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Studia austriaca XXIX

 

Arthur Schnitzler • Richard Dehmel

Franz Grillparzer • Veza Canetti

Kathrin Röggla • Daniel Glattauer

Gaito Gasdanow • Hugo von Hofmannsthal

 

 

 

 

Editor-in-chief: Fausto Cercignani

Co-Editor: Marco Castellari

Editorial Board

Achim Aurnhammer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Cornelia Blasberg (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

Alberto Destro (Università degli Studi di Bologna)

Konstanze Fliedl (Universität Wien)

Sylvie Le Moël (Université Paris-Sorbonne)

Hubert Lengauer (Universität Klagenfurt)

David S. Luft (Oregon State University)

Patrizia C. McBride (Cornell University)

Marisa Siguan (Universitat de Barcelona)

Ronald Speirs (University of Birmingham)

 

 

 

 

 

 

 

 


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Studia austriaca
An international journal devoted to the study
of Austrian culture and literature
Published annually in the spring
Hosted by Università degli Studi di Milano under OJS
ISSN 2385-2925

Vol. XXIX

Year 2021

Editor-in-chief: Fausto Cercignani

Co-Editor: Marco Castellari

Editorial Board:

Achim Aurnhammer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Cornelia Blasberg (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

Alberto Destro (Università degli Studi di Bologna)

Konstanze Fliedl (Universität Wien)

Sylvie Le Moël (Université Paris-Sorbonne)

Hubert Lengauer (Universität Klagenfurt)

David S. Luft (Oregon State University)

Patrizia C. McBride (Cornell University)

Marisa Siguan (Universitat de Barcelona)

Ronald Speirs (University of Birmingham)

 

Founded in 1992

Published in print between 1992 and 2011 (vols. I-XIX)

On line since 2012 under http://riviste.unimi.it

Online volumes are licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Unported License.

 

 

 

 

 

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Studia austriaca
Vol. XXIX – Year 2021

Table of Contents

Julia Ilgner – Wiener vs. Berliner Moderne. Die kompetitive “Dichterfreundschaft” zwischen Arthur Schnitzler und Richard Dehmel

[Viennese vs. Berlin Modernism. The competitive “poet friendship” between Arthur Schnitzler and Richard Dehmel]

Xiaohu Jiang – Spaces of Contrast. A Spatial Analysis of Franz Grillparzer’s «Der arme Spielmann»

Teresa Vinardell Puig – Wien als Blickgewebe. Überlegungen zu Veza Canettis «Die Gelbe Straße»

[Vienna’s interwoven glances. On Veza Canetti’s «Die Gelbe Straße»]

Rosa Coppola – «Der Konjunktiv hat sein Hauptlager in Österreich aufgestellt». Echi austriaci nella raccolta “die alarmbereiten” di Kathrin Röggla

[«The subjunctive has set up its main camp in Austria». Austrian echoes in the collection “die alarmbereiten” by Kathrin Röggla]

Stefano Apostolo – Reitergeschichten. Gaito Gasdanow und das Phantom des Hugo von Hofmannsthal

[Cavalry Tales. Gaito Gasdanow and the Spectre of Hugo von Hofmannsthal]

Massimo Salgaro – «Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen». Die virtuelle Liebe in “Gut gegen Nordwind” (2006) von Daniel Glat­tauer

[«Writing is like kissing, only without lips». Virtual love in “Gut gegen Nordwind” (2006) by Daniel Glattauer]

Call for Papers

 

 

 

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Julia Ilgner

(Kiel)

Wiener vs. Berliner Moderne
Die kompetitive “Dichterfreundschaft”
zwischen Arthur Schnitzler und Richard Dehmel

[Viennese vs. Berlin Modernism. The competitive “poet friendship”
between Arthur Schnitzler and Richard Dehmel
]

abstract. The following article reconstructs the almost 25-year-long relationship between the two fin de siècle poets Arthur Schnitzler and Richard Dehmel. The analysis is based on the assumption that the rival “artist friendship” is determined by a constitutive generic competition. Schnitzler admired Dehmel’s genius in forms of poetry that he himself had not mastered, first and foremost lyric poetry, but otherwise regarded him critically where he himself had succeeded, namely in the genre of drama. This early resentment forms a lifelong paradigm of Schnitzler’s perception of Dehmel and prevented a sincere appreciation of Dehmel as an artistic equal.

Die Beziehung zwischen dem Wiener Schriftsteller Arthur Schnitzler (1862-1931) und seinem erst in Berlin, dann in Hamburg ansässigen Dichterkollegen Richard Dehmel (1863-1920) war nicht frei von Spannungen und gegenseitigen Ressentiments[1]. Einerseits anerkannte man die epochale Bedeutung des jeweils Anderen für die moderne Literatur, andererseits verhinderte jedoch zumindest auf Seiten Schnitzlers die allzu proklamative Selbstinszenierung Dehmels die störungsfreie Wahrnehmung des literarischen Werks hinter der Person.

Vielmehr scheint die Verbindung beider Repräsentanten der Klassischen Moderne, so die Leitthese der hier erstmals unternommenen vergleichenden Betrachtung[2], von einer konstitutiven “generischen Dialektik” geprägt gewesen zu sein: Schnitzler bewunderte das künstlerische Genie Dehmels in Dichtungsformen, die er selbst nicht beherrschte, allen voran der Lyrik, sah ihn umgekehrt jedoch dort kritisch, wo er selbst triumphierte, mithin im Bereich der Dramatik und Bühnenkunst. Ausgehend von dieser Grunddisposition soll im Folgenden diskutiert werden, ob sich das gegenseitige Wohlwollen und die Partizipation an Person und Werk des jeweils Anderen lediglich in konventionellen Höflichkeits- und Gefälligkeitsritualen des kollegialen Miteinanders erschöpft oder ob es zumindest phasenweise an das Modell einer “Dichterfreundschaft”[3] heranreicht. Jenseits ihrer autorspezifischen Relevanz fungiert eine solche Netzwerkanalyse auch paradigmatisch für die gegenseitige Wahrnehmung zweier avantgardistischer Bewegungen der Jahrhundertwende, namentlich der Wiener und der Berliner Moderne, und vermag Aufschluss über die Frage nach dem Distinktionsverhalten und den literarischen Diffusionsprozessen literarischer Gruppierungen zu geben. Dabei ist es der derzeitigen Editionslage geschuldet, dass die Sichtweise Schnitzlers mit Vorlage der volldigitalisierten diaristischen Aufzeichnungen und einer repräsentativen Korrespondenzauswahl gegenüber derjenigen Dehmels überwiegt und bei veränderter Quellenlage entsprechend zu revidieren und korrigieren sein wird. Gleichwohl wurde mittels einer systematischen Rekonstruktion der persönlichen Begegnungen, des epistolarischen Austauschs sowie der gegenseitigen Lektüren versucht, dem heuristischen Ideal einer proportionalen Doppelperspektive Rechnung zu tragen.

Konzeptionell folgt die Beziehungsanalyse nach einer knappen Konturierung der Beziehung (I), der ästhetischen Orientierung an gemeinsamen literarischen Leitfiguren (II) sowie der Rekonstruktion der gegenseitigen Werkkenntnis (III) dem chronologischen Verlauf eines Phasenmodells in insgesamt vier Schritten (IV), dessen Ergebnisse in einer abschließenden Betrachtung synthetisiert werden (V).

I. Konturen einer Dichterfreundschaft: biographische Parallelen

Der Wiener Dichter Arthur Schnitzler (Jahrgang 1862) und der Berliner Lyriker Richard Dehmel (Jahrgang 1863) gehören derselben Generation an und besitzen eine vergleichbare avantgardistische Sozialisierung in den Künstlerzirkeln der Wiener bzw. Berliner Bohème. Die heutige Literaturgeschichtsschreibung nennt sie in einem Atemzug als prototypische Vertreter des Fin de siècle und rechnet sie den gleichen kulturellen wie ästhetischen Bewegungen, mithin wahlweise dem Naturalismus, Impressionismus, Jugendstil oder der Neuklassik zu. Darüber hinaus besitzen beide Autoren markante biographische Gemeinsamkeiten, begonnen mit einem ursprünglich nicht-literarischen Werdegang: Während Schnitzler sich zunächst nach dem Vorbild des Vaters in Wien zum Mediziner ausbilden ließ, absolvierte Dehmel ein Studium der Nationalökonomie in Berlin mit anschließender beruflicher Tätigkeit im Versicherungswesen. Der Prozess der Dichterwerdung und Etablierung im literarischen Feld ab Ende der 1880er Jahre ging jeweils mit einer zunehmenden Aversion gegen den eigentlichen “Brotberuf” einher.

Auch generisch gründen ihre poetischen Anfänge im selben Metier: Wie Dehmel beginnt auch Schnitzler seine schriftstellerische Karriere zunächst als Lyriker[4] – eine Affinität, die sich auf formal-ästhetischer wie stofflich-motivischer Ebene fortsetzt: Sie experimentieren mit denselben modischen Genres wie der Novellette, der Burleske oder der Pantomime[5] und verhandeln mit dem Verhältnis der Geschlechter sowie der Dichotomie von Eros und Thanatos die zentralen künstlerischen Sujets ihrer Zeit. Die sozialkritische wie stoffliche Brisanz ihrer Dichtung beschert beiden entsprechend rasch einen handfesten literarischen Skandal – Dehmel mit dem Lyrikband Die Verwandlungen der Venus (1893), Schnitzler mit der Monolognovelle Lieutenant Gustl (1900) sowie später noch einmal im Zuge der deutschen Erstaufführung des Reigen (1900) im Jahr 1921– und begründet damit beider Ruf als Erotomane bzw. enfants terribles der deutschsprachigen Literatur[6]. Vor allem aber teilen Schnitzler und Dehmel dieselbe publizistische Provenienz und Sozialisierung. Ihre Texte erscheinen in den führenden Kulturzeitschriften des deutschsprachigen Raums wie Die neue Rundschau, Die Gesellschaft, Die Zukunft, dem Simplicissimus oder dem Pan, als dessen Mitherausgeber Dehmel zeitweilig fungierte. Gemeinsam mit Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Jakob Wassermann und Hugo von Hofmannsthal bilden sie dann ab Mitte der 1890er Jahre die Gruppe der Leitautoren im Verlag Samuel Fischers und sind dadurch Teil der publizistischen Kultur- und Literaturelite, einschließlich der damit verbundenen verlegerischen Vermarktungsstrategien. Ihre Werke werden gemeinsam auf Lesungen wie literarischen Abendgesellschaften präsentiert[7] und sind auch theater- bzw. aufführungsgeschichtlich eng miteinander verbunden: So spielte etwa der große Mime Albert Bassermann (1867-1952) im Jahr 1917 parallel sowohl die Titelrolle in Schnitzlers Journalistenkomödie Fink und Fliederbusch (1917) am Berliner Lessingtheater als auch in Dehmels Erfolgsdrama Die Menschenfreunde (1917)[8]. Regelmäßig kam es zu Vergleichs- oder Gruppenbesprechungen im Feuilleton[9].

Schließlich unterstützen beide dieselben Kampagnen, Initiativen und literarischen Petitionen wie die Hilfsaktion für den in Not geratenen Johannes Schlaf (1862-1941)[10] im Jahr 1903, den Gründungsaufruf des Kleist-Preises vom 13. November 1911, «des bedeutendsten Literaturpreises, der im frühen 20. Jahrhundert im Bereich der deutschsprachigen Literatur geschaffen wurde»[11], die kritische Invektive bzgl. der Veruntreuung von Spendengelder seitens der Deutschen Schillerstiftung im Jahr 1912[12] oder den Spendenaufruf für Arno Holz (1863-1929)[13] anlässlich seines 50. Geburtstags im Jahr 1913.

II. Gemeinsame literarische Idole: ästhetische Orientierung an Detlev von Liliencron

Diese vielfachen und komplexen institutionellen Interferenzen setzen sich auf personeller Ebene fort: Vom Beginn ihrer Karriere an orientieren sich Schnitzler und Dehmel an denselben Bezugspersonen und suchen den Kontakt zu den allgemein akklamierten Wegbereitern der literarischen Moderne und namentlich zu Detlev von Liliencron (1844-1909), den die Moderne Dichtung bereits 1890 zur Ikone einer neuen Stilepoche proklamiert hatte. Beide Jungdichter schicken ihm in den Folgejahren ihre Manuskripte, um auf diese Weise einen Gunstbeweis des adorierten Vorbilds zu erlangen[14]. Während Liliencron jedoch schon bald zum wichtigsten Vertrauten Dehmels avanciert, was sich in gegenseitiger Werkkorrektur bis hin zu kooperativer Autorschaft niederschlägt[15], wahrt Schnitzler auf persönlicher Ebene – wohl auch aus literaturpolitischen Gründen (galt in Wien doch vor allem Karl Kraus als Fürsprecher Liliencrons) – zeitlebens eine gewisse Distanz. Diese steht jedoch nicht im Widerspruch zu einer intensiven Liliencron-Lektüre, die sich unterschwellig auch in den lyrischen Anfängen des späteren Dramatikers niedergeschlagen haben dürfte. So kannte Schnitzler, wie seine diaristischen Aufzeichnungen belegen, mit dem fiktionalen Tagebuch des Literaturförderers Graf von Gadendorp Der Mäcen (1889)[16] nachweislich Liliencrons erzählerisches Schlüsseldokument der Moderne. Es folgten der autofiktionale Lebensbericht Leben und Lüge (1908)[17], der Roman Breide Hummelsbüttel (1895)[18] sowie das Hauptwerk Poggfred (1896ff.)[19], «ein kunterbuntes Epos in erst zwölf (dann 24 und schließlich 29) Cantussen», das Liliencron dem befreundeten Dehmel gewidmet hatte. Vor allem jedoch und immer wieder verzeichnet Schnitzler, sei es durch fremden Vortrag oder eigene Lektüre, die Rezeption des lyrischen Werks: «Liliencrongedichte» heißt es etwa 1904, «Liliencron Gedichte» nur zwei Jahre später[20], und noch in Weltkriegszeiten, lange nach dem Tod des Schöpfers, notiert der notorisch kritische Schnitzler voller Bewunderung: «Lese viel Liliencron Gedichte; – er ist einzig»[21]. Die zahlreichen Lesespuren sowie der bedeutsame Eintrag «Liliencron. viel»[22], mit dem Schnitzler seine Lektüre um 1905 in der Leseliste verzeichnet, lassen darauf schließen, dass Schnitzler auch spätere Ausgaben wie die Sämtlichen Werke (1904-1908), womöglich gar die von Dehmel posthum besorgten Gesammelten Werke (1911-1913) sowie die Ausgewählten Briefe (1910) des dichtenden Freiherrn besaß[23]. Obschon er den Kontakt zu Liliencron, wie gesagt, seinerseits zunächst forcierte, indem er dem bereits arrivierten Lyriker im Frühjahr 1894 das im Schriftsteller- und Theatermilieu situierte und autobiographisch gefärbte Schauspiel Märchen (1893)[24] zur Begutachtung übersandte und dieser die Talentprobe des Jung-Wieners wohlwollend goutierte[25], blieb die gegenseitige Beziehung lose. Zu einem persönlichen Treffen kam es lediglich drei Mal, in den Jahren 1896, 1904 sowie 1908[26], wobei die erste Begegnung als seitens Schnitzler initiierter Antritts- und Kennenlernbesuch in Hamburg hervorzuheben ist, fungiert sie doch zugleich als Gradmesser für seine kompetitive Wahrnehmung Dehmels:

Dann Altona, zu Liliencron; offenbar in dem Bedürfnis wieder einmal mit einem Menschen zu reden; that mir dann eher leid – ganz ohne Grund. Kleiner dicker Herr, Schmiss, unelegant, freundlich; nicht ganz echte, angewöhnte und deshalb übertriebene Liebenswürdigkeit; recht kritiklos, schwärmt für Dehmel ohne Auswahl, Lindner und weiß Gott wen.[27]

Zwei Jahre nach Übersendung des Märchens haben sich die Rahmenbedingungen des diaristisch dokumentierten “Dichtertreffens” kategorial geändert: Nach dem spektakulären Bühnenerfolg der Liebelei (UA 9.10.1895) an der Wiener Burg im Vorjahr tritt Schnitzler dem damals 52-jährigen Liliencron nicht mehr als orientierungssuchender Debütant, sondern als reüssierter Dichter entgegen, wenngleich es ihm noch immer an Souveränität und innerer Gelassenheit mangelt[28]. Dass die persönliche Begegnung mit dem bewunderten Vorbild ihn entgegen seiner eigenen Erwartung nicht für Liliencron einzunehmen vermochte, dürfte seine Ursache allerdings weder in seiner eigenen Unsicherheit noch dem physiognomisch-vestimentär enttäuschenden Erscheinungsbild des Barons gehabt haben[29], auf das Schnitzler durch ein ihm unliebsames subsidiäres Ansuchen im Vorfeld gefasst gewesen war[30]. Stattdessen verrät die im Zuge des Literaturgesprächs verwendete Lexik des hier zitierten Tagebucheintrags den eigentlichen Grund: Die hyperbolisch konnotierte Verbverwendung («schwärmt») impliziert – in Verbindung mit dem unspezifischen Zusatz «ohne Auswahl», der subjektiven Taxierung «recht kritiklos» sowie der indefiniten Numerale («und weiß Gott wen») – eine Diffamierung der seitens Liliencron geschätzten und empfohlenen Dichterkollegen, namentlich Richard «Dehmel[s]». Dass Schnitzler die Auffassung des erfahrenen Lyrikers nicht teilt, diskreditiert diesen nicht nur als Richt- und Wertungsinstanz, sondern führt in der Konsequenz sogar zu einer Invertierung des Meister-Schüler-Verhältnisses: Ab dieser Begegnung fungiert Liliencron für Schnitzler nicht mehr als die unantastbare, unhinterfragbare Autorität in Sachen moderner Literatur (sollte er es je gewesen sein), sondern repräsentiert trotz seiner eigenen Könnerschaft den Connaisseur einer überkommenen Zeit, dem es nicht mehr gelingt, das wahre poetische Talent unter den jungen Literaten auszumachen. Wie sehr Schnitzler sich in seinem Anspruch auf eine Führungsrolle in dieser neuen Dichtergeneration mit Dehmel maß, decouvriert sein Bericht über denselben Besuch an seine damalige Lebensgefährtin Marie Reinhard (1871-1899), der das unterschwellige Ressentiment gegen den Berliner Dichterkollegen im Detail weiter expliziert:

Später zu Detlev von Liliencron, ohne rechten Grund, wahrscheinlich, weil ich mit irgend wem reden wollte; dicker 50jähriger Herr mit einem buschigen Schnurrbart, schäbig und ohne Grazie, mit vieler fast enthusiastischer Liebenswürdigkeit, kindlichem Vertrauen (z.B. zum kleinen Kraus), begeistert für die schlechten Sachen, die seine guten Freunde geschrieben haben («Mitmensch» von Dehmel). Er selbst hat eine ganze Masse wunderschöner Gedichte geschrieben, wie du ja weißt. […] Nach 20 Minuten fort.[31]

Schnitzlers despektierliche Wertung («schlechte Sachen») lässt vermuten, dass er offenbar Dehmels hier titulativ evoziertes Schauspiel Der Mitmensch (1895) zum Zeitpunkt der Unterredung bereits kannte oder zumindest um den theatralen Misserfolg desselben wusste[32]. Dementsprechend desavouiert die allzu parteiische und unverdiente Huldigung seines «guten Freunde[s]» den Laudator Liliencron auch hier als Kenner in literarischen Angelegenheiten für den kritischen Zuhörer. Darüber hinaus fungiert Schnitzlers Aversion jedoch vor allem als untrüglicher Indikator für die generischen Revierkämpfe und Distinktionsversuche der avantgardistischen Literaturszene um 1900, die einen unverstellten Blick auf den jeweiligen Rivalen konterkarierten und dadurch die gegenseitige Wahrnehmung und Künstlerbeziehung langfristig konditionierten. Im Falle Schnitzlers perpetuiert dieses frühe Beispiel literarischen Unvermögens ein lebenslanges beziehungskonstitutives Ressentiment gegenüber Dehmel, nämlich dass ihm der gleichaltrige Kontrahent und reüssierende Vertreter der Berliner Moderne zumindest als Dramatiker künstlerisch nie würde ebenbürtig sein können.

Dass Schnitzlers Auffassung allerdings durchaus dem gängigen Werturteil der zeitgenössischen Literaturkritik entsprach, zeigt das Beispiel wohlwollenderer Rezensenten: Selbst der Dehmel-Bewunderer und spätere Biograph Emil Ludwig (1881-1948)[33] attestiert dem Lyriker in Bezug auf Der Mitmensch und dessen Verskomödie über den deutschen Michel (1911)[34] einen «furor dramaticus» und sucht das Versagen im Dramatischen durch die Könnerschaft im Lyrischen zu kompensieren: «Was im “Michel Michael” allegorisch zerronnen, das ist im “Mitmensch” psychologisch versponnen. Dies [sic] Drama zeigt, wie ein Lyriker, aus Furcht im Drama zu lyrisch zu werden, zu epigrammatisch werden kann. […] Um den Lyriker nicht zu leidenschaftlich zu verraten, verheimlicht ihn der Dichter zu sehr»[35].

Liliencrons frenetische Lobpreisung Dehmels erfolgt indes nicht ganz so unkritisch und unreflektiert, wie Schnitzler es gegenüber seiner Geliebten suggeriert. Denn 1896 wird für Dehmel zum bis dato literarisch erfolgreichsten Jahr seiner Karriere und verhilft ihm nach den frühen Achtungserfolgen mit den Gedichtbänden Erlösungen (1891) und Aber die Liebe (1893) endgültig zum Durchbruch als einem der führenden Lyriker im deutschsprachigen Raum. Bereits im Jahr zuvor war mit Der Mitmensch nicht nur sein erstes Drama, sondern auch die Anthologie Lebensblätter (1895)[36] erschienen, im Juli lancierte er werbewirksam die humoristische Burleske Die gelbe Katze als prämierte Titelgeschichte im neu gegründeten Simplicissimus[37] und im Herbst folgte mit Weib und Welt, das auch den wenig später zensierten erotischen Zyklus Die Verwandlungen der Venus enthielt, Dehmels zu Lebzeiten bekanntester Gedichtband[38]. Auch verkennt Schnitzler in seinem apodiktischen Urteil, dass Liliencron für sich selbst eine etwaige Kompetenz im thea­tralen Fach gar nicht erst beansprucht, wie er ihm gegenüber einige Jahre zuvor freimütig bekannt hatte[39]. So leitet das erste persönliche Aufeinandertreffen zugleich auch das Ende der Beziehung ein. Die übrigen Kontaktaufnahmen gehen vorwiegend von Liliencron aus, während Schnitzler sich auf formelle Erwiderungen im Ton der üblichen Respondenz- und Höflichkeitsfloskeln beschränkt[40].

Dehmels engster Vertrauter und Dichterfreund fungiert allerdings auch als Beispiel für Schnitzlers Fähigkeit, zwischen Werk und Verfasser zu differenzieren. Während er mit der Person Liliencron augenscheinlich nicht allzu viel anfangen konnte, hielt er noch in fortgeschrittenem Alter an dessen literaturhistorischer Bedeutung als Erneuerer der deutschen Literatur fest, ja ordnete sich selbst sogar in einem Literaturgespräch mit dem befreundeten Richard Beer-Hofmann hierarchisch unter dem Hamburger Dichter ein:

Über «Unsterblichkeit» etc. – Dass ich für Dichter ersten Ranges in dieser Zeit (nur?) Liliencron, Hugo – vielleicht Heinrich Mann halte, und mich in eine tiefre Klasse stelle, veranlaßt ihn [Beer-Hofmann] zu der Bemerkung, dass er doch hochmütiger sei als ich (was ich nie bezweifelt hatte).[41]

Dass Schnitzler den Zeitgenossen Dehmel ausgerechnet im Kontext seiner frenetischen Liliencron-Verehrung nicht nennt, ist kaum als Ausschlusskriterium zu werten und entsprechend zu relativieren. Auch der von Schnitzler hoch verehrte Hauptmann fehlt, mit dem sich Schnitzler womöglich zumindest momentan und situativ auf einer, nämlich der zweiten, Stufe sah. Denn Schnitzler maß sich – wie im Falle Hauptmanns[42] – ob bewusst oder unbewusst regelmäßig mit Dehmel, der wie auch Hauptmann ab den frühen 1890er Jahren zu den Starautoren um Samuel Fischer zählte. Allerdings distanzierte Schnitzler sich vehement vom snobistischen Gestus des routiniert-exaltierten Selbstperformers – gerade auch in bibliophiler Hinsicht: «Das Projekt der ausgewählten Werke, lehne [ich] entschieden ab; die “gesammelten” werden erwogen. – Will aber eine ziemlich wohlfeile nicht prätentiöse (in der Art Hauptmann, Dehmel, die sich auch nicht rentiren)»[43]. Dass Schnitzler eine opulente Luxusedition zugunsten einer erschwinglichen Volks- und Leseausgabe ausschlägt, zeigt, wie minutiös er das Verlagsprogramm und die editorischen Projekte der Konkurrenz verfolgte. Der spätere Erfolg seiner Ausgabe in puncto Auflagenhöhe und Distributionsgrad sollte ihm recht geben.

Zum weiteren Kreis der gemeinsamen literarischen Bezugspersonen zählen neben dem eine Generation älteren Liliencron und dem gleichaltrigen Hauptmann auch diverse Protagonisten des Jung-Wien: Insbesondere für Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) fungierte Dehmel in den 1890er Jahren als wichtige ästhetische Opposition und Korrektur zu dem epistolarisch stetig fordernden Stefan George[44]. Dehmel seinerseits wiederum hatte den jungen Lyriker in seiner später von Jan van Gilse (1881-1944) vertonten Lebensmesse (1909) verewigt[45]. Aber auch mit Jakob Wassermann (1873-1934), Stefan Zweig (1881-1942)[46] und Richard von Schaukal (1874-1942) verband den Lyriker eine aufrichtige, wenn auch nicht immer kritiklose Wertschätzung, was sich im Falle Schaukals in einer umfänglichen Würdigungsschrift widerspiegelte[47]. Seinen größten Bewunderer und Fürsprecher unter den jungen Wienern fand Dehmel jedoch ausgerechnet in Schnitzlers Dauerkritiker und -antipoden Karl Kraus (1874-1936), was ursächlich in dessen grenzenloser Verehrung für den “Riesenpracht, Haupt- und Vollblutkerl” Liliencron begründet liegen mag[48].

Wie ähnlich sich Schnitzler und Dehmel hinsichtlich ihres ästhetischen Geschmacksprofils in ihren literarischen Anfängen waren, zeigt die Orientierung an weiteren etablierten Vorbildern über Liliencron hinaus, namentlich an zwei Leitfiguren der skandinavischen Moderne. Während Dehmel einige Zeit im Umkreis des von Schnitzler bewunderten schwedischen Dramatikers August Strindberg (1849-1912) verkehrte[49], der 1892 nach Berlin übersiedelt war, verband Schnitzler ab Mitte der 1890er Jahre eine Lebensfreundschaft mit dem dänischen Kritiker Georg Brandes (1842-1927)[50], um dessen Anerkennung Dehmel wiederum in den 1890er Jahren rang. Offenbar konnte es der angehende Junglyriker nicht verkraften, dass Brandes seinem literarischen Debüt Erlösungen (1891) in einer Besprechung für das Berliner Tageblatt mangelnde Innovation und formale Epigonalität attestiert hatte, und suchte durch schriftliche Richtigstellung und Übersendung weiterer Talentproben den einflussreichen Rezensenten vom progressiven Charakter seiner Verskunst zu überzeugen[51]:

Aber streben – streben wollen wir, dies Alles zu verlernen!! Es ist die Poesie der schwungvollen Weltflucht, des melodisch raffinierten Seelenrausches, und Wir wollen aufhören, Decadenten des verlorenen Himmelreichs zu sein! Wir sind hier Einige, die lachen all der fin de siècle-Phrasen: wir glauben an die Kraft und Schönheit, die da kommen wird! Und die Formen dieser Kraft und Schönheit wollen wir und werden wir – uns selber finden![52]

Dass Dehmels emphatische Erwiderung, wie Rüdiger Görner bemerkt[53], unwillkürlich zu einer “manifestartigen Confessio” gerät, scheint Brandes’ Auffassung nicht zugunsten des sich echauffierenden Apologeten beeinflusst zu haben, im Gegenteil: Noch fünf Jahre später schildert ein merklich enervierter Brandes die Anekdote ausgerechnet einem jungen Besucher aus Wien:

Richard Dehmel hat dem Br.[andes] Gedichte geschickt; Br. einige Ausstellungen – Dehmel einen beinah groben Brief. – Dauthendey, Przybyszewski unwahr, ich hasse diese Leute – vor allem verlang ich dass einer nicht posirt – Die Leute wollten mich besuchen, ich hab sie nicht empfangen, ich kann solche Leute nicht sehn; jetzt schimpfen sie auf mich. Die sind übrigens hergekommen, – weil man ihnen erzählt hat, die jungen Dichter seien hier alle Paederasten! Waren erstaunt, wie man sie aufklärte! Der kleine Nansen ein Paederast! – «Was sind die Ideale der jungen Leute von 25 J. in Wien?» fragte er mich u. a. «Fühlen sie sich verbrüdert mit den jungen Künstlern in Deutschland? –» […] Freute mich, dass er geradezu dieselben Ansichten über alle liter. Dinge hat wie ich.[54]

Aus Schnitzlers Tagebucheintrag wird nicht nur ersichtlich, dass es Dehmel und seine Gesinnungsgenossen aus dem Umkreis des Schwarzen Ferkels nicht bei einer epistolarischen Gegendarstellung beließen, sondern dem berühmten Kritiker in Kopenhagen auch persönlich ihre Aufwartung zu machen suchten. Der eklatante Misserfolg dieser unerwünschten Offensive sowie Brandes’ kategorische Ablehnung dürften Schnitzler in gewissem Grade eine Genugtuung gewesen sein und ihn seinerseits in seinem Vorbehalt den Berliner Bohèmedichtern und namentlich Dehmel gegenüber unterschwellig bestärkt haben.

III. Gegenseitige Werkkenntnis und Lektüren

Wie akribisch Schnitzler nicht nur die konkurrierenden Avantgardebewegungen in Deutschland und Dehmels spezifische Rolle darin, sondern auch dessen publizistische Entwicklung im Detail verfolgte, indizieren nicht zuletzt umfängliche Lektürespuren, die sich mittels dokumentarischer und indexikalischer Quellen wie Tagebüchern, Korrespondenzen, Lese- und Bestandslisten sowie Bibliotheksverzeichnissen rekonstruieren lassen. So kannte Schnitzler nicht nur die populäre Gruppendarstellung des späteren Dehmel-Biographien Julius Bab über die Berliner Boheme (1904)[55] sowie eine repräsentative Auswahl der Dehmel’schen Gedichte, sondern mit Der Mitmensch (1895) und Die Menschenfreunde (1917) auch dessen Versuche auf dramatischem Gebiet[56]. Das erzählerische Hauptwerk “Roman in Romanzen” Zwei Menschen (1903) besaß Schnitzler sogar in einer vom Verfasser persönlich übereigneten Ausgabe[57], ebenso wie den Erotica-Zyklus Die Verwandlung der Venus (1896). Letzteren hatte Dehmel ihm in einem streng limitierten unzensierten Sonderdruck (1907) zukommen lassen, der das skandalisierte Gedicht Venus Consolatrix wieder in ursprünglichem und vollständigem Wortlaut enthielt[58]. Das Kriegstagebuch Zwischen Volk und Menschheit (1919)[59] sowie die posthum erschienene zweibände Briefausgabe[60] komplettieren die verifizierbare Werkkenntnis, ohne jedoch Anspruch auf Vollständigkeit zu besitzen. Denn im Zuge seiner lebenslangen Lektüre literarischer Zeitschriften und Anthologien dürfte Schnitzler en passant zahlreiche weitere Dehmel-Werke rezipiert haben, ohne diese notativ eigens auszuweisen. Gleiches gilt für die Vermittlung durch mündlichen Vortrag im Rahmen von Vorlese- oder Deklamationsabenden oder gesanglichen Darbietungen, zumal zahlreiche Gedichte Dehmels in ihrer rhythmisch-klanglichen Anlage bereits auf eine bestmögliche wirkungsästhetische Entfaltung bzw. eine leichte musikalische Adaptierbarkeit hin konzipiert waren. Entsprechend zählten die “Dehmel-Lieder” oder die Dehmel-Vertonungen, namentlich Hans Pfitzners, Richard Strauss’, Anton von Weberns oder Arnold Schönbergs, zum festen Bestandteil des Gesangsrepertoires um 1900 und darüber hinaus[61]. Auch Schnitzler selbst spielt noch im Jahr vor seinem Tod «die “Kinderlieder” von Hemuth E.(bbs)» (1894-1970), zu denen Schnitzlers letzte Weggefährtin und Übersetzerin Suzanne Clauser (1898-1980) «vor Jahren den Dehmel’schen Text ins franz. übersetzt hat»[62].

Ein anschauliches Beispiel einer solchen Dehmel-Rezitation gab Ri­chard Beer-Hofmann am 22. März 1894 bei Schnitzler zu Hause vor Jung-Wiener Freunden anhand dessen “bedenklicher Geschichte” Die Ruthe (1895), die später als Eröffnungsnovellette im Januarheft der von Paul Lindau herausgegebenen Monatsschrift Nord und Süd erscheinen sollte[63]: «Bei mir Abd.: Salten, Loris, Richard, Schwarzkopf. – Dehmel, Ruthe (mir von unleidlicher Affectation, aber hübsche Sachen) von Richard schlecht gelesen. – Ich las “Blumen”, und “Ueberspannte Dame” vor; mit viel Erfolg»[64]. Schnitzlers Kommentierung des Abends suggeriert zweierlei: zum einen, dass er den Berliner Lyriker bereits Mitte der 1890er Jahre kannte, womöglich gar schon selbst einem der spektakulären und ganz auf die Vortragsperformance ihres wortmächtigen Schöpfers hin ausgerichteten “Dehmelabende” beigewohnt hatte, denn offenbar gelang es Beer-Hofmann nicht, an den Deklamationserfolg des Vorbilds anzuschließen. Dass Schnitzler zwar die Werkprobe goutiert, sich jedoch von der allzu plakativen Selbstinszenierung Dehmels distanziert, legt zum anderen nahe, dass er in seiner Wahrnehmung des Dichterkollegen von Beginn an zwischen Person und Werk unterschied. Während die Anerkennung seiner eigenen Arbeitsproben ihn an diesem Abend offenbar gnädig stimmte, vermochte der Dehmel’sche Erzähltext indes nicht alle Zuhörer vollends zu überzeugen. So ließ es sich der ebenfalls anwesende Hofmannsthal nicht nehmen, dem Verfasser seine künstlerischen Vorbehalte eigens zu übermitteln:

Gestern hat Beer-Hofmann mir und ein paar Freunden die Geschichte von der Ruthe vorgelesen. Die Figur der kleinen Detta, die Traumgeschichte, die japanischen Landschaften im Hintergrund haben mich entzückt. Das psychophysiologische (Berliner Wort, echtes!) Gerippe der Geschichte schien mir wenigstens beim Hören nicht genug Tragfähigkeit für so viel Daraufgehängtes zu haben. Kritisiererei! Als Tagebuchblatt ist es schön. Technik werden Sie schon lernen. Ich trau’ mich absolut noch nicht an die Prosa.[65]

Hofmannsthal war mit seiner Einschätzung nicht allein. Auch prominente Dichterkollegen wie der damals 75-jährige Theodor Fontane befanden die Skizze für «nicht leicht genug im Ausdruck», weise sie doch stilistisch «etwas von einer philosophischen Schulsprache» auf[66].

Dass ein produktiver Widerhall Dehmels in Schnitzlers eigenen literarischen Texten bislang nicht nachgewiesen wurde, mag vor allem darin gründen, dass eine systematische wie sprachlich-ästhetische Untersuchung des rund 200 Gedichte umfassenden lyrischen Werks nach wie vor aussteht[67].

Auch Dehmel seinerseits konnte mit einer souveränen Lektürekenntnis des Wiener Weggefährten aufwarten. Im Rahmen eines regen literarischen Gabentauschs, den beide Dichter untereinander pflegten, sind im Verlauf der Jahre mehrere Schnitzler-Bücher in Dehmels private Bibliothek[68] gelangt, deren ursprünglicher Gesamtbestand sich immerhin annäherungsweise rekonstruieren lässt und somit Rückschlüsse auf Dehmels Besitz sowie seine mutmaßliche Rezeption bestimmter Schnitzler-Werke erlaubt: So deckt sich zunächst der Überlieferungsbefund, dass sich als einziger Titel das Renaissancedrama Der Schleier der Beatrice (1900)[69] erhalten hat, mit dem Wissen, dass Dehmel just dieses kompositorisch wie ästhetisch nicht unproblematische Historien- und Kostümstück besonders schätzte.

