Linda Puccioni

(Siena)

Poetik des Scheiterns
Eine Analyse von Gregor von Rezzoris «Der Schwan»

[The poetics of failure. An analysis of Gregor von Rezzori’s «Der Schwan»]

abstract. Gregor von Rezzori’s novel Der Schwan presents a highly symbolic narrative structured on important dichotomies such as life and death, beginning and end, childhood and adulthood. The young narrator experiences different situations, such as the suicide of his uncle, the unwished-for separation from his beloved sister, his first encounter with a girl, and the murder of a swan, to all of which he reacts in a passive way. However, he remains entangled in his family bonds and all these experiences come to symbolize the predestined nature of his life, which is and will be characterized by a series of failures and by his decline.

I. Kurze Einleitung

In die scheue Stille um den Toten, die wie ein angehaltener Atemzug in der Sommerhitze stand, fädelte eine fett schillernde Schmeißfliege ihr inbrünstiges Lebenslied, wahngetrieben ins verworrene Geschlaufe einer Flugbahn, mit der sie die Hieroglyphe der sinnlosen Existenz einwob in den trägen Nachmittag, in dem das Haus fremd und verloren lag, mit morschen Fensterläden und brüchigen Damastvorhängen, undicht in zeitentrückter Halbdämmerung um einen feierlichen Lichtkern von seifig räuchernden Kerzenflammen gekapselt.[1]

Gregor von Rezzoris Novelle Der Schwan baut auf der Dichotomie von komplementären Themen auf, wie Leben und Tod, Kindheit und Erwachsensein, Anfang und Ende. Diese werden gleich im ersten Absatz der Erzählung eingeleitet, wie es das obige Zitat verdeutlicht.

Eine grundsätzliche Opposition zeigt sich gleich am Anfang des Textes, indem die Aufmerksamkeit auf den toten Körper des Onkels gelenkt wird. Dieser Aspekt leitet auch das große Thema des Todes ein, welchem sofort das «inbrünstige Lebenslied»[2] der Schmeißfliege, die um die Leiche herumfliegt, als Parabel des Lebens entgegengesetzt wird. Somit wird eine klare Distanz zwischen zwei gegensätzlichen Welten – dem Tod und dem Leben – gesetzt. Dieses anfängliche Bild leitet so die Stimmung der ganzen Erzählung ein, die in zwei große Sphären gespalten ist: Einerseits das Streben nach einer Bewegungsfreiheit, der Wunsch nach einer fließenden Existenz; andererseits die bedrückende Stimmung, die die ganze Erzählung begleitet, die Fesseln einer eingeklemmten und verketteten Existenz – die hier durch das Bild der scheuen Stille um den Toten dargestellt wird –, die sich kaum aus den Fängen einer matriarchalischen Familie und einem ständig vom Versagen bedrohten Schicksal lösen kann.

Neben dem Gegensatz zwischen Leben und Tod fällt das Thema der Verfremdung bzw. des Zerfalls auf, welches sowohl architektonisch als auch metaphorisch dargestellt wird. Es ist der Zerfall des alten Hauses der Familie, welches nun als «fremd» und «verloren» erscheint, dessen Fenster «morsch» und zerbrechlich sind. Gleichzeitig ist, «in zeitentrückter Halb­dämmerung», der Zerfall einer vergangenen und nicht mehr wiederkehrenden Epoche, einer politisch-historischen Zeit, einer nicht mehr ersetzbaren Lebensphase des Eins- und Zusammenseins dargestellt, welche für immer der Vergangenheit angehört. Die Halbdämmerung fungiert hier als Einleitung und führt gleich am Anfang des Textes die große Metapher einer Existenz ein, die sich wie die Flamme einer Kerze dem Ende – oder auch dem Zerfall – nähert, und die stets von einer gebrochenen Schwächlichkeit gekennzeichnet wird.

Gregor von Rezzori schreibt die Novelle Der Schwan 1994 und geht innerhalb der Erzählung den Schnittpunkt der Existenz des jungen Protagonisten und des alten Erzählers vom Ende des Kindheitsparadieses bis zum Eintritt in das Erwachsenwerden durch. Geographisch-historisch ist die Erzählung in einer quasi verlorenen oder vergangenen – im Sinne von nicht mehr existierenden – Ort und Zeit angesiedelt. Der Ich-Erzähler erinnert sich und berichtet aus seiner Perspektive als Kind die Geschichte von seinem Elternhaus im damaligen Heimatdorf weit im Osten, nahe der russischen Grenze, welche gleich an Rezzoris Bukowina und an seine Geburtsstadt Czernowitz erinnert[3].

Durch die Erfahrung des Todes, durch die Entdeckung der Sexualität und durch das Bewusstwerden über die Schicksalshaftigkeit seiner Existenz sammelt der junge Protagonist eine Reihe von Erfahrungen, die sich alle als Erlebnisse des Verlusts und des Versagens erweisen und die innerhalb der Erzählung eine wiederholte und voranschreitende Poetik des Scheiterns bilden. Jede Phase bzw. jede Erkenntnis wird durch das Leitmotiv des Todes verbunden. Trotz der Vorahnung eines generellen Scheiterns, welches schon von Anfang an gut vorhersehbar ist, sind die einzelnen erzählten Episoden gleichzeitig immer mit einer grotesken Atmosphäre bzw. mit grotesken Details ausgeschmückt, welche der ganzen Erzählung eine nahezu ironische – wenn nicht absurde – Konnotation verleihen.

II. Ende einer Epoche und Zerfall der familiären Ordnung

Wie schon am Anfang dieses Aufsatzes angedeutet, leitet das erste Bild der Novelle verschiedene Themen ein, welche vom Tod über den Zerfall einer familiären Ordnung bis zum Ende einer historischen Epoche reichen. Onkel Sergej, der sich mit einem Luftgewehrschuss das Leben genommen hat, verkörpert das Bild einer vergangenen und vor allem verfallenen Zeit und zieht mit seinem Tod symbolisch viele andere Enden mit ins Grab. Alleine seine Gestalt, insbesondere wie er herausgeputzt aufgebahrt wird, enthält in sich durch die minutiöse Aufmerksamkeit gegenüber nahezu grotesken Details ein kitschiges Bild des Verfalls und der Verzweiflung einer ganzen Epoche. Der Leichnam wird auf einen Billardtisch gelegt und wie eine Parodie seiner selbst geschminkt; er wird mit seiner alten und abgenutzten Uniform gekleidet und mit Kreuzen und Medaillen übersät: alles erscheint quasi als Versuch, den Verfall einer nun vergangenen, glorreichen Zeit zu verdecken. Gerade dieses erste Bild und der anachronistische Auftritt des toten Onkels in seiner Uniform verkörpert die totale Niederlage einer glorreichen Kaiserzeit und den Untergang der Monarchie. Der Onkel und seine selbstmörderische Geste symbolisieren in erster Linie, wie er verzweifelt einer nun vergangenen und nicht mehr wiederkehrenden Epoche nachhängt, und somit verkörpert er den letzten Repräsentanten einer «Welt von Gestern». Mit seinem Selbstmord schließt er eine historische Zeit endgültig ab, welche schon zu einem unvermeidbaren Scheitern prädestiniert war.

