Wikipedia, «Nezahualcóyotl», Web: LINK.

[4] Siehe Timothy Clark, «Some Climate Change Ironies: Deconstruction, Environ­mental Politics and the Closure of Ecocriticism», The Oxford Review 32 (2010): 144.

[5] Siehe Fridtjof Küchemann, «Deutschland ist einfach nicht das Paradies», FAZ (10.3. 2018); Joachim Dicks, «Die Welt im Umbruch: “Die kommenden Jahre” von Norbert Gstrein», NDR (27. 2. 2018); Anne Häming, «Ein Leben zäh wie Gletscher», Spiegel, Web: LINK (27. 2. 2018); Andreas Schröter, Buchbesprechung, Schreiblust-leselust.de (28. 2. 2018).

[6] Siehe Antonia Mehnert und Gregers Andersen, «Der Held und das Wetter: Literatur und Klimawandel», Goethe.de/klima (November 2013).

[7] Siehe Ilija Trojanow, EisTau, München: Hanser, 2011.

[8] Siehe Phillip Blom, «Zeiten des Klimawandels: Ein historischer Brückenschlag von der kleinen Eiszeit bis heute», APuZ: Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 68 (Mai 2018): 5.

[9] Siehe Gabriele Dürbeck, «Das Anthropozän erzählen: Fünf Narrative, APuZ: Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 68 (Mai 2018): 13.

[10] Siehe Janet Perez und Wendell Aycock (Hg.), Climate and Literature: Reflections of Environment, Lubbock, TX: Texas Tech University Press, 1995, S. 4.

[11] Zur langsamen Gewalt siehe Rob Nixon, Slow Violence and the Environmentalism of the Poor, Cambridge: Harvard University Press, 2011, S. 3.

[12] Siehe Fritz Heidorn, «Mahlstrom in die Zukunft: Klimawandel im Lichte der Literatur», GAIA 18 (2009): 17.

[13] Siehe Heidorn, S. 18.

[14] Siehe Adam Trexler und Adeline Johns-Putra, «Climate Change in Literature and Literary Criticism», Climate Change 2 (2011): 196.

[15] Siehe Torsten Casimir, «Gespräch mit Ilija Trojanow auf der Frankfurter Buch­messe» (15. Oktober 2011), Web: LINK.

[16] Siehe Axel Goodbody, «Melting Ice and the Paradoxes of Zeno: Didactic Impulses and Aesthetic Distanciation in German Climate Change Fiction», Ecozon@ 4 (2013): 97.

[17] Siehe Goodbody, S. 100.

[18] Siehe Frauke Matthes, «Ethical Encounters with Nature: The Male Explorer in Ilija Trojanow’s EisTau», Gegenwartsliteratur 15 (2016): 311ff.

[19] Matthes, S. 316.

[20] Siehe Matthes, S. 323. Siehe auch Julian Preece, «Mr. Iceberger Runs Amok: The Aporias of Commitment in EisTau/Melting Ice», Ilija Trojanow, hg. Julian Preece, Oxford: Lang, 2013, S. 111ff.

[21] Siehe hierzu Sabine Wilke, «Performances in the Anthropocene: Embodiment and Environment(s) in Ilija Trojanow’s Climate Change Novel», in: Presence of the Body: Awareness In and Beyond Experience, hg. Gert Hoffmann und Snjezana Zadar, Amsterdam: Brill 2016, S. 176.

[22] Amitav Gosh, The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable, New York: Penguin, 2016, S. 15ff.

[23] Siehe LINK.