Dass Schnitzlers erster Roman Der Weg ins Freie (1908), der Dehmel im Wanderurlaub in den Schweizer Bergen erreichte[70], hingegen nicht mehr aufzufinden ist, ließe implizit vermuten, dass ihm mangels Wertschätzung des Beschenkten ein ähnliches Schicksal widerfahren sein könnte wie dem Widmungsexemplar, das Schnitzler dem befreundeten Hofmannsthal übereignete[71]. Womöglich hat Dehmel den betreffenden Band aber auch lediglich vier Jahre später durch die Werkausgabe ersetzt und es schlichtweg für

Abb. 1: Fliegendes Vorsatzblatt des Dramas Der Schleier der Beatrice (2. Aufl. 1901) mit persönlicher Widmung Schnitzlers an Dehmel
(«Richard Dehmel mit verehrungsvollem Neujahrsgruß 1902 Arthur Schnitzler»)

nicht erforderlich angesehen, zwei Exemplare desselben Romans zu behalten, zumal nichts auf eine personalisierte Ausführung der Einzelausgabe schließen lässt. Denn eine Bestandsliste des Hamburger Denkmalamtes aus dem Jahr 1981[72] verzeichnet noch 60 Jahre nach dem Tod des ehemaligen Besitzers neben dem Einakterzyklus Marionetten (1906) und der Novellensammlung Dämmerseelen (1907) auch Schnitzlers erste große Werkausgabe von 1912 im Umfang aller sieben Bände[73]. Für die These eines pragmatischen Aussortierens auf der Grundlage persönlicher Präferenz sprechen noch weitere Positionen des Fehlbestands. Auch der Verbleib des Romans Therese (1928) sowie des Schauspiels Im Spiel der Sommerlüfte (1929), die Schnitzler jeweils im Erscheinungsjahr Ida Dehmel zukommen ließ, ist heute ungeklärt[74]. Um weitere Schnitzleriana in Dehmels Besitz auszumachen, wäre es langfristig unerlässlich, die Wege und Kriterien der einstigen Bestandsakquise näher zu rekonstruieren. Denn jenseits von Schenkungen und eigenständigem Erwerb dürfte eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Titeln auch über seinen Verleger Samuel Fischer an Dehmel gelangt sein, der seine Schützlinge im Zuge einer großzügigen Autorenpflege regelmäßig mit Literatur versorgte[75]. Wahrscheinlich galt diese generöse Donation für Hausdichter im Umkehrschluss auch für Schnitzler, sodass dieser gleichfalls weitere Dehmeliana besessen haben könnte.

Darüber hinaus artikuliert sich Dehmels Kenntnis und Wertschätzung des Schnitzler’schen Œuvres in angeregten Literaturgesprächen, zu denen es offenbar im Zuge der seltenen Treffen kam, sowie auf mittelbarem Wege in der Korrespondenz mit Dritten. So empfiehlt er etwa dem Rektor der städtischen Bürger-Mädchenschule in Krefeld Johannes Meyer (1854–nicht erm.) im Kontext der Erstellung einer literarischen Anthologie[76] nachdrücklich «die sehr aparten Poeten Jung-Wiens» und namentlich «Schnitzler, Wassermann, Peter Altenberg»[77]. Dabei verdeutlicht die syntaktische Frontalstellung des Indizierten einerseits die Relevanz und Führungsrolle Schnitzlers, andererseits die gruppenspezifische Wahrnehmung desselben seitens Dehmels als konstitutives Mitglied des Jung-Wiener-Kreises.

Dass die übersandten Buchgaben nicht zu Regalleichen verkamen, sondern Dehmel die erhaltenen Titel tatsächlich auch zeitnah rezipierte, belegt ein Lektürezeugnis vom 14. Februar 1902, in dem Dehmel Schnitzler auf einen Produktionsfehler in dem erhaltenen Widmungsexemplar von Der Schleier der Beatrice (1901, 2. Auflage) hinweist und um Vervollständigung der “abgesprungenen” Partien bittet[78]. Schnitzler respondiert prompt binnen nur 48 Stunden und komplettiert die fragmentierten Schlussworte[79]. Dehmels Interesse an dem heute weitgehend vergessenen Geschichtsdrama, «ein[em] historische[n] Bilderbogen des Cinquecento-Bologna»[80], dürfte authentisch gewesen sein, zeigte er sich doch, wie die zahlreichen Exemplare in seinen Bibliothek belegen, von der italienischen Renaissance und der renaissancistischen Literaturmode seiner Zeit begeistert[81] und versichert Schnitzler, «die Dichtung mit größter Freude gelesen [zu] habe[n]»[82].

IV. Verlaufsphasen der Dichterbeziehung

IV.a Phase I: Verehrung aus der Ferne (1880er Jahre bis 1900)

Die erste Phase ab Mitte der 1880er Jahre bis zur Jahrhundertwende ist vornehmlich von aufgeschlossenem Interesse und ästhetischer Bewunderung für das Frühwerk des jeweils Anderen geprägt. Schnitzler “kannte” Dehmel bereits vor dessen eigentlichem literarischen Durchbruch mit Weib und Welt (1896), sei es als Mitarbeiter des Pan oder aufgrund der vorangegangenen beiden Gedichtbände Erlösungen (1891) und Aber die Liebe (1893), wie ein gemeinschaftlicher, von Karl Kraus initiierter Kartenbrief aus dem Café Central vom 10. Februar 1894 beweist: Dieses seitens der Forschung bislang kaum berücksichtigte, einzigartige Beispiel eines Kollektivkommunikats verdient im hiesigen Kontext besondere Beachtung, fungiert es doch als eindrücklicher Beleg für die gruppenspezifische Wahrnehmung Dehmels als Protagonist der Berliner Moderne seitens der Jung-Wiener Literaten.

 

Abb. 2: Karl Kraus u.a. an Richard Dehmel, Brief vom 10.2.1894

Wien, 10. II. 93. [sic]
Café Central – die Secessionisten der Secession (nicht mehr das altberühmte Café Griensteidl oder «Steinkrügl», wie Liliencron sagt)
Liebster Dehmel, viele schöne Grüße, Sie welttiefer Völkerpsycholog. Meinen Brief haben Sie wohl schon!
Gruß an Bierbaum, Schlaf, Scheerbart, Halbe! Ihr
Karl Kraus.
Richard Beer-Hofmann
Loris
Herzliche Grüße
Arthur Schnitzler
[83]

Unter vorläufigem Verzicht auf jegliche Einleitungs- oder Begrüßungsformeln setzt das Schreiben medias in res mit der Proklamation eines bedeutungsstiftenden Ortswechsels ein: «[N]icht mehr das altberühmte Café Griendsteidl» fungiere derweil als «Hauptquartier der jungen Literatur» (Stefan Zweig), sondern das «Café Central». Wenngleich unfreiwillig[84], erweist sich der Umzug als bedeutungsstiftend, trägt er doch dem Bedürfnis nach einer Emanzipation vom Althergebrachten Rechnung. Entsprechend selbstbewusst stilisieren sich die Verfasser wohl in Anspielung auf die zwei Jahre zuvor gegründete Münchner Avantgardebewegung zu «Secessionisten der Secession»[85], mithin zu Abtrünnigen einer aus ihrer Sicht überkommenen Künstlergemeinschaft. Die Abspaltung geht einher mit einer doppelten ästhetischen Positionierungsgeste: So beruft man sich zunächst auf Detlev von Liliencron als Galionsfigur der modernen Literatur – eine Verbindung, deren Intimität durch das Wissen um die scherzhafte Diminutivbezeichnung («Steinkrügl») noch forciert wird, bevor im Folgeabsatz der Adressat selbst zur Sprache gelangt. Die hypertrophe Emphase der superlativischen Apostrophierung («[l]iebster Dehmel») sowie der Umstand, dass der Brief selbst faktisch keinen Nachrichtenwert besitzt, offenbarten die eigentliche, rein phatische Intention des Schreibens, nämlich dass sich ein (wenn auch loses) Dichterkollektiv dem anderen empfahl. Dem postalischen «Gruß an Bierbaum, Schlaf, Scheerbart, Halbe!» steht die persönliche Signatur Kraus’, Beer-Hofmanns, Hofmannsthals (als «Loris») sowie Schnitzlers gegenüber, die dem Korrespondenzstück als Gruppenkommunikat zusätzliche Authentizität verleiht. Die Gelegenheit wird gleichsam genutzt, um mittels gezielter Lektürevorschläge en passant Eigenwerbung zu betreiben: So weist etwa Beer-Hofmann per Randnotiz auf seine just im Berliner Verlag Freund & Jäckel erschienene Novellensammlung (1893) hin[86]. Insgesamt dokumentiert der Kartenbrief nicht nur auf paradigmatische Weise die epochale Bedeutung des “Phänomens Dehmel” für die junge Dichtergeneration um 1900, sondern auch die gegenseitige Rezeption der Wiener und Berliner Moderne in ihrer jeweiligen Gründungs- und Konstituierungsphase: Die Gruppenperspektive dominiert, gegebenenfalls auch mangels hinreichender Profilierung, die individuelle Wahrnehmung der einzelnen Protagonisten. So firmiert auch Schnitzler noch als Teil eines literarischen Kollektivs und tritt als eigene Dichterpersönlichkeit noch nicht in Erscheinung. Mit dem Erfolg der Liebelei (UA 1895) wird sich dieser Status bereits im Folgejahr grundlegend ändern.

IV.b Phase II: Intensivierung der Bekanntschaft (1900 bis 1907)

Durch Übersendung von Schnitzlers Renaissancedrama Der Schleier der Beatrice motiviert, das im Vorjahr im gemeinsamen Verlag S. Fischer erschienen war, eröffnet Dehmel symbolträchtig am Neujahrstag des Jahres 1902 den persönlichen Briefwechsel. Es ist das erste von insgesamt 15 Kommunikaten der gemeinsamen Korrespondenz, von denen neun auf Dehmel und sechs auf Schnitzler entfallen. Dass es Dehmel in seinem Auftaktschreiben nicht bei einem formellen Dankesbrief belässt, sondern sein Entzücken über die unerwartete Buchgabe sogleich mit einer Aufforderung zur Ko-Autorschaft für sein Kinderbuchprojekt Der Buntscheck (1904)[87] verbindet, ist symptomatisch für den weiteren Verlauf der Beziehung. Denn zumindest in der Anfangsphase erweist sich Dehmel als der aktivere Part, der versucht, den bereits etablierten Dramatiker in sein literarisches Netzwerk einzubinden.

Ich will in etwa 2 Jahren ein Kinderbuch herausgeben:

Der Buntscheck,
ein Sammelbuch herzhafter Kunst für Ohr und Auge unsrer Kinder –

würden Sie mir dazu eine einfache kurze Geschichte beisteuern können? Sie brauchen durchaus nicht vom Kinde zu handeln, jeder andre «Stoff» ist mir sogar lieber; nur soll eben Alles ganz vom Kinde aus dargestellt, also ohne sentimentalische oder ironische Sehnsucht nach dem «verlorenen Paradiese». Auf das Mscrpt […] kann ich bis in den September dies. Js. warten; länger nicht aus illustrativen Gründen. Im übrigen hat der Verleger (Schafstein & Co. in Köln) mir völlig freie Hand bewilligt, sodaß ich für die Urheberansprüche meiner Mitarbeiter in künstlerischer wie geschäftlicher Hinsicht nach Gebühr eintreten kann.[88]

Zwar stellt der Adressierte sein Mitwirken an Dehmels durchaus prominent besetzter Anthologie[89] in Aussicht, jedoch kam es letztlich nicht dazu, womöglich weil Schnitzler das Genre wie auch der Gestus kinder- und jugendliterarischen Erzählens zeitlebens fremd blieb[90]: So mag die Korrespondenz über Der Schleier der Beatrice nur wenige Wochen später auch ein Versuch Dehmels gewesen sein, Schnitzler seines Wohlwollens zu versichern und ihn dadurch implizit zur Mitarbeit am Kinderbuchprojekt zu motivieren. Unterschwellig dürfte sein Enthusiasmus für Schnitzlers renaissancistisches Kostümstück allerdings auch aus der inneren Notwendigkeit einer produktionsästhetischen Umorientierung resultieren, die ihn zunehmend in den Bereich des theatralen Genres führte und ihn folglich den Austausch mit den führenden Bühnendichtern des deutschsprachigen Raums suchen ließ, wie er dem befreundeten Harry Graf Kessler (1988-1937) gegenüber konzediert: «Zum Drama dagegen fühle er sich hingezogen»[91]. Dafür spräche auch, dass Dehmel sein Bemühen noch intensiviert, indem er Schnitzler sein Epos Zwei Menschen (1903) übersendet[92]. Ob Schnitzler, wie er galant behauptet, tatsächlich bereits den Vorabdruck in der Neuen Deutschen Rundschau zur Kenntnis genommen hatte[93], kann zwar nicht zweifelsfrei belegt werden, erscheint angesichts der prominenten Platzierung im verlagseigenen Periodikum jedoch wahrscheinlich. Jedenfalls bedankt sich Schnitzler in wärmsten Worten für die übereignete Buchgabe: «[W]as ich dort las, hat mich außerordentlich ergriffen und ich hab es dem allerschönsten zugerechnet, was ich von Ihnen kenne. Nun freue ich mich sehr, liebgewonnenes bekanntes in einem herbeigewünschten ganzen aufzunehmen»[94].

Den Tiefpunkt der Künstlerbeziehung markiert dann allerdings ausgerechnet das Auftakttreffen beider Dichter in Wien anlässlich einer längeren Lesereise, die Dehmel gemeinsam mit seiner Frau im Frühjahr 1904 unternommen hatte[95]. In diesem Rahmen kam es am Sonntag, den 6. März, auf Einladung des Ansorge-Vereins nicht nur zu einem großen Dichter- und Künstlertreffen bei einem “Dehmelabend” im renommierten Bösendorfer-Saal des Palais Liechtenstein[96], bei der auch das Ehepaar Schnitzler zugegen war, sondern auch zu einer separaten Zusammenkunft in Schnitzlers Privatwohnung. Da dieser das anschließende Abendessen nicht wahrnehmen konnte, weil er bereits anderweitig im Hotel Klomser verabredet war[97], lud er Dehmel und seine Frau für den Folgetag auf einen nachmittäglichen Teebesuch zu sich nach Hause in die Spöttelgasse Nr. 7 im Währinger Cottageviertel ein. Obgleich sich umgehend Konversationsthemen von beiderseitigem Interesse fanden – etwa die Schauspielerei und namentlich die Mimin Irene Triesch (1875-1964)[98] oder die Musik, für die beide Dichter eine aufrichtige Passion hegten – und der Hausherr schließlich sogar Kostproben am Klavier zum Besten gab, mochte sich, wie Schnitzler mit Bedauern konstatiert, «kein rechtes Verhältnis her[stellen]»[99]. Während der Gastgeber seinerseits die missglückte Zusammenkunft nicht weiter kommentiert und auch keine Gründe für die ausbleibende Harmonie anführt, belegt ein nachträglicher Rapport Ida Dehmels an ihre Schwester Alice Bensheimer (1864-1935), der das Treffen anschaulich Revue passieren lässt, dass das Missbehagen durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte:

Zum Thee waren wir bei Schnitzler. Das war die einzige Enttäuschung Wiens für uns. Er hat also seine Geliebte geheiratet, nachdem ihr gemeinsamer Junge 8 Monate alt war. So was giebt uns ja ein Vorurteil für die Menschen. Aber die Frau ist zu unsympathisch. Sie ist beinah schön, hat zu weißem Teint schwarze herrliche Haare, u. bewegt u. kleidet sich gut. Aber sie spielt sich ganz auf die Geistreiche aus, u. hat so was Kaltes Hundeschnäuziges, und er hat einen Spitzbauch und besteht auch aus lauter feinschmekkerigem Verstand. Außerdem ist ihre Wohnung unglaublich geschmacklos.[100]

Dass der am Jugendstil der Darmstädter Mathildenhöhe um Peter Behrens (1868-1940) geschulte hochmoderne Wohngeschmack der Dehmels der bürgerlich-klassizistischen Einrichtung Schnitzlers im Altwiener Stil[101] diametral entgegengestanden haben wird, ist leicht ersichtlich. Gravierender aber als die Diskrepanz in ästhetischen Geschmacksfragen in Bezug auf das private Interieur dürften eine naturgegebene Antipathie der beiden Dichtergattinnen sowie grundlegende Mentalitätsunterschiede gewogen haben. Denn während Ida Dehmel ihr Leben und Wirken von Beginn an ganz in den Dienst des Werks ihres Mannes stellte, erst als Muse, später als Hüterin seines Nachlasses, haderte Olga Schnitzler zeitlebens mit dieser von außen oktroyierten Rolle und suchte stattdessen, ihre eigene Karriere als Sängerin zu verfolgen. Schnitzler selbst war sich, wie er Jahre später in der Trennungsphase konstatiert, der daraus resultierenden «allgemeine[n] Unbeliebtheit O.[lga]s» durchaus bewusst, sodass «[i]hr Verbrauch an Menschen, ihr Hochmut, ihre Ungüte» auch den gesellschaftlich versierten Dehmels aufgefallen sein und das nicht weniger selbstbewusste und erfolgsverwöhnte Dichterpaar brüskiert haben mag[102]. Mit ihrem mondänen Erscheinungsbild und sensationsheischenden Auftritt, gepaart mit Belesenheit und scharfem Intellekt, irritierte wiederum Ida mitunter selbst progressiv gesonnene Zeitgenossen[103]. Womöglich hat aber auch die Anwesenheit des Regisseurs und Schauspielers Wilhelm von Wymetal (1863-1937), der als Obmann des Ansorge-Vereins den Dehmel-Abend verantwortet hatte und mit dem es aufgrund mangelnder Absprachen um ein von Dehmel ausdrücklich nicht gewünschtes Festbankett im Vorfeld zu erheblichem Ärger gekommen war[104], die Stimmung temporär getrübt. Die Vermutung persönlicher Antipathie erhärtet sich insbesondere im Vergleich mit der ungleich einträchtigeren Zusammenkunft bei und mit Jakob Wassermann am Folgetag, den Dehmel bereits als Beiträger seines Buntscheck kannte. Mit dem gebürtigen Franken Wassermann, der mit seiner Wahl-Heimat Wien zeitlebens fremdelte, stimmte die Chemie offenbar beidseitig, wie den jeweiligen Berichten übereinstimmend zu entnehmen ist: Dieser erkannte in Dehmel «einen tiefen, ernsten, innigen, wahren Menschen, von dem eine lebendige Wärme ausgeht, – zum Unterschied von den hiesigen, die schließlich doch alle kühl sind»[105]. Dehmels waren ihrerseits von Wassermanns «gleichen Denkresultaten», «seine[r] Klugheit [mit] Temperament als Untergrund» angetan[106]. Die Vertraulichkeit des Umgangs legt nicht nur die Vergewisserung des gegenseitigen Wohlwollens, sondern auch gemeinsamer Vorbehalte gegenüber bestimmten Protagonisten auf dem literarischen Parkett nahe, sodass eine vielsagende Passage in einem Brief Dehmels an Wassermann rund zwei Jahre später auch auf das beiden Korrespondenzpartnern missliebige Milieu der Wiener Bohème gemünzt sein könnte und somit Dehmels Ablehnung dieses prätentiösen Künstlerkreises Ausdruck verleiht:

Kleinstadt und Großstadt läuft übrigens öfters indertat auf dasselbe hinaus; ich meinte die verhockte Alkovenstimmung gewisser ästhetischer Zirkel, die nur in großen Städten gedeihen, aber noch kleinlicher in Eigendünkel borniert sind als der verkrochenste Krähwinkler, der wenigstens vor Donner und Blitz und Feuersnot und Pestilenz noch einen natürlichen Respekt hat. Diese romantisch blasierte Resignationspose paßt nicht zu Deinem Naturell, obgleich Du damit selbstverständlich manchen sehr treffenden Fingerzeig auf manche «modernen Seele» agieren kannst und admirabel agiert hast.[107]

Immerhin scheint das missglückte Beisammensein keine negativen Langzeitfolgen im Sinne einer gegenseitigen Herabsetzung oder eines Prestigeverlusts nach sich gezogen zu haben. Denn Dehmel gilt Schnitzler weiterhin als bedeutender Künstler, wie er nur wenige Monate später in einem Literaturgespräch mit seiner Frau Olga nach Rezitation «einige[r] Liliencrongedichte» ihrerseits notiert: «Sprachen drüber, wie unbegreiflich, dass die Leute nicht merken, in was für einer künstlerisch reichen Zeit sie leben: Dehmel, Liliencron, die Mann’s, – Hauptmann, Hofmannsthal – Strauss – Streicher – Mahler; – Klinger, Klimt!»[108]. Die durch die Erstnennung zusätzlich implizierte Wertschätzung Dehmels als bedeutenden Lyriker seiner Generation dürften sowohl Schnitzler als auch seine Frau geeilt haben, der als Sängerin das Repertoire der zahlreichen Dehmel-Vertonungen mit Sicherheit geläufig war, ohne im engeren Sinne “Dehmelianerin” zu sein.

Auch Dehmel seinerseits scheint sich mit dem Wiener Ansorgeverein nicht dauerhaft überworfen zu haben, denn nach dem Erfolg des Rezitationsabends lädt dieser den Lyriker bereits am 25. Oktober 1905 erneut zum Vortrag ein[109]. Zwar bleibt Schnitzler aufgrund dringlicher Arbeitspflichten der Veranstaltung dieses Mal fern, jedoch trifft er am Folgeabend im Hause des befreundeten Felix Salten erneut mit Dehmel zusammen: Nach der Lesung der Novelle Herr Wenzel auf Rehberg und sein Knecht Kaspar Dinckel (1907)[110] – noch unter dem Arbeitstitel Junker von Rehberg – seitens des Gastgebers bleibt Schnitzler, gemeinsam mit Richard und Ida Dehmel sowie Hofmannsthal, noch zum Abendessen. Sowohl das hinlängliche Lob («eine recht gelungene Erzählung») des insbesondere im Hinblick auf Salten pathologisch kritischen Schnitzler als auch das Fehlen offensichtlicher Disharmonien lässt zumindest rein äußerlich auf einen gelungen(er)en Abend schließen. Dass aber offenbar weder die erweiterte Gästerunde noch das Fernbleiben Olga Schnitzlers ein einträchtiges Miteinander zu garantieren vermochten, belegt das korrespondierende Zeugnis der Gegenseite in unerbittlicher Explizität:

Einen Abend waren wir bei Felix Salten mit Hofmannstal, Schnitzler, u. Wasserm. Hofmannst. u. Schnitzl. sind mir fremder als der Japaner mit dem ich zweimal Tennis gespielt habe. Ich friere bei ihnen. Und obgleich ich kaum gesprochen habe an dem Abend, ist mir heute jedes Wort zu viel, das mir in ihrer Gegenwart entschlüpft ist. Wenn ich in Todesgefahr wäre – ich glaube, daß ich lieber unterginge, als einen von denen um Hilfe zu bitten. Dabei habe ich ihnen nichts vorzuwerfen – es ist ein unabweisbares Gefühl gegen sie in mir.[111]

Ida Dehmels vernichtendes Urteil wird immerhin dadurch relativiert, dass ihre intrinsische Aversion auch den mit eingeladenen Hofmannsthal impliziert und dass sie ihre Abneigung als unergründlich ausweist. Auch müssen die persönlichen Animositäten von Dehmels Lebens- wie Seelengefährtin insofern als sekundär betrachtet werden, als sie diesen nicht von weiteren Treffen und einer Fortsetzung seiner Beziehungen zu den Jung-Wiener Dichtern, namentlich auch zu Schnitzler, abhält.

IV.c Phase III: Ein neuer Anlauf (1907 bis 1920)

Gleichwohl pausiert der Briefwechsel in der Folgezeit erst einmal für rund drei Jahre, bis Dehmel ihn durch die Übersendung eines vertraulichen Widmungs- und Privatexemplars von Die Verwandlung der Venus (1907) wieder aufnimmt[112]. Schnitzler wiederum scheint sich im zweiten Quartal des Folgejahres mit der Übersendung eines Exemplars seines ersten Romans Der Weg ins Freie (1908) bei Dehmel zu revanchieren, der – eingedenk der vorangegangenen Korrespondenz – ebenfalls auf die Teilveröffentlichung in Die neue Rundschau verweist, sich allerdings glücklich preist, dem Roman fürderhin nicht mehr in fragmentierter Form, sondern in Gänze «die verständnisvollste Andacht widmen»[113] zu können. Diese abermalige Versicherung der gegenseitigen künstlerischen Wertschätzung scheint beide Parteien am 15. November 1908 zu ermutigen, ein neuerliches Treffen anzugehen – klugerweise in taktisch weitaus harmonischerer Konstellation mit dem Dehmel wohlgesonnenen Jakob Wassermann und weiteren Wiener Freunden[114]. Selbst die Anwesenheit des nur bedingt gelittenen Hugo von Hofmannsthal ließ sich insofern vertreten, als man zuvor bereits zum Mittagessen bei dem langjährigen Korrespondenzpartner in Rodaun geladen war[115]. Dehmel befand sich im Rahmen einer mehrtätigen Vortragsreise in Wien und hatte am Vorabend, einem Samstag, dem 14. November, auf Einladung des Vereins für Kunst und Kultur im Festsaal des Niederösterreichischen Gewerbevereins gelesen[116]. Obschon Schnitzler der Rezitation Dehmels selbst neuerlich nicht beiwohnen[117] und Dehmel aufgrund von Reiseverpflichtungen, auf die er im Vorfeld verwiesen hatte, nicht allzu lange bleiben konnte, scheint der Abend dieses Mal erfreulicher verlaufen zu sein: Gespräche «über Träume, Hallucinationen» werden notiert, Hinweise auf eine detachierte Grundstimmung oder ein offensichtliches Missbehagen des illustren Gastes bleiben trotz identischer Umgebung und des massiven Ohrenleidens Schnitzlers in jener Zeit aus[118]. Ob das mutmaßliche Fernbleiben Ida Dehmels[119] oder die weniger intime, salonartige Atmosphäre ein geselligeres Beisammenseins beförderte, mag retrospektiv nicht mehr entschieden werden, jedenfalls bildete die Zusammenkunft den Auftakt für die Intensivierung der Bekanntschaft. Denn in den Folgejahren mehren sich Anfragen und Verpflichtungen im Rahmen beruflich-professioneller Anliegen wie Petitionen und Jubiläen, etwa zum 50. Geburtstag des gemeinsamen Verlegers Samuel Fischer am 24. Dezember 1909[120].

Den Höhepunkt in der Beziehung markiert schließlich das vorletzte Treffen beider Dichter Anfang November 1911 in Dehmels neuer Wahlheimat Hamburg. Den äußeren Anlass bildet eine dienstliche Verpflichtung in thea­tralen Angelegenheiten: Schnitzler gastierte aus Anlass einer “Schnitzler-Woche” am noch jungen Schauspielhaus, das damals unter der künstlerischen Leitung Carl Hagemanns (1871-1945) versuchte, die klassische Ausrichtung des Repertoires durch zeitgenössische Autoren zu modernisieren[121]. Die Festwoche sah einen Schnitzler-Zyklus an drei Abenden in Folge vor: Den Auftakt bildete am Montag, dem 6. November, mit der Tragikomödie Das weite Land ein jüngeres Gesellschaftsstück, gefolgt von dem Renaissancedrama Der Schleier der Beatrice aus der Zeit der Jahrhundertwende, dem bis dahin der durchschlagende Bühnenerfolg versagt geblieben war, bevor der Einakterzyklus Anatol aus den frühen 1890er Jahren den repräsentativen Stückereigen beschloss[122].

Während der fünf Tage, die Schnitzler in Begleitung seiner Familie in der Hansestadt weilte[123], kam es zweimal zum persönlichen Wiedersehen mit dem Ehepaar Dehmel, das seinerseits bereits vorab über den Besuch des berühmten Gastes informiert gewesen sein dürfte. Denn nicht nur wurde Schnitzlers Anwesenheit in der lokalen Presse publikumswirksam annonciert[124], auch hatte Dehmel aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Premiere seines eigenen Stücks Michel Michel am Schauspielhaus vermutlich Kenntnis von den im Detail geplanten Veranstaltungen und dem inoffiziellen Rahmenprogramm des Besuchs.

So finden sich «Dehmel und Frau» bereits am Ankunftsabend unter den geladenen Gästen des vom Mäzen und Theaterpräsidenten Heinrich Antoine-Feill (1855-1922) ausgerichteten Empfangsbanketts ein, ohne dass es offenbar zu einer näheren Unterredung gekommen war, was sich jedoch am Folgetag ändern sollte[125]. Denn die von Schnitzler im Diarium notierten Gesprächsinhalte suggerieren, dass Dehmel wenn auch nicht der gesamten Trias, so doch zumindest den Aufführungen des Weiten Lands und der Beatrice beiwohnte und im Zuge der anschließenden Abendgesellschaft im Hotel Atlantic mit dem berühmten Dramatiker und Ehrengast in künstlerischen Austausch zu treten suchte. So fragt er Schnitzler in Anspielung auf dessen Figuren Filippo Loschi aus der Beatrice oder Albertus Rohn aus dem Weiten Land[126], «warum [dieser] die Dichter immer “so schlecht” mache»[127]. Auch wenn Schnitzler gegen Dehmels Deutung privatim interveniert («womit er kaum Recht hat»), dürfte er sich doch durch diesen Gunstbeweis der aufmerksamen Leser- bzw. Zuschauerschaft und des ehrlichen Interesses an seinen Schöpfungen geschmeichelt gefühlt haben. Entsprechend notiert Schnitzler die neuerliche Begegnung als überaus gelungen: «D.[ehmel] gefällt mir besser als je».

Dass Schnitzler trotz dieses positiven Verlaufs ausgerechnet am Abend vor der mit Spannung erwarteten Uraufführung von Dehmels Komödie Michel Michael (UA 11.11.1911) abreist, wenngleich aufgrund dringender Verpflichtungen und Anschlusstermine[128], affirmiert in geradezu charakteristischer Weise die konstitutive generische Dialektik in der Beziehung beider Dichter. Immerhin sollte sich auch dieses Mal Schnitzlers Versäumnis als nicht allzu tragisch erweisen. Denn die Inszenierung fiel bereits am Premierenabend, wenn auch nicht beim Publikum, so doch bei den anwesenden Kritikern, gnadenlos durch[129], ja war von derart desaströsem Misserfolg, dass sie Hamburg und dem jungen Schauspielhaus seinen ersten veritablen Theaterskandal bescherte und umgehend wieder vom Spielplan verschwand: «Man pfiff Dehmels “Michel Michel” […] aus und sparte, auch wenn man nicht immer so weit ging, bei anderen Stücken moderner Dichter an Mißfallensäußerungen nicht»[130]. Dass demgegenüber alle drei an den Tagen zuvor gegebenen Schnitzler-Stücke vor dem erzkonservativen Geschmack des hanseatischen Publikums zu bestehen vermochten, muss den Einen mit Genugtuung erfüllt, den Anderen bitter enttäuscht haben. Das künstlerische Versagen im dramatischen Metier im unmittelbaren “Wind­schatten Schnitzlers” dürfte für Dehmel eine empfindliche Demütigung gewesen sein, war er doch seinerseits von seinem theatralen Talent überzeugt[131]:

Dehmel jedenfalls glaubte an seine dramatische Sendung. Und es war wirklich auch nicht leicht, an der Berechtigung solchen Glaubens zu zweifeln. Hier war ein Dichter von zweifelloser, mächtig gereifter Kraft, und ein Geist voll lebendigstem Gefühl für all die großen, kämpfenden Gegensätze, die die Einheit des Lebens bilden. Sollte das kein Dramatiker sein?! Er glaubte durchaus an den Anfang einer «zweiten Dichterperiode», die für ihn eine dramatische sein sollte.[132]

Exkurs: Dehmels 50. Geburtstag (1913) und das Dehmelhaus (Baujahr 1911)

Gegen Ende des Jahres 1913 jährt sich der Geburtstag Richard Dehmels zum fünfzigsten Mal, was befreundete Kreise und Weggefährten des Dichters zum Anlass nehmen, um diesem mittels einer großangelegten Spendenaktion den Erwerb seines Wohnhauses zu ermöglichen. Auch Schnitzler zeichnet unter den Gratulanten zu diesem Dichterjubiläum am 18. November 1913[133] und beteiligt sich auf Betreiben der Hamburgerinnen Olga Herschel (1885-1935), Tochter einer angesehenen hanseatischen Arztfamilie und weitläufig mit der Bankiersfamilie Warburg verwandt, und der befreundeten Emmy Auguste Wohlwill (1883-1961) an der Schenkung des Dehmelhauses[134] im damals noch autonomen Blankenese bei Hamburg in der Höhe von 100 Mark – immerhin dieselbe Summe, die auch Thomas Mann und Stefan Zweig zu geben bereit gewesen waren[135]. Dehmel revanchiert sich daraufhin bei allen Schenkenden mit einem exklusiven Privatdruck des aus diesem Anlass entstandenen Gedichts Das Haus des Dichters (1913), der sich in Schnitzlers Nachlass erhalten hat[136]. Ob Schnitzler seinerseits Ida und Richard Dehmel jemals in ihrem Hamburger Zuhause persönlich besucht und somit die vom ihm später quasi indirekt “mitfinanzierte” Villa in Augenschein genommen hat, womöglich gar unwissentlich, ist zwar nicht mit Sicherheit überliefert[137], jedoch auch nicht gänzlich ausgeschlossen: Denn im Rahmen ihres Hamburg-Besuchs von 1911 unternehmen Arthur und Olga Schnitzler am Nachmittag des 10. November einen Spaziergang durch das damals wie heute pittoreske ehemalige Fischerdorf im Hamburger Westen («N[ach]m.[ittag] Blankenese. Sonnenuntergang über der Elbe»[138]), wo der imposante Rohbau in unmittelbarer Nachbarschaft des damals noch dünn besiedelten Süllberg zwischen den weiträumigen Landschaftsflächen von Schinckels und Goßlers Park leicht auszumachen war.

 



Abb. 3: Das Dehmelhaus in Blankenese bei Hamburg (1912)[139]

Da sich die Dehmels in jenem Spätherbst mitten in der fortgeschrittenen Bauphase ihres neuen Wunschdomizils befanden[140], ist anzunehmen, dass sie Schnitzler, seinerseits seit wenigen Monaten stolzer Eigenheimbesitzer im noblen Wiener Cottage-Viertel[141], im Zuge der abendlichen Zusammenkünfte wenige Tage zuvor davon berichtet hatten. Der rezente Eindruck dieser Architekturgespräche sowie Schnitzlers generelle Passion für die Besichtigung herausragender Wohnimmobilien sowie Dichter- bzw. Künstlerhäuser im Besonderen[142] plausibilisieren die Vermutung, dass der Ausflug an die Elbe nicht ausschließlich der naturnahen Zerstreuung am Abreisetag, sondern auch der akuten Neugier auf den prestigeträchtigen und reformarchitektonisch ambitionierten Neubau von Deutschlands führendem Lyriker gegolten haben mag. Dass der junge Architekt Walther Baedeker (1880-1959) auf den Wunsch des Bauherren hin darüber hinaus noch das Weimarer Gartenhaus im Park an der Ilm anzitierte und somit die baulich-materielle Voraussetzung für eine gelebte Imitatio Goethes der Dehmels in spe auch als sichtbares Zeugnis der Selbstrepräsentation nach außen hin schuf[143], dürfte das immobiliär-kompetitive Interesse Schnitzlers, der sich in seinem Wiener Heim selbst mit zahlreichen Goetheana, darunter wohl auch einer Landschaftsphotographie mit dem Gartenhaus im Ilmenau-Park, umgab, zusätzlich forciert haben[144]. Dass Schnitzler die exakte Lage des Grundstücks in der damaligen Westerstraße nicht kannte und seine Briefe lediglich mit der Angabe “Blankenese b. Hamburg” adressierte, widerlegt diese Annahme nicht, sondern entsprach dem postalischen Usus: Auch Dehmel selbst beschränkte sich seinerseits überwiegend auf diese Adressangabe[145]. Hinzu kam, dass die Tisch- und Abendgesellschaften der Dehmels bereits seit den späten 1890er Jahren als legendär galten und zahlreiche Bekannte und Weggefährten Schnitzlers wie Alma und Gustav Mahler, Richard Strauss, Gerhart Hauptmann, Max Reinhardt, Conrad Ansorge oder das Verlegerpaar Fischer bereits bei dem schillernden Künstlerpaar in Berlin oder Hamburg gastiert hatten[146], sodass Schnitzler vermutlich Mythen und Erzählungen dieser so exklusiven wie exzessiven Soiréen aus privaten Schilderungen vernommen hatte. All das trug zum Nimbus der Dehmels und somit implizit auch des Dehmelhauses bei und dürfte Schnitzlers Intention motiviert haben, die spätere Wirkungsstätte persönlich in Augenschein zu nehmen. Dass das eindrucksvolle Wohnhaus der Dehmels auch Jahre später noch für Gesprächsstoff gesorgt haben mochte, legt eine Begegnung des Jahres 1924 nahe: Im Zuge einer Abendgesellschaft bei dem Rechtsanwalt Philipp Menczel (1872-1941) traf Schnitzler erstmals auf den an der Inneneinrichtung des Hauses beteiligten Architekten Peter Behrens, der kurz zuvor als Nachfolger Otto Wagners (1841-1918) an die Wiener Akademie der bildenden Künste berufen worden war. Das wertschätzende Urteil im Tagebuch («gefiel mir sehr»[147]) plausibilisiert die Annahme, dass Schnitzler an jenem Abend rund eine Dekade später, nachdem er den Rohbau mutmaßlich inspiziert hatte und der einstige Hausherr bereits verstorben war, mit dem langjährigen Weggefährten und Korrespondenzpartner Dehmels noch einmal dessen Hamburger Wohnhaus auferstehen ließ.