Der Onkel dient nicht nur als Bindeglied eines vergangenen Kapitels der Geschichte, sondern auch als letzter Repräsentant einer familiären Ordnung, welche sich auch auf dem Weg der Auflösung befindet. Die Rückkehr des Protagonisten in das Heimatdorf und in das alte Elternhaus für die Beerdigung des Onkels zeigt einen Schnitt zwischen dem vergangenen Leben und der aktuellen Gegenwart. Der Onkel symbolisiert so den letzten Berührungspunkt einer – zwar schon vergangenen – Zusammengehörigkeit und gleichzeitig einer familiären Ordnung, welche mit dessen Tod zu einem endgültigen Ende gelangt. Der junge Protagonist drückt dies folgendermaßen aus: «[…] Onkel Sergej, dessen getreuliches Schmarotzerdasein unserem Haus den letzten Nachklang von familiärer Zusammengehörigkeit erhalten hat»[4].

Trotz dieser scheinbar düsteren Stimmung der ganzen Erzählung birgt die Geschichte wegen den verschiedenen grotesken Details eine nahezu widersprüchliche Prise Schwarzen Humors in sich, welche sich perfekt in Rezzoris Schreibstil einordnet. Nachdem sich der Onkel seine ganze Existenz lang als Taugenichts und verantwortungsloser Spieler herumgetrieben hat, scheint es kein Zufall zu sein, dass seine Leiche ausgerechnet auf einem Billardtisch liegt. «Geschminkt wie ein Schmierenkomödiant, verkleidet in die Uniform der Garde eines längst untergegangenen Kaiserreichs»[5], erscheint sein Aussehen in den Augen des jungen Neffen als großer Scherz und sein letzter Auftritt ist «sorgfältig inszeniert»[6]:

Der Himmel mochte wissen, aus welchem Dachbodenwinkel die kaiserlich russische Gardeuniform wiederauferstanden war, in der er sich so lächerlich verkleidet ausnahm, als wäre seine Aufbahrung sein letzter nicht eben geschmackvoller Scherz.[7]

Genau so erscheint es auch kein zufälliges Detail, dass der Kopf des Onkels auf dem Taufkissen der jungen Geschwister liegt. Als letztes Mitglied der alten familiären Institution und letzter Bewohner des Elternhauses, welcher sich mit seiner Geste aus dieser gescheiterten Existenz entzieht, leitet er mit seinem Tod indirekt auch das Ende einer idyllischen Zeit der Zweisamkeit des Geschwisterpaares und ihrer unschuldigen Kindheit ein, was nicht zufällig von der Beschmutzung des Taufkissens symbolisiert wird. Innerhalb dieses gesamten Bildes voller Zerfall und Verzweiflung findet jeder Teil der Geschichte seinen Sinn und seine Ordnung wieder. Der Onkel hat sich an die neue Welt nicht anpassen können – oder wollen –, ist an der alten im Krieg untergegangenen Welt der Residenzstädte mit Höfen und Ballsälen einer glorreichen Zeit nostalgisch hängen geblieben und hat sich so dieser neuen Weltzeit mit ihrer neuen Ordnung entzogen. Mit seiner Geste hat er nicht nur einer historischen Zeit das Ende gesetzt, sondern auch einer familiären Epoche, einer reinen Verbundenheit zweier Geschwister, die mit der Beerdigung ihres Onkels auch symbolisch begraben wird.

III. Bruder und Schwester: Zerfall der Zweisamkeit

Die nun veränderte und nicht mehr zu rettende Beziehung zur geliebten Schwester stellt neben dem allgemeinen Thema des Todes den Kern der Erzählung dar. Die nun der Vergangenheit angehörige harmonische Verbindung zwischen den beiden Geschwistern erscheint jetzt als die erste zerrissene Beziehung im Leben des jungen Protagonisten, welcher die Schwester Tanja von nun an als «de[n] fehlende[n] Teil der längst vergangenen Zwei­samkeit»[8] beschreibt.

Der veränderte Körper der Schwester, welche sich von einem Mädchen zu einer jungen Frau entwickelt, erscheint nun als primäres Element bei ihrem ersten Auftritt in der Novelle. Dem Protagonisten und jüngeren Bruder wird darüber bewusst, dass sie sich immer mehr zu einer eigenständigen Persönlichkeit entwickelt und nicht mehr der untrennbare und unabdingbare Teil ihrer Bindung bzw. nicht mehr eine Fortsetzung seiner selbst ist. Die Schwester ist nun

[…] immer noch das Inbild der innigen Geschwisterlichkeit unserer Kindheit, aber ihr doch schon auf eine unerbittliche Weise entwachsen: immer noch meine Schwester Tanja, aber doch nicht mehr die selbstverständliche Ergänzung meiner selbst, sondern etwas durchaus Eigenwilliges, mir sogar Entgegengesetztes, ein schlank aufgeschlossenes Mädchen im Übergang vom Kind zur Frau […].[9]

Die körperlichen Veränderungen der Schwester sind die ersten Signale einer erzwungenen Distanz, sie fungieren zuerst als Grenzen zwischen den beiden und symbolisieren zudem das Ende einer unschuldigen, jetzt nur noch erträumten Zeit der Gemeinsamkeit. Der heranwachsende Körper, welcher sich von einer geschlechtslosen Gestalt zu einer sinnlichen Frau wandelt, vermittelt dem jüngeren Bruder einen unausgesprochenen Abstand und setzt der grenzenlosen geschwisterlichen Liebe unausweichlich einen Bruch:

Ich liebte meine Schwester Tanja, die «Dame» der Ritterspiele meiner Knabenjahre, geschlechtslos wie ein Engel. Die junge Frau, die sie ungeniert vor meinen Augen wurde, durfte ich nicht lieben, ich mußte mir verbieten, an ihre Brüste zu denken.[10]

Nun ist der Junge ein «Ritter ohne Dame» geworden, die Schwester hat ihm ihre Hand entzogen und gehört nicht mehr zu seiner Welt:

Tanja hatte sich mir entzogen, auf eine heimtückisch erzweibliche Weise: indem sie nicht mehr mit mir gemeinsam ins Abenteuer des Lebens eindrang, […] wie in den glückseligen Stunden ungetrübter Zweisamkeit, sondern indem sie mit einmal wußte und sich mir nicht mehr mitteilte – alles vom Leben wußte, auch das Ungekannte, weil sie es jetzt körperlich als Möglichkeit in sich trug; und ich ahnte, daß die Macht, die sie mit dieser Abtrünnigkeit über mich gewonnen hatte, mich ihr gnadenlos auslieferte – und mit ihr allen Frauen, die ich jemals lieben würde: Sie würde mich zum ewig rebellischen Sklaven und, gelegentlich, zum wenig großmütigen Herrn der Geliebten meiner Zukunft machen.[11]

Nicht nur kennzeichnet das gewandelte Verhalten der Schwester das Ende der idyllischen Zweisamkeit und der abenteuerlichen, zusammen erlebten Zeit der Kindheit, sondern fungiert gleichzeitig als Prämisse bzw. Vorwegnahme seiner zukünftigen Beziehungen zu Frauen, welche vorwiegend Unterwerfungen und Frustration gegenüber weiblicher Vorherrschaften versprechen. Die Bestätigung dafür zeigt sich in der ersten Annäherung an ein Mädchen vor der Beerdigung des Onkels, welche sich als komplett gescheitertes Initiationsritual ins Leben des Erwachsen und der Sexualität erweist.

Das Ereignis des Todes und der Rückkehr an den Ort – und in die Zeit – der Kindheit werden zu einer wichtigen Gelegenheit für den jungen Protagonisten, über seine Familiengeschichte und über eine Ordnung nachzudenken, die sich gerade durch den Tod des Onkels endgültig aufzulösen beginnt. So stellt sich die Figur des Onkels für die beiden Geschwister tatsächlich als letzter Anhaltspunkt ihrer Kindheit heraus und sein Tod bzw. sein Selbstmord als «Totenreigen einer für immer hingegangenen Lebenszeit»[12]. Die Kindheit erscheint so immer mehr als eine vergangene, nun abstrakte Realität, indem das Elternhaus als Bühnenbild einer stillstehenden Zeit gilt und ihre Charakteren – der Junge, seine Schwester Tanja und selbst Onkel Sergej – nun noch als mythische Figuren einer Legende auftreten. Die Zeit scheint sich im Haus, genauso wie in der Wahrnehmung des Kindes, der natürlichen Vergänglichkeit der Wirklichkeit und der realen Ereignisse entzogen zu haben; die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hineinscheinen, «wanderten mit den Stunden, die hier nicht zählten, die Zeiger einer Zeit, aus der unser Haus herausgenommen war, ein fremd gewordenes Haus, nicht mehr unser Haus»[13]. Diese Dichotomie zwischen einer verstummten Vergangenheit und der Lebendigkeit der Erinnerung spiegelt sich und vereinigt sich in der Realität der Gegenwart wider:

Mir war, als begäbe ich mich auf eine Entdeckungsreise meiner selbst, entwachsen einem Lebenszustand von gestern und noch nicht in voller Sicherheit beheimatet in einem neuen; und dieses Zwischensein spaltete die erlebte Gegenwart von mir ab, brach ihr Licht wie durch ein Prisma: wie als bestünde das sinnlich Wahrnehmbare aus ineinandergelagerten Schichten, von denen die unmittelbar geschehende, sichtbare, greifbare eigentlich diejenige der geringsten Dichte war und mir das Erlebte eher entrückte, als es mir darzubieten; und zugleich wurde mir bewußt, daß eben das Entfremdende dieser Transparenz es mir nur um so schärfer einprägte: Das Aufgenommene trat damit stufenweise in immer reinerer Konturierung und erweiterter Dimension hervor.[14]

Diese neue Wirklichkeit zwingt den jungen Protagonisten dazu, sich darüber bewusst zu werden, dass seine Kindheit mit ihren Helden und ihrer Abenteuerwelt nun nur noch in den eigenen Erinnerungen als Legende weiterleben oder eher überleben kann. Dies verursacht bei ihm aber gleichzeitig eine innere Spaltung zwischen dem natürlichen Wunsch, bei vielen Situationen seine Schwester bei sich zu haben, und die darauffolgende Frustration über das Bewusstsein der schweigenden Gebrochenheit ihrer bisher so starken Zweisamkeit. In dieser Übergangsphase erlebt der junge Protagonist, welcher noch an der abenteuerlichen Ritterwelt der Kindheit hängt, die Enttäuschung des Ritterseins ohne Dame, bzw. die plötzliche Ablehnung durch die Dame und die Ohnmacht gegenüber einer nun verfallenen Harmonie der geschwisterlichen Liebe.

Wie die meisten Erfahrungen seines Lebens erweist sich aus der Sicht des Ich-Erzählers auch die Trennung von der Schwester nicht als natürliche und gesunde Veränderung einer erwachsen werdenden Beziehung, sondern als bedrohliches Ereignis, das er nicht aktiv beeinflussen kann. Er ist aus diesem Prozess ausgeschlossen, er kann nur draußen bleiben und zuschauen, wie dieses Scheitern einer idealisierten Beziehung sich vollzieht; ihm bleibt nichts anderes übrig, als den Übergang von einer liebevollen Zweisamkeit zu einem verklemmten und desorientierenden Einsam-Sein passiv zu akzeptieren.

Das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit reflektiert sich auch im entsprechenden Empfinden gegenüber seinem Heimatland. Das Land erscheint so als untrennbar von der Familie bzw. die Nicht-Zugehörigkeit gegenüber dem Land widerspiegelt sich auch in der Nicht-Zugehörigkeit zu seiner Familie und somit im Wunsch, sich einer matriarchalischen Familienordnung zu entziehen, in welcher nur die Frauen eine aktive Rolle spielen, während die Männer als unterdrückte, untaugliche Marionetten dargestellt werden:

Land einer Kindheit, der ich wie über Nacht entwachsen war; Land einer Verpflichtung, die ich nicht auf mich nehmen wollte; Land meiner Vorfahren, das ich meinte, mir erschlichen zu haben, weil’s nicht Land der Väter, sondern der Mütter war – Tanjas Land eher als meines, nicht nur, weil sie Tochter von Müttern war, sondern meines Vaters erklärter Liebling.[15]

Den Hinweis des Schicksals auf eine gescheiterte Existenz erlebt und erfährt der Protagonist schon seit frühester Kindheit in einer familiären Konstellation, in welcher die Frauen des Hauses sich als jene erweisen, die Macht ausüben, und die Männer zu untauglichen und nichtsnutzigen Wesen gemacht werden. Seine Kindheit wurde – abgesehen von der idyllischen Beziehung mit der Schwester – von der zerstreuten und abgelenkten Liebe der Mutter ihm gegenüber im Gegensatz zur bedingungslosen Bewunderung mütterlicher- und väterlicherseits für seine Schwester gekennzeichnet. Die männlichen Vorbilder hingegen, die er vor seinen Augen gehabt hat – insbesondere der Vater und der Onkel – waren lediglich da, um die Schwäche seines Geschlechts und die komplette Befolgung der matriarchalischen Gesetze der Familie zu bestätigen. So bezeichnet die Großmutter den Onkel und den Vater folgendermaßen:

Es sind doch beides nur ehemalige Offiziere längst untergegangener Armeen. Nicht einmal Helden. Auch nicht als Invaliden. Wenn sie Helden gewesen wären, lägen sie unter der Erde. Als Tote sind Helden unsterblich, nicht als Verstümmelte. Die Überlebenden sind wandelnde Gespenster.[16]

Männer erscheinen so als Figuren des Versagens, gerade weil sie sich der Unterdrückung der Frauen anbieten. Der junge Protagonist erlebt gleich am Anfang seines Lebens ein verfahrenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen, welches bei ihm einerseits eine innerliche Abneigung gegenüber seiner familiären Konstellation auslöst, andererseits aber eine Art schon festgeschriebenen Schicksals einer verfallenden Existenz: «es gäbe so etwas wie eine heimliche Verschwörung der Frauen, Männer zu nichtsnutzigem Spielzeug heranzuzüchten, um sie männlicheren Männern höhnisch als Zeugen eines letztendlichen Versagens vor die Nase zu setzen»[17]. Den einzigen Weg, sich diesem Schicksal zu entziehen, sieht der Protagonist in der Kunst bzw. darin, Künstler zu werden.

Die letzten Spuren dieser einerseits erdrückenden und andererseits idyllischen Kindheit verkörpern sich in dem sowohl symbolischen als auch konkreten Akt des Lachanfalls, welchen der junge Protagonist während der ganzen Erzählung erwartet und anstrebt. Er sehnt sich nach einem Ausbruch des Lachens, als Moment der Wiedervereinigung mit der Schwester und Erinnerung oder Rückkehr einer harmonischen Zeit des unmittelbarsten und natürlichsten Einverständnisses, als Symbol – in sich voller Verzweiflung und Pathos – einer vergangenen Kindheit und einer unschuldigen und nicht mehr wiederkehrenden Zweisamkeit. Die meistens so überraschenden wie unerwarteten Lachanfälle waren für ihn unterhaltsame und charakterisierende Momente ihrer gemeinsamen Kindheit, in denen ein Ereignis oder ein meistens irrelevantes oder zufälliges Detail eine unerklärbare Assoziation in den Vorstellungen beider Kinder auslöste und dann zur heiteren und lustigen Reaktion eines unkontrollierten und unkontrollierbaren, quasi krampfhaften und hysterischen Lachens führte. Dies war ein Augenblick voller Leichtigkeit und Freude, gleichzeitig aber auch ein indirekter Schutz vor der entsetzlichen familiären Situation. Diese Momente enthielten die ganze Empathie und innere Bindung zweier Geschwister, aber auch eine starke und bedrückende Traurigkeit in sich. Wahrscheinlich sehnt sich der Protagonist aus diesem Grund die ganze Zeit nach einem dieser Momente zurück, quasi als letzter Anhaltspunkt einer nun verlorenen Zweisamkeit, einer schon vergangenen Zeit.

So ereignet sich die letzte, lang erwartete krampfhafte Szene des Lachanfalls erst am Ende der Geschichte, nach dem Begräbnis des Onkels. Die Rückkehr nach Hause erweist sich gleich als Besiegelung eines letzten Moments der Einheit des Geschwisterpaares, voller Liebe und Verzweiflung:

Tanja spürte meinen Blick, warf den Kopf zu mir herum, daß ihr Haar im Nacken aufflog und gegen ihre Wange schlug, bevor es wieder voll zu den Schultern niederfiel; unsere Augen begegneten sich – und der Funke sprang über zwischen uns: Wir brachen aus in ein hemmungsloses, wüstes, unsere Leiber aus dem Grund erschütterndes, krampfhaft unzügelbares Lachen, krümmten uns darunter, fielen einander in die Arme, um uns vor dem Torkeln zu bewahren wie der Kutscher und der Lehrer, sanken aneinander nieder, richteten uns tief Atem holend wieder auf, nur um sogleich wieder einzunicken in schmerzhaften Kon­vulsionen, mehrmals hintereinander, mit tränenüberströmten Wangen und nach Halt tastenden Händen, bis wir erschöpft innehalten mußten. Wir waren leer. Ohne ein Wort zu wechseln, schlossen wir das Haustor.[18]

Die Überwindung der Dichotomie und Trennung zwischen Körper und Seele, also zwischen körperlich-sinnlicher und geistig-emotionaler Liebe in der Bruder-Schwester-Beziehung scheitert. Dies führt zu dem Bewusstwerden, dass eine Form der reinen Liebe unmöglich ist.

IV. Bewusstsein und Schicksal: Das Scheitern des Ichs

Während der ganzen Erzählung macht es den Anschein, als ob die Ereignisse, die den Protagonisten betreffen, eine Macht über ihn ausüben, ohne dass er eine aktive Rolle spielt. Er wird von der Wucht des Lebens eher überfahren und bedroht, als dass er aktiv handelnd dargestellt wird. Dies illustrieren die familiären Mechanismen einer matriarchalischen Struktur und genau so auch die plötzliche, nicht von ihm herbeigeführte Trennung von seiner Schwester, welche die einzige ist, die die Fäden ihrer Beziehung zieht. Ihm bleibt nichts übrig, als alles still und regungslos über sich ergehen zu lassen.