Unabhängig vom Erfolg offenbart die Hamburger Wiederbegegnung im November 1911 eine Tendenz in Schnitzlers Wahrnehmung des Kontrahenten: Sobald es weniger um die Persona Dehmels respektive ihre effektheischende Inszenierung, sondern um Fragen der Dichtkunst bzw. das Werk des jeweils Anderen ging, stellt sich ein aufrichtiges Grundverständnis ein, das bis zu solidarischer Parteinahme reicht. Folgerichtig verwehrt sich Schnitzler nur wenig später bei anderer Gelegenheit gegen eine wenig galante Schmähung Dehmels seitens “befreundeter” Dichterkollegen:

Nm. mit O. und Heini zu Saltens, wo Julius Wollf und Frau. Über Dehmel und Frau («Dehmel … heut haste wieder gelesn wie n Gott …» Er: Oh … ich möchte dich auf mein Lager reißen …) […] Es geht wohl nirgend viel edler und reinlicher zu – aber die «Literaten» erzählens gleich so gut weiter![148]

Bereits zu Beginn des Folgejahres kommt es zu einer weiteren Zusammenkunft: Eine Vortragsreise hatte Dehmel Ende Januar 1912 abermals nach Wien geführt und ihn die günstige Gelegenheit ergreifen lassen, den berühmten Dichterkollegen wiederzusehen. Zwar scheint Schnitzler aufgrund paralleler Arbeit am Professor Bernhardi (1912) und der Novelle Frau Beate und ihr Sohn (1913) der Lesung selbst, einer musikalisch-literarischen Matinee[149], neuerlich nicht beigewohnt zu haben. Jedoch ließ er es sich nicht nehmen, das Ehepaar Dehmel und den befreundeten Jakob Wassermann für denselben Abend privatim nach Hause einzuladen[150]. Auch wenn das bürgerlich-biedermeierliche Interieur im Alt Wiener-Stil die von Ida Dehmel bemängelte konservative Wohnästhetik der Spöttelgasse im Wesentlich fortgeführt haben mag, wird es Schnitzler ein Anliegen gewesen sein, den architekturinteressierten Dehmels nun seinerseits seine stattliche, von Hermann Müller (1856-1923) im Cottage-Stil entworfene Villa in der Sternwartestraße 71 zu präsentieren. Die Konversation findet ein für beide Seiten dankbares Sujet im rezenten Phänomen der Hypnose, das es Schnitzler erlaubt, mit seiner medizinischen Expertise zu glänzen, kann er sich doch selbst «einstige[r] Versuche auf diesem Gebiet» rühmen[151]. Heikle Themen, wie der thea­trale Misserfolg des Michel Michael, werden wohlwissend ausgespart. Wie sehr der kollegiale Austausch Schnitzler jedoch mittelbar unter Zugzwang setzt, verrät der Eintrag des Folgetags, an dem dieser, offenbar angespornt durch das publizistische Voranpreschen seines Gastes in Sachen Selbstkanonisierung[152], sein eigenes editorisches Großprojekt zu forcieren sucht: «Nm. dictirt Briefe. (Fischer, Gesammtausgabe[)]»[153] Schnitzlers eigene erste Werkausgabe sollte noch im selben Jahr anlässlich seines 50. Geburtstags erscheinen und sich zu einem immensen Verkaufserfolg entwickeln[154].

Das Wiedersehen von 1912 markiert die letzte persönliche Begegnung beider Dichter. Gleichwohl verfolgt Schnitzler die publizistische Entwicklung des Kollegen aus der Ferne auch weiterhin, zumal Dehmel sich wiederholt – und erfolgreicher denn zuvor – der Bühne zuwendet: Im Sommer 1917, dem vorletzten Kriegsjahr, veröffentlicht er sein kriminalistisches Schauspiel Die Menschenfreunde, das noch im Spätherbst desselben Jahres am Berliner Lessingtheater und anschließend an rund 30 weiteren Spielstätten zur Aufführung gelangt[155]. Schnitzler war von diesen aussichtsreichen Premierenplänen bereits im Vorfeld aus innerstem Kreis unterrichtet, skizzierte ihm der verantwortliche Intendant Victor Barnowsky – anlässlich einer Probelesung seines eigenen Werks Fink und Fliederbusch für die Berliner Bühne – doch höchstpersönlich «den Inhalt eines neuen Dehmel’schen Stücks […] über Individuum und Politik – Werth des Einzellebens gegenüber der Idee gesprochen»[156]. Durch diese theatrale Novität entsprechend kompetitiv animiert, nimmt Schnitzler sich nur Tage später die «“Menschenfreunde” von R. D.» selbst zur Talentprüfung vor. Wohl zu seiner eigenen Erleichterung disqualifiziert sich das vermeintliche “Erfolgsstück” angesichts seiner künstlerischen Insuffizienz selbst: «intellectuell und dramatisch gleich hilflos»[157]. Schnitzlers harsche Kritik resultiert damit keineswegs aus einem reinen, unverfälschten Lektüreerlebnis, sondern camoufliert nur unzureichend sein unterschwelliges Gefühl künstlerischer Suprematie und latenter Missgunst angesichts des zu erwartenden Bühnenerfolgs des Kontrahenten in poeticis. Demzufolge besteht wenig Wahrscheinlichkeit, dass Schnitzler die Wiener Aufführung des Stücks am Deutschen Volkstheater im Folgejahr gesehen hat[158].

Um was Schnitzler zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ist die Haltung künstlerischer Indifferenz, welcher Dehmel, der sich 1914 in frenetischem Patriotismus als “ältester deutscher Rekrut” (Ida Dehmel) für den Einsatz gemeldet hatte, nach seiner unfreiwilligen Heimkehr von der Front verfallen war[159]. Seine fatalistische Grundstimmung in diesen letzten Kriegsjahren machte es ihm, wie er dem befreundeten Arzt und Schriftsteller Roger de Campagnolle (1873-1957) gegenüber gesteht, unmöglich, innere Anteilnahme an den äußeren Erfolgen seines Dichtertums zu empfinden:

Einstweilen will man, soviel ich weiß, nur die «Menschenfreunde» spielen, und Herr Barnowsky (Lessingtheater) befürchtet, daß ihm auch hierbei die Berliner Zensur Scherereien machen wird, obgleich das Stück nur sehr indirekt «Thron und Altar» ironisiert. Meinethalben brauchte es weder gedruckt noch gespielt noch gelesen zu werden; am liebsten gäbe ich ein Buch heraus, in dem nichts stände als die Worte:

«Laßt mir meine Ruh,
Ihr gebt mir nix dazu.»

Aber das würde mir kein Mensch glauben.[160]

Wenngleich das hier zitierte Eingeständnis auch nicht einer gewissen Koketterie entbehren mag, so belegt es doch, wie sehr Dehmel unter den jahrzehntelangen Affronts und Angriffen gelitten hat, die in unerbittlicher Verlässlichkeit seitens der Presse gegen sein dramatisches Werk vorgebracht wurden – eine Grunderfahrung sozialkritisch engagierter Autorschaft, die ihn unwissentlich mit Schnitzler verband.

Diametral entgegengesetzter Haltung waren beide Dichter hingegen im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg, den Dehmel zunächst euphorisch begrüßte, während Schnitzler die politischen Entwicklungen als einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller von Beginn an mit ernster Sorge verfolgte[161]. Dehmels anfänglicher Patriotismus und Kriegsenthusiasmus dürften ihn derart befremdet haben, dass er noch im letzten Kriegsjahr davon absah, dessen Warnruf (1918)[162] – ein Appell namhafter deutscher Dichter an die Siegermächte, ihre Suprematie nicht zu missbrauchen und sich der verantwortungsvollen Rolle des Friedensstifters in Europa als würdig zu erweisen – zu unterzeichnen: Vermutlich widerstrebte Schnitzler der allzu rasche Sinneswandel und offensichtliche Opportunismus im Zeichen der Niederlage, der sich in dieser “Kundgebung” artikulierte. Umso mehr begrüßte er dagegen das im ersten Friedensjahr veröffentliche Kriegstagebuch als glaubhaftes Dokument einer inneren Umkehr angesichts der Schrecken und Gräuel des Fronteinsatzes: Das publizistisch höchst erfolgreiche Journal basiert auf Dehmels persönlichen, kaum redigierten Aufzeichnungen aus den Jahren seines aktiven Dienstes (1914 bis 1916), mit denen er sich retrospektiv in einem ähnlich umfangreichen Kommentar auseinandersetzt, sodass der Text in einem Gestus doppelter Zeugenschaft sowohl das unmittelbare Kriegserleben als auch die kritische Betrachtung dieser europäische Katastrophe und der eigenen Rolle darin dokumentiert. Wiewohl Schnitzler die mutige und schonungslose Reflexion Dehmels über den eigenen gefährlichen Kriegsenthusiasmus durchaus Respekt abverlangt, kann er auch in diesem Fall nicht umhin, die im diaristischen Genre gattungskonstitutive Selbstinszenierung und -bespiegelung des Verfassers zu degoutieren: «Las Richard Dehmels Kriegstagebuch; nicht ohne Interesse. Er ist schon wer, allerdings nicht das und soviel als er sich einbildet»[163].

IV.d Phase IV: Dehmels Tod und Nachleben (1920 bis 1931)

Schnitzler dürfte vom Tod Richard Dehmels am 8. Februar 1920 aus der Presse oder dem engeren Freundeskreis erfahren haben[164]. Dass er sich damals in der Zeit seiner schlimmsten Ehekrise befand, mag erklären, weshalb er der Witwe Ida Dehmel erst rund zweieinhalb Wochen nach dem Ableben des verehrten Dichters am 25. Februar 1920 kondolierte. Aufgrund seines Zeugenwerts für die Wahrnehmung des Verstorbenen seitens Schnitzlers sei das Schriftstück vollständig wiedergegeben:

Wien, 25. Feber 1920
Verehrte Frau, erst heute komm ich Ihnen sagen, wie tief der Tod Ihres Gatten, dieses großen Dichters, dieses hohen Menschen mich erschüttert hat. Als die traurige Nachricht kam, war mir, als hätt ich erst vor kurzem persönlich von ihm Abschied genommen, nach einem tagelangen von mancherlei aus lebendigster Unterhaltung erfülltem Zusammensein: so nahe war er mir in seinem Kriegs-Tagebuch gewesen – ich hatte seine Stimme gehört, wie es mir so oft auch mit seinen Gedichten erging, – seinen Blick auf mir gefühlt; – denn in jedem Wort das er schrieb, in jedem das er sprach war seine ganze, seine wahrhaftige, seine große Seele. Und wie viele Jahre sind es nun schon her, daß ich ihn zum letzten Male gesehn!
Meine Frau, die ihn verehrt hat, gleich mir, schließt sich dem Ausdruck meiner innigsten Theilnahme aus vollem Herzen an. Wir denken Ihrer in schmerzlich-trostreicher Erinnerung schönerer Zeiten und mit den alten freundschaftlichen Gefühlen.
Ihr
Arthur Schnitzler
[165]

Schnitzlers Kondolenzschreiben darf zumindest insofern als aufrichtig betrachtet werden, als sich die hierin artikulierte Wertschätzung für Werk und Person Dehmels mit den notierten Präferenzen im Tagebuch deckt: Auch dort sind es die Gedichte und das Kriegstagebuch, die Schnitzlers künstlerischen Zuspruch finden. Um die Dimension der individuellen Würdigung zu begreifen, bedarf es allerdings einer lexikalischen Auslegung der zum Zwecke der Beileidsbekundung mit Bedacht formulierten Laudatio: Denn dass Schnitzler dem Verstorbenen in seinem Werk den Ehrentitel eines «großen Dichters» und «hohen Menschen» verleiht, ist post mortem ein Exzellenzsiegel erster Güte, dessen Exklusivität sich nicht allein darin zeigt, dass es im Gebrauch des notorisch anspruchsvollen Schnitzlers lediglich den erlesensten Zeitgenossen vorbehalten war, sondern vor allem darin, dass Schnitzler sich selbst diesen Status in schonungsloser Selbstkritik absprach: «[I]ch weiß, daß ich kein ganz Großer bin. Es gibt viel, viel größere Dichter als ich [sic]»[166]. Die klimaktische Accumulatio, mit der Schnitzler «seine ganze, seine wahrhaftige, seine große Seele» preist, sublimiert Dehmels Dichtertum endgültig, denn allein das Aufscheinen der Seele im poetischen Werk galt Schnitzler als Signum wahrer Künstlerschaft, das er vielen anderen hochdekorierten Zeitgenossen vorenthielt. Dass Schnitzlers panegyrisches Totenlob dabei nicht allein den Konventionen der Gattung verpflichtet ist, zeigt ein Abgleich mit Beileidsbekundungen für andere Weggefährten, die in Ton und Pathos in der Regel weitaus nüchterner ausfallen.

Obschon der Kontakt zeitlebens lose und auf die beruflich-professionelle Ebene beschränkt blieb, betrifft der vergleichsweise frühe Tod des verehrten Lyrikers Schnitzler doch unmittelbar. Viele der engsten Weggefährten verfassen Nachrufe, namentlich Hofmannsthal, aber auch Schaukal und Raoul Auernheimer[167]. Auch gedenkt die österreichische Kunst- und Kulturszene im Rahmen von Toten- und Gedächtnisfeiern verschiedentlich des Verstorbenen, ohne dass sich allerdings eine Einbindung oder Teilnahme Schnitzlers nachweisen ließe[168].

Unter dem Eindruck des unwiederbringlichen Verlusts wird Schnitzlers Blick auf den einstigen Rivalen in den Folgejahren milder. Mit Aufmerksamkeit verfolgt er die weiteren Schriften, welche die Witwe Ida Dehmel aus dem Nachlass ihres verstorbenen Mannes posthum herausgibt. 1922 erscheint der erste Band der allseits mit Spannung erwarteten Briefausgabe[169], den Schnitzler zunächst wohl primär aus berufsbezogener Neugier konsultiert, hatten sich beide doch in denselben sozialen Milieus und Künstlerkreisen bewegt und auch miteinander in schriftlichem Austausch gestanden. Dass kein einziges der gemeinsamen Korrespondenzstücke Aufnahme in die Anthologie findet, ist zwar für den agonalen Verlauf und Charakter der Dichterbeziehung bezeichnend, mindert jedoch nicht Schnitzlers Interesse an der spektakulären Sammlung, die erstmals Einblicke in Dehmels so illustres wie eindrucksvolles Kommunikationsnetzwerk gewährt. Binnen weniger Tage liest er den Auftaktband der epistolarischen Hinterlassenschaft mit zunehmender Faszination: Wohl Mitte März[170] begonnen, notiert Schnitzler bereits am 24. März die Fortsetzung der «sehr anregenden Briefe[]»[171]. Seine zunächst noch medizinisch-diagnostische Wahrnehmung des Verfassers angesichts dessen allzu penetranter Selbstinszenierung «als metaphysischer Sexualpathetiker – oder auch Sexualschwindler»[172] weicht im Fortgang der Lektüre zunehmender Sympathie: «Lese Dehmel’s Briefe mit Vergnügen weiter; – höher als ich dachte»[173]. Am 4. April beschließt Schnitzler zwar zunächst die Lektüre, nicht jedoch die weitere Beschäftigung mit Dehmel. Denn der entsprechende diaristische Eintrag verzeichnet mit dem im Vorjahr erschienenen «Meier-Gräfe’sche[n] Vincent – Gogh Buch»[174] (1921) auch die unmittelbare Folgelektüre, die inspirativ aus der Dehmel’schen Korrespondenz hervorgegangen sein dürfte. Zwar wird Schnitzler auch jenseits des hier erstmals publizierten Briefwechsels[175] um die Intensität der Beziehung zwischen Dehmel und dem damals einflussreichsten deutschsprachigen Kunstkritiker Julius Meier-Graefe (1867-1935) gewusst haben, waren doch beide durch die gemeinsame kulturpolitische Agenda im Zuge der Zusammenarbeit beim Pan verbunden, jedoch mag auch Dehmels brieflich artikulierter Enthusiasmus für die französischen Malerei der Moderne als zusätzlicher Impulsgeber fungiert haben, das Standardwerk über den französischen Impressionisten neuerlich zur Hand zu nehmen. Rund ein Jahr später beendet Schnitzler auch den zweiten Band der Auswahlausgabe und kann nicht umhin, dem stoischen Glauben an das eigene Künstlertum seitens des Kontrahenten Tribut zu zollen:

Las Dehmels Briefe, 2. Band zu Ende. Welcher unerschütterliche Glaube an sich selbst! Ein sehr starker, ein bedeutender – – ob ein großer Mensch? – Manchmal glaubt man’s zu spüren.[176]

Auch nach Dehmels Tod reißt der Kontakt zwischen Wien und Hamburg nicht gänzlich ab. So lässt Schnitzler Dehmels Witwe Ida jeweils ein Exemplar seines zweiten und letzten Romans Therese (1928) sowie des Schauspiels Im Spiel der Sommerlüfte (1929) zukommen. Ob Ida Dehmel die Gaben des ihr zeitlebens unsympathischen Dichterkollegen ihres Mannes behalten hat, ist nicht überliefert. Das Fehlen der Titel in jeglichen heute noch erhaltenen Bestandslisten macht diese Annahme nicht nur wenig wahrscheinlich, sondern zementiert implizit auch das fundamentale Misslingen dieser Verbindung: Die von der Witwe posthum besorgte Auswahlkorrespondenz schließt Schnitzler trotz seines unbestrittenen literarischen Rangs als Briefpartner Dehmels kategorisch aus – wohl gegen den Willen des verstorbenen Verfassers selbst.

V. Fazit

Die fast 25jährige Beziehung zwischen Arthur Schnitzler und Richard Dehmel war als professionelle “Dichterfreundschaft” auf dem hart umkämpften Literaturmarkt um 1900 per se weniger von einem inspirativen Mit-, denn einem agonalen Gegeneinander geprägt. Die vergleichsweise geringe Anzahl von insgesamt 15 Korrespondenzzeugnissen und fünf persönlichen Begegnungen (1904, 1905, 1908, 1911 sowie 1912) darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Dichter die künstlerische Entwicklung des jeweils Anderen seit Mitte der 1880er Jahre aufmerksam verfolgten, steht ihre Verbindung doch zugleich repräsentativ für den ästhetischen Innovationswettstreit zwischen Wiener und Berliner Moderne. Trotz oder vielleicht gerade wegen des analogen dichterbiographischen Werdegangs (I) und der Orientierung an denselben Leitfiguren der literarischen Moderne (II) konditioniert von Beginn an ein kompetitives Moment die gegenseitige Wahrnehmung. Bei aller Hochachtung für das lyrische Werk des Zeitgenossen (III) erwächst daraus zumindest auf Seiten Schnitzlers frühzeitig eine beziehungskonstitutive Reserviertheit, wenn nicht Animosität gegenüber der als allzu prätentiös empfundenen Selbstinszenierung Dehmels und dessen zunehmendem Engagement auf dramatischem Terrain als Schnitzlers ureigenem Wirkungsfeld. Aus einem charaktereigenen Gefühl der Insuffizienz heraus beneidet Schnitzler Dehmel um das, was ihm selbst zeitlebens versagt blieb: sein störungsfreies Urvertrauen in das eigene Dichter- und Künstlertum. Während er ihn als Lyriker schätzt, lehnt er Dehmel als Dramatiker – wie beispielhaft an Der Mitmensch (1895) und Die Menschenfreunde (1917) gezeigt – kategorisch ab. Dieses Paradigma durchzieht auch die einzelnen Phasen der Verbindung (IV), die von vielen Fehlschlägen, wie der nicht zustande gekommenen Mitarbeit am Buntscheck oder dem desaströsen Auftakttreffen (IV.B), und wenigen Höhepunkten, wie dem Hamburger Wiedersehen von 1911 (IV.C), bestimmt sind. Die besondere Tragik der Beziehung gründet dabei in einem Unwissen auf Seiten Schnitzlers: Denn der erfolgreiche Bühnenschriftsteller ahnte nicht, wie ernst Dehmel das dramatische Genre nahm. Dessen Bemühungen waren keinesfalls bloße spielerische Gattungsproben eines gelangweilten und erfolgsverwöhnten Lyrikers, sondern vielmehr der existentielle Versuch, die eigene Künstlerschaft wiederzubeleben. Bereits ab Mitte der 1890er Jahre, also nur eine Dekade nach dem eigentlichen Durchbruch und 25 Jahre vor seinem Tod, begann der damals nicht einmal vierzigjährige Dehmel, substantiell an seiner Ausdrucksfähigkeit als Lyriker zu zweifeln und suchte die versiegende Dichtungskraft stattdessen im Schreiben für die Bühne zu kompensieren. Sein ehrlicher Enthusiasmus für zahlreiche, mitunter auch inferiore Schnitzler-Stücke sowie der Umstand, dass die Initiative der Annäherung zunächst von ihm ausging, suggerieren, wie sehr Dehmel am künstlerischen Austausch und der Anerkennung des arrivierten Dramatikers gelegen war. Schnitzler seinerseits machte es die generische Konkurrenz hingegen unmöglich, bei aller Faszination für das lyrische Werk und die eminente Persönlichkeit Dehmels eine aufrichtige Dichterfreundschaft auf Augenhöhe entstehen zu lassen.

Verwendete Literatur

Archivalische Literatur

[Denkmalschutzamt Hamburg]: Verzeichnis der Bibliotheksbände, unveröff. Typoskript. Hamburg 1981.

Die Bibliothek des Dehmel-Archivs [Bestandsverzeichnis], Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

Ida Dehmel an Alice Bensheimer, Brief vom 16.3.1904, DA : Z : Br : De : 81.100, Dehmel-Archiv, Universitäts- und Staatsbibliothek Hamburg.

Ida Dehmel an Alice Bensheimer, Brief vom 21.10.1905, DA : Z : Br : De : 81.140, Dehmel-Archiv, Universitäts- und Staatsbibliothek Hamburg.

Paula Dehmel an Arthur Schnitzler, Postkarte vom 4.1.1903, Cambridge Schnitzler, B 26.

Richard Dehmel: Das Haus des Dichters [1913], DLA Marbach, A: Schnitzler, Mappe B026.

Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 1.1.1902, DA : Br : D : 4173 (auch in: DLA Marbach, A: Schnitzler, Mappe 1828).

Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 14.8.1912, DLA Marbach, A: Schnitzler, Mappe 1828.

Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, 2 Briefe (2 Br.c, davon 1 Vis.kte, 2 Ktn 4 Bl., Deutsch), DLA Marbach, A: Schnitzler, Mappe B026.

Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, 7 Briefe 1902-1912, DLA Marbach, A: Schnitzler, Mappe 706.

Richard Dehmel an Erik Lidforss, Brief von 1912, DLA Marbach, A: Schnitzler, HS. NZ85.0001.02930,1.

Karl Federn an Arthur Schnitzler, 3 Briefe, 1912-1926, DLA Marbach, A: Schnitzler, Mappe 748.

Albert Köster: Aufruf in Sachen Deutsche Schillerstiftung, DLA Marbach, A: Schnitzler, Mappe 706.

Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Brief vom 13.1.1902, DA : Br : S : 616-620.

Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Briefe vom 16.2.1902, 22.3.1903, 11.1908, DA : Br : S : 617-619.

Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Telegramm vom 19.9.1912, DA : Br : S : 619/4.

Arthur Schnitzler an Ida Dehmel, Brief vom 25.2.1920, DA : Br : S : 620.

[Arthur Schnitzer, Richard Dehmel u.a.]: Aufruf für Arno Holz!, Autogr. I, 1008, Beil., Staatsbibliothek zu Berlin. Handschriftenabteilung.

Karl Kraus an Richard Dehmel, Kartenbrief vom 10.2.1894, Mitunterz. von R. Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, DA : Br : K 282.

Miszellen

H.M.: Richard-Dehmel-Abend. In: Neues Wiener Journal vom 15.11.1908, Nr. 5413, S. 13.

N.N.: Eine Vortragsreise Richard Dehmels. In: Die Zeit vom 5.11.1908, Nr. 2198, S. 4.

N.N.: Dehmel-Vorlesung. In: Neue Freie Presse vom 15.11.1908, Nr. 15890, S. 17.

N.N.: Vorlesung Richard Dehmel. In: Die Zeit vom 15.11.1908, Nr. 2208, S. 4.

Digitale Editionen und Datenbanken

Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition. 1879-1931, https://schnitzler-tagebuch.acdh.oeaw.ac.at [Stand: 1.3.2021].

Arthur Schnitzler: Archiv der Zeitungsausschnitte, https://schnitzler-zeitungen.acdh.oeaw.ac.at [Stand: 1.3.2021].

Arthur Schnitzler: Briefwechsel mit Autorinnen und Autoren. 1889-1931, Digitale Edition. Hrsg. von Martin Anton Müller und Gerd Hermann Susen, https://schnitzler-briefe.acdh.oeaw.ac.at [Stand: 1.3.2021].

Primärliteratur

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Hermann Bahr/Arthur Schnitzler: Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente. 1891-1931. Hrsg. von Kurt Ifkovits und Martin Anton Müller. Göttingen 2018.

Georg Brandes/Arthur Schnitzler: Ein Briefwechsel. Hrsg. von Kurt Bergel. Bern 1956.

Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Bd. 1: Aus den Jahren 1883 bis 1902, Bd. 2: Aus den Jahren 1902 bis 1920. Berlin 1923.

Richard Dehmel: Die Menschenfreunde. Drama in 3 Akten. Berlin 1917.

Richard Dehmel: Die Ruthe. Eine bedenkliche Geschichte. In: Nord und Süd 72 (1895), H. 214, S. 1-12.

Richard Dehmel (Hrsg.): Der Buntscheck. Ein Sammelbuch herzhafter Kunst für Ohr und Auge deutscher Kinder. Cöln am Rhein 1904.

Richard Dehmel: Der Mitmensch. Drama. Berlin 1895.

Richard Dehmel: Zwischen Volk und Menschheit. Kriegstagebuch. Berlin 1919.

[Richard Dehmel/Jakob Wassermann]: Briefe. Richard Dehmel an Jakob Wassermann [6 vom 27.9.1906, 10.10.1906, 21.1.1908, 21.10.1910, 27.10.1910 und 9.1.1919]. In: Die Fähre 1 (1946), S. 173-176.

Richard Dehmel/[Stefan Zweig]: Richard Dehmel und Stefan Zweig. Im 40. Jahr nach Dehmels Tod. In: Blätter der Stefan-Zweig-Gesellschaft 1960, H. 8/10, S. 23-25.

Hugo von Hofmannsthal/Richard Dehmel: Briefwechsel 1893-1919. Hrsg. von Martin Stern. In: Hofmannsthal-Blätter 21/22 (1979), S. 1-130.

Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Hrsg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott. Unter Beratung von Hans-Ulrich Simon, Werner Volke und Bernhard Zeller. 9 Bde. Bd. 3: 1897-1905. Hrsg. von Carina Schäfer und Gabriele Biedermann. Unter Mitarb. von Elea Rüstig und Tina Schumacher. Stuttgart 2004 (Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft Bd. 50.3).

Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche. Von Beruf Kulturgenie und Schwester. Der Briefwechsel 1895-1935. Hrsg. von Thomas Föhl. 2 Bde. Bd. 1. Weimar 2013 (Schriften zum Nietzsche-Archiv Bd. 1/2).

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Johannes Meyer (Hrsg.): Spiegel neudeutscher Dichtung. Eine Auswahl aus den Werken lebender Dichter. Leipzig 1905.

Carl Hagemann: Bühne und Welt. Erlebnisse und Betrachtungen eines Theaterleiters. Wiesbaden 1948.

Richard von Schaukal: Richard Dehmels Lyrik. Versuch einer Darstellung der Grundzüge. Leipzig 1908 (Beiträge zur Literaturgeschichte Bd. 50).

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Arthur Schnitzler: Tagebuch 1879-1931. Hrsg. von Werner Welzig unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften u. a., 10 Bde., Wien 1981-2000.

Sekundärliteratur

Achim Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin/Boston 2013 (linguae & litterae Bd. 22).

Achim Aurnhammer: «Wenn ich was könnte […] und wenn der Hauptmann gescheidt wär». Arthur Schnitzlers Wettstreit mit Gerhart Hauptmann. In: Von den Rändern zur Moderne. Studien zur deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. Festschrift Peter Sprengel. Hrsg. von Tim Lörke, Gregor Streim und Robert Walter-Jochum. Würzburg 2014, S. 111-126.

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Italo Michele Battafarano: Cantori e critici tedeschi della grande guerra. Dehmel, Ganghofer, George, Hesse, Hofmannsthal, Kraus, Kurz, Lachmann, Leonhard, Mühsam, Nicolai, Rilke, Scheler, Schnitzler, Stramm, Trakl, Zweig. Taranto 2015.

Klaus Bohnen: Determinationslösung als Ansatzpunkt moderner Literatur. Ein unveröffentlichter Brief Richard Dehmels und sein ästhetischer Problemzusammenhang. In: Text und Kontext 5 (1977), H. 2, S. 89-106.

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Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005.

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Rüdiger Görner: Sehen Lernen! Bemerkungen zum Manifest-Charakter der Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hrsg. von Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Unter Mitarb. von Robert Krause. Berlin/New York 2007, S. 113-127.

Gerhard Hubmann: «Schwankende häusliche Stimmung». Mit Arthur Schnitzler beim Villenkauf. In: «So schön kann Wissenschaft sein!» Mit Kronprinz Rudolf im Unterricht, mit Kaiserin Elisabeth von Schloss zu Schloss, mit Arthur Schnitzler beim Villenkauf. Zeitkapseln aus der Sammlung Brigitte Hamann. Geöffnet und hrsg. von Marcel Atze unter Mitarb. von Kyra Waldner. Wien 2017, S. 220-236.

Julia Ilgner: Postkartenpoetik. Richard Dehmels epigrammatisches Reisegedicht Eine Rundreise in Ansichtspostkarten (1906). In: Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert. Hrsg. von Johannes Görbert und Nikolas Immer. Stuttgart/Weimar 2020, S. 259-299.

Julia Ilgner: «Portrait of the Artist». Arthur Schnitzlers Autorschaftsinszenierung in der Atelierphotographie seiner Zeit (Aura Hertwig, Madame d’Ora, Franz Xaver Setzer). In: Arthur Schnitzler und die bildende Kunst. Hrsg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Würzburg 2021 (Klassische Moderne Bd. 45. Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg Bd. 7.), S. 43-94.

Julia Ilgner: Renaissancerezeption und Renaissancismus bei Arthur Schnitzler. In: Tradition in der Literatur der Wiener Moderne. Unter Mitarb. von Cornelia Nalepka und Gregor Schima hrsg. von Wilhelm Hemecker, Cornelius Mitterer und David Österle. Berlin/Boston 2017 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 149), S. 183-219.

Julia Ilgner: Renaissancismus bei Richard Dehmel. In: Mediävalismus/Renaissancismus im langen 19. Jahrhundert in transkultureller Perspektive. Hrsg. von Nathanael Busch, Julia Ilgner, Alessandra Molinari, Jutta Schloon und Robert Schöller. Würzburg [in Vorb. für 2022] (Rezeptionskulturen in Literatur und Mediengeschichte).

Julia Ilgner/Martin Anton Müller: «My house is my Nachtkastl». Ein chronologisches Inventar der Kunstgegenstände im Besitz Arthur Schnitzlers. In: Arthur Schnitzler und die bildende Kunst. Hrsg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Würzburg 2021 (Klassische Moderne Bd. 45. Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg Bd. 7.), S. 95-151.

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Cornelius Mitterer: Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne. Berlin 2019 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 149).

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Christian Neuhuber: «… eine nicht unbedeutende Wandlung …». Kulturkonservative Heine-Rezeption am Beispiel Richard von Schaukals (1874-1942). In: Heine-Jahrbuch 45 (2006), S. 142-164.

Ernst-Ullrich Pinkert: Arthur Schnitzlers Dänemark. Impulse, Begegnungen, Resonanz, Intertextualität. Wien 2015 (Wechselbeziehungen Österreich – Norden Bd. 12).

Rüdiger Schütt: «Mit einem Bein in der Bohème…». Richard Dehmel und die Berliner Boheme. In: WRWlt – o Urakkord. Die Welten des Richard Dehmel. Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, 3. August bis 30. September 1995. Hrsg. von Sabine Henning, Annette Laugwitz, Mathias Mainholz u.a. Herzberg 1995 (bibliothemata Bd. 14), S. 23-52.

Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg 2007 (Klassische Moderne Bd. 9).

Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart Bd. 9, 2).

Peer Trilcke: Gedichte. In: Arthur Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas u. Michael Scheffel. Stuttgart/Weimar 2014, S. 260-262.

Carolin Vogel: Das Dehmelhaus in Blankenese. Künstlerhaus zwischen Erinnern und Vergessen. Hamburg 2019 (Schriftenreihe der Professur für Denkmalkunde der Europa-Universität Viadrina Bd. 4).

Carolin Vogel: Richard Dehmel – Eine Schlüsselfigur der Moderne. In: Fontane, Hauptmann und die vergessene Moderne. Hrsg. von Wolfgang de Bruyn, Franziska Ploetz und Stefan Rohlfs. Berlin u.a. 2020 (Schriften der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft und Gerhart-Hauptmann-Häuser Bd. 1), S. 262-280.

Carolin Vogel: Die Dehmelbibliothek [unveröff. Manuskript, 2020].

Matthias Wegner: Aber die Liebe. Der Lebenstraum der Ida Dehmel. München 2000.  



[1] Arthur Schnitzler, Tagebuch 1879-1931. Hrsg. von Werner Welzig unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften u. a., 10 Bde., Bd. 6, Wien 1981-2000, S. 267 (Tb 28.6.1919), bzw. Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition, Samstag, 28. Juni 1919, LINK [Stand: 1.3.2021] PID: LINK. Im Folgenden zitiert unter dem Kürzel «Tb» sowie der Datumsangabe. Da der vorliegende Beitrag wesentlich im Wintersemester 2020/21 geschrieben wurde, während viele Archive und Bibliotheken aufgrund der Covid-19-Schutzmaßnahmenverordnungen geschlossen oder nur eingeschränkt geöffnet waren, bin ich der freundlichen Auskunft verschiedener Kolleginnen und Kollegen, namentlich Carolin Vogel von der Dehmelhaus Stiftung, Mark Emanuel Amtstätter vom Dehmel Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Julia Nantke und Sandra Bläß vom Editionsprojekt «Dehmel Digital» sowie Martin Anton Müller von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien zu Dank verpflichtet. Letzterem, Nikolas Immer sowie Achim Aurnhammer danke ich außerdem für kritische Durchsicht.

[2] Die einschlägigen Schnitzler-Biographien (etwa von Renate Wagner, Ulrich Weinzierl oder Giuseppe Farese) erwähnen Richard Dehmel mit keinem Wort, erst Italo Michele Battafarano hat beide Dichter als konträre, gleichwohl repräsentative Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg in einen gemeinsamen Kontext gestellt, allerdings ohne konkrete Bezugnahmen aufeinander aufzuzeigen: vgl. ders.: Cantori e critici tedeschi della Grande Guerra. Dehmel, Ganghofer, George, Hesse, Hofmannsthal, Kraus, Kurz, Lachmann, Leonhard, Mühsam, Nicolai, Rilke, Scheler, Schnitzler, Stramm, Trakl, Zweig. Taranto 2015 (Pegaso Bd. 5), S. 135-158, S. 301-312.

[3] Im Bewusstsein der sachlichen Problematik dieser Zuschreibung wird der Begriff der “Dichterfreundschaft” im Falle der durch berufsprofessionelle Rahmenbedingungen konditionierte Beziehung Schnitzlers und Dehmels behelfsweise herangezogen – zum einen da sich beide Autoren in ihrer Korrespondenz etablierter Freundschaftsrhetorik bedienen und zum anderen da die wechselseitige Versicherung der literarischen Bedeutsamkeit vor dem Hintergrund der gemeinsamen Provenienz das Potential einer exklusiven Gemeinschaft barg. Zur historischen Konzeptualisierung repräsentativer Künstlerbündnisse vgl. jüngst Marina Münkler: Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen seit dem Mittelalter. In: Anne Betten, Ulla Fix und Berbeli Wanning (Hrsg.): Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin/Boston 2017 (Handbücher Sprachwissen Bd. 17), S. 55-93.

[4] Arthur Schnitzler: Frühe Gedichte. Hrsg. u. eingel. von Herbert Lederer. Berlin 1969. Zu Schnitzlers Lyrik vgl. Peer Trilcke: Gedichte. In: Arthur Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas u. Michael Scheffel. Stuttgart/Weimar 2014, S. 260-262. Zu Dehmels lyrischen Anfängen vgl. die substantielle Studie von Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg 2007 (Klassische Moderne Bd. 9).

[5] Vgl. exemplarisch die literarischen Pantomimen Lucifer (1899) sowie Der Schleier der Pierrette (1910, Vorstufen um 1892 und 1903). Vgl. hierzu Hartmut Vollmer: Die literarische Pantomime. Studien zu einer Literaturgattung der Moderne. Bielefeld 2013.

[6] Zum Eklat und Prozess um Schnitzlers Reigen vgl. Alfred Pfoser/Kristina Pfoser-Schewig/Gerhard Renner: Schnitzlers Reigen. Zehn Dialoge und ihre Skandalgeschichte. Analysen und Dokumente. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1993. Die Skandalisierung von Die Verwandlung der Venus hat neuerdings Stefano Franchini dokumentiert: ders.: La Venere blasfema di Richard Dehmel. Documentazione. In: Studi Germanici 15/16 (2019), S. 5-37, ders.: La Venere blasfema di Richard Dehmel. Un dossier. In: Studi Germanici 15/16 (2019), S. 277-312.

[7] Z. B. im Rahmen eines “Literarischen Abends” am 13. Oktober 1901 im Langenbeck-Hause, Ziegel-Straße 10/11, an welchem unter anderem mehrere Dehmel-Gedichte (Aus banger Brust, Die Harfe, Furchtbar schlimm, Kitzebutze u.a.) rezitiert sowie Schnitzlers Einakter Anatol’s Hochzeitmorgen vermutlich szenisch präsentiert wurden. Schnitzler hat der Veranstaltung offenbar nicht beigewohnt (vgl. Tb 13.10.1901), jedoch hat sich der Programmzettel in zweifacher Ausfertigung in seiner Zeitungsausschnittsammlung erhalten, sodass er Kenntnis von der Veranstaltung hatte: LINK [Stand: 1.3.2021].