Die Weiterführung der «Entdeckungsreise seiner selbst»[19] setzt sich innerhalb der Erzählung fort und zeichnet eine Linie, die sich von der (verstummten) Beziehung mit der Schwester weiter zu seiner ersten erotischen Annäherung – zum ersten Mal an eine andere weibliche Figur – zieht. Es handelt sich hier um ein Bauernmädchen, das ein paar Jahre älter ist als er, für das er immer eine gewisse Sympathie hatte und welches sich in der Schulzeit quasi als seine Beschützerin hervorgetan hatte. Der Junge befindet sich auf dem Hügel am Rand des Dorfes, wo der Onkel am nächsten Tag begraben werden soll. Auf dem Weg dorthin sieht er das Mädchen, aber aus Scheu begrüßt er sie nicht. Nun steht der Protagonist vor der Grube und während ihm verschiedene Assoziationen und Gedanken bewegen und bedrücken, springt er hinein aus dem Impuls, sich diesen Visionen zu entziehen. Kurz danach sieht er das Mädchen, welches mit der Sonne im Rücken wie eine Heilige vor der Grube steht und hinunter schaut. Er lädt sie ein, ebenfalls hinein zu springen und eine Abkühlung zu genießen. Trotz der wiederholten negativen Antwort des Mädchens schafft es der Protagonist, sie zu fangen und sie mit einer noch kindlichen Gewalt zu sich ins Grab herunterzuziehen. Tatsächlich erlebt der Protagonist seine erste Erfahrung der Macht bzw. den ersten Angriff gegenüber einer weiblichen Figur aus einer Mischung von kindlichem Trotz und erster männlicher Gewalt. In dieser so unerwartet entstandenen Situation und desorientiert durch die Gefühlsmischung denkt der Protagonist, dass die einzige Lösung bzw. die einzige Fortsetzung dieser gewaltsamen Nähe darin besteht, das Mädchen zu töten: «Mir schoß sogar der Gedanke durch den Sinn, daß mir nichts anderes übrigbliebe, als sie umzubringen und gleich hier zu verscharren. Es würde nicht unmöglich sein, ich konnte sie erwürgen»[20]. Die genauso unerwartete körperliche Nähe, als sein noch kindlicher Leib auf ihrem schon aufgeblühten, nicht mehr mädchenhaften Körper liegt, schafft bei ihm eine triebhafte Mischung zwischen Eros und Thanatos bzw. eine Kraft, die sich von einem Liebes- zu einem Todestrieb wandelt. Die Überwindung der Wucht dieses Moments erweist sich im Inneren des Protagonisten gleich als eine Niederlage, als ein Scheitern und als eine Enttäuschung seines Daseins: «Ihre Gelassenheit beschämte mich, ich kam mir bloßgestellt vor und besiegt. Ich mußte tief aufatmen, um mein pochendes Herz zu beruhigen»[21]. Das Bild von den beiden jungen Figuren, die sich im Grab gegenüber stehen – sie gelassen und unberührt, er versteinert und konfus –, enthält die ganze Verzweiflung und das Schicksal einer gescheiterten Existenz, die von der Kindheit bis hin zu der ersten Annäherung an das Erwachsenleben – und vor allem an das erste Verhältnis zum weiblichen Geschlecht – nichts Positives verspricht.

Aus der Mischung von Selbstvorstellungen und Gerüchten über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und dem Druck, der diese Erzählungen auf seine erste Erfahrung als erwachsener Mann ausüben, entscheidet der Protagonist bzw. sucht er einen näheren körperlichen Kontakt zu dem Mädchen, der jedoch bereits mit einem Hauch von Zwang und Gewalt geprägt ist:

[…] der Augenblick, an dem von mir gefordert wurde, daß ich mich einem Mädchen gegenüber daraufgängerisch zeige nach Kavalleristenart und so überlegen, daß Widerstand gar nicht erst aufkam. Obwohl schon der bloße Gedanke an solcherlei Verwegenheit mir ein Gewicht ins Zwerchfell fallen ließ, sagte ich mir, daß das Mädchen nicht wagen würde, sich mir zu widersetzen, wenn ich sie jetzt küssen wollte oder gar mehr von ihr verlangte. Ich entschied mich gleich fürs letztere: Ein Kuß erschien mir zu zärtlich, zu wenig herrisch, beinah demütig. Ich hatte ungezählte Männeranekdoten gehört, wie man mit Bauernmädchen umging. Weh dem, der die Sklaven anders behandelt denn als Sklaven![22]

Dieser Moment der Initiation in das Leben als Mann erfüllt sich nicht ohne Gewalt oder Bedrohung, als ob zur Liebe bzw. zum Eros eine grundsätzliche und untrennbare Komponente des Hasses gehören müsse. Er kennt keine bedingungslose Liebe und auch keine Liebe ohne Unterdrückungen. Obwohl sein Instinkt noch unreif und völlig unvorbereitet gegenüber diesem wichtigen Schritt zum Erwachsensein erscheint, zwingt er sich selbst in einem unbeholfenen und verlegenen erotischen Gestus, welcher die demütigende Komponente eines gescheiterten Schicksals enthält:

Ich hob meine Hände und schob sie unter den Stoff auf ihre Schultern. Die Wärme und Glätte ihrer Haut durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag. Sie regte sich nicht, und ich zerrte ihren Kittel auf und strich ihn von ihren Schultern. Ihre nackten Brüste sprangen mir prall entgegen, rosig gezipfelt in Warzen, die sich jetzt schrumpelig zusammenzogen.[23]

Dieser erotische Moment wird aber gleich von schreienden Kindern unterbrochen, die beide vorher belauscht hatten und jetzt vor beißenden Hunden weglaufen. Der Protagonist reagiert aus Verlegenheit mit einer völligen Unachtsamkeit dem Mädchen und einem zornigen Drang den Kindern gegenüber. Mit der Lust, sich aus der peinlichen Konstellation in der Grube zu entziehen, springt er, ohne zu überlegen, aus dem Grab hinaus und läuft den Kindern und den Hunden hinterher. Aus der Mischung eines noch nicht erwachsenen Jungen und eines noch kindlichen Feiglings wählt er – eher unreflektiert und unbewusst – den Weg der Befreiung, welche aber in sich das schwere Gewicht eines tiefen Versagens trägt:

Noch bevor ich imstande war, die ungeheuerliche Bedeutung dieses Augenblicks für mich wahrzunehmen, scheuchte mich ein vielstimmiges Kinderlachen auf. […] Zwischen die Kinder, die uns belauscht hatten, waren die Hunde gefahren. […] Ich pfiff und schrie aus Leibeskräften hinter der Hetze her, während ich mich verzweifelt aus der Grube herausarbeitete. […] Ums Mädchen kümmerte ich mich gar nicht erst, ich lief hinter den Hunden her und war froh, auf diese Weise meiner entsetzlichen Lage zu entkommen. […] Ich dachte, die Leute im Dorf könnten mich beobachten, ich wollte sie bestechen. Ich schämte mich dafür. Anstelle der Hunde hätte ich die Kinder prügeln wollen. Ich wagte nicht, daran zu denken, was sie gesehen hatten. Ans Mädchen dachte ich erst recht nicht. Ich traute mich nicht heran ans Gefühl des Versagens, mit dem ich nicht nur mich, sondern meine ganze Gattung bloßgestellt hatte.[24]

Die Begegnung mit dem Bauernmädchen, welche im ersten Moment die Hoffnung und Erwartung eines Akts der Genugtuung oder Erlösung in sich trägt, erweist sich bald als ein unvollendetes – und dadurch gescheitertes – Initiationsritual in das Erwachsensein. Die Tatsache, dass auch diese erste sexuelle Annäherung zum Versagen prädestiniert ist, fällt einerseits mit dem Ende der Kindheit und der Zweisamkeit mit der geliebten Schwester und andererseits mit dem Anfang eines Erwachsenenlebens voller Frustration und Hindernisse zusammen. Gerade dadurch, dass diese Episode als (vielleicht erste) Machtdemonstration des jungen Protagonisten gedacht und umgesetzt wird, dann aber nur zum Scheitern führt, kehrt den Mechanismus um, welcher sein weiteres Erwachsenenleben stark prägen wird: es misslingt ihm nicht nur, seine Macht bzw. seine aktiven Taten im Leben mit Vehemenz und aus eigener Willenskraft umzusetzen und durchzusetzen, sondern er wird vielmehr von der Gewalt und Kraft der Ereignisse überrollt und zerdrückt von einer machtlosen, entwaffnenden Resignation.