[8] Die Uraufführung von Fink und Fliederbusch fand am 7. Dezember 1917 statt. Schnitzler erhält am Folgetag von Victor Barnowsky (1875-1952) die Nachricht, dass das Stück durchgefallen sei, am 13. Dezember sichtet er die Berliner Kritiken, für die er jedoch einen «im ganzen viel anständigere[n] Ton als hier» konstatiert. Mit ein Grund für den theatralen Misserfolg mochte die unglaubwürdige Besetzung gewesen sein. So sollte der 50-jährige Bassermann eigentlich den Grafen spielen, bestand jedoch auf der Rolle des jugendlichen Fliederbusch. Zur Uraufführung der Menschenfreunde vgl. Anm. 1532. Die Uraufführung erfolgte am 10. November 1917 unter Regie von Herman Röbbeling (1875-1949) u.a. am Hamburger Thalia Theater.

[9] Vgl. exemplarisch Friedrich Düsel: Berliner Theater. In: Der Kunstwart 23 (1909/10), H. 1, S. 39-42, über die Inszenierung von Dehmels Tragikomödie Der Mitmensch (1895) am Kleinen Theater unter den Linden und Schnitzlers Einakter Die Gefährtin (1899) am Lessingtheater, die den Rezensenten beide nicht zu überzeugen vermochten.

[10] Paula Dehmel an Arthur Schnitzler, Postkarte vom 4.1.1903. In: BW digital. Das Bittschreiben, das von Dehmels damals bereits geschiedener Frau, der Kinderbuchautorin Paula Dehmel (1862-1918), an Schnitzler wie auch an Bahr erging, belegt nicht zuletzt, dass man die Jung-Wiener in Berlin allgemein als reiche Autoren ansah und selbstverständlich ihr pekuniäres Zutun in kulturpolitischen Angelegenheiten erwartete.

[11] Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart Bd. 9, 2), S. 132. Vgl. dazu ebd., S. 132-133.

[12] Vgl. Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 14.8.1912 (enthält Max Bernstein: Aufruf zur Kritik an der Verwendung von Spendengeldern für Autoren durch die Deutsche Schillerstiftung, A: Schnitzler, HS. NZ85.0001.05716a, DLA Marbach), sowie Schnitzler an Dehmel, Brief vom 19.8.1912. In: Arthur Schnitzler: Briefwechsel mit Autorinnen und Autoren. Digitale Edition. Hrsg. Martin Anton Müller und Gerd Hermann Susen, LINK, Hervorh. im Orig. [Stand: 1.3.2021, im Folgenden zitiert als «BW digital»]. Erstedition des Briefs vom 14.8.1912 in Form einer faksimilierten und transkribierten Wiedergabe einschließlich des Aufrufs in: Hans-Ulrich Lindken: Arthur Schnitzler – Aspekte und Akzente. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt a.M. u.a. 1987 [1984] (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur Bd. 754), S. 221-224.

[13] Vgl. Arno Holz an Arthur Schnitzler, Brief vom 26. 4. 1913. In: BW digital [Arthur Schnitzer, Richard Dehmel u.a.]: Aufruf für Arno Holz!, Autogr. I, 1008, Beil., Staatsbibliothek zu Berlin. Handschriftenabteilung .

[14] Vgl. Moderne Dichtung 2 (1890), H. 2 (Liliencron-Heft). Dehmel dankt Liliencron am 4. Oktober 1891 «für den Ritterschlag», den er für seinen Erstlingsband Erlösungen (1891) von dem renommierten Lyriker erhalten hatte: Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Brief vom 4.10.1891. In: Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Bd. 1. Berlin 1923 (im Folgenden zitiert als «Briefe I/II»), S. 70-71, hier S. 70. Zu Schnitzler vgl. Anm. 25.

[15] Die außergewöhnliche Zusammenarbeit dokumentiert der Briefwechsel beider Dichter eindrücklich: Die Dehmel-Liliencron’schen Korrespondenz liegt lediglich auszugsweise im Rahmen der beiden Auswahl-Briefausgaben vor, eine vollständige Edition soll im Rahmen des von Julia Nantke an der Universität Hamburg geleiteten DFG-Projekts «Dehmel Digital» erfolgen: Detlev von Liliencron: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Hrsg. von Richard Dehmel. Berlin 1910; Briefe I/II.

[16] Vgl. Tb 26.9.1908: «Gelesen “Maecen” von Liliencron».

[17] Vgl. Tb 5.9.1910: «Lese im Waggon Liliencrons “Leben und Lüge” zu Ende».

[18] Vgl. Tb 29.9.1911: «Las zu Ende: Liliencron “Breide Hummelsbüttel”».

[19] Schnitzlers Lektüre des Epos datiert nachweislich zwischen dem 19. September und dem 5. Dezember 1910: «In der Bahn las ich […] Liliencron Poggfred weiter» (Tb 19.9.1910), «Poggfred von Liliencron ausgelesen.» (Tb 5.12.1910).

[20] Tb 4.11.1904, Tb 22.7.1906.

[21] Tb 19.11.1915.

[22] Vgl. den entsprechenden Eintrag bei Achim Aurnhammer (Hrsg.): Arthur Schnitzlers Lektüren: Leseliste und virtuelle Bibliothek. Würzburg 2013 (Klassische Moderne Bd. 19. Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg Bd. 2), S. 90, D285, Hervorh. im Orig. Die Edition wird im Folgenden unter Angabe des Kürzels «LL», der Seitenzahl sowie der jeweiligen Sigle zitiert. Schnitzler legte die Liste um 1905 an, wobei spätere Nachtragungen und Ergänzungen nicht auszuschließen sind.

[23] Detlev von Liliencron: Sämtliche Werke. 15 Bde. Berlin/Leipzig 1904-1908, bzw. ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Richard Dehmel. 8 Bde. Berlin 1911-1913; Liliencron: Ausgewählte Briefe (wie Anm.15).

[24] Arthur Schnitzler: Märchen. Schauspiel in drei Aufzügen. Dresden/Leipzig 1894. Die Uraufführung erfolgte am 1. Dezember 1893 mit Adele Sandrock in der Titelrolle der Fanny am Deutschen Volkstheater in Wien.

[25] Schnitzler hatte sein erstes abendfüllendes Theaterstück wohl im Frühjahr 1894 an Liliencron übersandt, der seinerseits den Erhalt am 7. Mai 1894 brieflich bestätigt und den Verfasser ermutigte: «Sie hatten die Güte mir Ihr Schauspiel: Das Märchen zu übersenden. Ich habs jetzt in einem Zuge durchgelesen. Ich habe keine Ahnung von Dramatik. Ich kann also nur das aussprechen, was ich beim Lesen gefühlt habe. Und das ist in erster Reihe: dass ich bis zur letzten Zeile gefesselt war von Ihrem Stück, mit allen Fibern! Es ist ein Stück aus unserm Leben und aus dem Leben der Zukunft. Ungemein fein haben Sie die Frauenfrage gestreift. Ich sah beim Lesen alle Ihre Menschen ganz leibhaftig vor mir. Und ich hoffe sehr, dass das Märchen nicht nur die Freien Bühnen beschäftigen wird, sondern erst recht unsere grossen Theater, wenn diesen noch ein letzter Ernst geblieben ist», Detlev von Liliencron an Arthur Schnitzler, Brief vom 7.5.1894. In: BW digital. Dass Schnitzler Liliencrons Einschätzung zugesagt haben dürfte, suggeriert die frappante Analogie zur Würdigung des bedeutenden dänischen Kritikers Georg Brandes (Schnitzler an dens., Brief vom 26.5.1894. In: ebd.), die Schnitzler als Qualitätsausweis singulärer Güte wiederum Otto Brahm übermittelte (Schnitzler an dens., Brief vom 20.5.1894. In: Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Vollst. Ausg. Hrsg., eingel. und erläut. von Oskar Seidlin. Tübingen 1975, S. 2-3).

[26] Vgl. Tb 6.7.1896, 13.4.1904, 11.12.1908.

[27] Tb 6.7.1896. Gemeint ist neben Richard Dehmel der unter dem Pseudonym Pierre d’Aubecq im Umfeld des Jung-Wiener-Kreises debütierende Anton Lindner (1874-1928).

[28] Dass Schnitzler es immerhin auch in Bezug auf sich selbst an forensischer Schärfe nicht fehlen ließ, belegt eine entsprechend kritische “Eigendiagnose” am selben Tag: «Ich bin vegetativ abhängig; ich bin unschlüssig, ich bin noch nicht reif fürs Einsamsein, ich bin eher schüchtern (wie ich in solchen Fällen merke und was keiner ahnt)» (ebd.).

[29] Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der junge Victor Klemperer später eine ganz ähnliche Beschreibung Schnitzlers im selben Alter überliefert hat: Victor Klemperer: Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918. Hrsg. von Walter Nowojski. 2 Bde. Bd. 2. Berlin 1996, S. 529-530.

[30] Schnitzler war wenige Wochen zuvor seitens eines Hilfs-Comités um finanzielle Unterstützung für den chronisch mittellosen Liliencron gebeten worden – ein Anliegen, das ihm zeitlebens Unbehagen bereitete. Er beteiligte sich, wie er auf Nachfrage des in derselben Angelegenheite adressierten Beer-Hofmann erklärt, mit 10 Gulden an der Schenkung, was einem heutigen Währungswert von etwa 150 Euro entspricht. Vgl. Richard Beer-Hofmann an Arthur Schnitzler, Brief vom 14.5.1896, und Schnitzler an Beer-Hofmann, Brief vom 15.5.1896. In: Arthur Schnitzler/Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel 1891-1931. Hrsg. von Konstanze Fliedl. Wien/Zürich 1992, S. 90. Beide Briefe wieder in: BW digital.

[31] Arthur Schnitzler an Marie Reinhardt, Brief vom 7.7.1896. In: Arthur Schnitzler: Briefe, 2 Bde., Bd. 1: 1875-1912. Hrsg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1981, S. 286-289, S. 288.

[32] Richard Dehmel: Der Mitmensch. Drama. Berlin 1895 [EA, im Verlag Hugo Storm]; ders.: Der Mitmensch. Drama. Berlin 1896 [im Verlag Schuster & Loeffler]. Das Drama ist nicht nur in Schnitzlers Leseliste verzeichnet (LL, D90), sondern wurde auch hinlänglich besprochen (u.a. von Otto Julius Bierbaum in der Wiener Wochenschrift Die Zeit und Moritz Heimann in Die deutsche Rundschau). Sollte es sich bei dem Exemplar in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB: 684327-B) um den betreffenden Titel aus der ehemaligen Bibliothek Schnitzlers handeln, dann beweist das dessen frühe Kenntnis des Stücks, handelt es sich doch um die seltene Erstausgabe im Berliner Hugo Storm-Verlag: Richard Dehmel: Der Mitmensch. Drama. Berlin 1895. Leider weist kein Titel der in der ÖNB verbliebenen Dehmeliana, bei denen es sich potentiell um ein Exemplar aus Schnitzlers Besitz handelt könnte, eine Widmung auf. Für die Einsicht der betreffenden Bände bin ich hier und im Folgenden Martin Anton Müller verbunden.

[33] Vgl. Emil Ludwig: Richard Dehmel. Berlin 1913.

[34] Richard Dehmel: Michel Michael. Komoedie in 5 Akten. Berlin 1911.

[35] Emil Ludwig: Dehmel dramaticus. In: Die Schaubühne 9 (1913), S. 1131-1133, hier S. 1131 und 1132.

[36] Richard Dehmel: Lebensblätter. Gedichte und Anderes. Mit Randzeichnungen von Josef Sattler. Berlin 1895.

[37] Richard Dehmel: Die gelbe Katze. In: Simplicissimus 1 (1896), H. 16, 18.7.1896, S. 1-2. Da die Novelette bereits Ende April entstanden war und Dehmel sie dem Duz-Freund zur kritischen Gegenlektüre übersandt hatte, kannte Liliencron sie bereits zum Zeitpunkt von Schnitzlers Besuch.

[38] Richard Dehmel: Weib und Welt. Gedichte. Mit einem Sinnbild. Berlin 1896.

[39] «Ich habe keine Ahnung von Dramatik», Detlev von Liliencron an Arthur Schnitzler, Brief vom 7.5.1894 (wie Anm. 25).

[40] Vgl. die entsprechenden Korrespondenzzeugnisse vom 7.12.1896, 1[0?].4.1904 sowie vom 27.11.[1907], wobei sich, wie die Erwähnung eines “Hamburg-Briefes” am 7.12.1896 suggeriert, offenbar nicht alle Dokumente erhalten haben.

[41] Tb 21.4.1907.

[42] Vgl. Achim Aurnhammer: «Wenn ich was könnte […] und wenn der Hauptmann gescheidt wär». Arthur Schnitzlers Wettstreit mit Gerhart Hauptmann. In: Von den Rändern zur Moderne. Studien zur deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. FS Peter Sprengel. Hrsg. von Tim Lörke, Gregor Streim und Robert Walter-Jochum. Würzburg 2014, S. 111-126. Die Beziehung Dehmels zu Hauptmann hat Carolin Vogel konturiert: vgl. dies.: Richard Dehmel – Eine Schlüsselfigur der Moderne. In: Fontane, Hauptmann und die vergessene Moderne. Hrsg. von Wolfgang de Bruyn, Franziska Ploetz und Stefan Rohlfs. Berlin u.a. 2020 (Schriften der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft und Gerhart-Hauptmann-Häuser Bd. 1), S. 262-280.

[43] Tb 5.9.1910.

[44] Vgl. Hugo von Hofmannsthal/Richard Dehmel: Briefwechsel 1893-1919. Hrsg. von Martin Stern. In: Hofmannsthal-Blätter 21/22 (1979), S. 1-130.

[45] Richard Dehmel: Eine Lebensmesse. Dichtung für Musik. In: Pan 3 (1897), S. 89-94. Dehmel hatte die Lebensmesse ursprünglich als vitalistisches Pendant zu Stanisław Przybyszewskis Totenmesse (1893) konzipiert. In der Rolle der beiden Sonderlinge hatte er, wie er Harry Graf Kessler gegenüber gesteht, sich selbst und Hofmannsthal porträtiert. Vgl. Eintrag vom 8.7.1904, Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Hrsg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott. Unter Beratung von Hans-Ulrich Simon, Werner Volke und Bernhard Zeller. 9 Bde. Bd. 3: 1897-1905. Hrsg. von Carina Schäfer und Gabriele Biedermann. Unter Mitarb. von Elea Rüstig und Tina Schumacher. Stuttgart 2004 (Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft Bd. 50.3), S. 688.

[46] Vgl. [Richard Dehmel/Jakob Wassermann]: Briefe. Richard Dehmel an Jakob Wassermann [6 vom 27.9.1906, 10.10.1906, 21.1.1908, 21.10.1910, 27.10.1910 und 9.1.1919]. In: Die Fähre 1 (1946), S. 173-176, sowie Richard Dehmel/[Stefan Zweig]: Richard Dehmel und Stefan Zweig. Im 40. Jahr nach Dehmels Tod. In: Blätter der Stefan-Zweig-Gesellschaft 1960, H. 8/10, S. 23-25. Zu Zweig vgl. auch Anm. 135.

[47] Richard von Schaukal: Richard Dehmels Lyrik. Versuch einer Darstellung der Grundzüge. Leipzig 1908 (Beiträge zur Literaturgeschichte Bd. 50). Zu Differenzen kam es, wie Christian Neuhuber dargelegt hat, etwa aufgrund der unterschiedlichen Auffassung Heinrich Heines: Ders.: «… eine nicht unbedeutende Wandlung …». Kulturkonservative Heine-Rezeption am Beispiel Richard von Schaukals (1874-1942). In: Heine-Jahrbuch 45 (2006), S. 142-164, S. 150. Zu Schaukal vgl. neuerdings auch die Studie von Cornelius Mitterer: Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne. Berlin 2019 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 149).

[48] Vgl. hierzu Joachim Kersten/Friedrich Pfäfflin: Detlev von Liliencron entdeckt, gefeiert und gelesen von Karl Kraus. Göttingen 2016.

[49] Schnitzlers glühende Bewunderung des schwedischen Dramatikers artikuliert sich verschiedentlich im Tagebuch, insbesondere im Zuge seiner persönlichen Begegnung mit Henrik Ibsen (Tb 26.7.1896). Dehmels Beziehung zu Strindberg hat Rüdiger Schütt dokumentiert: «Mit einem Bein in der Bohème…». Richard Dehmel und die Berliner Boheme. In: WRWlt – o Urakkord. Die Welten des Richard Dehmel. Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, 3. August bis 30. September 1995. Hrsg. von Hrsg. von Sabine Henning, Annette Laugwitz, Mathias Mainholz u.a. Herzberg 1995 (bibliothemata Bd. 14), S. 23-52, insbes. S. 29-37.

[50] Vgl. hierzu die Korrespondenz Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel. Hrsg. von Kurt Bergel. Bern 1956. Wieder in: BW digital sowie Ernst-Ullrich Pinkert: Arthur Schnitzlers Dänemark. Impulse, Begegnungen, Resonanz, Intertextualität. Wien 2015 (Wechselbeziehungen Österreich – Norden Bd. 12), insbes. S. 47-61.

[51] Georg Brandes. In: Berliner Tageblatt, 21.11.1891. Vgl. Klaus Bohnen: Determinationslösung als Ansatzpunkt moderner Literatur. Ein unveröffentlichter Brief Richard Dehmels und sein ästhetischer Problemzusammenhang. In: Text und Kontext 5 (1977), H. 2, S. 89-106.

[52] Richard Dehmel an Georg Brandes, Brief vom 26.11.1891, zit. n. Bohnen 1977 (wie Anm. 51), S. 93.

[53] Vgl. Rüdiger Görner: Sehen Lernen! Bemerkungen zum Manifest-Charakter der Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hrsg. von Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Unter Mitarb. von Robert Krause. Berlin/New York 2007, S. 113-127, S. 119-120.

[54] Tb 21.8.1896.

[55] Julius Bab: Die Berliner Bohème. Berlin/Leipzig 1904 (Großstadt-Dokumente Bd. 2). Vgl. Tb 28.10.1904, LL, S. 170. Dehmel wird hier gemeinsam mit Stanisław Przybyszewski der sog. “neuromantischen” Bohème zugerechnet.

[56] Vgl. LL, D 90, Tb 15.9.1917 sowie Anm. 32.

[57] Richard Dehmel: Zwei Menschen. Roman in Romanzen. Berlin 1903. Bei dem unter der Signatur 684757-B in der ÖNB verwahrten Titel könnte es sich um das von Dehmel übersandte Exemplar aus Schnitzlers Besitz handeln. Vorabdruck: ders.: Zwei Menschen. Romanzen. In: Neue Deutsche Rundschau 14 (1903), H. 1, S. 49-76. Vgl. Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Brief vom 22.3.1903. In: BW digital.

[58] Richard Dehmel: Die Verwandlung der Venus. Rhapsodie. Ausg. im vollst. Wortlaut, privatim als Ms. gedr. Zeichnung des Umschlags, der Widmung und des Titels von Walter Tiemann. Leipzig 1907. Bei dem unter der Signatur 684759-B in der ÖNB verwahrten Exemplar könnte es ich um den betreffenden Privatnachdruck aus Schnitzlers Bibliothek handeln. Der ursprüngliche Papierumschlag des Druckes scheint jedoch entfernt und der Band neu gebunden worden zu sein, Widmungen oder sonstige Hinweise auf den Besitzer finden sich nicht. – Vgl. Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief aus dem Jahr 1907. In: BW digital.

[59] Richard Dehmel: Zwischen Volk und Menschheit. Kriegstagebuch. Berlin 1919. Vgl. LL, D90, Tb 28.6.1919.

[60] Richard Dehmel: Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Bd. 1: Aus den Jahren 1883 bis 1902, Bd. 2: Aus den Jahren 1902 bis 1920. Berlin 1923. Vgl. den entsprechenden Registereintrag der Leseliste (LL, S. 184), die lediglich den ersten Band der zweibändigen Briefausgabe ausweist, obschon Schnitzler auch den zweiten Band nachweislich gelesen hat (Tb 29.7.1923).

[61] Zu Dehmels Verhältnis zur zeitgenössischen Musik vgl. Albrecht Dümling: Visionärer Ausdruck des Zeitgeistes in der Lyrik – Richard Dehmel und die Musik. In: «Schöne wilde Welt». Richard Dehmel in den Künsten. Hrsg. von Carolin Vogel für die Dehmelhaus Stiftung. Göttingen 2020, S. 40-66.

[62] Tb 23.10.1930. Auch wenn es sich bei den vertonten Liedern ausschließlich um Texte Paula Dehmels handelte, belegt Schnitzlers Kenntnis doch die Selbstverständlichkeit der Dehmel’schen Texte im deutschen Liedgut. Deren Urheberschaft war nicht immer leicht auszumachen, bildeten Dehmel und seine erste Frau doch über Jahrzehnte eine kooperative Arbeitsgemeinschaft im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Vgl. Helmuth Ebbs: Rumpumpel. 12 Kinderlieder für Gesang und Klavier. Wien 1917.

[63] Richard Dehmel: Die Ruthe. Eine bedenkliche Geschichte. In: Nord und Süd 72 (1895), H. 214, S. 1-12. Dass Beer-Hofmann die Prosaskizze ein dreiviertel Jahr vor ihrem eigentlichen Erscheinen im Freundeskreis präsentieren konnte, lässt darauf schließen, dass dieser den Text seitens einer alternativen Bezugsquelle, vermutlich vom Verfasser selbst, erhalten hatte.

[64] Tb 22.3.1894.

[65] Hugo von Hofmannsthal an Richard Dehmel, Brief vom Charfreitag [23.3.]1894. In: Hofmannsthal/Dehmel (wie Anm. 44), S. 18-19, hier S. 19.

[66] Zit. n. Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Projektmitarbeit 1999-2004: Josefine Kitzbichler. 5 Bde. Bd. 4. Berlin u.a. 2010, S. 3404 (Eintrag vom 4.1.1895).

[67] Die umfassende Rezeptionsstudie Achim Aurnhammers verzeichnet Dehmel nicht: Ders.: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin/Boston 2013 (linguae & litterae Bd. 22).

[68] Die Bibliothek Richard Dehmels wird als dritte Hauptabteilung des Dehmel-Archivs in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg verwahrt und ist unter der Gruppensignatur NL DA Bib erschlossen. Für die Erlaubnis der Einsichtnahme in das Bibliotheks-Verzeichnis bin ich dem derzeitigen Fachreferenten und Kustoden des Dehmel-Archivs Mark Emanuel Amtstätter verbunden. Einen kursorischen Überblick über Umfang und Schwerpunkte der Bibliothek gibt Carolin Vogel: Das Dehmelhaus in Blankenese. Künstlerhaus zwischen Erinnern und Vergessen. Hamburg 2019 (Schriftenreihe der Professur für Denkmalkunde der Europa-Universität Viadrina Bd. 4), S. 134-136.

[69] Vgl. Die Bibliothek des Dehmel-Archivs, Nr. 478, Dehmel-Archiv, SUB Hamburg (im Folgenden zitiert als «Dehmel-Bibliothek»): Arthur Schnitzler: Der Schleier der Beatrice. Schauspiel. 2. Aufl. Berlin 1901. Das Exemplar hat sich unter der Signatur NL DA Bib: 478 im Nachlass erhalten. Für die Bereitstellung des Digitalisats der Titelseite sowie die Erlaubnis zur Wiedergabe bin ich Mark Emanuel Amtstätter verbunden.

[70] Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 6.8.1908. In: BW digital. Ob Schnitzler den Roman mit persönlicher Dedikation oder Unterschrift versehen hat, ist nicht überliefert, angesichts des Widmungsexemplars von Der Schleier der Beatrice jedoch wahrscheinlich.

[71] Hofmannsthal hatte sein Exemplar «halb zufällig halb absichtlich» im Zug liegen lassen, was Schnitzler kränkte und die Beziehung beider Dichter nachhaltig belastete, Hugo von Hofmannsthal an Arthur Schnitzler, Brief vom 29.10.1910. In: BW digital.

[72] [Denkmalschutzamt Hamburg]: Verzeichnis der Bibliotheksbände, unveröff. Typoskript. Hamburg 1981, S. 187-188. Die Liste resultiert aus einer Inventarisierung des im Dehmelhaus verbliebenen Buchbestands von 1981 und wurde im Zuge der Übernahme durch die Hermann-Reemtsma-Stiftung 2011 noch einmal gegengeprüft. Im Haus aufgefundene Titel sind durch Markierungen gekennzeichnet. Für die Bereitstellung dieses Dokuments bin ich Carolin Vogel von der Dehmelhaus Stiftung herzlich verbunden. Vgl. auch dies.: Die Dehmelbibliothek [unveröff. Manuskript, 2020].

[73] Konkret lautet die Auflistung der verzeichneten Titel wie folgt: Arthur Schnitzler: Dämmerseelen. Berlin 1907, ders.: Marionetten. Berlin 1906 (Mit Ex Libris 3), ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1-3: Erzählende Schriften. Berlin 1912, sowie Gesammelte Werke. Bd. 1-4: Die Theaterstücke. Berlin 1912, vgl. Verzeichnis der Bibliotheksbände (Anm. 72).

[74] Vgl. [Arthur] Schnitzler: Therese, Rezensionsexemplare für Autoren, [April] 1928 (Nr. 1323). In: Hermann Bahr/Arthur Schnitzler: Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente. 1891-1931. Hrsg. von Kurt Ifkovits und Martin Anton Müller. Göttingen 2018, S. 588-589, hier S. 588, sowie [Arthur] Schnitzler: Freiexemplare Im Spiel der Sommerlüfte, [Ende 1929?] (Nr. 1329). In: ebd., hier S. 591.

[75] Samuel Fischer an Richard Dehmel, Brief vom 13.11.1905, DA : Br : F 316, SUB Hamburg. Vgl. hierzu bereits Birgit Kuhbandner: Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008, S. 245.

[76] Johannes Meyer (Hrsg.): Spiegel neudeutscher Dichtung. Eine Auswahl aus den Werken lebender Dichter. Leipzig 1905. Dem Rat Dehmels ist Meyer allerdings nur bedingt gefolgt: Stellvertretend für die österreichische Moderne fanden zwar Hofmannsthal und Peter Altenberg vereinzelt Berücksichtigung, nicht jedoch Schnitzler. Dehmel selbst ist hingegen mit insgesamt 28 Gedichten vergleichsweise dominant vertreten. Meyer konsultierte im selben Zeitraum offenbar noch andere Dichter, darunter Detlev von Liliencron und Ricarda Huch (vgl. die entsprechende Korrespondenz im DLA Marbach).

[77] Richard Dehmel an Johannes Meyer, Brief vom 4.1.1904. In: Briefe II, S. 40-44, S. 43.

[78] Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 14.2.1902: «An meinem “Schleier der Beatrice” fehlt ein Stückchen. Grade die letzten Worte der beiden Schlußzeilen, also je das letzte Wort, sind im Druck nicht gekommen («abgesprungen»). Möchten Sie wol die Güte haben, sie mir schriftlich mitzuteilen! Im übrigen brauche ich Ihnen wol kaum zu sagen, daß ich die Dichtung mit größter Freude gelesen habe. Dankbar grüßend R. Dehmel». Der Produktionsfehler findet sich mehrfach, jedoch nicht durchgängig in der zweiten Auflage. Während der Druck im Exemplar der Universität Kiel (Zentralbibliothek, B 6859) den Schluss vollständig bietet, weist die Ausgabe der Universität Freiburg (Bibliothek des Deutschen Seminars, S 124/112) dieselben von Dehmel monierten Fehlstellen auf. Für die punktuelle Überprüfung des letztgenannten Titels bin ich Susanne Neubrand vom Arthur-Schnitzler-Archiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verbunden.

[79] Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Brief vom 16.2.1902. In: BW digital: «Verehrtester Herr Dehmel, die letzten Worte der zwei letzten Zeilen lauten / – Zeit – / – weit. / Herzlich dankend Ihr sehr ergebener /Arthur Schnitzler».

[80] Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005, S. 93.

[81] Dazu zählten u. a. Emil Ludwigs Borgia (1907), Paul Ernsts Eine Nacht in Florenz (1905), Emanuel von Bodmans Donatello (1908) oder Rudolf von Delius’ Rienzi (1903). Zu Dehmels Renaissancerezeption vgl. Julia Ilgner: Renaissancismus bei Richard Dehmel. In: Mediävalismus/Renaissancismus im langen 19. Jahrhundert in transkultureller Perspektive. Hrsg. von Nathanael Busch, Julia Ilgner, Alessandra Molinari, Jutta Schloon und Robert Schöller. Würzburg (Rezeptionskulturen in Literatur und Mediengeschichte) [in Vorb. für 2022], zu derjenigen Schnitzlers vgl. dies.: Renaissancerezeption und Renaissancismus bei Arthur Schnitzler. In: Tradition in der Literatur der Wiener Moderne. Unter Mitarb. von Cornelia Nalepka und Gregor Schima hrsg. von Wilhelm Hemecker, Cornelius Mitterer und David Österle. Berlin u. a. 2017 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 149), S. 183-219.

[82] Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 14. 2. 1902. In: BW digital.

[83] Karl Kraus u.a. an Richard Dehmel, Kartenbrief vom 10.2.1894 (fehldat. auf 10.2.1893), Mitunterz. von Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, DA : Br : K 282, SUB Hamburg, Hervorh. im Orig. Der Erstdruck erfolgte in: Kersten/Pfäfflin 2016 (wie Anm. 48), S. 116-117, wieder in: BW digital. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Mark Emanuel Amtstätter. Schnitzler notiert die Zusammenkunft auch im Tagebuch: «Nm. Kraus, Loris, Salten, Rich., Schwarzkopf, Vanjung da. – Las “Halb zwei” vor» (Tb 4.2.1894).

[84] Das am Michaelerplatz gelegene Palais Dietrichstein-Herberstein, in dem sich das Café Griensteidl befand, wurde zu Beginn des Jahres 1897 abgerissen.

[85] Das österreichische Pendant, die Wiener Secession, konstituierte sich erst rund drei Jahre später Anfang April 1897 als autonome Künstlervereinigung unter der Führung Gustav Klimts.

[86] Richard Beer-Hofmann: Novellen. Berlin 1893. Der Band enthielt die beiden Erzählungen Das Kind und Camelias.

[87] Richard Dehmel (Hrsg.): Der Buntscheck. Ein Sammelbuch herzhafter Kunst für Ohr und Auge deutscher Kinder. Cöln am Rhein 1904.

[88] Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 1.1.1902. In: BW digital.

[89] Unter den Beiträgern waren neben Richard und Paula Dehmel u.a. Jakob Wassermann, Robert Walser, Detlev von Liliencron, Paul Scheerbart, Peter Hille sowie Gustav Falke.

[90] Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Brief vom 13.1.1902. In: BW digital.

[91] Eintrag 14.12.1905. In: Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Bd. 3 (wie Anm. 45), S. 821-822, hier S. 822. Vgl. dazu auch Julius Bab: Richard Dehmel. Die Geschichte eines Lebens-Werkes. Leipzig 1926, S. 295-296.

[92] Richard Dehmel: Zwei Menschen. Roman in Romanzen. Berlin 1903. Vgl. Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Brief vom 22.3.1903. In: BW digital.

[93] Richard Dehmel: Zwei Menschen. Romanzen. In: Neue Deutsche Rundschau, Jg. 14, H. 1, 15. 1. 1903, S. 49-76.

[94] Arthur Schnitzler an Richard Dehmel, Brief vom 22.3.1903. In: BW digital.

[95] Dehmels gastierten mindestens eine Woche, vom 5. bis 14. März, in Wien und waren währenddessen im Hotel Klauser in der Herrengasse untergebracht.

[96] Vgl. Tb 7.3.1904: Unter den Besucherinnen und Besuchern der Lesung waren Ida Dehmel zufolge u.a. Gustav und Alma Mahler, Hugo und Gerty von Hofmannsthal, Jakob und Julie Wassermann, Stefan Zweig, die Sängerin Tilly Koenen sowie zahlreiche Kritiker wie Adolph Donath und Camill Hofmann (vgl. Ida Dehmel an Alice Bensheimer, Brief vom 16.3.1904, DA : Z : Br : De : 81.100, SUB Hamburg). Für den Hinweis auf dieses Korrespondenzstück bin ich Carolin Vogel verbunden, die in ihrer Dissertationsschrift ebenfalls auf die Zusammenkunft eingeht: vgl. Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 86-87.

[97] Tb 6.3.1904: «Im Klomser mit O., Fanny M., Rothenstein, Leo, Kfm».

[98] Irene Triesch hatte in zahlreichen Schnitzler-Rollen, u.a. als Christine Weiring in Liebelei, brilliert. Als passionierter Berliner Theatergänger dürfte sie Dehmel wohl bekannt gewesen sein. Seine Wertschätzung für Schnitzlers Renaissancestück Der Schleier der Beatrice plausibilisiert, dass Dehmel sie im Vorjahr ausgerechnet in derjenigen Inszenierung Otto Brahms am Deutschen Theater gesehen hatte (Premiere: 7.3.1903), in der sie Schnitzler selbst über die Maßen missfiel, was den weiteren Gesprächsverlauf nachteilig beeinflusst haben mag. Vgl. Tb 23.2.1903: «Ich sagte der Triesch, sie eigne sich nicht zur Bea.[trice]; sie war gekränkt».

[99] Tb 7.3.1907: «Nm. Dehmel und Frau sowie Wymetal bei uns. – Über die Triesch u. a. – Musik. (Ich spielte.) Es stellte sich kein rechtes Verhältnis her».

[100] Ida Dehmel an Alice Bensheimer, Brief vom 16.3.1904 (wie Anm. 96), Hervorh. im Orig.

[101] Einen ähnlichen Zeitzeugenbericht über Schnitzlers Interieur in späteren Jahren hat Max Krell: Das alles gab es einmal. Frankfurt a. M. 1965 [1961], S. 122, überliefert: «1927 […] besuchte ich Arthur Schnitzler in Wien, in seinem Haus an der Sternwartstraße. Die Bibliothek im ersten Stock atmete nichts von der koketten Luft des «Anatole» [sic], der «Liebelei» oder gar des «Reigen», sie war das Gehäuse eines Gelehrten, und auch das war Schnitzler in mancher Hinsicht». Die Inneinrichtung der Spöttelgasse hat die Berliner Prominentenphotographin Aura Hertwig festgehalten, vgl. dazu Julia Ilgner: «Portrait of the Artist». Arthur Schnitzlers Autorschaftsinszenierung in der Atelierphotographie seiner Zeit (Aura Hertwig, Madame d’Ora). In: Arthur Schnitzler und die bildende Kunst. Hrsg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Würzburg 2021 (Klassische Moderne Bd. 45. Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg Bd. 7), S. 43-94.

[102] Tb 20.2.1921. Auch Lilly Schnitzler (geb. von Strakosch-Feldringen, 1911-2009) attestierte ihrer späteren Schwiegermutter Olga, «eine vollkommen unnatürliche Person» gewesen zu sein: vgl. Georg Markus: «Ein eher düsterer Mensch». Meine Begegnung mit Schnitzlers Schwiegertochter. In: Ders.: Unter uns gesagt: Begegnungen mit Zeitzeugen. Mit einem Vorw. von Hugo Portisch. Wien 2008, S. 15-24, hier S. 18.

[103] Vgl. bspw. Harry Graf Kessler an Elisabeth Förster-Nietzsche, Brief vom 26.11.1901. In: Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche. Von Beruf Kulturgenie und Schwester. Der Briefwechsel 1895-1935. Hrsg. von Thomas Föhl. 2 Bde. Bd. 1. Weimar 2013 (Schriften zum Nietzsche-Archiv Bd. 1/2), S. 335: «Die Frau wird Sie vielleicht nicht angenehm berühren; wenigstens ist dieses bei vielen Menschen der Fall; sie ist aber sehr intelligent». Vgl. hierzu auch Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 54.

[104] Das eigenmächtige Vorgehen Wymetals hätte fast eine Absage Dehmels nach sich gezogen. Vgl. Richard Dehmel an Wilhelm von Wymetal, o.O., 20.2.1904, DA : Br : BKB III, SUB Hamburg, Bl. 268-269.

[105] Jakob Wassermann: Tagebuchnotiz vom 11. März 1904, zit. n. Marta Karlweis: Jakob Wassermann. Bild, Kampf und Werk. Mit einem Geleitw. von Thomas Mann. Amsterdam 1935, S. 152-153.

[106] «Dienstag waren wir bei Wassermanns zum Mittagessen. Sie gefielen uns vorzüglich. Die Frau (alles in Wien ist jüdisch) hat etwas von Rosetti [sic], zart durchsichtige Haut, zu rötlichem Haar. Sehr zart u. fein, fast rührend. Er sympathisiert sehr mit Dehmel, ist in Vielem zu gleichen Denkresultaten gelangt, seine Klugheit hat Temperament als Untergrund. Sie leben äußerlich wie wir, brauchen aber genau soviel Gulden wie wir Mark, was überhaupt für Wien gilt», Ida Dehmel an Alice Bensheimer, Brief vom 16.3.1904 (wie Anm. 96), Hervorh. im Orig.

[107] Richard Dehmel an Jakob Wassermann, Brief vom 27.9.1906. In: Dehmel/Wassermann (wie Anm. 46), S. 173.

[108] Tb 4.11.1904.