V. Mord am Schwan: Besudelung der Reinheit und Prädestination einer gescheiterten Existenz

Die Figur des Schwans bzw. der Vorfall seiner Tötung wird in der Mitte der Erzählung kurz angedeutet, wobei die Argumentation dieser Episode erst fast am Ende der Novelle folgt. Die kurze Andeutung des Protagonisten nimmt aber schon die ganze Bedeutung und Macht dieser Episode vorweg, indem er erklärt, dass die vollzogene Geste der Tötung des Schwans die ganze Geschichte seines Lebens in sich verschlüsselt:

Gibt es nicht etwas wie eine Sehergabe, die das eigene Geschick vorauskennt und dessen Stimmungen vorwegnimmt, um sich ihnen später anzupassen? Ich weiß nur, mit der trügerischen Sicherheit des sich Erinnernden, daß ich damals am Tag vor der Beerdigung Onkel Sergejs und unserem, meiner Schwester Tanja und meinem, Mord an einem Schwan die volle Geschichte meines Lebens in mir trug, Vergangenheit und Zukunft in einem Ich zusammengeschoben, und daß darin schon alle Erfüllung war und aller Verlust und aller Verzicht.[25]

Der Schwan bzw. die Schwäne erscheinen in der Erzählung zum ersten Mal, als der Junge auf dem Weg zum Hügel ist, wo der Onkel am nächsten Tag begraben wird. Deren erster Anblick enthält schon die gesamte Symbolik dieser Figur, weil sie wie in einem gemalten Bild an der Grenze zwischen Realität und Vision erscheint: «Mitten in der spiegelblanken Seefläche, die eher eine Luftschicht als Wasser zu sein schien, schwebte eine Gruppe von fünf Schwänen als Fata Morgana einer weißen Krone»[26].

Erst nach der Beerdigung des Onkels – also fast am Ende der Novelle – tritt die Geschichte des Schwans in den Vordergrund und schließt somit die ganze Erzählung ab. In Bezug auf die allgemeine Konstellation der erzählten Geschichte erscheint es kein Zufall zu sein, dass die Episode des Schwanes ihren Platz erst am Ende einnimmt. Die Tötung des Schwans erscheint nicht als notwendige Tat oder unverzichtbarer Notfall, im Gegenteil. Er dient dem Protagonisten vielmehr als Vorwand oder einmalige Gelegenheit, die im Heimatdorf und während den vergangenen Tagen angestauten heftigen Spannungen zu entladen. Er nutzt die Gelegenheit, dass ein besonders zorniger Schwan im Bach neben dem Dorf einige Belästigungen verursacht, um sich in einen – selbst ernannten – Experten der Tiertötung zu verwandeln. Der Junge zögert keine Sekunde lang; sobald er die Nachricht vom Schwan hört, holt er sein Luftgewehr und macht sich auf den Weg zur Bachmündung. Die Wut und die Brutalität, mit der er sich gegen den Schwan erbittert, erscheint im ersten Moment als großer Kontrast zu dem Kind der Erzählung, welches noch an seiner Kindheit hängt, unter der Ablehnung der Schwester leidet und von einer besseren, durch die Kunst geretteten Zukunft träumt. Aber wahrscheinlich versteckt sich gerade hinter seiner zornigen und gewalttätigen Geste die gesamte Frustration eines Jungen, der kein Kind mehr ist – oder kein Kind mehr sein darf? – aber auch noch kein Erwachsener, der von den unerwarteten Ereignissen des Lebens überwältigt und überfordert ist und auf sich das bedrohliche Schicksal einer gescheiterten Existenz spürt. Während er bis jetzt so gut wie immer eine passive Haltung einnahm und sein Schicksal aus seiner Sicht fast immer nach dem Willen der anderen entschieden wurde, er also ungewollt Zuschauer seiner eigenen Erfahrungen war, entlädt er nun seine angestaute Wut an dem Schwan als erste, aktive Tat, als kathartischen Moment gegenüber seiner bisherigen Geschichte. Diese Interpretation würde auch seine Zähigkeit gegenüber dem Akt des Tötens erklären. Die Ermordung des Schwans erscheint nämlich nicht als spontane und auch nicht einfach zu vollziehende Aktion, ganz im Gegenteil. Der Protagonist muss sich eine bestimmte Taktik ausdenken, um die Jagd auf den Schwan zu veranstalten und ihn währenddessen mehrmals, wiederholt und mit verschiedenen Waffen zu schlagen, um ihn endlich zu töten.

Eben diese Bedeutung und Symbolik, die sich hinter der Schwanen-Jagd versteckt, bestätigt der Protagonist – nun als schreibender Erwachsener – kurz vor dem Ende der Novelle. Diese damals unreflektierte Geste hat danach eine starke Resonanz in seinem Leben gehabt, hat einen symbolischen Schnitt in seinem Inneren verursacht, dessen er sich erst viele Jahren später bewusst geworden ist: der Tod des Schwans hat indirekt seine Kindheit endgültig beendet und damit der Zeit der Reinheit ein Ende gesetzt:

Es bedurfte eines Lebens von vielerlei Erfahrung, um mich begreifen zu lassen […], warum der unselige Tag mir so schwer im Gemüt liegt, als enthielte er eine Sünde; nicht nur einen Frevel gegen jägerisch tierschützerische Anstandsregeln, sondern eine Besudelung der Reinheit unserer Kindheit, und zwar eine unterbewußt absichtliche.[27]

In der Erkenntnis der Bedeutung dieser weit zurückliegenden Erfahrung ist gleichzeitig das Bewusstsein eines Schicksals enthalten, dem er sich nicht so einfach hätte entziehen können. Die Atmosphäre des Scheiterns, welche die ganze Erzählung in einer Art grauen Wolke einhüllt, findet nun am Ende der Geschichte, in den Überlegungen des erwachsenen Protagonisten, seine Bestätigung. Es ist eine Existenz, die – trotz den kindlichen hoffnungsvollen Träumen und Erwartungen – von einer hoffnungslosen, zum Scheitern prädestinierten Geschichte für immer geprägt sein wird. Die letzten Bilder, vorwiegend aus seiner Kindheit, wovon der Protagonist, wie in einem Kaleidoskop geteilt, erzählt, geben den Zerfall wieder und schließen in sich die gescheiterte Existenz zusammen:

Denke ich zurück an all das, so kippen zwar die Bilder in ihrer Zwiespältigkeit und Zwielichtigkeit eins ins andere wie im Kaleidoskop und erklären nicht allein die Zerrissenheit unserer Gemüter, sondern auch deren melancholische Grundstimmung, wie als hätten wir auch in allem, dem wir ungeduldig in Wünschen, Hoffnungen, Absichten und eingeheimsten Versprechungen entgegenlebten, doch nicht das zu erwarten, was uns hätte von einer solchen Schicksalserbschaft erlösen können.[28]

Schließlich mündet die ganze Verzweiflung ihrer Existenz in dem so lange ersehnten und erwarteten Lachanfall, dem Moment der tiefsten Einigkeit und Zweisamkeit des Geschwisterpaares. Eine dünne Linie hatte ihre beiden Leben noch zusammen gehalten, bis diese mit dem letzten Ausbruch des Lachens nach der Beerdigung des Onkels für immer zerbrochen ist:

Es will mir heute scheinen, als hätten wir geahnt oder geradezu intuitiv gewußt, daß dieses gelegentliche zügellose Lachen aus einer Verzweiflung kam, deren Ursache die Einsicht in die Hinfälligkeit aller Existenz war […]. Noch war die Wende nicht gekommen – ich meine: das Überschreiten der Schwelle aus der Kindheit heraus –, wonach unser verzweiflungsvolles Lachen bösartig werden sollte. Und so kommt mir die falsche Heiterkeit, mit welcher wir zu unserer grausigen Schwanentötung ansetzten, heute vor wie ein Zerstörungsakt, mit dem wir die Unschuld unserer Kindheit verloren.[29]

Die Schwanen-Jagd und die ganze Handlung um den Mord am Schwan erscheint so als letzter Moment des Einverständnisses und der Zweisamkeit des Protagonisten mit seiner Schwester. Verbunden durch die abenteuervolle Suche des Vogels und erregt durch die Mischung aus Spannung und Furcht sind die beiden Geschwister für einen letzten Augenblick miteinander verbunden. «Es war wie früher», schreibt der Protagonist, als «unsere Neugier und Abenteuerlust verdoppelt war dadurch, daß alles uns gehörte und wir war und wir eine unaufspaltbare Zweisamkeit»[30]. Mit der Vervollständigung der Tat, trotz dieser unaufspaltbaren Bindung, war die Zeit der Kindheit und mit ihr die Reinheit und Untrennbarkeit des Bruder-Schwester-Verhältnisses für immer zu Ende.

VI. Schlussfolgerungen

Der Titel der Novelle und vorwiegend die Figur des Schwans verweisen automatisch auf Rezzoris vierzig Jahre davor geschriebenen Roman Ein Hermelin in Tschernpol. Dieser unmittelbare und nicht zufällige Verweis baut – neben dem Duo Bruder-Schwester und der ähnlichen räumlichen Konstellation – hauptsächlich auf die emblematischen Figuren des Hermelins einerseits und des Schwans andererseits auf. Beide sind an eine mythologische Sphäre gebunden und verkörpern Symbole der Reinheit, welche laut Rezzori Vorzug der Kindheit ist[31]. Die Tatsache, dass beide Figuren für eine Beschmutzung bzw. für ihre Besudelung prädestiniert sind, spielt eine grundsätzliche Rolle innerhalb beider Erzählungen. Der Hermelin einerseits und der Schwan andererseits übernehmen die symbolische Rolle als Emblem einer vergangenen und nicht mehr wiederholbaren Zeit und damit auch die Magie einer Zweisamkeit zwischen Bruder und Schwester, die Reinheit und Unschuld der Kindheit, die Integrität einer Epoche. Die Figur des Schwans, welche auch in Rezzoris Blumen im Schnee in Anlehnung an seine Mutter und mit negativen Merkmalen auftaucht – die Mutter nährt sich an, «wie ein zorniger Schwan»[32] –, wird dann in der Schwan-Novelle zum Sinnbild eines existentiellen Scheiterns, eines Schicksals, dem gegenüber der Protagonist machtlos dasteht. Die übermächtige Wut und unglaubliche Gewalt, mit denen der junge Protagonist gegen den Schwan handelt, symbolisieren ihrerseits quasi seinen Versuch, sich gegen dieses Schicksal unterbewusst zu wehren.

Nicht nur der intertextuelle Verweis auf seine eigenen Werke, sondern auch auf jene anderer Autoren muss Rezzori nicht unabsichtlich gemacht haben. Ich teile Landolfis These, wonach die Figur des Schwans als eine direkte Anspielung auf die Erzählung Kleists Die Marquise von O… interpretiert werden kann[33]. Gerade und hauptsächlich innerhalb der allgemeinen Thematik des Scheiterns ist der Verweis auf die Erzählung von Kleist nicht zufällig. Hier taucht die Figur des Schwans als Erscheinung, also als Vision, quasi als Tagtraum des Protagonisten auf. Wegen einer Kriegswunde leidet er an Wahnvorstellungen, während denen ihn die Vision eines Schwanes heimsucht, welcher sich dann mit der einer Frau – und zwar der Marquise – abwechselt:

Hierauf erzählte er mehrere, durch seine Leidenschaft zur Marquise interessante, Züge: wie sie beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette gesessen hätte; wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer mit der Vorstellung eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern gesehen; daß ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, daß er aber nicht im Stande gewesen wäre, sie an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloß am Rudern und In-die-Brust-sich-werfen; versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, daß er sie außerordent­lich liebe: sah wieder auf seinen Teller nieder, und schwieg.[34]

In beiden Erzählungen ist zu bemerken, dass das Auftauchen des Schwans mit zwei Sphären eng verbunden und von ihnen abhängig ist: die Dimension der Erinnerung an die Kindheit einerseits und die einer gewaltvollen Tat andererseits. Der Schwan erscheint so einerseits als mythologische Figur der Reinheit der Kindheit, andererseits wird er aber zur perfekten Zielscheibe, die zu treffen als emblematischer Akt der Rebellion erscheint. Zwei grundsätzliche Unterschiede tauchen jedoch gerade in Bezug auf diesen Aspekt auf: wie Landolfi schreibt, bleibt der gleiche, jedoch mit Gewalt erfüllte Akt bei Rezzori durchaus nicht folgenlos, während bei Kleist der Angriff auf den Schwan als gewalttätiger Akt bzw. als Selbstzweck ohne bedeutende Folgen beschrieben wird. Nicht nur der Angriff, sondern der wütende Mord am Schwan nimmt hier eine Fülle von symbolischer Tragweite an[35]. Diese endgültige Geste enthält die kathartische Rolle als Präfiguration eines Schicksals, als ob die Episode das ganze zukünftige Leben des Protagonisten enthalten und vorhersagen würde. In einer Konstellation des ständigen Scheiterns – alles blieb innerhalb der Erfahrung des Protagonisten unvollendet oder erweist sich als Misserfolg – ist die Ermordung des Schwans die erste und einzige vollendete und erfolgreiche Tat, welche, gerade dank oder wegen ihrer Vervollständigung als Ende der Reinheit und so der Zweisamkeit mit der Schwester zugunsten einer ebenso zum Scheitern prädestinierten Existenz fungiert.