[109] Die Lesung erfolgte dieses Mal im kleinen Musikvereinssaal, wo sie, trotz respektabler Besucherzahlen und allgemeiner Wertschätzung für den Dichter, nicht an den Erfolg des vorangegangenen Dehmelabends anschließen konnte. Zur Aufnahme des Abends seitens der Presse sowie dem dargebotenen Programm vgl. N.N. (Rez.): Richard Dehmel am Lesetische. In: Neues Wiener Tagblatt Nr. 297, 27.10.1905, S. 8, sowie Julia Ilgner: Postkartenpoetik. Richard Dehmels epigrammatisches Reisegedicht Eine Rundreise in Ansichtspostkarten (1906). In: Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert. Hrsg. von Johannes Görbert und Nikolas Immer. Stuttgart/Weimar 2020, S. 259-299, S. 267.

[110] Felix Salten: Herr Wenzel auf Rehberg und sein Knecht Kaspar Dinckel. Berlin 1907. Saltens Widmungsexemplar der Erzählung an Schnitzler hat sich im Nachlass erhalten (DLA Marbach). Vgl. Tb 26.10.1925: «Nm. bei Salten, der mir, Wassermann, Hugo, Leo, Dehmel eine recht gelungene Erzählung (Junker von Rehberg) vorlas. Dehmel und Frau, Hugo, und ich nachtmahlten dort».

[111] Ida Dehmel an Alice Bensheim, Brief vom 21.10.1905, DA : Z : Br : De : 81.140, 16 Bl., hier Bl. 7r, Dehmel-Archiv, SUB Hamburg. Für diesen Hinweis bin ich neuerlich Carolin Vogel, für die Bereitstellung Mark Emanuel Amtstätter verbunden. Vgl. hierzu auch Matthias Wegner: Aber die Liebe. Der Lebenstraum der Ida Dehmel. München 2000, S. 258-259.

[112] Dabei dürfte es sich um eines der insgesamt 150 Exemplare gehandelt haben, die Dehmel als Privatdruck für seinen persönlichen Bedarf im Leipziger Drugulin-Verlag anfertigen ließ: Richard Dehmel: Die Verwandlung der Venus. Rhapsodie. Ausg. im vollst. Wortlaut, privatim als Ms. gedr. Zeichnung des Umschlags, der Widmung und des Titels von Walter Tiemann. Leipzig 1907. Bei dem Schenkungsexemplar für Schnitzler könnte es sich um die Signatur 684759-B der ÖNB handeln. Vgl. auch Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief aus dem Jahr 1907. In: BW digital.

[113] Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 8.6.1908. In: BW digital.

[114] Vgl. Tb 15.11.1908: «Dehmel kam um 6; wir sprachen über Träume, Hallucinationen u. s. w. Dann Wassermann, Hugo, Gerty, Kaufmann, Vanjung, Julie. Nach Dehmel und Hugo’s Weggehn Domino».

[115] Gerty Hofmannsthal, Brief an Richard Dehmel vom 13.11.1908. In: Hofmanns­thal/Dehmel (wie Anm. 44), S. 54. Ob die auf eine vorige Depesche Dehmels hin kurzfristig erbetene Zusammenkunft tatsächlich zustande kam, lässt sich aus der weiteren Korrespondenz zwar nicht zweifelsfrei erschließen, ist jedoch insofern, als Hofmannsthal und Dehmel an diesem Abend gemeinsam aufbrechen, naheliegend.

[116] Dehmel hielt sich vermutlich vom 14. bis zum frühen Morgen des 16. November in Wien auf und logierte im Hotel Bristol am Kärtner Ring, fußläufig vom späteren Veranstaltungsort in der Eschenbachgasse 11. Vgl. N.N.: Theater- und Kunstnachrichten (Wien, 13. November). In: Neue Freie Presse, 14.11.1908, Nr. 15889, S. 13; N.N.: Eine Vortragsreise Richard Dehmels. In: Die Zeit, 5.11.1908, Nr. 2198, S. 4: Seine Lesetour führte Dehmel in verschiedene deutsche und österreichische Städte, u.a. nach «Eberfeld, München, Leipzig, Frankfurt a. O. und Wien». Der Wiener Rezitationsabend wurde am Folgetag u.a. in der Neuen Freien Presse, im Neuen Wiener Journal und in Der Zeit besprochen: N.N.: Dehmel-Vorlesung. In: Neue Freie Presse, 15.11.1908, Nr. 15890, S. 17; H. M.: Richard-Dehmel-Abend. In: Neues Wiener Journal, 15.11.1908, Nr. 5413, S. 13; N.N: Vorlesung Richard Dehmel. In: Die Zeit, 15.11.1908, Nr. 2208, S. 4.

[117] Schnitzler begleitet seine Frau an diesem Abend zu einer öffentlichen Generalprobe der Festaufführung von Beethovens Missa solemnis im großen Kunstvereinssaal (Canovagasse 4). Da das Konzert zu exakt derselben Uhrzeit wie Dehmels Lesung, um 19:30 Uhr, begann, war ihm eine Teilnahme nicht möglich. Vgl. Tb 14.11.1908 sowie die Veranstaltungsankündigung: N.N.: Theater- und Kunstnachrichten (Wien, 13. November). In: Neue Freie Presse, 14.11.1908, Nr. 15889, S. 13.

[118] Schnitzlers wohnte zu diesem Zeitpunkt noch immer in der Spöttelgasse. Der Umzug in die Sternwartestraße erfolgte erst im Juli des Jahres 1910.

[119] Dass Dehmels Ehefrau Schnitzlers Einladung fernbleibt legte die zwecks Terminfindung in der ersten Person Singular geführte Korrespondenz Dehmels ebenso nahe wie Schnitzlers auf dokumentarische Akribie zielende Notationsgewohnheit, die anwesenden Gäste bzw. Gesprächspartner im Tagebuch möglichst vollständig anzuführen. Im Falle der Treffen von 1904 und 1911 verzeichnet Schnitzler das Dichterpaar konsequent im Plural bzw. in pluralanaloger Form als «Dehmels» bzw. «Dehmel und Frau». Vgl. Tb 7.3.1904, 14.11.1908, 5.11.1911 und Richard Dehmel an Arthur Schnitzler sowie Schnitzler an Dehmel, jeweils Brief vom 14.11.1908. In: BW digital.

[120] Vgl. Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann und Jakob Wassermann an Arthur Schnitzler, Brief vom 3.12.1909. In: BW digital, sowie dies.: Lieber Herr Fischer … In: S. Fischer und sein Verlag. Reden, Briefe, Aufsätze. Ges. u. zsgest. von Gottfried Bermann-Fischer und Brigitte Bermann-Fischer. Berlin 1926, S. 9-10.

[121] Zur Intendanz Hagemanns vgl. Michaela Giesing: Die Gründerjahre 1900-1918. Alfred von Berger, Carl Hagemann, Max Grube. In: 100 Jahre Deutsches Schauspielhaus in Hamburg. Hrsg. vom Zentrum für Theaterforschung der Universität Hamburg und vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Hamburg 1999 (Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung Bd. 9), S. 10-33, sowie den autobiographischen Bericht des Theatermanns: Carl Hagemann: Bühne und Welt. Erlebnisse und Betrachtungen eines Theaterleiters. Wiesbaden 1948, S. 137-150.

[122] Das weite Land (Regie: jeweils Carl Hagemann, u.a. mit Robert Nhil, Marie Elsinger und Franziska Ellmenreich), Der Schleier der Beatrice (u.a. mit Elsa Valéry, Carl Wagner, Max Montor und Eugenie May), Anatol (u.a. mit Heinrich Lang, Hermann Wlach, Marie Elsinger und Eugenie May).

[123] Schnitzlers weilten vom Sonntagmittag, den 5. November, bis Freitagabend, den 11. November, in Hamburg, wo sie im Traditionshaus Hotel Atlantic auf der Uhlenhorst residierten, vom 6. bis 8. November stießen Schnitzlers Bruder Julius und seine Schwägerin Helene hinzu, vgl. Tb 5.–11.11.1911.

[124] Vgl. General-Anzeiger für Hamburg-Altona vom Sonntag, den 5.11.1911, Nr. 261, S. 2: «Letzteren drei Vorstellungen wird Dr. Arthur Schnitzler beiwohnen». Vgl. auch Altonaer Nachrichten vom 7.11.1911, Nr. 523, [S. 6].

[125] Vgl. Tb 5.11.1911: «Diner bei Dr. Antoine-Feill, Präsident des Theatervereins. […] Dehmel und Frau. Andre».

[126] Dehmel könnte die Tragikomödie bereits zuvor in Berlin gesehen haben, wo das Stück unter der Regie Emil Lessings am Lessingtheater mit Irene Triesch und Heinz Monnard am 14. Oktober 1911 Premiere gefeiert hatte. Schnitzler sah die Inszenierung in der 12. Aufführung am 2. November 1911 und befand sie, obgleich ihm Monnard in der Titelrolle missfiel, insgesamt für «[g]ut inszenirt» (Tb 2.11.1911).

[127] Tb 6.11.1911 (hier und im Folgenden).

[128] Schnitzler befand sich damals auf einer größeren Theaterrundreise und hatte bereits am Sonntag einer Aufführung des Weiten Lands am Münchner Residenztheater beizuwohnen.

[129] Gegenüber dem befreundeten Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe (1867-1935) schildert Dehmel den Abend wie folgt: «[G]rade das [Verständnis des Publikums, Anm. J. I.] bewies mir der ganz spontane Applaus bei meiner Hamburger Première, der die Zischer schon nach dem III. Akt mundtot machte und zuletzt in tollen Jubel ausbrach (das Theater faßt 1900 Personen, und ich wurde ca. 15 mal «gerufen»). Freilich, wenn die Lute dann am andern Morgen die Kritik in ihrem Wurschtblatt lesen, dann wird ihnen wieder alles Wurscht. Denn was unser öffentliches Leben so hundsgemein macht, daß kein menschliches Gemeinschaftsgefühl mehr vorhanden scheint, das ist blos die banale Frechschnäuzigkeit, mit der die Fabrikanten der öffentlichen Meinung – vom obersten Staatsanwalt bis zum untersten Provinzkritikaster – jede produktive Potenz in Mißkredit bringen möchten», Richard Dehmel an A. Julius Meier-Graefe, Brief vom 29.11.1911. In: Briefe II, S. 257-258.

[130] Hagemann 1948 (wie Anm. 121), S. 143-144.

[131] Die Nichtanerkennung des Michel Michael seitens der Kritik verdross Dehmel nachhaltig. So bezeichnet er das Drama noch Jahre später gegenüber dem künftigen Kieler Philosophieprofessor und glühenden Nationalsozialisten Ferdinand Weinhandl (1896-1973), der in jungen Jahren schriftstellerisch hervortrat, als sein «noch ganz verkannte[s] Schmerzenskind»: Richard Dehmel an Ferdinand Weinhandl, Brief vom 8.3.1915. In: Briefe II, S. 365.

[132] Bab 1926 (wie Anm. 91), S. 298. Zum Misserfolg des Michel Michael vgl. auch ebd., S. 308.

[133] Vgl. das Dehmel gewidmete Sonderheft der Zeitschrift Quadriga (1913, H. 6). Vgl. dazu auch Bab 1926 (wie Anm. 91), S. 331-332, Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 171, Wegner 2000 (wie Anm. 111), S. 270.

[134] Zwar hat sich der Spendenaufruf in Schnitzlers Nachlass nicht erhalten, jedoch in demjenigen seines Schriftstellerkollegen Josef Winkler (1881-1966). Vgl. Olga Herschel an Josef Winkler, Brief aus dem Jahr 1913, WLA Münster, Bestand 1023/122 zit. n. Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 165: «Am 18. November feiert Richard Dehmel seinen 50. Geburtstag. In der Überzeugung, dass es vielen wie uns ein aufrichtiges Bedürfnis ist, Dehmel bei dieser Gelegenheit ein sichtbares Zeichen der Dankbarkeit zu geben, möchten wir weitere Kreise anregen, dazu beizutragen, Dehmel zu seinem Geburtstage das Haus, in dem er jetzt wohnt, zu schenken. Das Haus ist ganz nach seinen eigenen Wünschen gebaut. Uns ist aus zuverlässiger Quelle bekannt, dass sein Besitz ihm eine stete Freude sein würde. […] Durch die Zeitungen soll von dieser Schenkung nichts in die Öffentlichkeit kommen».

[135] A: Kessler, Harry und GSA Weimar 72/BW 2232, DLA Marbach, zit. n. Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 166. Zweig hatte im Rahmen einer engagierten Zeitungsproklamation bereits im Jahr zuvor auf die Notwendigkeit, die Jubiläen einer ganzen Dichtergeneration, darunter auch diejenigen Dehmels und Schnitzlers, angemessen zu begehen, hingewiesen: Stefan Zweig: Den Fünfzigjährigen! Eine öffentliche Anregung. In: Berliner Tageblatt, 12.9.1911, Nr. 464. Belegexemplare des Aufrufs finden sich in beiden Autorennachlässen verwahrt: vgl. Stefan Zweig: Den Fünfzigjährigen!, DA : Br : Z : 105, und Richard Dehmel an dens., Brief vom 27.9.1911, DA : Br : D : 3213, Dehmel-Archiv, Universitäts- und Staatsbibliothek Hamburg, sowie Schnitzlers Zeitungsausschnittsammlung, G 02 1 50ster Geburtstag, Nr. 125, LINK [Stand: 1.3.2021]. Für diesen Hinweis bin ich Sandra Bläß verbunden.

[136] Richard Dehmel: Das Haus des Dichters. In: Neue Rundschau 25 (1914), S. 127-128. Wieder in: Ders.: Schöne wilde Welt. Gedichte und Sprüche. Sehr erw. neue Ausg. Berlin 1918, S. 98-100. Richard Dehmel an Arthur Schnitzler, Brief vom 18.11.1913[?]. In. BW digital (= Richard Dehmel: Das Haus des Dichters [1913], ohne Widmung, Signatur oder Begleitschreiben).

[137] Weder Schnitzlers Tagebuch noch seine Korrespondenz lassen auf eine Zusammenkunft in Dehmels Privaträumen schließen. Das Gästebuch der Dehmels, das die Besucher namentlich verzeichnet, gilt bis dato als verschollen, vgl. Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 179. Auch hätte Schnitzler einen solchen Besuch mit Sicherheit im Tagebuch verzeichnet.

[138] Tb 10.11.1911.

[139] DA : Varia : 19 : 92, SUB Hamburg. Für die Erlaubnis der Druckwiedergabe bin ich Mark Emanuel Amtstätter vom Dehmel Archiv der SUB, für die Datierung der Photographie Carolin Vogel vom Dehmelhaus verbunden: Der Zustand der Gartenanlage mit den von Dehmel persönlich im Einzugsjahr gepflanzten Obstbäumen sowie der Umstand, dass Dehmel bereits im Januar 1913 eine Postkarte mit diesem Motiv versandte, lassen auf eine Aufnahme im Jahr 1912, also wenige Monate nach Schnitzlers mutmaßlichem Besuch des Rohbaus, schließen.

[140] Am 17. August 1911 hatte man den Bauantrag gestellt und am 18. Oktober 1911 Richtfest gefeiert. Die einzelnen Bauphasen des Dehmelhauses hat Carolin Vogel 2019 (wie Anm. 68) präzise rekonstruiert, vgl. hier S. 106.

[141] Schnitzler hatte im April des Vorjahres unter Zuhilfenahme eines erheblichen Kredits die großzügige Villa der Burgschauspielerin Hertwig Bleibtreu in der Sternwartestraße 71 erworben, wo er von Juli 1910 bis zu seinem Tod 1931 lebte. Die genauen Umstände des Hauskaufs, einschließlich Publikation der Kaufurkunde, hat Gerhard Hubmann rekonstruiert: Ders.: «Schwankende häusliche Stimmung». Mit Arthur Schnitzler beim Villenkauf. In: «So schön kann Wissenschaft sein!» Mit Kronprinz Rudolf im Unterricht, mit Kaiserin Elisabeth von Schloss zu Schloss, mit Arthur Schnitzler beim Villenkauf. Zeitkapseln aus der Sammlung Brigitte Hamann. Geöffnet und hrsg. von Marcel Atze unter Mitarb. von Kyra Waldner. Wien 2017, S. 220-236.

[142] Vgl. etwa Hofmannsthals “Fuchsschlössl” in Rodaun (Tb 5.6.1901) oder die Villa Mahler in Breitenstein mit den Fresken Oskar Kokoschkas (Tb 11.8.1919).

[143] Auf den Vorbildcharakter des Weimarer Gartenhauses hat bereits Carolin Vogel verwiesen: «Die formale Anlehnung an eine Ikone seiner Zeit, Goethes Gartenhaus, […] erscheint über die ästhetischen Anleihen hinaus als eine bewusste Positionierung und als Maßnahme der späteren Erinnerung», Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 65, zu Dehmels Goethe-Rezeption vgl. ebd., S. 155-160.

[144] Vgl. insbesondere das Interieur in Schnitzlers Arbeitszimmer mit Autographen, Scherenschnitten und einer kleinen Statuette des Weimarer Dichterfürsten (ÖNB AS Album 5,25, DLA Marbach, AS 193 B). Schnitzler selbst hatte Goethes Gartenhaus vor allem im Zuge eines längeren Weimaraufenthalts im August 1906 mehrfach besucht und später sogar dokumentiert (vgl. Tb 13.8.1906, die Bildnisse in der Zeitungsausschnittsammlung der Universität Exeter, G 09 Fotos, Nr. 45, Nr. 46). Schnitzler besaß auch den reich illustrierten Band Wilhelm Bodes, in welchem das Gartenhaus als zentraler Handlungsschauplatz und Kulisse des Dichterlebens in Weimar fungiert: W. B.: Goethes Leben in Garten am Stern. Berlin 1909 (Tb 4.5.1910, LL, D49/D56). Zu den Goetheana im Kontext von Schnitzlers Kunstbesitz vgl. Julia Ilgner/Martin Anton Müller: «My house is my Nachtkastl». Ein chronologisches Inventar der Kunstgegenstände im Besitz Arthur Schnitzlers. In: Arthur Schnitzler und die bildende Kunst. Hrsg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Würzburg 2021 (Klassische Moderne Bd. 45. Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg Bd. 7.), S. 95-151.

[145] Die Dehmels realisierten ihr Bauvorhaben auf einem Mittelgrundstück der Westerstraße, das zusammen mit einem angrenzenden Eckgrundstück, welches man für den Garten zusätzlich erwarb, unter der Adresse Westerstraße Nr. 5 firmierte. Die Umbenennung in die noch heute valide Anschrift Richard-Dehmel-Straße seitens des Altonaer Magistrats erfolgte erst im Jahr 1928 in Erinnerung an den verstorbenen Dichter. Vgl. Vogel 2019 (wie Anm. 68), S. 231-232.

[146] Vgl. ebd., S. 179. Ein fester Programmpunkt im Dehmel’schen Festkalender bildete beispielsweise der Geburtstag des Dichters am 18. November, der traditionell mit einem Martinsgans-Essen begangen wurde.

[147] Tb 23.3.1924.

[148] Tb 26.11.1911.

[149] Dehmel hatte Sonntagnachmittag (15 Uhr), den 28. Januar, auf Einladung des Akademischen Vereins für Kunst und Literatur erneut im Bösendörfer Saal gelesen. Der poetologische Vortrag über das Verhältnis von Poetizität und Musikalität in der Lyrik wurde von einer Rezitation eigener Gedichte sowie Vertonungen und gesanglichen Interpretationen begleitet. Vgl. N.N.: Theater und Kunst. In: Neues Wiener Journal, 29.1.1912, N. 6561, S. 4. Für eine ausführlichere Besprechung der Dehmel-Matinee vgl. D.B.: Tagesneuigkeiten. In: Arbeiter-Zeitung, 29.1.1912, Nr. 27, S. 4.

[150] Wie genau die Einladung zustande kam, ist nicht überliefert. Jedoch wäre denkbar, dass sie mithilfe technisch neuester Errungenschaft koordiniert wurde, denn am Vortag wurde Schnitzler ein Telefonanschluss verlegt.

[151] Tb 28.1.1912: «Nach dem Nachtmahl Dehmels (er hatte hier gelesen) und Jacob. […] Über einen Bonner Hypnotiseur und meine einstigen Versuche auf diesem Gebiet». Bei dem «Bonner Hypnotiseur» könnte es sich um Johannes Maria Verweyen (1883-1945) gehandelt haben.

[152] Dehmels Werkausgabe war in den Jahren davor erschienen: Richard Dehmel: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Berlin 1906-1909.

[153] Tb. 29.1.1912.

[154] Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. 7 Bde. Berlin 1912.

[155] Das Drama gelangte am 10. November 1917 gleichzeitig in Berlin, Dresden und Mannheim zur Uraufführung und wurde anschließend an rund 30 Bühnen, u.a. in Hamburg (hier am Thalia unter Regie von Hermann Röbbeling [1875-1949]) und Breslau, gegeben. Die Wiener Erstaufführung fand ein halbes Jahr später am 29. Mai 1918 am dortigen Deutschen Volkstheater statt.

[156] Tb 20.8.1917.

[157] Tb 15.9.1917.

[158] Die Erstaufführung fand ein halbes Jahr später am 29. Mai 1918 am Wiener Deutschen Volkstheater unter der Regie von Heinz Schulbaur (1884-1964) statt, den der Intendant Karl Wallner (1857-1935) verpflichtet hatte, um das Programm neu und moderner auszurichten. In der Titelrolle des Christian Wach gastierte Franz Kreidemann (1871-1953) vom Hamburger Schauspielhaus. Auch wenn Schnitzler einer Aufführung der Menschenfreunde nicht beigewohnt hat, wird er über die Theaterszene sowie die Presse von der Inszenierung und ihrer überwiegend leidlichen Aufnahme erfahren haben. Vgl. stellvertretend die Kritik von Oskar Maurus Fontana: Die Menschenfreunde. Ein Drama von Richard Dehmel. In: Merker 9 (1918), S. 453-454, der in der «achtbaren Aufführung» vor allem die unzureichende schauspielerische Gestaltung bemängelt.

[159] Dehmel hatte sich bereits 1914 als Freiwilliger für den Kriegsdienst gemeldet, gelangte zunächst an der französischen Front zum Einsatz, wo er sich eine Venenverletzung zuzog, bevor er 1916 nach Altona zum administrativen Ersatzdienst abgeordnet wurde.

[160] Richard Dehmel an Roger de Campagnolle, Brief vom 9.9.1917. In: Briefe II, S. 416-417, hier S. 417.

[161] Zu Schnitzlers Positionierung im Kontext des Ersten Weltkriegs vgl. Marie Kol­kenbrock: «Der gelernte Österreicher»: Arthur Schnitzler’s Ambivalent Posture of Detachment During World War I. In: Journal of Austrian Studies 51, H. 1 (2018), S. 91-116.

[162] Richard Dehmel: Warnruf. Eine Kundgebung deutscher Dichter. In: Neue Hamburger Zeitung Jg. 23, Nr. 648 A, 23.12.1918, Abend-Ausg., S. 2. Schnitzler befand sich mit seiner Absage in durchaus prominenter Gesellschaft, auch Hauptmann und Hofmannsthal verweigerten der kontroversen Initiative ihre Unterschrift.

[163] Tb 28.6.1919.

[164] Bereits am 9.11.1920 meldeten das Neue Wiener Journal sowie die Wiener Zeitung unter Berufung auf deutsche Medien den Tod Dehmels, am 10.11. folgten das Tagblatt sowie am 11.11. die Neue Freie Presse (mit einem Nachruf Raoul Auernheimers, wie Anm. 167).

[165] Arthur Schnitzler an Ida Dehmel, Brief vom 25.2.1920. In: BW digital.

[166] Die zitierte Demutsgeste, zu der sich Schnitzler offenbar wenige Jahre vor seinem Tod im Rahmen eines Gesprächs über seine diaristischen Aufzeichnungen gegenüber Alma Mahler-Werfel veranlasst sah, hat diese in ihrer Autobiographie memoriert: «“Ja, auch ich habe seit meinem fünfzehnten Jahr bis heute täglich alles Wichtige aufgeschrieben, und ich kann mich nicht entschließen, diese Tagebücher von fremder Hand kopieren zu lassen. Sie sind zu ehrlich, und ich bin kein großer Dichter”. Auf unseren Protest hin sagte er: “Nein, ich weiß, daß ich kein ganz Großer bin. Es gibt viel, viel größere Dichter als ich, aber ich glaube, daß diese Tagebücher, wenn sie einmal herauskommen sollten, sich an Bedeutung, mit den Werken der Größten messen können”» Zit. n. Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1999 [1960], S. 190 (dat. 24.3.1928).

[167] Vgl. Raoul Auernheimer: Richard Dehmel. In: Neue Freie Presse, 11.2.1920, Nr. 19920, S. 1-3, Hugo von Hofmannsthal: Reflexionen. In: Das Tagebuch 1 (1920), H. 3, S. 18, Richard von Schaukal: Richard Dehmel. In: Hochland 18 (1920-21), H. 1, S. 89-95.

[168] So veranstaltet die Burgtheater-Schauspielerin Annie Rosar (1888-1963) bereits am 26. Februar im Kammersaal des Wiener Musikvereinsgebäudes eine «Richard-Dehmel-Feier» zu Ehren des verehrten Dichters. Am 11. April folgt eine Gedenkveranstaltung gleichen Namens auf Initiative des Landesbildungsausschusses im Redoutensaal des Landes­theaters Linz. Vgl. N.N.: Theater und Kunst. In: Wiener Zeitung, 25.2.1920, Nr. 45, S. 4-5, hier S. 5, N.N.: Aus Stadt und Land. Glossen der Woche. In: Tagblatt, 4.4.1920, Nr. 79, S. 2-5, hier S. 4.

[169] Der publizistische Erfolg der Ausgewählten Briefe spiegelt sich auch in den zahlreichen Besprechungen wider: vgl. exemplarisch Gertrud Bäumer (Rez.): Richard Dehmel in seinen Briefen. In: Die Hilfe 29 (1923), S. 314. Arthur Eloesser (Rez.): Richard Dehmel. In: Das blaue Heft 3 (1921/22), S. 939-944, Hermann Sendelbach (Rez.): Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe. 2 Bde. In: Das Gegenspiel 1 (1925), S. 68, sowie Lisa Tetzner (Rez.): Briefe unlängst Verstorbener. Paula Modersohn-Becker. Richard Dehmel. In: Orplid 1 (1924), H. 7/8, S. 127-130.

[170] Den exakten Lektürebeginn verzeichnet Schnitzler nicht. Womöglich ist er auf eine Rezension Paul Franks im Wiener Neuen Journal zurückzuführen: Ders.: Richard Dehmels Briefe. In: Neues Wiener Journal, 12.3.1922, Nr. 10.182, S. 8.

[171] Tb 24.3.1922.

[172] Ebd.

[173] Tb 28.3.1922.

[174] Tb 4.4.1922: «Las Dehmel Briefe (bis 1902) angeregt zu Ende. Las das Meier Gräfe’sche Vincent – Gogh Buch, sah nochmals die Bilder durch». Vgl. Julius Meier-Graefe: Vincent. 2 Bde. 2. Aufl. München 1922 [1921].

[175] Zumal die überwiegende Mehrzahl der Briefe an Meier-Graefe auf den zweiten Teilband entfällt.

[176] Tb 29.7.1923.

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Xiaohu Jiang

(Yangzhou, PRC)

Spaces of Contrast
A Spatial Analysis of Franz Grillparzer’s «Der arme Spielmann»

abstract. Physical setting plays an important role in literary writings. After the spatial turn, scholars of literary studies also turned their eyes to the sociological significance of spatial description in literary texts. This essay presents a spatial analysis of Grillparzer’s Der arme Spielmann and argues that in this novella Grillparzer uses the contrast in space as a vital indicator of the disparity between his characters. These spatial contrasts are mainly derived from characters’ differences in terms of birth, class, wealth, education, job and so on. The difficulty of reducing those differences signifies the suffocating political atmosphere in nineteenth-century Austria.

When Der arme Spielmann was published in 1847, sixteen years had passed since Franz Grillparzer began to write this novella in 1831. Since its publication, it has been analysed and interpreted from diverse perspectives (Bernd 1988). In 1847, Adalbert Stifter acclaimed the emotional power of the tragic story of Grillparzer’s poor street musician (see Bachmaier 2002: 134-136). Richard Brinkmann (1966) analysed Grillparzer’s realistic reading and questioned how reliable the first-person narrator was when he recounted the musician’s own account of his experiences. Though the protagonist is not adept at playing musical instruments, he uses music to such an extreme that he subjectively creates a world of his own in which he isolates himself from the world, «während sein unbeholfenes Geigenspiel für die Menschen nichts anderes als das groteske Gestümper eines Verrückten sein kann» (Müller 1966: 58-59). Roland Heine (1972) analysed the protagonist’s existential crisis and his failure in terms of Zusammenhang, as disclosed from his disappointing performance of reciting Horace’s poems to his failure in establishing social relationships with other people. Focusing on the vital role of money in interpersonal relationships, Erhard Bahr (1988) held that Grillparzer used this plot to criticize contemporary Austrian society’s extreme pursuit of wealth. This sociological and historical perspective was also taken by Thomas Baltens-weiler (1999) who interpreted the water (and flooding) in Grillparzer’s novella as a vital political and historical metaphor for the bourgeois revolution.

Some scholars have noticed the role of space in Der arme Spielmann. This story stands in close relationship to the city of Vienna. As Heinz Politzer commented, «Der arme Spielmann ist eine wienerische Geschichte: Innere Stadt und Vorstadt, Augarten, Leopoldstadt, Prater und Brigittenau stellen ihren Hintergrund» (1972: 373). Besides, the economic, cultural and historical implications behind these district names are worthy of attention. Moreover, at a macro level, the spatial significance of houses, shops, business offices, warehouses and courtyards also deserves careful analysis. W. C. Reeve (1978) noticed the spatial relationship in Grillparzer’s dramas and Der arme Spielmann, and commented that the spatial contrast was a powerful social and psychological indicator, demonstrating the gap between upper and lower, order and disorder, and ideal and real.

Though it is not innovative to incorporate spatial analysis in literary studies (Sasse 2009), this essay presents a new spatial interpretation of Der arme Spielmann by focusing on the contrasts within spaces such as, for instance, the contrast between Jakob and Barbara. But before this analysis, it is necessary to give a brief account of the development of spatial studies. Georg Simmel (1950, 1995) had considered that the significance of space would recede as humankind entered to a Geldwirtschaft. In effect, space has regained its prominence with the development of post-modernism after it had been largely neglected by modernist sociologists (Schroer 2008: 129). Ever since the spatial turn (on the development of this term, see Döring 2010: 90-99), space is no longer considered a static and passive consequence produced by human beings; instead, space assumes a vital role in framing social relations. More importantly, in the second half of the nineteenth century, scholars began to probe the cultural and social implications of space, thus transcending its conventional geographical limit. Or as Stephan Günzel wrote, «Zum Inbegriff von Raumwissenschaft wird die Geographie jedoch erst, als sie beginnt, sich nicht mehr nur für den Naturraum zu interessieren, sondern als Anthropogeographie auch für den Kulturraum» (2009: 9). The role of people and their behaviour in a space was to be stressed by later sociologists.

For a long time, history is recounted as a chain of chronological events linked by causes and effects. However, Edward W. Soja stressed the equal importance of spatiality, temporality and social being, three «abstract dimensions which together comprise all facets of human existence» (1989: 25). For Soja, space is traditionally viewed as a physical, objective, inevitable and reified form, but spatiality is in effect socially based, «the created space of social organization and production» (1989: 79). Earlier than him, Michel de Certeau has written in The Practice of Everyday Life (French in 1980) that space is susceptible to human activities such as walking. Given this new understanding and consciousness of spatiality, it will be realized that spaces in which we live will play a comparable role to race, gender and nationality in terms of sustaining current social institutions. Or, in Soja’s words, those spaces will «aggravate all forms of discrimination and injustice» (2010: 19). Long before Soja, Henri Lefebvre has taken the Marxist approach and pointed out the mutual influence between social production and social space in The Production of Space (French in 1974). Lefebvre emphasized the power structure, or «the dialectical relationship between demand and command», which must not be neglected in any analysis of space, because space is «a social reality – that is to say, a set of relations and forms» (1991: 116). In other words, the command over space represents social power in daily life. Similarly, David Harvey wrote that the meanings of space and time change according to the material practices and processes of social reproduction which are mainly influenced by capitalism (1990: 204). Therefore, money, time and space «forms a substantial nexus of social power» (1990: 226). In this way, Harvey’s notion of time-space compression illuminates the profound impacts of human activity, mainly capitalism, upon time and space which had previously been considered objective and neutral existence. On the contrary, both time and space reflect social struggle.

Martina Löw writes in her book Raumsoziologie (first German edition in 2001) that «Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebenswesen und sozialen Gütern» (2012: 154). This definition puts emphasis upon the «Prozeß der Konstitution» of space (2012: 151). Her conception of social goods covers both the material and symbolic aspects. She emphasizes the importance of people in a space, because their activities and relationships will influence how newcomers to that particular space are going to perceive and understand that space. Similar to social goods, social activities have two aspects, that is, materiell and symbolisch. This distinction drawn by Reinhard Kreckel is picked up by Löw who expands it to the Handlungssituation which consists of both material and symbolic components (2012: 192). But Löw stresses that «Die materiellen Komponente sind in der Regel die Voraussetzung für die symbolischen Komponente» (2012: 193). To illustrate this point, she raises stairs as an example and argues that a stair will produce different impacts upon people’s perception of it and their behaviour in this particular situation (or space), in accordance with its material (wood or stone) and the corresponding symbolic implication (time, wealth or class).

Moreover, people do not necessarily assume a superior position over social goods during the constitution of space, in that both people and goods are elements to be perceived or defined in that space (2012: 158). Space is constituted by two different processes which usually take place simultaneously in daily life, that is, Spacing and Syntheseleistung (2012: 158-159). Spacing refers to the process of placing social goods and people; therefore, it «be­zeichnet also das Errichten, Bauen oder Positionieren» (2012: 158). Moreover, Spacing not only indicates the static state of goods and people being positioned, but also the dynamic «Bewegung zur nächsten Plazierung» (2012: 159). Unlike Spacing that functions mainly at the physical level, Syntheseleistung refers to the «Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinne­rungsprozesse»; and during this mental process, goods und people will be integrated (2012: 159).

Since Martina Löw pays particular heed to the relativistic and dynamic side of space, it is natural for her to stress the activities of humankind in space. From the two concepts of Anthony Gidden, diskursives Bewußtsein und praktisches Bewußtsein, she holds that people’s habitual activities are largely susceptible to diverse written forms of rules or laws regulating people’s behaviour (diskursives Bewußtsein) and praktisches Bewußtsein, «das das Wissen umfaßt (auch im körperlichen und emotionalen Sinne), welches Handelnde im Alltag aktualisieren» (2012: 161). Building upon an expanded understanding of Gidden’s notion of structure «als Regeln und Resourcen zu fassen, die rekursiv in Institutionen eingelagert sind» (2012: 167) und «losgelöst von Ort und Zeitpunkt» (2012: 168), Löw summarizes that «gesellschaftliche Strukturen ermöglichen raumkonstituierendes Handeln, welches dann diese Strukturen, die es ermöglichen (und anderes verhindern), wieder reproduziert» (2012: 170). Therefore, space and time structures have equivalent impacts upon people’s daily activities and mentalities as other social structures such as political, economic and legal. At the level of function, similar to other structures, space structure on the one hand will influence people’s activities; on the other hand, it must be realized through those activities. Repetitive routines will institutionalize space. For instance, in certain spaces such as a court room, lecture hall and medical consulting room, people are expected to adjust their bodily behaviour and mental state to fit with those environments. In effect, they will unconsciously prepare themselves accordingly before entering those spaces. In this way, space structure is reproduced and passed down to late- comers or generations. Accordingly, those features of a particular space, from the arrangement of furniture to the imbalance of power or social status, will be maintained.

Löw’s sociological illumination of space covers several sets of dualities, that is, social goods and people, material and symbolic, past and present. One of the most outstanding points of her theory is that it highlights the balance of both synchronic and diachronic approaches to spatial analysis. Space is not only a product of current social life but also an inheritance that the public receives from previous generations. Therefore, this essay argues that her theory will shed new light on the understanding of the spaces described in Grillparzer’s Der arme Spielmann (hereafter DAS).

This frame narrative begins with the first-person narrator’s participation at the festival in July. «An diesem Tage feiert die mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbrochener Lustreihe zusammenhängende Brigittenau ihre Kirchweihe» (DAS, 9). To go from Augarten to Brigittenau is to move along the Danube from southeast to northwest. In the eighteenth century, those places were suburbs of the still small city centre of Vienna. They protected the centre from the occasional flooding of the river. Metaphorically, they had functioned as a barrier between human civilisation and nature. However, the progress of urbanisation and expansion of the city of Vienna encroached on this area which was to be inhabited by the growing population. Historically, as a hunting ground exclusive to royal members in the seventeenth century, Augarten was opened to the public by the Kaiser Joseph II in 1775 (for a brief history of Augarten, see Berger 2004: 97-101). As the government’s endeavour to provide entertainment to its citizens, this can also be interpreted as evidence for the fact that the Austrian government began to realize the vital role that the general residents played in the country. It was this crowd that was eager to attend the festival, as Grillparzer pointed out, «und wenn Vornehmere dabei erscheinen, so können sie es nur in ihrer Eigenschaft als Glieder des Volks» (DAS, 9). Grillparzer vividly depicted this noisy and happy scene. Meanwhile, he realized the disparity between the human sphere and nature, represented respectively by this wave of participants and the Danube:

Geräusch von Fußtritten, Gemurmel von Sprechenden, das hie und da ein lauter Ausruf durchzuckt. […] Auch hier siegreich, ziehen endlich zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, sich kreuzend quer unter- und übereinander, die Donau ihrem alten Flußbette nach, der Strom des Volks, der Eindämmung der Brücke entnommen, ein weiter, tosender See, sich ergießend in alles deckender Überschwemmung. (DAS, 9)

According to Löw’s theory, a space is constituted by the arrangement of social goods and people through Spacing and Syntheseleistung. In this paragraph, the human activity, that is, the noisy movement of the first-person narrator and the public, and the flowing Danube, a natural phenomenon, form a space. If observed from a bird’s-eye view, this space presents a dynamic picture, in that inside this space two flows cross over one another. If this spatial picture is viewed as a microcosm of Austria, then it becomes clear that inside this country there are forces that cannot exist in harmony because they do not run to the same destination or work for the same purposes. If this particular geographical location can be named as Spacing in Löw’s terminology, then within this space outdoors, the noisy sound of steps and conversation from a variety of participants is easy to perceive. Resembling the Danube, which absorbs and rushes away with whatever comes into it, this flow of humankind absorbs participants different in age, gender, occupation, wealth and social fame. Not only the participants’ sound and bodies, but also their social classes, have mixed together.

While the Danube represents the material and objective fluidity of natural forces such as time, then the social hierarchy that pre-existed before those participants enter this space, can be seen as a subjective and synchronic existence produced diachronically. It is a result of the imbalance of capital and power accumulation. The hierarchical disparity and its corresponding differences in terms of social behaviour, mentality and lifestyle are defined and strengthened by diverse discourses. However, in this particular space, this disparity is temporarily suspended. But lying beside the river, which at that time was difficult for the Vienna government and citizens to control and escape from its flooding, the flowing of mixed social classes also shows signs of refusing to be hindered, a political implication or aspiration of Grillparzer that a new age shall be ushered into Austria. Thomas Baltensweiler held that «Das wilde Treiben des Volkes zeigt die Aushöhlung der Tradition an» (1999: 302). Furthermore, the two flows of humanity and nature in this space may, to a certain extent, represent the contradictory political standpoint of Grillparzer. Although he anticipated a new age in which the public could enjoy more freedom with less restrictions from its government, for instance, the freedom of publication and speech, he, as a man nostalgic for the age of Josephinism, would not want to see his motherland Austria turned upside down by radical revolutionaries who came from different social positions and fought together as a counter-force that would destroy the country whose existence had been accepted as natural for generations.

However, either before this festival (that is, before the death of the protagonist Jakob), or after it (when the first-person narrator visits Barbara after Jakob’s funeral), space and mobility are displayed through contrast. The incompatibility of spaces, or the difficulty of including different spaces, appears several times in this story. For instance, after walking slowly and with difficulty through the noisy crowd for a long time, the narrator finally arrives at the end of Augarten, but:

Hier ist nun noch ein, wenngleich der letzte Kampf zu bestehen. Ein schmaler Damm, zwischen undurchdringlichen Befriedungen hindurch­laufend, bildet die einzige Verbindung der beiden Lustorte, deren gemeinschaftliche Grenze ein in der Mitte befindliches hölzernes Gittertor bezeichnet. An gewöhnlichen Tagen und für gewöhnliche Spaziergänger bietet dieser Verbindungsweg überflüssigen Raum; am Kirchweihfeste aber würde seine Breite, auch vierfach genommen, noch immer zu schmal sein für die endlose Menge, die, heftig nachdrängend und von Rückkehrenden im entgegengesetzten Sinne durchkreuzt, nur durch die allseitige Gutmütigkeit der Lustwandelnden sich am Ende doch leidlich zurecht findet (DAS, 12).

Obviously, it is not impossible for people to walk in or out of these areas; however, the access turns out to be too narrow when more people wish to walk freely between spaces. This conflict functions also as an omen for the doomed relationship between Jakob and Barbara in terms of the gap in social status.

Social disparity exists constantly in spaces as well as activities taking place inside them, no matter how ardently and eagerly people endeavour to reduce it. The barriers built by discourses throughout history turn out to be extremely difficult to overcome. Jakob has moved from the upper class into which he was born, to the lower working class of Barbara. Unfortunately, he remains an outsider no matter how hard he tries to please those of lower class with the aim of being accepted by them. On the contrary, Barbara strives to move from her working class to a higher social status, an endeavour that is doomed after Jakob is deceived by his late father’s former secretary who steals all Jakob’s inheritance. The relationship between Jakob and Barbara also ends. In this sense, Jakob and Barbara resemble the two flows of human and river at the beginning of the story. On the ladder of social status, they move in opposite directions from the two ends of society; however, they fail to reach the point of confluence, that is, marriage, which was also a hierarchical structure organized by equally hierarchical religious and social institutions. They cannot enter the space they hope. Instead, they run as two opposite but parallel lines that will never combine, an indication that in contemporary Austrian society, it was almost impossible to overcome the social obstacles that hindered the realisation of the public’s aspirations (Nölle 1995). This is best illustrated in the spaces which are always divided into sections, for instance, Jakob’s shared bedroom.

The musician lives in Gärtnergasse. As Reeve explained, this street «is linked by its very name with down-to-earth needs and with people who earn their living from the soil» (1978: 44). The street name itself indicates a sharp contrast in living condition with the noble birth of Jakob. The curiosity of the narrator towards the mysterious Jakob is partly due to the contrasts in Jakob. One of them appears when Jakob describes his bedroom. Jakob replies that his house number is «Nummer 34 im ersten Stocke» (DAS, 18). The narrator is shocked because it is not usual for a poor man to live «im Stockwerke der Vornehmen» (DAS, 18). However, as Jakob explains, that house «hat zwar eigentlich nur ein Erdgeschoß; es ist aber oben neben der Bodenkammer noch ein kleines Zimmer, das bewohne ich gemeinschaftlich mit zwei Handwerksgesellen» (DAS, 18). Reeve interpreted this as «a discordant note between a very tangible, crude reality and aspirations towards a subjectively determined ideal» (1978: 44). At an abstract level, that bedroom is a space for the co-existence of artists and blue-collar workers which had been traditionally interpreted as incompatible since the difference between them implies disparity in terms of wealth, education, taste and class. This is especially the case given Jakob’s noble birth. Therefore he tries all means to maintain his artistic existence even when he has no alternative but to accept his meagre material condition. Therefore, he draws a thick chalk line in the middle of the co-habited bedroom and thus creates two spaces; as a result, «man kann sich kaum einen grelleren Abstich von Schmutz und Reinlichkeit denken, als diesseits und jenseits der gezogenen Linie, dieses Äquators einer Welt im Kleinen, herrschte» (DAS, 21). When he uses fantasy while playing music, with the result that both the narrator and the festival participants find his performance intolerable (DAS, 20), he again relies on his fantasy to separate him from his poorly educated room-mates whose things are kept in total disorder. The difference in the way the musician and his artisan room-mates arrange their belongings also makes clear the outstanding contrast between them, an indication of their different outlooks on life derived mainly from their birth, education and career. In line with Löw’s theory, this process of Spacing, together with the visual perception of the narrator (a process of Syntheseleistung), constitutes the particular space of the musician’s bedroom. The bedroom, as a container, is divided into two sub-spaces. The chalk line drawn by Jakob is an imaginary wall separating his artistic world from the rest of the world. Like the two flows of festival participants and river, and the two zones with a narrow access at the end of Augarten, Grillparzer creates again a space of antithesis, in which people’s activities form the basis for this contrast and contradiction. But this time, Jakob’s space in the world is even more vulnerable and easily accessible out of the sheer fact that he does not have a space of his own at all in reality. In this way, Grillparzer further highlights the protagonist’s incompatibility with the world and his peculiar and extreme tendency of dealing with real society through fantasy and imagination.

The contrast between Jakob and Barbara is best illustrated spatially as antitheses between music and word, dark and light, upper and lower. For instance, when Barbara is able to sing a song, that is, with the proper combination of both tune and lyrics (or words), Jakob is only fascinated with the melody (DAS, 33). The barrier that makes them incompatible includes glass and staircase at the physical and spatial level, to be analysed in the following sections. More fundamentally, they set off in opposite directions. While Jakob enjoys helping at the grocery of Barbara’s father, Barbara dislikes it because what she aspires to is a marriage that will raise her into a higher social status and better fortune. In other words, Jakob steps down whereas Barbara strives to move up. This metaphorical implication is conveyed by Grillparzer through space full of details that might be easily ignored.

As Jakob recalls his first visit to Barbara’s grocery (also her and her father’s home), «Ich nahm mir ein Herz und ging eines Abend – auch diesmal ohne Hut – aus meinem Zimmer die Treppe hinab und festen Schrittes durch die Gasse bis zu dem Grieslerladen» (DAS, 35). Jakob’s decision to visit without his hat, a symbol of his birth and social status, indicates his awareness of social disparity. Moreover, the detail of body movement, spatially down the staircase, clearly demonstrates an act of descending to the lower class to which Barbara belongs. As Jakob sees and hears, «Der Laden war erleuchtet, und ich hörte Stimmen darin» (DAS, 35). While he walks and hesitates at the grocery’s door in loneliness and darkness, Barbara sits indoors under light, laughing with her companion, the butcher who will marry her after the fall of Jakob’s family. «Nach einigem Zögern beugte ich mich vor und lugte von der Seite hinein» (DAS, 35). Soon Jakob is pushed further inside by Barbara’s father who returns home at that very moment. The entry of Barbara’s father is characterized by noisy activities:

Element! Schrie er, da sieht man, wo die Pflaumen hinkommen und die Handvoll Erbsen und Rollgerste, die im Dunkeln aus den Auslag­körben gemaust werden. Da soll ja gleich das Donnerwetter dreinschlagen. Und damit ging er auf mich los, als ob er wirklich dreinschlagen wolle. (DAS, 35-36)

The activities or bodily movements of four persons inside the narrow space of the grocer’s shop again form a contrast:

Ich sah das Mädchen hart vor dem Ladentische am Lichte sitzen und in einer hölzernen Mulde Erbsen oder Bohnen lesen. Vor ihr stand ein derber, rüstiger Mann, die Jacke über die Schulter gehängt, eine Art Knittel in der Hand, ungefähr wie ein Fleischhauer. Die beiden sprachen, offenbar in guter Stimmung, denn das Mädchen lachte einigemale laut auf, ohne sich aber in ihrer Arbeit zu unterbrechen oder auch nur aufzusehen. (DAS, 35)

The isolated and silent Jakob trembles, hesitates and has difficulty in standing upright because he constantly bends forward with his body. On the contrary, the butcher, with his robust body and a short stick in hand, Barbara busy with selecting beans (self-evidently by her fingers and hands), and her father with his strength and powerful voice, stand close to one another and have loud verbal communication. Specifically, these three persons are from the lower working class and have their occupation at hand and a clear vision in life. While well-born Jakob does not experience the pain of poverty (at least at that time), the other three must work hard to make a living by their own hands. This explains why Grillparzer gives a detailed description of the hands or hand movements of the butcher, Barbara and her father. The butcher is holding a stick in his hand; Barbara is selecting beans with her hands; and her father, as Jakob recalls, «als ich mich plötzlich von rückwärts mit derber Hand angefaßt und nach vorwärts geschleppt fühlte» (DAS, 35). Therefore, in this space there co-exist the antitheses between artistic spirit and material pursuit, silence and speech, weakness and robustness, desolation and brightness, isolation and community, hesitation and determination, naivety and sophistication.

The relationship between Jakob and Barbara is doomed to failure, a fact that is spatially implied. Whenever Jakob and Barbara appear in the same room, Barbara either intentionally neglects or avoids Jakob, or she scolds him for various reasons, for instance, his clumsiness while dealing with customers at the grocery (DAS, 43), or when criticising his character as too weak and feminine (DAS, 45). The rarely seen moments of intimacy and care end with spatial barriers between them. The first occasion happens when Jakob wanders aimlessly to the grocery after he becomes the sole inheritor of his father’s fortune. Through years of experience of selling cakes at the Kanzler café and dealing with various customers, Barbara understands the difficulties and dangers of real society. She predicts correctly that more greedy eyes, including her father’s, are now focused on Jakob since his inheritance. Therefore, when Jakob walks out of the grocery and stands still in the street, he hears someone shouting, «Trauen Sie nicht gleich jedermann, man meint es nicht gut mit Ihnen» (DAS, 41). Though assuming correctly that it is Barbara’s voice, he cannot see her because Barbara is closing the window of her home, through which she gives this warning out of concern that he will be cheated by avaricious and scheming people. However, this expression of concern is conveyed with the window between them, thus separating them into two spaces.

The second scene of intimacy that ends with a barrier isolating them into two spaces is the famous kiss which Jakob gives Barbara through the glass door (DAS, 45). This kiss is interpreted by Reeve as «his [Jakob’s] ineffectiveness in life and the resultant inappropriateness of their possible union» (1978: 47). However, the activities of Jakob and Barbara before this kiss deserve more detailed analysis. Jakob steps unintentionally into the Hinterstube, which he should not enter because it is also Barbara’s and her father’s bedroom. While busy with finding things from shelves, Barbara is singing Jakob’s favourite song. Jakob is so overwhelmed by it, «ein Gesang der Seelen» (DAS, 44), that he cannot help but embrace Barbara from behind. Barbara is shocked and slaps Jakob heavily. However, this does not humiliate Jakob. Instead, his reaction, which feels like being struck by a thunderstorm and with lights dancing before his eyes, is almost an enjoyment as sublime as religious enlightenment: «Ich stand wie vom Donner getroffen. Die Lichter tanzten mir vor den Augen. – Aber es waren Himmelslichter. Wie Sonne, Mond und Sterne; wie die Engelein, die Versteckens spielen und dazu singen» (DAS, 44).

Perhaps as a gesture of redemption out of her complex emotion towards Jakob, she then gives Jakob a kiss on his check. While the grocery is a public area for business, this Hinterstube is a private realm for physical and mental relaxation. In this intimate and narrow space, the contrast between Jakob and Barbara is evident. What drives Jakob to action, such as his following Barbara and embracing her, appears to be artistic and spiritual, and his reaction towards Barbara’s behaviour also turns inward, that is, his illusory mental vision. Nevertheless, the sensual and sexual implication is simultaneously hidden in his illusion and music.

On the contrary, Barbara’s activity in this room shows more physical strength in a more outward manner, as indicated by her looking for things on a high shelf, singing a song, shaking her body free from Jakob’s embrace, and giving him a heavy slap. For an observer, it is easy to see, hear and feel the bodily movement and emotion of Barbara, thus reflecting the connection that Barbara maintains with society. On the other hand, no one is able to perceive Jakob’s turmoil of emotion because he keeps it inside himself, which undoubtedly cuts him off from the world and makes him a stranger to his surroundings. According to Martin Swales, «this split between the inward (Innen) and the outward (Aussen) […] ultimately destroys his relationship with Bar­bara» (1977: 115). To put it in another way, in light of Löw’s emphasis upon Spacing and Syntheseleistung, that is, the two processes of physical movement and mental perception, Barbara plays physically and outwardly a dynamic role in the space, whereas Jakob appears, comparatively speaking, more static and difficult to be discerned.

This pattern of contrast and antithesis is sustained in the scene when Barbara brings Jakob’s clothes back to him. Through Jakob’s reminiscence, the narrator learns what Barbara does and says in the space of Jakob’s room. She walks into the room with a basket under her arm, stands at the centre of the room, looks around the cold walls, sighs deeply, opens the drawer, puts Jakob’s clothes inside it in good order and bursts into tears after slowly closing the drawer and sitting beside the wardrobe (DAS, 50-51). In this space that has witnessed the glory and fall of a rich family, Barbara sees, touches and feels. She is active in it. More importantly, her emotion of sadness is fully expressed by her bodily movement and words. Her understanding of real society is partly spatial, as is demonstrated by her spatial words when she tells Jakob the depressing fact that «Ich muß nun hinaus unter die grobe Leute, wogegen ich mich so lange gesträubt habe» (DAS, 51. My emphasis).

During this process, when Barbara expresses her emotion in a more outward manner, Jakob is mostly too feeble to move or react. Even when he does react, his movement is quiet and light as «Ich [Jakob] war leise in ihre Nähe getreten und faßte ihre Hand» (DAS, 51). As he recounts, «Mir war, als hätte ich Blei in den Gliedern» (DAS, 51). Only when Barbara is leaving is Jakob able to regain his strength. The spatial disparity, indicating the contrast between Jakob and Barbara, reaches its climax:

Ich eilte ihr nach, und auf dem Treppenabsatze stehend, rief ich ihr nach: Barbara! Ich hörte, daß sie auf der Stiege stehen blieb. Wie ich aber die erste Stufe hinabstieg, sprach sie von unten herauf: Bleiben Sie! und ging die Treppe vollends hinab und zum Tore hinaus. (DAS, 51)

Jakob’s calling to Barbara is the only verbal utterance that he delivers from the time when Barbara steps into his home and is about to leave. At least, this will be the conclusion that the narrator and the readers will draw from Jakob’s own recollection.

The role of spatial structure in influencing people’s mentality becomes evident. This structure functions simultaneously with other structures including class and gender. The class disparity between Jakob and Barbara has already demonstrated its impacts upon their ways of dealing with society. With regard to gender, the unfavoured position of Jakob in his once rich family has robbed him of his self-confidence, and his adherence to his music and his own fantasy makes him appear even more introverted and timid; as a result, externally, he does not demonstrate the conventional form of masculinity. By contrast, the difficulty of earning a living forces Barbara to be tough, vigilant and occasionally aggressive, and those traits are traditionally not deemed feminine. Their position at different ends of a staircase reflects their contrast in terms of birth, education, habitat, modes of behaviour and mentality. Superficially, Barbara’s advice here is spatial, that is, suggesting Jakob should remain at the top of the staircase. But at a more profound level, Barbara knows only too well that Jakob cannot survive in the materially-driven working class to which she belongs. Barbara’s spatial conception of Jakob is correct, and her last spatial suggestion is vital. Jakob’s inheritance has been stolen by a fraudster because he failed to pay full attention to Barbara’s advice of not trusting people easily; similarly, when Jakob does not follow her advice to stay at the top of the staircase, thus maintaining his usual habit of being an inactive participant in space, he loses his life in a flood when he goes down to save the children and banknotes (DAS, 55-56).

Jakob and Barbara can never reach a long-term spatial co-existence at the same level, because of their diverse antitheses analysed above. In particular, Barbara holds that Jakob must stay isolated spatially from other people. This is again implied by the three objects, that is, the guitar, the mirror and the crucifix, which hang in a kind of symmetry on the wall of Barbara’s home with her husband, the butcher. The symmetry formed by three different objects clearly indicates the isolation of one thing from another (or the lack of Zusammenhang), while they represent the three features of Jakob: his musical pursuit (the guitar), his inability to observe, learn and work by imitation, his tendency to extreme self-concentration (the mirror), and his religious piety (the crucifix). In this way, physical objects function symbolically as records of personality and temporality, namely, the whole life of Jakob. Furthermore, Barbara’s daily activity in this space, beneath these three objects, continues without too much turmoil. But once, when she takes the guitar down and wipes away the dust, her extreme emotion bursts out in a flood of tears (DAS, 57). Whenever she is too close to Jakob spatially, she cannot control her emotion. That is why she can give Jakob suggestions in a calm manner when she and Jakob stand at different ends of a staircase, but she weeps with heavy sighs when he sits beside her (DAS, 51).

For a spatial analysis, social goods, people, the material and symbolic sides of space, and its process of constitution are of equal significance. More profoundly, these factors can only be fully understood by grasping the diverse discourses, both written and unwritten, which have shaped and influenced a society. This is well reflected in Grillparzer’s spatial descriptions in Der arme Spielmann. Apart from the physical environment of a space, Grillparzer pays heed to his figures’ activities within it. And those activities, including bodily and verbal, usually divide the space into contrasting sub-spaces, thus demonstrating the antitheses between figures. The spatial structure, together with other structures, is one of the fundamental reasons for the doomed relationship between Jakob and Barbara. In this sense, space reflects people as well as the complex interpersonal relationships, its dramatic tension largely derived from their disparities diachronically formed by the society in which they are born.

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Teresa Vinardell Puig

(Barcelona)

Wien als Blickgewebe
Überlegungen zu Veza Canettis «Die Gelbe Straße»

[Vienna’s interwoven glances. On Veza Canetti’s «Die Gelbe Straße»]

abstract. The following article is focused on the importance of visual perception in Veza Canetti’s Die Gelbe Straße. The novelist portraits a Viennese microcosmos as a fabric in which glances are tightly interwoven, representing an urban way of life that, due to its complexity, demands sharp attention and cunning strategic behaviour from everybody. Canetti aims to challenge all the clichés which praised Vienna as an anti-modern, idyllic capital city, characterizing it as deeply rooted in history and art, and thus more humane. Her novel opposes this idealized vision of her hometown by revealing the pitiless nature of its inhabitants. The multiple ways of looking which may be detected on one street mostly reflect different forms of exerting power in society.

Keine Vedute. Stadt und Blick

Seit Ende des 17. und besonders im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden Städte oder Stadtteile in sogenannten Veduten porträtiert, die so wirklichkeitsgetreu wie möglich zu sein beabsichtigten. Im Unterschied zur vorhergehenden Landschaftsmalerei handelte sich dabei um keine stark idealisierte oder gar erfundene Szenerie, die menschliche Handlung in irgendeiner Form einbettete und erst recht zur Geltung brachte. Die Künstler, die sich dieser neuen Gattung widmeten, setzten sich zum Ziel, dass man aus ihren Gemälden heraus hauptsächlich eine Landschaft oder ein Stadtpanorama mühelos wiedererkennen könne. Dem rationalen Geist der Aufklärung gemäß, versuchten sie zum ersten Mal städtische oder ländliche Umgebungen auf eine objetive und naturgetreue Art und Weise darzustellen[1].

Anders als die meisten Vedutenmaler, scheint Veza Canetti in ihren Romanen und Erzählungen keinen Wert auf die Loslösung des Räumlichen vom menschlichen Tun und Handeln zu legen. Bei ihr fußt die Wiedererkennbarkeit des dargestellten Milieus fast ausschließlich auf dem Unverwechselbaren des Menschen und auf den in Wien üblichen Umgangsformen. In Die Gelbe Straße erwähnt Veza Canetti Wien zwar nirgends ausdrücklich, verstreut aber darin mehrere Einzelheiten, die deutlich auf die österreichische Hauptstadt hinweisen – topographische, wie den Volksprater und den Donaukanal, aber auch sprachliche, wie einige Austriazismen oder die dialektale Färbung in der Ausdrucksweise mancher Figuren. Deren soziale Konstellation ist so beschaffen, dass ein breites Spektrum von überwiegend kleinen Leuten (armen Waisenkindern, Dienstmädchen, Angestellten …) bis hin zu Großbürgern und Aristokraten vertreten ist[2]. Die Handlung führt in das meist karge Leben einer fiktiven Straße der Wiener Leopoldstadt, die dem Roman seinen Titel verleiht und die in ihrer Atmosphäre laut Elias Canetti große Ähnlichkeiten mit der Ferdinandstraße zeigte, in der die Autorin jahrelang gelebt hatte[3]. Deren Einwohner werden als «Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte» bezeichnet[4]. Das dort herrschende Gefälle zwischen Armen und Wohlhabenden, Unterdrückten und Unterdrückern, Frauen und Männern wird sozialkritisch beleuchtet; Macht- und Gewaltverhältnisse, klar umrissen, treten in privaten oder halb-öffentlichen Räumen (Geschäften, Kaffee- und Treppenhäusern …) besonders deutlich hervor. Das Moment räumlicher und sozialer Mobilität wird manchmal aufgegriffen, denn die «Gelbe Straße» ist ein Transitort für Waren und Menschen[5]: Darin auftretende Figuren sind Einsässige, Besucher und Kunden. In ihrer Vielfalt besitzt ihre sprachliche Kennzeichnung eine Stellvertreterfunktion: Die porträtierte Straße ist als «Großstadt in Miniaturform» aufgefasst worden[6], obwohl die dort waltende Atmosphäre mitunter eher kleinstädtisch-familiär wirkt. Wenn man das sich dort abspielende Leben durch das Vergrößerungsglas der Erzählung beobachtet, so werden viele Einzelheiten als Symptome weitreichender sozialer Pathologien lesbar, die für die gesamte Stadt bezeichnend sind.

Die Schärfe und Unerbittlichkeit des physiognomischen Blickes von Veza Canetti hat bereits Alexandra Strohmeier gewürdigt:

Die Körper der Figuren in den Texten Veza Canettis sind durch eine augenfällige Zeichenhaftigkeit charakterisiert, an ihnen scheint sich eine semiotische Vorstellung von Körper als Träger von Zeichen zu materialisieren, wie sie im physiognomischen Diskurs der 20er Jahre dominiert und im Stummfilmkino mit seinen (historisch und medial) bedingten diskursiven Beziehungen zur Tradition der Groteske performativ inszeniert wird.[7]

Auch Julian Preece hebt die Faszination hervor, die sowohl Veza als auch Elias Canetti für den Sehsinn empfanden: Bei ihr steht Kurzsichtigkeit oft für den Egoismus der Mächtigen, ihr Mann bildet die Conditio humana als eine unheilbar geblendete ab[8]. In Die Gelbe Straße steht der Blick also nicht nur als eine Metapher für Aufmerksamkeit, Prägnanz und Scharfsinn der Erzählerinstanz[9], sondern wird auch thematisiert. In ihrem Roman stellt die Autorin den Wiener Mikrokosmos als ein Blickgewebe dar, in dem Blicke eine großstädtische Lebensweise signalisieren, die ein besonders ausgefeiltes strategisches Benehmen erfordert. In der Großstadt werden die zahlreichen, oft nur flüchtigen zwischenmenschlichen Beziehungen mit einem spürbaren Sinn für Ökonomie gehandhabt. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts stellte Georg Simmel in seinem berühmten Aufsatz «Die Großstädte und das Geistesleben» fest, dass die anfangs nur in Städten gängige Geldwirtschaft sich dort langsam auf den gesamten Raum menschlicher Relationen übertragen und darin weitreichende Folgen hinterlassen habe:

Das Wesentliche auf wirtschaftspsychologischem Gebiet ist hier, daß in primitiveren Verhältnissen für den Kunden produziert wird, der die Ware bestellt, so daß Produzent und Abnehmer sich gegenseitig kennen. Die moderne Großstadt aber nährt sich fast vollständig von der Produktion für den Markt, d.h. für völlig unbekannte […] Abnehmer. Dadurch bekommt das Interesse beider Parteien eine unbarmherzige Sachlichkeit, ihr verstandesmäßig rechnender wirtschaftlicher Egoismus hat keine Ablenkung durch die Imponderabilien persönlicher Beziehungen zu fürchten. Und dies steht offenbar mit der Geldwirtschaft, die in den Großstädten dominiert, […] in so enger Welchselwirkung, daß niemand zu sagen wüßte, ob zuerst jene seelische, intellektualistische Verfassung auf die Geldwirtschaft hindrängte oder ob diese der bestimmende Faktor für jene war. Sicher ist nur, daß die Form des großstädtischen Lebens der nährendste Boden für diese Wechselwirkung ist […][10]

Simmel hebt hervor, der ununterbrochene Wechsel äußerer und innerer Eindrücke intensiviere bei Großstädtern das Nervenleben. Die «rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen» würden für ständige Erregung sorgen und einen Großteil des menschlichen Bewusstseins verbrauchen[11]. Man versuche, extreme Ermüdungserscheinungen, die dieser Steigerung Folge leisten und «Blasiertheit» hervorrufen würden, durch Zurückhaltung vorzubeugen. Der Preis, den dieses Phänomen der gesteigerten Reizanhäufung auf der emotionalen Ebene zu zahlen habe, sei praktisch die Ablösung des Gemütes durch den Verstand, der kühler und distanzierter auf die Außenwelt reagiere und somit laut Simmel als ein «Schutzorgan gegen die Entwurzelung» fungiere, mit der die «Strömungen und Diskrepanzen» des «äußeren Milieus» den Großstadtbewohner bedrohen würden[12]. Bei aller Distanz zum Urbanen gibt Simmel aber zu, dass die Intensität großstädtischer Stimulation und besonders auch der Wunsch, sich von der Masse abzuheben, geistig aufweckend sein könnten[13].

Der Wunsch nach Übersichtlichkeit

In einer höchst komplexen Umwelt, die sich durch unterschiedliche, zum Teil einander widersprechenden Hierarchien kennzeichnet, wird der Gesichtssinn besonders stark in Anspruch genommen. Über ihn ließe sich, so David Le Breton, allgemein behaupten, dass er im Unterschied zum Gehör beweglich und selektiv sei[14]. Somit sei er fähig, visuelle Landschaften ausgiebig zu untersuchen oder nur zu überfliegen.Der Blick könne sich sowohl beliebig entfalten, um Fernliegendes panoramisch wahrzunehmen, als auch sich in allernächste Nähe fokussieren, um möglichst viele Einzelheiten zu erfassen. Übersichtlichkeit sei für die meisten Menschen eine wichtige Bedingung zum Handeln; der Sehsinn schenke ein schlüssiges Bild des Raumes, der Menschen und Objekte, die sich darin verteilen würden, und der Art und Weise, wie sie aufeinander bezogen seien. Allerdings sei das Sehvermögen ohne den Tastsinn verstümmelt, denn beide würden sich in der räumlichen Wahrnehmung ergänzen. Die sprichwörtliche Verbindung von Sehen und Begreifen beruhe also auf einer empirischen Basis (Sehen und Greifen) und weite sich dann im übertragenen Sinn auf die geistige Ebene aus. Goethes berühmtes «fühlende[s] Aug’» bezieht sich zwar auf einen stark erotisierten Blick, könnte aber im urbanen Kontext auch die semantische Nuance der Distanz erhalten, wenn es nicht gerade wie in den Römischen Elegien durch eine «sehend[e] Hand» ergänzt wäre[15]. Anstelle von Berührung, bei der man durch die eigene Präsenz immerhin auch etwas riskiert, neigt man in der Großstadt zur viel abgesicherteren Beobachtung, die nicht auf voyeuristische Schaulust verzichtet und weniger aufreibende Nähe erfordert. Den Blicken, die Veza Canetti mit großer Insistenz darstellt, mangelt es meistens an Empathie. Sie zeugen jedenfalls kaum von einem dahinter wirksamen Anspruch des Verstehen-Wollens, es sei denn, dass dahinter kühle Berechnung auf einen Gewinn lauert. Dass in diesem «Augenspiel» Unwissende oder Naive den Kürzeren zu ziehen pflegen, versteht sich von selbst. Manche kommen dabei zu lebenspraktischen Erkenntnissen.

Wiener Blicke. Ein kleines Panorama

Während man in kleineren Gemeinden scharf zwischen Fremden und Nachbarn oder Bekannten unterscheidet und Misstrauen hauptsächlich ersteren gilt, sind die Blicke in der Großstadt im allgemeinen prüfender. Veza Canettis Roman scheint die Klischees endgültig widerlegen zu wollen, die Wien als eine historisch tief verwurzelte, antimoderne und dadurch menschlichere Kunststadt stilisierten. Konservative, kulturpessimistisch orientierte deutsche Soziologen, wie etwa Werner Sombart, hatten bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts die Wiener Idylle gegen ein amerikanisiertes Berlin ausgespielt[16]. Wohl wird in Canettis Roman die Vielfalt der Lebensformen angedeutet, die Wien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer noch als eine besonders heterogene Metropole charakterisierte, während sich andere Großstädte schon lange einer wachsenden Tendenz zur Homogeneität angepasst hatten. In seiner Analyse der Diskurse und der Erfahrungen, die die europäischen Städte der Moderne prägten, hebt David Frisby Wiens Reichhaltigkeit hervor:

The «suburbs of… language» actually comprised different languages and forms of life within its boundaries based upon the migration of diverse nationalities from the Austro-Hungarian Empire. If we add this ethnic and linguistic diversity to the segmentation of social class groupings and, in turn, the gendered access to the public sphere, then Vienna reveals itself to be a much more heterogeneous metropolis than either Paris or Berlin.[17]

Innerhalb der Leopoldstadt, das jüdischste Viertel der Stadt, war laut Ruth Beckermann diese Heterogeneität besonders deutlich zu sehen: «Hier lebten nicht nur die Religionen, sondern auch die Klassen eng zusammen. […] Ihre Bevölkerung läßt sich nicht soziologisch oder ethnisch in ein gemeinsames Konzept zwängen»[18].

Veza Canetti legt aber die Gier nach Reichtum, Macht oder Ruhm als eine Kraft bloß, die in Wien die große Mehrheit aller Beziehungen praktisch auf denselben Nenner bringt. Blicke bringen diese Habsucht unmittelbar zum Ausdruck: «Der Hausbesorger sah die Goldstücke, und die Goldstücke sehen und nach ihnen greifen war eins»[19]. Im Roman werden Menschen bloß auf ihre Arbeitskraft hin erwogen und als Objekte ihrer Würde beraubt. Eine nicht näher genannte «Gnädige» etwa sucht bei der Stellenvermittlerin Hatvany eine Hausgehilfin und stellt eine ganze Reihe absurder Bedingungen, die sofort ihre arbiträre und rücksichtslose Haltung gegenüber jeder möglichen Arbeitnehmerin bloßlegen. Wenn man ihr am Ende ein junges Mädchen vorstellt, das ihren Wünschen gemäß nicht aus dem Burgenland stammt und nicht Anna heißt, bezweifelt die Dame ohne jegliche Politesse, dass es für den Posten geeignet sei: «Ist sie nicht zu schwach? Zeigen Sie einmal Ihre Beine her!»[20]. Zur Norm erhobener Mangel an Respekt –und nicht nur von Seiten der Arbeitgeberinnen–, häufige Demütigungen, die in der Art, in der man jemanden anschaut, nur eine ihrer Ausdrucksformen finden, wirken sich bei den jungen oder älteren Frauen, die bei der Hatvany auf eine Stelle warten, direkt in ihrem Gesicht aus: «Der Verräter an den Mägden ist ihr Blick. Die Wahrheit darin ist verschüttet, das Ziel ist ausgepeitscht. Sie wissen nicht, daß nicht sie sich erniedrigen. Und nur zuweilen ahnen sie es»[21]. Die Erzählinstanz ergreift Partei; Veza Canettis Aufmerksamkeit auf visuelle Signalisierung und Wahrnehmung weist nicht zuletzt auf die Skrupellosigkeit, die Wien aller hauptstädtischen Selbstzufriedenheit zum Trotz kennzeichnet. Sie spricht zwar den Dienstboten ab, «die Wahrheit über sich selbst im Blick zu äußern», aber indem sie auf die Möglichkeit eines Ahnens deutet, lässt sie dennoch einen kleinen Spalt für eine «Epiphanie einer Spur zu einem ganz neuen Wissen über sich selbst»[22].

Fleischliche Begierde wird von Veza Canetti als ein lediglich nach Besitz gerichtetes Verlangen dargestellt und erhält demzufolge eine negative Konnotation[23]. Blicke versuchen begehrenswerter Dinge oder Menschen habhaft zu werden. Jemanden zu erblicken ist nie belanglos, denn Blicke sind zwar immateriell, aber sie wirken sich symbolisch aus. Unter Umständen können sie sogar bei dem oder der Erblickten physische Reaktionen hervorrufen: Erröten, beschleunigter Atem oder Herzklopfen sind dabei bekanntlich nicht seltene Symptome. Der Blick ist tatsächlich eine Form des Kontakts[24]. Emma, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das bereits einmal von der Stellenvermittlerin Hatvany für einen überaus dubiosen Posten weiterempfohlen worden war, versucht die Absichten ihrer neuen Arbeitgeberin, Frau Vaß, zu durchschauen. Angeblich möchte sie das Mädchen für die Garderobe eines Klubs engagieren. Wie es sich herausstellen wird, sind Emmas Zweifel alles andere als unbegründet. Frau Vaß’ Bruder, der Bankier Schleier, «ein alter Kater im Frack, steifen Hemd mit Brillantknöpfen und mit gelb gefärbtem Schnurrbart»[25], hat ein erotisches Faible für Teenager[26]:

«Bist du schon vierzehn?» fragte der Kater und seine Lippen trieften. […] Die Emma sah auf das Lächeln der Frau Vaß und auf die pfiffig stechenden Augen des Herrn vor ihr, es lag so viel Überlegenheit in den Blicken der beiden, daß die Emma auf dem Sessel sitzen blieb wie festgebannt, obwohl sie gerne davongelaufen wäre.[27]

Arroganz hat hier mit der Verachtung von Unschuld zu tun. Dass jemand sich weigert, sich zu verkaufen, stößt in diesem Kontext bei denen, die sich daraus einen Gewinn erhoffen, auf Unverständnis oder gar Empörung. Aber interessanterweise gibt Veza Canetti im gleichen Zug diesselbe Haltung bei denen zu erkennen, die schon den Entschluss gefasst haben, sich selber einen Preis zu setzen und im neuen Mädchen eine mögliche Konkurrentin sehen, deren Unwissenheit nicht allzu gefährlich für ihr Geschäft scheint: «Die Frauen hatten die Emma erblickt und jetzt sahen sie mit jener rätselhaften Überlegenheit drein, die die Emma so einschüchterte»[28].