Bibliographie

Kleist, Heinrich von, Die Marquise von O…, in Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, hg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns, Hinrich C. Seeba, Frankfurt am Main 1990.

Lajarrige, Jacques, Von der Zerrissenheit der Kindheit zum Schreiben. Die Episode mit der Hand in Gregor von Rezzoris “Der Schwan”, in Irreführung der Dämonen. Acht Essays zu Gregor von Rezzori, hg. v. Andrei Corbea-Hoisie und Jacques Lajarrige, Kaiserslautern 2014.

Landolfi, Andrea, Der Mann von achtzig Jahren. Gregor von Rezzoris Alterstil, in Gregor von Rezzori «Tanz mit dem Jahrhundert», hg. v. Jacques Lajarrige und Fried Nielsen, Berlin 2018.

Landolfi, Andrea, Il cigno e l’ermellino. Il tardo Rezzori e il ripudio della purezza, in Gregor von Rezzori, Il cigno, a. c. di Andrea Landolfi, Parma 2014.

Landolfi, Andrea, Rezzoriana. Saggi e note su Gregor von Rezzori, Roma 2017.

Rezzori, Gregor von, Blumen im Schnee. Portraitstudien zu einer Autobiographie, die ich nie schreiben werde; auch: Versuch der Erzählweise eines gleicherweise nie geschriebenen Bildungsromans, C. Bertelsmann, München 1989.

Rezzori, Gregor von, Der Schwan. Über dem Kliff. Affenhauer, Berlin 2005.



[1] Gregor von Rezzori, Der Schwan. Über dem Kliff. Affenhauer, Berlin 2005.

[2] Ebd.

[3] Die Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz war seit 1774 von der österreichischen Regierung besetzt und galt lange Zeit als östlichste Provinz der Habsburgermonarchie mit einer sehr aktiven multikulturellen Bevölkerung, deren Hauptsprache Deutsch war. Mit dem Zerfall des Österreichisch-Ungarischen Reichs 1918 wurde die Bukowina Teil Rumäniens. 1940 wurde das Gebiet von der Sowjetunion besetzt und war für kurze Zeit unter deren Herrschaft. Ab 1944 gehörte Czernowitz wieder zu Rumänien. Gregor von Rezzori kam 1914 als Sohn eines k.u.k. Beamten mit sizilianischen Wurzeln zur Welt. Bis 1918 war er österreichischer Staatsbürger. Am Ende der Monarchie entschieden sich seine Eltern für die neue Staatsbürgerschaft und Rezzori war bis 1940 rumänischer Staatsbürger. Danach folgten über dreißig Jahre als Heimatsloser, bis ihm die österreichische Staatsbürgerschaft angeboten wurde. Nach den ersten Jahren seiner Kindheit in der Bukowina lebte er hauptsächlich in Österreich, wo er in Wien das Gymnasium absolvierte und verschiedene Studienrichtungen ausprobierte. Nachdem er den Militärdienst in Rumänien abgeschlossen hatte und 1938 den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich in Wien erlebte, zog er nach Berlin, wo er die Kriegsjahre verbrachte. Danach lebte er in Hamburg. Ende der 1960er Jahre zog er nach Italien, wo er den Rest seines Lebens bis zu seinem Tod 1998 in seiner Villa in der Nähe von Florenz verbrachte, heutiger Sitz der Santa Maddalena Foundation.

[4] G. v. Rezzori, Der Schwan, S. 9.

[5] Ebd., S. 12.

[6] Ebd., S. 11.

[7] Ebd., S. 10.

[8] Jacques Lajarrige, Von der Zerrissenheit der Kindheit zum Schreiben. Die Episode mit der Hand in Gregor von Rezzoris “Der Schwan”, in Irreführung der Dämonen. Acht Essays zu Gregor von Rezzori, hg. v. Andrei Corbea-Hoisie und Jacques Lajarrige, Kaiserslautern 2014, S. 52.

[9] G. v. Rezzori, Der Schwan, S. 8.

[10] Ebd.

[11] Ebd., S. 14.

[12] Ebd., S. 15.

[13] Ebd., S. 19.

[14] Ebd., S. 28.

[15] Ebd., S. 25.

[16] Ebd., S. 33.

[17] Ebd.

[18] Ebd., S. 57.

[19] «Mir war, als begäbe ich mich auf eine Entdeckungsreise meiner selbst», G. v. Rezzori, Der Schwan, S. 28.

[20] Ebd., S. 42.

[21] Ebd., S. 43.

[22] Ebd., S. 45.

[23] Ebd.

[24] Ebd., S. 45-46.

[25] Ebd., S. 31.

[26] Ebd., S. 32.

[27] Ebd., S. 62, 63.

[28] Ebd., S. 64.

[29] Ebd., S. 64, 65.

[30] Ebd., S. 65.

[31] Vgl. dazu Andrea Landolfi, Der Mann von achtzig Jahren. Gregor von Rezzoris Alterstil, in Gregor von Rezzori «Tanz mit dem Jahrhundert», hg. v. Jacques Lajarrige und Fried Nielsen, Berlin 2018, S. 203.

[32] Gregor von Rezzori, Blumen im Schnee. Portraitstudien zu einer Autobiographie, die ich nie schreiben werde; auch: Versuch der Erzählweise eines gleicherweise nie geschriebenen Bildungsromans, C. Bertelsmann, München 1989, S. 34.

[33] Vgl. dazu Andrea Landolfi, Il cigno e l’ermellino. Il tardo Rezzori e il ripudio della purezza, in ders. Rezzoriana. Saggi e note su Gregor von Rezzori, Roma 2017, S. 168f.

[34] Heinrich von Kleist, Die Marquise von O… und andere Erzählungen, in Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns, Hinrich C. Seeba, Frankfurt am Main 1990, Bd. 3, S. 156, 157.

[35] Andrea Landolfi, Il cigno e l’ermellino. Il tardo Rezzori e il ripudio della purezza, S. 169.