Libidinöse Blicke stellt Veza Canetti also negativ dar. Ihre eigenen Vorurteile im Bereich der Sexualität, weitgehend mit denjenigen ihrer Zeitgenossen identisch, werden dabei ersichtlich. Weibliche Begierde erhält den Anschein einer lächerlichen Zudringlichkeit, die Männer nach dem Motto «Man merkt die Absicht, und ist verstimmt» abweisen können. Obwohl gesellschaftliche Kontrolle in der Großstadt im Vergleich mit derjenigen in einer kleinen Gemeinde relativ gering ist, bleibt darin die Ökonomie der Blicke patriarchalisch gefärbt. Die Kohlenfrau etwa sehnt sich wollüstig nach dem Angestellten Alois und versucht erfolglos auf eine sehr direkte Art, seine Blicke auf ihren Körper zu lenken: «[…] sie hob die kohlengeschwärzten Armschinken und riß die Bluse von ihrem dicken Busen weg. Der Alois hätte hinein fallen können, aber er wollte nicht»[29]. Ihre Fleischeslust scheint groß zu sein, denn auch den Dichter Knut Tell schaut sie «lüstern» an und sie «watschel[t] geil» hinter dem Lederhändler Koppstein her[30]. Die feinere «Gnädige» gibt ihren erotischen Neigungen auf eine unauffälligere Art nach: sie sieht den Dichter so an, «daß er ihr Oval von der vorteilhaftesten Seite» sehen kann, und versucht auf diese subtile Weise seine Begierde zu steuern[31]. Als Vertreterin der Bourgoisie legt sie großen Wert darauf, sich dem gängigen Code der Verführung anzupassen, in dem Zurückhaltung als eine Form der Eleganz angesehen wird.

Was weibliche Begierde anbelangt, schützt Vornehmheit im Roman allerdings keineswegs vor Lächerlichkeit. Mizzi Schadn, eine hübsche junge Frau, die bei der Hatvany auf ihre künftige Stelle wartet, wird von einer eintretenden Baronin so angeschaut, als wäre sie «eine auferstandene Tote aus dem engsten Familienkreis»[32]. Die Aristokratin lässt die Augen nicht von ihr ab, fordert sie auf, sofort in ihren Dienst zu treten, bietet als Monatslohn die unübliche Summe von achtzig Schilling an, und chauffiert Mizzi zu ihrem neuen Heim, nachdem sie die Stelle angenommen hat. Ihr Glück empfindet Mizzi als eine Fiktion, als ein Ding der Unmöglichkeit, das sie anfangs spielerisch genießt, obwohl oder eben weil es sich bald als grundlos erweisen könnte[33]. Dies trifft auch zu. Bald wird es offensichtlich, dass die Baronin, von Mizzis Schönheit angezogen, von ihr Dienste besonderer Art erwartet. Mizzi solle mit ihr schlafen, denn so viel Geld bekomme sie schließlich nicht umsonst:

Und gerade in diesem Augenblick geschah das Ungeheuerliche. Im Nachtgewand trat nämlich die Baronin ein und legte sich zu ihr ins Bett. // Die Mizzi sah es erschrocken mit an, doch verlor sie auch sogleich den Respekt vor solch einer Dame. // […] «Lassen Sie mich», bat die blasse Baronin bebend, «[…] Sie sind so schön! […]» Ihr Körper zitterte mitleiderregend. // Die Mizzi aber war über das Lob ihrer Schönheit nicht ein bißchen geschmeichelt. Denn wenn es verkehrt kommt, freut es einen nicht.[34]

Die Behauptung der Erzählinstanz verliert hier den sozialkritischen Ton, den diese Episode im Großen und Ganzen kennzeichnet, und erhält einen prüden und entschieden homophoben Beigeschmack. Dadurch, dass die Baronin am nächsten Morgen immer noch «unaufhörlich» die Schönheit ihrer Bediensteten preist[35], gewinnt Mizzi neue Einsichten in bisher ungeahnte Formen der Macht, die für sie jetzt plötzlich erreichbar scheinen. Trotz ihrer bescheidenen Herkunft und ihrer untergeordneten sozialen Stellung könnte Mizzi in Zukunft vielleicht von ihrer Ausstrahlung Gebrauch machen. Mizzis Blick auf die Welt und auf sich selbst hat sich allem Anschein nach verändert: «Und da geschah es, daß die Mizzi Schadn ihren weglosen Blick verlor, als sie die feine Baronin im Atlaskleid noch ein letztes Mal um ihre Gunst betteln sah, um die Gunst der Mizzi Schadn aus Stuben im Burgenland»[36]. Der Weg, den Mizzis Blick im Haus einer Wiener Baronin erkannt hat, führt anscheinend in das Dickicht eigennütziger Beziehungen.

Der verarmten Fabrikantengattin Andrea Sandoval, die als Pianistin im Café Planet ihr Lebensunterhalt verdient, entgeht der «flackernd[e] Blick» ihres Chefs auch nicht, und ebensowenig seine «Zweideutigkeiten»[37]. Aber Frau Sandoval weiß sich dagegen zu wehren. In einem Gespräch mit ihrer begabten Tochter, der Bildhauerin Diana, beteuert sie, ihre Strategie bestehe darin, in Tigers Rede nur die Deutung zu verstehen, die ihr «gemäß» sei, worauf Diana ihr vorwirft: «Du siehst nur dich in den andern wieder, Mutter»[38]. Narzissmus erscheint unter diesen Umständen als eine Überlebensform; mit etwas List vermengt[39], bietet er eine Möglichkeit, sich vor den Gefahren in dieser harten Umwelt durch eine Art selbstberuhigender «Blendung» zu schützen[40], die Vera Jost folgendermaßen deutet:

Diese Art von List steht Frauen der höheren Klasse zu, und dies um Männer zu besiegen. Vorgeführt wird das Reinfallen Tigers, ohne daß jemand nach den Konsequenzen fragt. Die bürgerlichen Damen stehen letzten Endes über den materiellen Zwängen. […] Die Privilegierung der höheren Moral der Sandovals vor den Notwendigkeiten der Erwerbssituation ist etwas, das der Erzählung unterläuft. Es bleibt undurchschaut, daß mit der Privilegierung der Frauen vor den Männern zugleich eine sexualmoralische Klassenprivilegierung wieder eingeführt wird.[41]

Diana gesteht, sie selber sehe nur «die andern» in sich, was ihr eine «Qual» sei[42], die sie letzten Endes dem Risiko einer Zersplitterung ihres Ichs ausliefert. Für die metaliterarische Dimension des Romans ist es interessant, dass die Mutter eben darin Dianas «Kunst» erkennt[43]: Ihr Talent bestehe dieser Auffassung nach also zunächst darin, Fremdes zu erkennen, dann in der Aneignung desselben und schließlich in dessen Sichtbarmachung. Ähnliches ließe sich von der Poetik des Romans Die Gelbe Straße behaupten. Allerdings garantiert nicht einmal die allergrößte Konsequenz darin den Erfolg, weder bei Veza Canetti noch bei Diana. Von ihr behauptet die Erzähl­instanz, «sie hätte die berühmten Bildhauer unserer Stadt in Verwunderung versetzt, wäre es nicht eine Gepflogenheit der Berühmtheiten, aufblühende Talente zu übersehen»[44]. Wien erweist sich als ein Ort, wo das Herausragen oder Auffallen außerordentlich schwer ist. Begabte oder gesellschaftlich irgendwann einmal abgestiegene Frauen merken es deutlich und leiden darunter; das sogenannte niedere Volk, wie wir im Falle Emilie Jakschs noch sehen werden, rechnet allerdings schon von Anfang mit seiner Unsichtbarkeit.

Einem tröstenden oder komplettierenden Spiegelerlebnis setzt Veza Canetti einen gefährdenden Blick entgegen, dem missgestaltete Figuren wie Frieda Runkel ausgesetzt sind, die nicht in das enge Raster des sogenannten körperlich Normalen hineinpassen. Obwohl sie eine wohlhabende Unternehmerin ist, vermag sie es nicht, sich als Ganzes zu fühlen, sieht sich selber bloß als etwas Mangelhaftes, weil – so Franziska Schlößler – «das Defizitäre der Ordnungen in ih[r] Körper eingelassen ist»[45]: «Jeden Morgen, knapp ehe die Runkel erwacht, sieht sie die Wahrheit. Sie sieht ihr eigenes Bild. Sie fühlt sich selbst, wie sie wirklich ist. Sie stöhnt so laut, daß sie erwacht»[46]. Im Voraus unerbittlich verurteilende Blicke umgeben diese verkrüppelte Frau, und sie ist nicht imstande, diese Unerbittlichkeit zu hinterfragen und somit zu bekämpfen. Stattdessen wird letztere automatisch auf sich und auf andere angewandt: Frieda Runkel hasst sich selbst und ist schlichtweg eine Tyrannin. Einzig die Bedienerin Therese Schranz zeigt sich willig, einen wohlwollenden Blick hinter die Abscheu erregende Fassade der Runkel zu werfen. In deren Häkelarbeit ahnt sie trotz allem verborgene Schätze: Sensibilität, Fleiß, zarte Innerlichkeit.

Und als die Therese den gediegenen Prunk der Runkel sah, den Reichtum von so armen Händen, wußte sie, daß sie auf diesem Posten bleiben wurde. […] Sie hatte in ihrem arbeitsreichen Leben nicht gelernt, Gesichter zu unterscheiden. Sie fand die Runkel zwerghaft klein, aber am Gesicht hatte sie nichts Besonderes bemerken können.[47]

Vera Jost hebt zu Recht hervor, dass Therese Schranz ein feines Gespür für moralische Korrektheit der Herrschaften und der Arbeitssituation habe, in die sie gestellt sei[48]. Ihre unbedingte Loyalität gelte einer anständigen Herrin, was ebenso die schöne Frau Iger als auch die häßliche Runkel sei. Das zerbrechliche Innere der Runkel wiegt in Thereses Augen ihr ungerechtes Benehmen anderen Menschen gegenüber auf. Die Mechanismen des sozialen Systems, die zahlreiche Formen der Ausbeutung und des Missbrauchs erlauben und sogar fördern, werden von ihr nur indirekt in Frage gestellt.

Das Aufeinandertreffen von Begehren nach erotischer Zuwendung oder nach Anerkennung, die sich sozial oder finanziell ausdrückt, und sein Pendant in den einander kreuzenden Blicken findet, bestimmt die Handlung in Die Gelbe Straße von Anfang an. Veza Canetti macht die Schattenseite großstädtischer Anomie sichtbar, indem sie im ersten Kapitel des Romans, unter anderen Figuren, Herrn Vlk porträtiert, einen reichen Hausbesitzer, der aber «weit unter seinem Vermögensstand» lebt und von seiner Bedienerin als «sehr pedantisch» geschildert wird[49]. Für seinen Egotismus und seine soziale Unfähigkeit ist die Tatsache bezeichnend, dass er bei verschiedenen Auskunftbüros Berichte über sich selbst bestellt. Er selber ist aber nicht einmal imstande, einen Nachbarn wiederzuerkennen[50]. «Das Bestreben Vlks, die ihn unmittelbar umgebende Welt soweit wie möglich zu ignorieren, wird durch seine tägliche Angewohnheit das Panoptikum im Volksprater zu besuchen augenfällig kontrastiert», hebt Andreas Erb hervor[51]. Dort könne er sich «in gesicherter Distanz zum Anderen, dem Wachsstarren, seiner eigenen Ich-Größe und -Stabilität vergewissern, ohne dafür aktiv werden oder in Kontakt zu seiner Umwelt treten zu müssen»[52].

Herr Vlk kann sich ein Leben ohne Arbeit leisten, aber trotzdem ist sein Tagesablauf streng durchorganisert. Jede Abweichung darin wirkt auf ihn wie ein persönlicher Angriff. Er beschwert sich bei Frieda Runkel über Lina Seidler, eine ihrer Angestellten, aus Gründen, die eigentlich nur seinen kleinkarierten und extrem überempfindlichen Charakter durchscheinen lassen. Als Lina versucht, sich zu rechtfertigen, würdigt Herr Vlk sie keines Blickes; einen Verteidiger von ihr schaut Vlk «tückisch» an[53]. Wenn jemanden zu ignorieren in der Großstadt zum Habitus geworden ist, so gleicht sogar ein böswilliger Blick fast einer Auszeichnung[54]. So ähnlich versteht es auch Frieda Runkel, Besitzerin der erwähnten Trafik und eines gegenüberliegenden Seifenladens, der in seiner Ausrichtung und Funktion an das Benthamsche Panoptikum erinnert: von dort aus «bewach[t]» sie das Tabakgeschäft und bestraft bei Gelegenheit auch ihre Angestellte[55]. Denn die Runkel erweist sich für Herrn Vlks Beschwerden empfänglich. Dass sich der sonst so hochnäsige Herr an sie wendet, empfindet sie als eine Ehrung[56]:

Er sieht mich nicht an, er sieht niemanden an. Er schätzt die Leute nach ihrem Wert und nicht nach dem Schein. Er achtet Autorität, Bildung, Stand. Die Runkel sprach sonst, als wären ihre Stimmbänder aus Leder. Aber jetzt waren sie Seide.[57]

Gnadenlos entlässt die Runkel Lina, die bei allen beliebte Seele ihres Geschäfts, die gerade deswegen ihrer verbitterten Arbeitsgeberin «ein Dorn im missgünstigen Auge» ist[58]. Die Absicht ihrer Stammkunden, Linas Entlassung rückgängig werden zu lassen, bestätigt sie nur in ihrer Entscheidung. Sie, die sich kaum bewegen kann, beobachtet neidisch von ihrem Rollstuhl aus ihre junge und schöne Angestellte und fasst jede Geste und Bewegung von ihr als eine Provokation auf[59]: «Sie stellt sich eigens auf, damit sie zeigen kann, wie groß sie ist. Ich hab ihr doch verboten, sich mit den Kunden zu unterhalten! Wenn sie noch einmal herschaut. […] Wir werden doch sehen, wer mehr ist»[60]. Etwas später wird sich herausstellen, dass besonders die Wirkung von Linas Sexappeal auf einige Kunden die Runkel aus dem Häuschen bringt. Dem großtuerischen Dichter Knut Tell[61], der anfangs vorgibt, die Revolte von Linas Stammkunden gegen Frau Runkel und deren arbiträre Entscheidungen zu führen (obwohl es dann eine Krankenschwester ist, die die mühselige Arbeit des Unterschriftensammelns auf sich nimmt), scheint die Laden- und Trafikbesitzerin kein Lebewesen, sondern etwas Versteinertes[62]. Als sich die Runkel weigert, die Entlassung rückgängig zu machen, verwandelt sich sein Blick in ein empörtes Anstarren, das in ein aggressives Selbstgespräch mündet:

Knut starrte sie an. Beschützen wir das blühende Leben, das Glück, die Macht, vor dem verdorrten Leben hier! Treten wir noch weiter herum auf diesem Entsetzen vor uns, mein Herr, wir sind ja so groß! Es krümmt sich vor uns! Treten wir darauf! Zertreten wir es![63]

Veza Canetti legt die Schwäche und Hilflosigkeit eines Intellektuellen bloß, der immerhin – anders als die Bildhauerin Diana – nicht ganz übersehen wird, indem sie unmittelbar nach diesem wohlgemerkt inneren Ausbruch der Empörung und der Aggressivität auch Tells äußere Reaktion auf die Antwort von Linas Chefin wiedergibt, deren Entlassung sei eine Privatangelegenheit: «Ja. – Ja. Das ist etwas anderes. Das ist freilich etwas anderes. Verzeihen Sie. Das wußte ich nicht. Entschuldigen Sie bitte»[64]. Nach Tell kommen noch viele andere. Auch sie sind nicht imstande, Linas Rechte zu verteidigen, und am Ende erklären sie sich alle sogar damit einverstanden, dass Lina sich vor der Runkel erniedrigen und sie um ihre Stelle bitten soll[65]. Der Einzige, der sich offen gegen Runkels Präpotenz wehrt, ist ein junger Mann namens Graf. Dies aber macht der Laden- und Trafikbesitzerin nichts aus: «Zum ersten Mal treten sie ein, ohne zu erschrecken, zu verachten, zu bedauern. Sie kommen, bitten und fordern, sie sehen sie voll an, die Runkel»[66]. Der Ausduck «voll ansehen» erhält hier sowohl eine wörtliche als auch eine übertragene Bedeutung: erst durch den Blick anderer kann jemand zu einer Respektsperson werden[67]. Die Runkel sehnt sich danach, und nicht einmal Grafs Vorwürfe können sie davon abbringen, den Augenblick voll zu genießen, wenn sie davon überzeugt ist, endlich diese Kategorie, sei es nur momentan, erreicht zu haben. Doch Grafs verborgene Gründe zu seiner mutigen Tat werden im ersten Kapitel der Gelben Straße ebenfalls durchschaut. Lina ist für Graf bloß ein Besitz, der ihn über andere stellt, eine Form der Macht, die sich voyeuristisch damit begnügt, die Begierde anderer Männer nach seiner Braut festzustellen:

Und die Lina sitzt im Haus und weint. […] Aber er [Graf] geht nicht. (Er braucht sie manchmal.) Er sitzt mißvergnügt und quält sie. Sie gefällt ihm nicht mehr, seit er nicht auf dem Sessel sitzen kann und zusehen, wie die anderen nach ihr hungern. […] Aber er läßt sie nicht stehn. Die Lina findet leicht einen andern. Das könnte ihn dann ärgern.[68]

Grafs Eifersucht will nur seine eigene Dominanz absichern. Sein Voyeurismus wird hier als eine perverse Form der Teilnahmslosigkeit enttarnt, die im Roman die Atmosphäre in der Gelben Straße im allgemeinen prägt, wobei sie manchmal als Sensationslust oder Indiskretion – beides unechte Formen des Interesses – auftritt.

Schmerzende Blicke und Blickverweigerung

Unrecht, Unglück und der damit verbundene Schmerz scheinen in der Gelben Straße zu grassieren: Sensiblen und gutmütigen Menschen scheint dort jeder Blick und jeder Anblick wehzutun. Frau Maja Iger, die mit ihren Kindern unter den Misshandlungen ihres Mannes leidet, legt die Hände ihres kleinen Sohns auf ihre Augen und Lippen, «als wären dort Wunden»[69].

Ganz am Anfang, unmittelbar nach ihrer Heirat, war es nicht so: «Die Lederhändler in der Gelben Straße blickten mit Genuß auf diese neue Erscheinung. Maja […] begann sich über das bißchen Aufsehen zu freuen»[70]. Bald bekommt sie jedoch die Grausamkeit ihres Mannes zu spüren, der sie bloß ihrer Mitgift wegen heiratete. Majas Verhalten dürfte niemanden wundern, der den unwiderstehlichen Hang Igers zur Heuchelei kennt. Nach außen hin tritt er als gutgelaunter, freigiebiger Wohltäter auf, der für jede öffentliche gutgesinnte Initiative zu haben ist. Auch im Privaten zeigt er sich durchaus gewillt, etwa seine Nichte Yanka zu verwöhnen, damit sein guter Ruf im Kreise seiner Angehörigen erhalten bleibt. Aber innerhalb seiner vier Wänden ist er geizig und gewalttätig gegen seine Kinder und seine Frau. Ihre Augen blicken stets «in abgrundtiefer Angst auf ihn»[71]. Hinter seiner jovialen Maske versteckt er eine düstere, augenlose Miene, die sein terrorisiertes Gegenüber nicht als solches wahrnehmen will, sondern nur als ein schuldiges: «Er bekam schwarze Flecke, die Augen verschwanden, das Gesicht war aufgedunsen. […] Herr Iger stürzte auf die junge Frau zu, die sich erhob und mit dem Kind in die Ecke flüchtete. Er sprach immer denselben Satz und schlug mit dem Stock auf sie ein»[72]. Der Anblick der Verwandlung dieses Ogers in den freundlichen Weltmann, den er vor der Öffentlichkeit vortäuscht, ist einfach nicht auszuhalten. Außerdem ist sich Maja auch bewusst, dass man ihr Leid leicht aus ihren Augen herauslesen könne und sie fühlt sich dadurch beschämt. Nur allzu oft hat sie außer der Gewalttätigkeit ihres Mannes noch die höhnische Neugier der im Hause angestellten Bonne ertragen müssen[73], die obendrein ihrem Mann noch schöne Augen macht und seinen Befehlen folgt, auch wenn dabei Frau Iger in ihrem eigenen Haus eingesperrt bleibt[74]. Es ist also besser, möglichst nicht aufzufallen, und die Aufmerksamkeit von Nachbarn und Passanten nicht durch den eigenen Blick hervorzulocken. Trotzdem aber lässt Maja Igers privilegierte gesellschaftliche Stellung sie nicht ganz unsichtbar werden[75]. Zu ihrem Glück. Denn in der Anteilnahme anderer, selbst wenn darin soziale Erwägungen eine Rolle spielen, kann sie mitunter auch etwas Halt finden[76].

Theatralik

Unsichtbarkeit kann nämlich in der Stadt die schlimmsten Folgen haben. Dies drängt Gefährdete zu allerlei Inszenierungen, die sie aus ihrer Situation heraus retten mögen. Emilie Jakschs Lage ist zum Verzweifeln: Sie ist arm und arbeitslos, und die Jobvermittlerin rührt keinen Finger, damit sie zu einer Stelle kommt[77]. Als die Hatvany sich darüber beklagt, dass die Polizeidirektion mittellose Mädchen, die sich umzubringen versucht hätten, zu Quartier, Kost und Posten verhelfe, kommt Emilie auf die Idee, einen Selbstmordversuch zu inszenieren. Dreimal geht sie an einen Wachmann vorüber, der bei der Kreuzung am Kanal steht, damit er sie wirklich bemerkt, und als sie sich dessen sicher ist, springt sie ins Wasser:

Emilie stak im Wasser, hilflos, rettungslos, wehrlos, sie hielt die Hand nach oben und winkte, aber gleichzeitig war sie sich bewußt, daß kein Mensch sie sehen würde, daß kein Mensch sie jetzt beachtete, wo sie fast tot war, wenn man sie doch früher nicht beachtet hatte, da sie noch lebte.[78]

Am Ende wird Emilie doch noch von dem Wachmann gerettet, der sich dabei eine tödliche Lungenentzündung herbeiholt, und kommt ins Obdachlosenheim «als die jüngste Selbstmörderin, deren Leid noch ganz frisch war»[79]. Von ihren Mitinsassinnen wird sie besonders nachsichtig und taktvoll behandelt. Dieses Erlebnis hinterlässt in ihren Augen einen «listige[n] Ausdruck, der ganz neu war»[80]. Hier, ähnlich wie in der Episode von Mizzi Schadn und der Baronin, gelangt die anfangs Benachteiligte dank dieser Erfahrung zu einer wichtigen Erkenntnis, was die selten offen ausgesprochenen Gesetze der Lebens- und Überlebenskunst in Wien (und anderswo) betrifft: Wer nicht schreit, geht leer aus.

Edward Timms kommt in seiner Studie über Karl Kraus auf das Theater als soziales Paradigma im Wien der Jahrhundertwende zu sprechen, ein Thema, das unter anderen schon Hermann Bahr in Wien (1906), Felix Salten in Das österreichische Antlitz (1910) und natürlich auch Karl Kraus in vielen seiner Beiträge für Die Fackel und besonders in Die letzten Tage der Menschheit (1918) bereits behandelt hatten. Elias Canetti behauptete von Kraus, «er allein sei ein ganzes Theater»[81]. Spätestens seit dem 18. Jahhundert war die deutschsprachige Literatur darum bekanntlich bemüht, aus dem Theater eine moralische Anstalt des Bürgertums entstehen zu lassen; mit dem Bau des Burgtheaters hatte man in Wien zudem noch eine Schule der vornehmen Ausbildung und -sprache, eine Lehranstalt der feinsten éducation sentimentale errichtet, nach der sich beispielsweise Elias Canettis’ Eltern als überzeugte Bildungsbürger immer noch richteten[82]. Das große Prestige von Schauspielern und Schauspielerinnen im Habsburger Reich und die allgemeine Praxis einer ausgefeilten Theatralik, die oft in Heuchelei ausartete, können laut Edward Timms als Symptome einer Tendenz zur systematischen Verhüllung aufgefasst werden[83]. Deren Ziel sei es, ungelöste Konflikte sowohl im sozialen als auch im politischen Bereich zu verdecken, die in der Hauptstadt des Vielvölkerstaats krass zum Vorschein traten. Einer so belesenen und aufmerksamen Zuhörerin der Vorlesungen Karl Kraus’ wie Veza Canetti kann diese Dimension im Leben ihrer Heimatstadt gar nicht entgangen sein, zumal ein stark ausgeprägtes Merkmal ihres Briefwechsels mit Georges Canetti ihre spielerische Vorliebe für die Maskerade sei[84]. Es wundert also kaum, dass sie der Figur des Heuchlers Iger, der ja obendrein ein Taschenspieler ist, in ihrem Roman so viel Raum schenkt. Mit Hilfe eines regelrechten Wortschwalls weiß er den Blick seiner Zuschauer auf das spektakuläre Ergebnis seiner «Igertricks» zu lenken. Am Ende verleitet ihn aber sein Größenwahn zu einer Lüge, die sogar sein freundlich gesinntes Publikum empört: Iger täuscht vor, Helli Wunderer, ein für ermordet gehaltenes Mädchen zurück ins Leben erweckt zu haben, was die Zuschauerschaft verständlicherweise aus der Fassung bringt. Das Interessante daran ist aber, dass die Zuschauer ihre Wut nun nicht gegen Iger richten, sondern gegen Helli, deren Anwesenheit ihre blutrünstigen Fantasien Lügen straft[85].

Allerdings wird nicht nur Iger im Text als der Inbegriff einer Wiener Art der Verstellung verhöhnt; eine vermeintlich ehrbare Institution des Bürgertums, dem er angehört, wird auch bloßgestellt: «Das Kinderheim in der Gelben Straße wird von wohltätigen Damen finanziert, was noch fehlt, verdienen die Kinder selbst»[86]. Diese Art der Fürsorge entpuppt sich als eine rein paternalistische Pose. In einer Benefizveranstaltung führen die in dieser Anstalt behüteten Mädchen einige Märchenbilder mit fröhlichem Einsatz auf. Danach bedankt sich die Leiterin bei ihren «edlen Spendern»[87]. Mit ihrer Rede und einem sogenannten «taktvollen Augenaufschlag zur armen Herde» nagelt sie die Kinder auf deren Opferrolle fest[88]. Die niederschmetternde Wirkung ihres Blicks und ihrer Worte lässt nicht auf sich warten; die offiziösen Vertreterinnen der Barmherzigkeit können sich weiterhin in aller Ruhe ihrer eigenen Philanthropie und der Dankbarkeit ihrer Mündel erfreuen[89]:

Kaum hatte die Rede begonnen, als alle diese munteren kleinen Mädchen plötzlich mager und vergrämt wurden, sie drückten sich, blickten steif zu Boden, schlichen dann steif die Treppe vom Podium hinunter, auf die Stadtrat Platz zu und küßten ihr die Hand, die Rückwärtigen mit der Vergünstigung, daß der Geruch schon weggeküßt war, der bei alten Damen offenbar von ihren schlaffen Gedärmen herrührt.[90]

Die Szene macht die aufbauende Wirkung deutlich, die anerkennende Blicke anderer auf das eigene Selbstbild erreichen. Trotz der papiernen Kostüme haben die Mädchen bei ihrer Zuschauerschaft durch ihren Elan auf der Bühne große Bewunderung geerntet. Der somit entstandenen Umkehrung der bisherigen Dankbarkeitsdynamik setzt die Leiterin des Heims mutwillig ein Ende, in dem sie die Waisenkinder an ihre frühere Rolle als Schuldnerinnen erinnert. Veza Canetti illustriert hiermit, so Vreni Amsler, den austromarxistischen Diskurs um Sinn und Unsinn von privater Wohltätigkeit und legt dabei deren «übersteigerte Egozentrik» dar[91]:

Diese Form von Wohltätigkeit funktioniert nur, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse erhalten bleiben, das heisst, wenn die Kinder ihren Platz als vernachlässigte Opfer der Geselllschaft weiter bereit sind einzunehmen.[92]

Angebliche Fürsorge, die sich bloß als gespielt erweist, böswillige Heuchelei, teilnahmsloser Voyeurismus, Inszenierung des eigenen Unglücks, Überwachung, narzisstisches Leugnen einer komplexen Realität, naive, scheue, libidinöse, arrogante, agressive und unerbittlich verurteilende Blicke: Das sind alles Elemente, die dem Roman Die Gelbe Straße seine Dichte verleihen. Die Schriftstellerin bildet damit ein Gewebe, das die keineswegs glatte Textur zwischenmenschlicher Beziehungen in Wien darstellt und deren konservative Charakterisierung als antimoderne und folglich menschenfreundliche Kulturstadt Lügen straft. So bietet Veza Canetti ihrer Heimatstadt und ihrer Zeit eine Schrift, die nicht nur deren «Laster […] verewigt»[93], sondern auch die zahlreichen Blicke, die sich dort kreuzen, wie ein Spiegel auffängt und dabei die Folgen derer Selbstgefälligkeit nicht außer Acht lässt. Von diesem Spiegel sollten auch heutige Leser und Leserinnen nicht das Gesicht abwenden, wenn sie darin die Blickrichtung ihrer eigenen Pupillen verfolgen wollen.

 

 

Literatur

Amsler, Vreni (2017). Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Würzburg: Königshausen & Neumann.

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[1] Trotzdem neigte man dazu, Malerisches hervorzuheben, da das Ziel vieler Veduten war, als Reiseandenken verkauft zu werden: In diesem Sinne achtete man auf eine szenographischen Verteilung der im Bild auftauchenden natürlichen oder architektonischen Elemente und auf eine wirksame Nutzung der Lichteffekte. Vgl. Ulla Fischer-Westhauser (2005), Österreich in alten Ansichten. Wien: Ueberreuter; Cesare de Seta (Hg.) (1996), Città d’Europa Iconografia e vedutismo dal XV al XIX secolo. Neapel: Electa.

[2] Allgemein zum Wiener Milieu bemerkte der aus Berlin eingereiste Jakob Wassermann in Mein Weg als Deutscher und Jude (Berlin 1921): «Der Hof, die Kleinbürger und die Juden verliehen der Stadt das Gepräge» (zitiert nach Brigitte Hamann (1996), Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München: Piper, S. 469).

[3] Elias Canetti, «Vorwort» in Veza Canetti (2009), Die Gelbe Straße. Mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel. Frankfurt am Main: Fischer, S. 7-8; vgl. Sven Hanuschek (2005), Elias Canetti. München; Wien: Hanser, S. 108.

[4] Veza Canetti (2009), Die Gelbe Straße. Frankfurt am Main: Fischer, S. 71. Im Folgenden abgekürzt als GS.

[5] Vgl. Dieter Wrobel (2010), «Veza Canetti, Die gelbe [sic] Straße» in ders., Vergessene Texte der Moderne: Wiederentdeckungen für den Literaturunterricht. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 224-239, hier S. 236.

[6] Erb, Andreas (1995). «Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien. Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße», in: Der Deutschunterricht, 47. Jg. H. 5, S. 55-64, hier S. 62.

[7] Alexandra Strohmaier (2005), «Groteske Physiognomien. Zum semiotischen Konzept des Körpers in den Texten Veza Canettis», in: Spörk, Ingrid; Strohmaier, Alexandra (Hg.), Veza Canetti. Graz: Droschl, S. 121-147, hier S. 121.

[8] Julian Preece (2006), The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Rochester, New Yord: Camden House, S. 153-154.

[9] Vgl. hierzu Alexander Košenina (2005), «Veza Canetti. Die Gelbe Straße (1932-33/1990)», in Claudia Benthien und Inge Stephan (Hg.), Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln u. a.: Böhlau, S. 52-71, und ders. (2007), «Die Kunst der Charakterisierung bei Elias und Veza Canetti», in Germanisch-Romanische Monatsschrift, 57, S. 241-249.

[10] Georg Simmel (1995), «Die Großstädte und das Geistesleben», in ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp,, S. 116-131, hier S. 118-119.

[11] Ebda., S. 116.

[12] Ebda., S. 117.

[13] «Wo die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie an ihre Grenze kommen, greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewußtsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen». Ebda., S. 128.

[14] Vgl. David Le Breton (2006), La saveur du monde. Une anthropologie des sens. Paris: Éditions Métailié, S. 61-111.

[15] Johann Wolfgang von Goethe (1998). Werke. Jubiläumsausgabe, hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus, u.a. Erster Band: Gedichte. West-östlicher Divan, hg. v. Hendrik Birus und Karl Eibl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 89.

[16] Vgl. hierzu David Frisby (2001), Cityscapes of Modernity. Cambridge: Polity Press, S. 159-178, und ders. (2008), «Streets, Imagineries and Modernity. Vienna is Not Berlin», in: Gyan Prakash; Kevin M. Kruse (Hg.), The Spaces of Modern City: Imaginaries, Politics and Everyday Life. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, S. 21-57.

[17] David Frisby (2001), Cityscapes of Modernity, a.a.O., S. 186.

[18] Ruth Beckermann zitiert nach Angelika Schedel (2002), Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Würzburg: Könighausen & Neumann, S. 140-141.

[19] GS, S. 146.

[20] GS, S. 87.

[21] GS, S. 97.

[22] Beide Zitate auf Vreni Amsler (2017), Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 211.

[23] Angelika Schedel knüpft in ihrer Quellenanalyse zu Veza Canetti an Lou Andreas-Salomés Narzissmusbegriff, der anders als bei Freud betont positiv ist. Angelika Schedel (2002), Sozialismus und Psychoanalyse, a.a.O., S. 84-91.

[24] David Le Breton (2006), La saveur du monde, a.a.O., S. 70.

[25] GS, S. 110.

[26] In seinen Unpublizierten Kapiteln aus Die Fackel im Ohr schreibt Elias Canetti: «Veza und Peter Altenberg. Der Stadtpark. Ihre Angst vor ihm. Ihre Faszination. Wie er in seinen Sandalen stehen blieb und kleine Mädchen ansah». Zitiert nach Vreni Amsler (2017), Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, a.a.O., S. 209 (Unterstrichenes im Original). Richard Reichensperger charakterisiert Peter Altenberg in einem Artikel schlicht als «Kinderschänder». Richard Reichensperger, «Alkohol und kleine Mädchen», Der Standard, 23. Jänner 2003, LINK (Stand 05/03/2020).

[27] GS, S. 110-111.

[28] GS, S. 111.

[29] GS, S. 28.

[30] GS, S. 32 bzw. 80. Dass die Frau mit Nachnamen Zenmann [zehn Mann] heißt und dass ihre Hündin im Stellenvermittlungsbüro der Hatvany auch noch Junge wirft (GS, S. 88), sind natürlich weitere Indizien ihrer unersättlichen Libido. Im ironischen Gegensatz dazu ist der Name ihres Haustiers «Susi» (GS, S. 89), eine Verkleinerungsform von Susanna, die im biblischen Buch Daniels (Dan 13, 1-64) des Ehebruchs fälschlich bezichtigt wird. Über Canettis Benützung sprechender Namen im allgemeinen vgl. u.a. Vreni Amsler (2017), Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, a.a.O., S. 169.

[31] GS, S. 32-33.

[32] GS, S. 95.

[33] «Zuerst saß sie am äußersten Rand des Wagensitzes, so peinlich war ihr diese Umkehrung, sie, die Mizzi im Wagen und die Baronin am Chauffeursitz, aber dann schüttelte sie der Wagen und sie lehnte sich zurück und einige Straßen weiter fand die Mizzi Schadn schon, daß sie sich, lang und dünn wie sie war, vornehm ausnahm und sie lugte sogar nach dem Effekt aus, den sie auf die Vorübergehenden machen mochte, denn der Mensch gewöhnt sich blitzschnell an das Behagen» (GS, S. 97).

[34] GS, S. 99, Hervorhebung von mir.

[35] GS, S. 100.

[36] Ebda.

[37] Beide Zitate in GS, S. 132.

[38] GS, S. 132.

[39] Nachdem Andrea Sandoval sich auf ein Treffen im Lusthaus mit Herrn Tiger eingelassen hat, lässt sie ihn wissen, sie habe ihre Tochter Diana nachbestellt (GS, S. 136-140).

[40] Franziska Schlößler (2005), «Maske, Musik und Narzissmus. Zu den Dramen von Elias und Veza Canetti» in Text + Kritik, Heft 28 (Elias Canetti), 4. Auflage, Neufassung, S. 26-91, hier S. 86.

[41] Vera Jost (2002), Fliegen oder Fallen. Prostitution als Thema in der Literatur von Frauen im 20. Jahrhundert. Königstein/ Taunus: Ulrike Helmer, S. 112.

[42] GS, S. 132.

[43] Ebda.

[44] GS, S. 120.

[45] Franziska Schlößler (2005), «Maske, Musik und Narzissmus», a.a.O., S. 86.

[46] GS, S. 71, Hervorhebungen von mir.

[47] GS, S. 106.

[48] Vera Jost (2002), Fliegen oder Fallen, a.a.O., S. 108.

[49] GS, S. 18.

[50] GS, S. 23.

[51] Andreas Erb (1995), «Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien», a.a.O., S. 61.

[52] Ebda., S. 62.

[53] GS, S. 23.

[54] Vlks Widerwille, die Singularität anderer zu würdigen, erhält immer groteskere Züge. Als später Herr Vlk die Gelbsucht bekommt, setzt er eine gelbe Brille auf, «damit die anderen auch gelb» aussehen (GS, S. 159).

[55] GS, S. 16.

[56] Andreas Erb bringt den Parallelismus von Pilatus Vlk und der Runkel als gescheiterte urbane Existenzen auf den Punkt: «Gemeinsam ist beiden, daß sie eine autonome Existenz anstreben, sie in wirtschaftlicher Hinsicht auch verwirklichen können und dennoch scheitern […]. Aktiv angestrebte Autonomie setzt Gesellschaftlichkeit voraus, ansonsten schlägt sie um in passiv zu ertragende Isolation und Ausgrenzung. – Dabei ist es die Großstadt, die Biografien wie jene von Runkel und Vlk überhaupt erst möglich macht: Die Gelbe Straße erweckt zwar vordergründig den Anschein eines über- und durchschaubaren Kollektivraumes, tatsächlich herrschen in ihr die Prinzipien von Trennung und Ausschließung». Andreas Erb (1995), «Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien. Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße», a.a.O., S. 62.

[57] GS, S. 30-31.

[58] Dieter Wrobel (2010), «Veza Canetti, Die gelbe [!] Straße», a.a.O., S. 231.

[59] Anna, der älteren Angestellten im Seifengeschäft, erspart die Runkel ihre verächtlichen Blicke auch nicht: «Sie muß folgen. Sie muß. Ich hetz sie hin und her. – Das Fleisch ist ihr abgefallen, aber ihre Füße brechen nicht» (GS, S. 35).

[60] GS, S. 34.

[61] Dass Knut Tell seine literarische Berufung bekanntgibt, und zwar auf einem Schild an der Gangtür («Knut Tell, Dichter», GS, S. 25), ist für seine Haltung gegenüber der Öffentlichkeit bezeichnend.

[62] GS, S. 32.

[63] GS, S. 38.

[64] GS, S. 16.

[65] Vera Jost analysiert die wahren Gründe der «Gnädigen», um Lina Seidler nicht zu verteidigen: «Sehr genau spürt sie, daß sie von ihrer eigenen Bediensteten beobachtet und beurteilt wird. Darum hält sie es für nötig ihre Dominanz herauszukehren und zu festigen. Der Versuch ihr eigenes Begehren hinter ihrem Dominzanspruch zu verstecken, wird dennoch durchschaut. […] die gegenseitige argwöhnische Beobachtung der Frauen anhand der Maßstäbe einer restriktiven Sexualmoral verhindert das solidarische Eintreten füreinander in materiellen Belangen». Vera Jost (2002), Fliegen oder Fallen. Prostitution als Thema in der Literatur von Frauen im 20. Jahrhundert. Königstein/ Taunus: Ulrike Helmer, S. 66.

[66] GS, S. 43.

[67] Etymologisch hat das Wort Respekt auch visuelle Konnotationen; es kommt vom lateinischen respectus: Zurückschauen, Rücksicht, Berücksichtigung.

[68] GS, S. 43, Hervorhebung von mir.

[69] GS, S. 55.

[70] GS, S. 49.

[71] GS, S. 53.

[72] Dasselbe verschwollene Gesicht, in dem man die Augen kaum erkennen kann, zeigt Herr Iger, wenn er sich von den anderen ertappt fühlt, wenn der Glanz seiner öffentlichen Persönlichkeit zu verlöschen scheint (GS, S. 82).

[73] GS, S. 61.

[74] Vgl. GS, S. 53 bzw. S. 74.

[75] «“Er [Iger] hat ohnehin ihre Mitgift gehabt, jetzt wollt er auch noch ihr Erbteil […], sie ist doch aus reichem Haus!” “So! Sie ist reich? Das ist etwas anderes!”» (GS, S. 82).

[76] «“Nicht weinen. Alles wird gut werden. […] Sie sind ein guter lieber Mensch. […] Beruhigen Sie sich, Frau Maja”. Die Weiß streichelte ihre Hände». (GS, S. 79).

[77] GS, S. 96.

[78] GS, S. 114.

[79] GS, S. 115.

[80] Ebda.

[81] Elias Canetti (1994b), Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München; Wien: Hanser, S. 67.

[82] «Sie [Vater und Mutter] liebten sich sehr in dieser Zeit und hatten eine eigene Sprache unter sich, die ich nicht verstand, sie sprachen Deutsch, die Sprache ihrer glücklichen Schulzeit in Wien. Am liebsten sprachen sie vom Burgtheater, da hatten sie, noch bevor sie sich kannten, dieselben Stücke und dieselben Schauspieler gesehen und kamen mit ihren Erinnerungen nie zu Ende. Später erfuhr ich, daß sie sich unter solchen Gesprächen ineinander verliebt hatten». Elias Canetti (1994a), Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. München; Wien: Hanser, S. 33.

[83] Edward Timms (1986), Karl Kraus, Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven; London: Yale University Press, S. 27.

[84] Diese Vorliebe wird im parodistischen Ton mancher Briefe und ganz besonders in den Gruß- und Abschiedsformeln deutlich, wie etwa: «Liebster Sohn, Lieber Georges Canetti, dit le Beau, dit le Savant, dit le Grand, dit Phoebus, dit Romeo, lieber Benjamin» bzw. «Love, Peggy, Pharaonin von Aegypten». Elias Canetti; Veza Canetti (2009), Briefe an Georges. Frankfurt am Main: Fischer, S. 177 und 236.

[85] Sarah S. Painitz hebt die metaliterarische Dimension dieser Szene hervor: «Ironically Iger’s trick reestablishes reality by betraying the comunal illusion of Helli’s “disappearance”, her assumed murder. The illusion of her disappearance rather than her forced reappearance, then, was the real magic trick. The episode as a whole, coming at the end of the novel, constitutes Canetti’s own magic trick, achieved via the “pattern” of fiction. […] For Canetti magic tricks are an analogy for reading». Sarah S. Painitz (2008), «Political Bodies: Physiognomy in Veza Canetti’s Fiction», Modern Austrian Literature, Jg. 41, H. 3, S. 37-53, hier S. 48.

[86] GS, S. 151.

[87] Ebda.

[88] GS, S. 153.

[89] «All the on-stage scenes in Die gelbe [!] Straße ultimately reveal more about the audience than about the actors». Sarah S. Painitz (2008), «Political Bodies», a.a.O., S. 46.

[90] GS, S. 153.

[91] Vreni Amsler (2017), a.a.O., S. 159.

[92] Ebda.

[93] GS, S. 129-130.

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Rosa Coppola

(Napoli)

«Der Konjunktiv hat sein Hauptlager in Österreich aufgestellt»
Echi austriaci nella raccolta “die alarmbereiten” di Kathrin Röggla

[«The subjunctive has set up its main camp in Austria»
Austrian echoes in the collection “die alarmbereiten” by Kathrin Röggla]

abstract. The aim of this paper is to investigate the influence of Austrian Sprachskepsis on the poetics of the contemporary writer Kathrin Röggla, focusing especially on the use of the subjunctive as a legacy of the poet Ernst Jandl. The comparison between his poem Aus der Fremde – Sprechoper in 7 Szenen (1980) and die alarmbereiten (2010), one of Röggla’s most recent works, emphasizes how Röggla consciously continues the Austrian tradition that sees in Sprachkritik a fundamental tool of social criticism.

Il rovescio del quotidiano: uso e valore del congiuntivo nella poetica di Kathrin Röggla

Tra le diverse traiettorie che attraversano il panorama della letteratura contemporanea di lingua tedesca, la parabola di Kathrin Röggla (Salisburgo, 1971) si offre come pregevole esempio di estetica militante, tramite cui l’autrice prova a ripensare il rapporto tra movente politico e sperimentazione formale nella complessa quadratura storica del presente. Nata in Austria, trapiantata a Berlino, Röggla ha sviluppato nel corso degli ultimi vent’anni una poetica che ibrida le tradizioni letterarie dei due paesi, avvalendosi di una cifra estetica estremamente riconoscibile, fondata su una lettura della crisi del contemporaneo come crisi del linguaggio.

Sin dal 1995, anno in cui viene pubblicata niemand lacht rückwärts[1], la sua prima raccolta di prose, l’autrice attraversa generi espressivi differenti, quali la prosa, il teatro e la radio, documentando puntualmente le differenti stazioni che conducono all’odierno regime tecnocratico attraverso l’esercizio rigoroso, seppur programmaticamente discontinuo, di precisi dispositivi formali: il montaggio e il discorso indiretto.

Questa modalità di riscrittura del quotidiano lascia evincere la profonda immersione della scrittrice nelle dinamiche del capitalismo digitale, elemento che desta tutt’oggi un forte interesse nella critica. Visto l’ampio spettro di argomenti trattati nel dibattito accademico, l’opera di Röggla risulta infatti ampiamente “canonizzata” in diversi formati: nel 2016 è rientrata nel novero dei «Neue Realismen»[2] in gioco sulla scena contemporanea di lingua tedesca, nel 2017 le viene dedicato un volume monografico presso la celebre collana «Text + Kritik»[3] e, non da ultimo, nel 2019 è stata pubblicata una particolare edizione delle sue Bamberger Poetikvorlesungen, corredate da una raccolta di saggi critici[4]. Questi contributi si pongono come le stazioni più recenti di un dibattito apertosi nei primi anni 2000, in concomitanza con la pubblicazione di really ground zero: 11 september und folgendes[5] (2001) e wir schlafen nicht[6] (2004). In questo contesto Christine Ivanovic intuisce sin da subito l’elevata stratificazione della scrittura röggliana, codificando l’autrice come una «Medienspezialistin»[7], definizione che condensa tanto l’intermedialità distintiva della sua produzione artistica, quanto l’oggetto delle sue riflessioni poetiche e poetologiche: i mezzi di comunicazione, visti come campo di riverbero del discorso sociale codificato.

La tensione politica che muove la scrittura di Röggla risiede proprio in quest’ultimo segmento, vale a dire nella puntuale osservazione dell’esercizio linguistico quotidiano e, di conseguenza, nella sua restituzione sperimentale sul piano estetico. Le strategie di rovesciamento del discorso, cuore pulsante del tentativo estetico di sovversione messo in atto dalla scrittrice, consistono principalmente in dinamiche di straniamento del materiale raccolto sul campo, ovvero nell’insieme dei dispositivi che Krauthausen definisce come tecnica del «konjunktivische[s] Interview»[8].

La sperimentazione sistematica sul discorso indiretto rappresenta quindi un vero e proprio marchio stilistico della scrittura di Kathrin Röggla, delineandosi come soluzione estetica privilegiata nella messa a nudo delle dinamiche che regolano la crisi del contemporaneo.

Tra le caratteristiche che rendono il discorso indiretto, e nello specifico il Konjunktiv I, strumento primario nella documentazione estetizzata del presente redatta dall’autrice, figura ciò che Siegfried Jäger definisce «[die] Beziehung zu einer vergangenen oder zukünftiger “Gegenwart”»[9], vale a dire l’istituzione di una referenza esterna al qui ed ora del dialogo che, per così dire, rimette in scena il momento in cui la frase citata è stata pronunciata originariamente. Nei suoi studi dedicati a questo modo verbale, Jäger intuisce già negli anni ’70 lo spiraglio che il congiuntivo apre a falsificazioni e distorsioni di senso[10], soprattutto nella trasmissione mediatica del discorso politico. In virtù di ciò egli afferma che il congiuntivo non afferisce alla sfera dell’oggettività: «[Der Konjunktiv] betrifft […] nicht die objektive Fakten»[11]. Nella poetica di Röggla, tale rarefazione prospettica rende questo modo verbale il principale canale di svelamento delle strutture che costituiscono il discorso neoliberista.

Inoltre, la distanza veicolata dal congiuntivo consente all’autrice di alienare le parole riportate dalla propria fonte, dando così maggiore rilevanza all’esercizio del linguaggio, piuttosto che ai suoi interpreti, i quali, in questa quadratura si configurano come mere funzioni linguistiche. In altre parole, questi assumono i labili contorni di «Sprechgattungen»[12], contenitori espressivi in cui, secondo Bachtin, il parlante “versa” – con i dovuti adattamenti – la propria intenzione comunicativa, uniformandola a moduli espressivi preesistenti:

Des Weiteren wird die Sprechabsicht des Sprechers in all ihrer Individualität und Subjektivität auf die ausgewählte Gattung angewendet und an sie angepasst, sie fügt sich in eine bestimmte Gattungsform und entwickelt sich in deren Rahmen. […] Selbst wo wir ganz frei und ungezwungen plaudern, gießen wir unsere Rede in bestimmte Gattungsformen, welche bisweilen klischee- und schablonenhaft, dann wieder eher elastisch plastisch und schöpferisch sind (auch die Alltagskommunikation verfügt über schöpferische Gattungen).[13]

In questo modo Röggla travalica l’esperienza documentaria raccolta sul campo, astraendo con il congiuntivo i singoli generi del discorso all’interno di figure collettive che fungono da sineddoche per le categorie sociali dei contesti analizzati. Di conseguenza, l’estetica militante espressa dalla scrittrice è orientata a sovvertire la percezione dell’unica grande voce del sistema, che nei testi appare disseminata nella frammentaria rievocazione di interpreti differenti.

Se da un punto di vista teorico Röggla costruisce questa idea della lingua attingendo al canone filosofico della decostruzione[14], da un punto di vista estetico si rivolge direttamente alle proprie radici austriache, donando una nuova forma alla tradizione della Sprachskepsis.

Le radici nella Sprachskepsis austriaca: il congiuntivo di Ernst Jandl

Con Sprachskepsis si fa riferimento ad una crisi del linguaggio codificata già nel 1902 da Hugo von Hofmannsthal nel Chandos-Brief[15] e riletta filosoficamente da Ludwig Wittgenstein nelle Philosophische Untersuchungen[16] (1958). Qui Wittgenstein abiura l’ordinamento logico del linguaggio ideale analizzato nel Tractatus logico-philosophicus[17](1921), opponendovi il concetto di Sprachspiele, giochi linguistici che costruiscono il mondo dell’individuo, ormai incapace di comunicare: «Das Wort ‘Sprachspiel’ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform»[18]. Pertanto l’atto linguistico diventa una Handlung, ovvero una prassi attraverso cui l’individuo rappresenta se stesso: «es [das Wort] ist nun Mittel der Darstellung»[19]. Ai fini di questo studio è importante sottolineare che, nel fornire esempi sul funzionamento dei suddetti Sprachspiele, Wittgenstein utilizza il congiuntivo come forma di discorso indiretto[20], scelta che rafforza la sua tesi sull’arbitrarietà del segno linguistico. In tal senso, la sua opera si pone come sostrato filosofico su cui poggia quello che, in questa sede, si vuole definire un sentire “austriaco” della lingua, declinato secondo forme e motivi differenti dagli interpreti dell’avanguardia nel secondo Novecento, da cui Röggla trae ispirazione per modellare la propria lingua letteraria.

La prima tra questi a costituire un importante modello per la scrittrice, è sicuramente Elfriede Jelinek. Del resto, la vicinanza tra le due «Sprachverschieberin[nen]»[21] del panorama letterario attuale è stata sottolineata in più momenti dalla critica, fino a suggerire un rapporto di vera e propria filiazione artistica tra le scrittrici[22]. Dalla ricchezza di immagini elaborate nei numerosi studi in merito, emerge però sotto una luce particolare la suggestione di Szczepaniak, che, sottolineando il vivo interesse di entrambe per l’ordinamento sociale contemporaneo, le ritrae «in Mediengewittern»[23]. Tale definizione incarna l’attitudine che Röggla mutua da Jelinek nel censire le questioni più urgenti dell’attualità, seguendo la spinta di quest’ultima a denunciare la mistificazione ideologica su cui si fonda l’esercizio del potere contemporaneo. In quest’ottica entrambe le autrici si pongono come differenti espressioni di un «medien- und sprachkritische[r] Realismus»[24] in cui la sperimentazione intermediale restituisce la circolazione viziata del linguaggio quotidiano.

Tuttavia, nell’orientare il proprio sguardo sul mondo contemporaneo, Kathrin Röggla non tralascia un altro segmento espressivo della Skepsis, quello legato all’uso del congiuntivo, che risulta non ugualmente approfondito dalla critica.

Gran parte delle Poetikvorlesungen[25] tenute dall’autrice a Zurigo nel 2016 sono però dedicate proprio all’estrinsecazione di questi rapporti. Nel corso del suo intervento, orientato a riflettere sulle possibilità di rappresentare un presente in affanno verso il futuro, Röggla non manca infatti di legare la propria genealogia estetica all’impiego sistematico del congiuntivo, che identifica come lascito di un’eredità nazionale: «der Konjunktiv hat sein Hauptlager in Österreich aufgestellt»[26]. L’approccio filologico della Vorlesung, secondo cui l’autrice legge in rapporto di continuità il Möglichkeitssinn della scrittura di Musil, e lo Sprachwitz fondativo della poetica di Jandl, non viene utilizzato da Röggla unicamente per rivendicare il proprio posto all’interno della tradizione letteraria austriaca, quanto piuttosto per storicizzare determinate scritture nate in reazione alle crisi del ventesimo e del ventunesimo secolo. In questo modo contestualizza il proprio lavoro in relazione alla crisi del contemporaneo, legandolo da un punto di vista letterario all’uso del congiuntivo:

Wo ist das Hier und Jetzt des Sprechers, fragt sich der Konjunktivhörende. Man beginnt es zu suchen und wird mit dem nächsten Konjunktivsatz wieder von ihm abgerückt. Eine Nichtstelle, ein inexistenter und doch hoch aufgeladener Raum. So ein Konjunktiv kam auch in meinem Schreiben nicht aus dem Nichts, geerbt habe ich nicht nur von Musil, sondern noch viel deutlicher von einem anderen Österreicher (der Konjunktiv hat sein Hauptlager in Österreich aufgestellt, das wissen wir heute), nämlich Ernst Jandl. “Aus der Fremde” heißt das Stück, nein, die Sprechoper, die der österreichische Schriftsteller 1980 in reinem Konjunktiv verfasst hat. […] Die Frage, wer noch handelt, erhält im Konjunktiv ein neues Licht. Er geht der ständigen Verschiebung der Handlung nach, die wir in der öffentlichen Rede erleben.[27]

Röggla qui legge la «Verschiebung der Handlung» generata dal congiuntivo, ovvero lo slittamento prospettico nella rappresentazione del quotidiano, come aspetto caratteristico della tradizione letteraria austriaca. Non a caso, gli scrittori citati traducono gli scenari di crisi che vivono nella prospettiva “sfocata” data da questo modo verbale: Musil rappresenta la crisi dell’età moderna creando un personaggio, Ulrich di Der Mann ohne Eigenschaften, che vive nella dimensione «Potentialis»[28] del congiuntivo; Jandl invece, per reagire alla crisi esistenziale del secondo Novecento, sviluppa un linguaggio lirico basato su di un «Wille zur Unsicherheit»[29]. Pertanto l’inserimento in una tale genealogia comporta per Röggla una necessaria rilettura della funzione del congiuntivo, che in quest’ottica si codifica come prospettiva storicamente adatta a tradurre la crisi sul piano estetico. In questo contesto, il richiamo ad Ernst Jandl, figura centrale nell’avanguardia lirica del secondo Novecento, funge da traccia per poter contestualizzare questo tipo di operazione.

Nel corso della Vorlesung, Röggla enuclea le caratteristiche del congiuntivo, enfatizzandone la capacità di separare livelli e piani della narrazione:

Der Konjunktiv zerschneidet den Bühnenraum, bzw. fügt er sozusagen eine fünfte Wand ein, eine externe Sprecherposition, eine Art Mehrzeitigkeit des performativen Sprechens. Er ist eine Spaltmaschine. Zwischen dem sprechenden Subjekt und dem Subjekt der Sätze, zwischen dem “Hier und Jetzt”, dem “Eben noch” und dem “jetzt gerade”, dem “Hier und dort”, dem Sprecher und dem Sprechenden.[30]

L’evocazione di una distanza critica e, al contempo, di meccanismi di frattura nella continuità espressiva della narrazione tradisce un’attenta lettura da parte dell’autrice del poeta che ha rappresentato il linguaggio «unter großem Druck»[31]. Jandl, infatti, reinventa il linguaggio poetico, deformando il quotidiano in giochi linguistici volti a dislocare il valore referenziale della parola secondo principi sonori e visivi, come testimoniano le celebri raccolte laut und luise[32] (1966) e der künstliche baum[33] (1970). Questo tipo di sperimentazione non è da considerarsi un puro esercizio di stile, quanto piuttosto come il cardine della Gesellschaftkritik espressa dal poeta che, nei fatti, si manifesta come una Sprachkritik. Secondo Jandl, del resto, lo scopo della sperimentazione linguistica è proprio quello di mostrare la distanza che intercorre tra la parola e il mondo: «Dinge aus Sprachen zu erzeugen, die zu den Dingen, wie man sich kennt, ihre eigene Distanz haben. Der Wille zur Unsicherheit [ist] also ein Merkmal der sogenannte experimentelle Dich­tung»[34]. Haag e Wiecha definiscono, a ragion veduta, questa modalità di svelamento intrapresa dal poeta come una «Kritik versprachlichten Bewußt­seins»[35].

D’altronde, l’analogia tra Gesellschaftkritik e Sprachkritik figura come tratto distintivo di tutta la generazione di poeti e scrittori legata alla Zweite Republik. Schmidt-Dengler, nell’interrogarsi su «cosa ci sia di austriaco nella letteratura austriaca»[36], passa in rassegna diverse ipotesi riguardo la «politische Passivität»[37] imputata a questi autori, riscontrando però come la virtù politica della loro scrittura risieda nelle modalità attraverso cui questi rappresentano il quotidiano, piuttosto che nei temi trattati. In altre parole, la questione riguarda «wie Geschichte präsent wird»[38], laddove quel corsivo rimanda immediatamente all’esercizio linguistico che caratterizza questi interpreti del secondo Novecento. Nel fornire degli esempi di scritture che provano a fare i conti con la storia, Schmidt-Dengler menziona poi proprio Aus der Fremde: Sprechoper in 7 Szenen[39] (1980), opera che Röggla sceglie come maggiormente rappresentativa per la sua ricezione di Jandl, in quanto esempio di «reiner Konjuntiv»[40].

In questo dramma lirico, Jandl mette in scena tre figure stilizzate – er, sie ed er2 – che si confrontano in dialoghi al confine con il canto, «an der Grenze zum Singen» (AdF, 5), esprimendosi al Konjunktiv I. L’opera è incentrata sull’acuto stato di depressione di er, uno scrittore che, alienato dalla propria vita, non riesce più a scrivere. Jandl traduce qui il sentimento di distacco dal proprio essere, tipico della patologia depressiva, nello straniamento veicolato dal congiuntivo, tematizzando apertamente questa scelta all’interno della pièce. Nella quarta scena si trova infatti un momento metadiscorsivo in cui er e sie riflettono sulla funzione di questo modo verbale:

sie: außerordentlich diese
verwendung des konjunktivs
den sie selbst so liebe
er: außerdem alles
in der dritten
person
was einige
als sehr gekünstelt
empfinden würden
[…]
wobei konjunktiv ebenso
wie dritte person
ein gleiches erreichten
nämlich objektivierung
relativierung
und zerbrechen der illusion (AdF, 61-62)

L’esasperazione di un’atmosfera artificiale, «gekünstelt» nel testo, è quindi orientata alla rappresentazione oggettivata dell’eventualità comunicativa del linguaggio. Tale obiettivo si raggiunge grazie all’impiego radicale del congiuntivo che, come si legge nell’opera, attiva contemporaneamente processi di «objektivierung» e «relativierung» della parola, volti a decostruire la realtà. «[Z]erbrechen der illusion» significa dunque per Jandl mettere in scena il puro, quanto vano, esercizio del linguaggio. Questo aspetto viene formulato chiaramente al termine della sequenza metadiscorsiva qui citata, quando la figura er afferma: «der konjunktiv nun / bewirke / daß dieses erzählen // nicht ein erzählen / von etwas / geschehenem sei // sondern daß es das erzählen / von etwas / erzähltem sei» (AdF, 63-64). Del resto, nella vita di questo er non figura alcun «geschehen», poiché trascorre le sue giornate bevendo, fumando e assumendo antidepressivi, in attesa delle fugaci visite della figura sie, di cui è molto innamorato. Pertanto costui vive nel distacco proprio del congiuntivo e non può esprimersi altrimenti.

Tuttavia, la stagnazione emotiva e artistica in cui si trova il protagonista – «ein morast» (AdF 16,102) – non figura come reazione avulsa dalla realtà circostante, quanto piuttosto come il frutto della condizione di isolamento che egli si è imposto per via dell’ordinamento sociale austriaco. Al termine della scena compaiono infatti accenni concreti ai meccanismi di rimozione e censura vigenti in Austria che chiarificano la posizione di outsider assunta dal protagonista:

er: im übrigen
wisse er
einen dreck
man solle ihn mal
eine stunde lang
österreichische geschichte erzählen lassen
in australien
sei das möglich
es sei ein alptraum
[…]
geschichtshaß
gründlichst empfangen
habe er zur nazizeit
geschichtsverlangen
kenne er
auch heute noch nicht (AdF, 58-59)

La storia nazionale appare spogliata di ogni patina piccolo-borghese, rivelando la propria essenza di «dreck», un ammasso di sporcizia che non trova spazio nel discorso ufficiale. Qui traspare a piccole dosi la consueta ironia dissacrante che caratterizza la scrittura di Jandl, giacché il protagonista, facendo leva sul classico equivoco fondato tra i sostantivi austria e australia, nomina quest’ultima come meta ideale in cui poter finalmente narrare un’altra versione della storia nazionale: la propria.

Pertanto, la depressione in cui versa la figura er denuncia il rapporto dissidente di Jandl con la società austriaca. Il dislocamento del congiuntivo, oltre a rappresentare il distacco di questo individuo dalla propria vita, serve quindi a “raffreddare” l’impeto del sentimento di protesta proprio per amplificare maggiormente l’espressione di dissenso da parte del poeta.

Bisogna quindi leggere sotto questa luce l’immagine della «Spaltmaschine» evocata da Röggla, che apprende da questa pièce la forza dirompente del Konjunktiv I. Jandl diventa quindi il modello da cui impara a modulare la lingua per poter ricostruire in vitro le dinamiche di auto-narrazione dell’individuo, mettendone a nudo le discrasie con il mondo interno ed esterno.

Esercizi di un sentire austriaco: la raccolta die alarmbereiten (2010)

La raccolta di prose die alarmbereiten[41] figura come una delle ultime pubblicazioni di Kathrin Röggla che prosegue ostinata la propria ricerca sul mondo contemporaneo, indagando il presente da postazioni differenti. In questo caso, si tratta di un presente in stato di allarme, vale a dire il presente dello Stato di Eccezione, paradigma imprescindibile in tutta l’opera di Röggla[42]. La raccolta consta di sette racconti, basati su temi ricorrenti nella poetica della scrittrice, quali la precarizzazione del quotidiano e l’induzione mediatica del panico, che nel complesso costituiscono un collage di scorci prospettici sulla crisi che attraversa il contemporaneo.

A differenza dei lavori precedenti, dedicati all’estrinsecazione di dinamiche che nel concreto hanno modificato il volto della società attuale, ovvero gli attentati terroristici del 2001 e la “svolta” digitale nel mercato del lavoro, in quest’opera Röggla mette in scena il rapporto di latenza tra l’immaginazione della catastrofe e il suo arrivo reale. Al centro della raccolta si trovano quindi previsioni future e proiezioni apocalittiche, in altre parole, stati di agitazione mentale.

Questo taglio prospettico porta l’autrice ad un ulteriore approfondimento dei meccanismi comunicativi dell’individuo, in quanto è nella dimensione discorsiva che lo stato di allarme si diffonde in maniera virale. Pertanto è proprio con die alarmbereiten che Röggla centra l’obiettivo ricercato lungo tutta la sua produzione artistica, fuoriuscendo da singoli contesti rappresentativi del presente per analizzare la prima stazione entro cui si compie l’esercizio del potere contemporaneo: la mente umana. Questa operazione non può avere luogo dall’analisi di un Milieu specifico, come nel caso delle opere precedenti, quanto piuttosto dalla somma di diversi contesti che, nonostante differenze geografiche e sociali, si ritrova a pensare secondo un unico schema mentale. Anche Rutka sottolinea questo aspetto, identificando l’oggetto della raccolta in un «medial gesteuerte[r], gesellschaftliche[r] Vorgang»[43]. Non a caso, gli attori delle singole prose risultano riuniti già nel titolo come alarmbereite, immagine che descrive un modo di essere, una dinamica sociale. La raccolta si compone dunque di una partitura di voci in cui speculazioni e teorie del complotto si confondono con il cosiddetto “parere degli esperti”, rappresentando la vaghezza di possibili scenari sempre aperti in cui si concretizza puntualmente la minaccia che l’eccezione diventi una regola. In tal senso, il racconto di questi singolari – e al contempo collettivi – Ausnahmezustände può avvenire unicamente nella dislocazione propria del congiuntivo.

Nella prosa die ansprechbare la relazione tra linguaggio e stato di allarme emerge in maniera particolarmente nitida. Il racconto presenta un dialogo sghembo tra due istanze stilizzate, ich e sie, che discutono dei preoccupanti sviluppi climatici durante una telefonata notturna.

L’azione narrativa si apre in medias res con l’irruzione istantanea dello stato di allarme mentale a cui si faceva accenno in precedenza:

ich solle erstmal luft holen. also erstmal luft holen, bevor ich weiterredete. man könne mich gar nicht verstehen. man verstehe nicht, was ich sagen wolle. also erstmal einatmen und ausatmen, ja? das ausat­men, habe sie sich sagen lassen, das vergesse man so leicht. dabei sei das ausatmen noch wichtiger als das einatmen, warum, wisse sie auch nicht. vielleicht weil verbrauchte luft schädlicher sei als gar keine luft, wobei sie sich das nicht vorstellen könne, ihr sei eine verbrauchte luft stets lieber gewesen als gar keine, weil man selbst aus verbrauchter luft noch etwas sauerstoff rauskriegen könne. (ab, 29)

Il ritmo incessante della prosa replica quello di un attacco di panico in cui immagini e pensieri si alternano in maniera convulsa. In questo caleidoscopio immaginativo la questione del cambiamento climatico viene tematizzata tramite l’inserimento di costruzioni discorsive che rappresentano la voce propagata dai media: l’istanza ich, per provare a calmare la crisi respiratoria a cui è in preda, enuncia diverse ipotesi sull’inquinamento aereo in cui risuona il lessico programmatico e, al contempo, estremamente vago dei servizi giornalistici. L’apparente minacciosità di queste informazioni viene però prontamente messa in dubbio dal congiuntivo (cfr. «verbrauchte luft [sei] schädlicher als gar keine luft, […] weil man selbst aus verbrauchter luft noch etwas sauerstoff rauskriegen könne»). Röggla qui rappresenta la dinamica tautologica dello stato di allarme attuale tramite un procedimento orientato al paradosso, segnalando l’impossibilità dell’istanza ich di fuoriuscire da questo schema mentale per mettere in luce il processo di assimilazione passiva del discorso mediatico.

In una tale concitazione, la situazione dialogica viene introdotta in maniera ambigua dall’enunciato «also erstmal einatmen und ausatmen, ja?», leggibile sia come domanda retorica, sia come ripetizione da parte dell’istanza ich delle parole della sua interlocutrice telefonica. Sin da queste brevi righe risulta quindi piuttosto evidente lo slittamento prospettico proprio del congiuntivo su cui si fonda tutta la prosa, nonché l’intera raccolta.

La configurazione del dialogo tra le due istanze in die ansprechbare si prefigura poi come vetta della sperimentazione sul discorso indiretto condotta da Röggla nella sua produzione in prosa. Infatti, se in wir schlafen nicht (2004) l’autrice traduce l’alienazione lavorativa di matrice neoliberista alternando il discorso diretto a quello indiretto nel formato del dialogo teatrale, in questo racconto è proprio l’io, figura peraltro volutamente assente nell’opera precedente, a mostrarsi nella dimensione distanziata del Konjunktiv I e a farsi tramite del discorso altrui. Nello sviluppo della prosa questa particolare configurazione del dialogo emerge nel momento in cui la “conversazione” tra le due istanze si accende:

was solle dieser themenwechsel? was heiße, es gehe nicht um mich, sondern um sie? ob ich ihr drohen wolle? und nein, sie laufe jetzt nicht auf die straße hinaus, sie begebe sich überhaupt nicht mehr gerne nach draußen, und schon gar nicht nachts. sie bleibe lieber hier am telefon. wieso sie unbedingt rauslaufen solle? […]

ha, sie wisse, was ich gleich sagen werde! ich solle jetzt bloß nicht mit dem gesunden menschenverstand kommen, so nach dem motto: «wenn du siehst, dass das haus in dem du sitzt, brennt, läufst du doch auch raus!» nein, wenn sie ihr haus brennen sehe, laufe sie eben nicht mehr raus. sie bleibe drinnen, sie warte ab, ob es wirklich brenne. (ab, 51)

L’immaginazione di scenari in emergenza continua a fare da sfondo a questo botta e risposta mediato dall’istanza ich, fino a sostituirsi completamente alla percezione della realtà. A questo punto della prosa, il sentimento di derealizzazione veicolato dal congiuntivo è divenuto pervasivo a tal punto, che l’istanza sie, ormai accecata dalle sue stesse fantasie apocalittiche, pur di veder realizzata l’attesa catastrofe ignora ogni istinto di sopravvivenza, restando nel suo appartamento in fiamme.

Da un punto di vista formale, Röggla traduce tale condizione di distanza dal proprio vissuto nel singolare assetto del dialogo, giacché la restituzione estetica dell’esperienza reale presenta un doppio riverbero: la voce di sie riecheggia in quella di ich che, a sua volta, viene mediata dal congiuntivo. A tal riguardo, Krauthausen parla infatti di una «szenische Rede»[44] ripiegata su stessa, giacché risulta impossibile distinguere le parti del dialogo che si riflettono simultaneamente nell’unica istanza parlante[45]. In altre parole, l’io occupa un posto vuoto nella conversazione, è contemporaneamente specchio e riflesso del suo interlocutore. Questo fattore determina una caratterizzazione asettica delle due istanze che finiscono col in rappresentare il linguaggio in sé, piuttosto che un parlante.

In questa prosa, il valore di Sprechgattungen delle figure create da Röggla assume quindi carattere radicale, poiché esse smettono di simboleggiare categorie sociali sul piano discorsivo, diventando la pura trasposizione letteraria dei generi del discorso in cui, secondo Bachtin, si “versa” il pensiero. Questo approfondimento mirato alle strutture percettive del reale figura al congiuntivo per esemplificare la prospettiva offuscata dello stare perennemente sulla soglia di una catastrofe eventuale e di non saper più distinguere la realtà dall’immaginazione. Anche Krauthausen sottolinea questo aspetto, leggendo la scelta di utilizzare radicalmente il congiuntivo come sintesi estetica del lavoro compiuto da Röggla sullo Stato di Eccezione: «der Ausnahmefall des Konjunktivs [geriert sich] als einzige “Normalität”. Vor diesem Hintergrund der Grammatik gilt daher, dass in die ansprechbare das Sprechen selbst sich immer schon im Ausnahmezustand befindet»[46].

Lo stato di emergenza del linguaggio riflette quindi la postazione alienata da cui oggi si percepisce la realtà. Pertanto il congiuntivo in questo caso non serve unicamente a denunciare le modalità con cui il panico penetra nella mente umana, quanto piuttosto a codificare la stazione più recente in cui si trova l’individuo prodotto dalla società tecnocratica. Osservando in prospettiva cronologica l’opera di Röggla, si noterà come l’impiego di questo modo verbale raggiunga una forma definita nella rappresentazione del post 9/11, in concomitanza con quello che Morgenroth definisce l’inizio di una «globale Fernsehgesellschaft»[47], e si interromperà nel 2016 con Nachtsendungen, ultima raccolta pubblicata sinora dall’autrice, che fa qui ritorno all’indicativo. Ciò lascia intuire che con die alarmbereiten il lavoro sul congiuntivo giunga al vertice del perfezionamento ed è proprio per questo motivo che l’impronta di Jandl risulta qui piuttosto nitida.

Ritornando all’uso e alla funzione che il poeta dà a questo modo verbale nella sua Sprechoper, sono evidenti già ad un primo sguardo le affinità che legano le due partiture. La caratterizzazione dei personaggi come istanze discorsive, spesso veicolate da pronomi, figura come primo punto di contatto fra le opere in questione. L’aspetto più interessante risiede però nella configurazione del dialogo da parte dei due autori, giacché Jandl sperimenta su questo formato rendendolo una «Wechselrede in Form des Echos»[48]. L’innesto del congiuntivo amplifica l’eco isolata dalla figura er negli incontri con sie ed er2, consentendo al poeta di denunciare l’ininterrotto regime di censura ideologica in Austria. Röggla qui supera in un certo senso il proprio maestro, duplicando l’eco del dialogo nel riverbero di una sola istanza.

In die ansprechbare, infatti, il congiuntivo porta ad una dimensione estrema la condizione alienata in cui versano le voci protagoniste. Entrambe risultano incapaci di prendere realmente parte alla comunicazione dialogica che, in questa quadratura, simboleggia il primo livello di contatto con il mondo. Nöllegen, a riguardo, parla di una «kommunikative Unerreichbarkeit»[49], sottolineando come il nucleo centrale della prosa, ovvero la speculazione su scenari futuri formulata secondo “il parere degli esperti”, consista principalmente – come, del resto, in tutta l’opera di Röggla –, in un problema di comunicazione. La scrittrice ritrae dunque l’isolamento sociale da questa prospettiva, rappresentando l’individuo contemporaneo racchiuso in una vera e propria bolla, attorniato unicamente da dispositivi elettrodomestici e voci mediali. Il congiuntivo traduce su un piano estetico questa prospettiva di vita, fondata esattamente su quella dimensione in differita descritta da Jäger[50].

A riprova di ciò basta volgere rapidamente lo sguardo alla conclusione della prosa, che, come accennato in precedenza, termina con l’arrivo della catastrofe a lungo invocata. Tale evento modifica la configurazione stilistica su cui si è snodato l’intero racconto poiché al congiuntivo si sostituisce l’indicativo:

wie? ich werde ihr doch nicht sagen, dass es jetzt aus sei. dass sie jeden moment keine luft mehr bekommen werde, weil gleich keine luft mehr um sie sei. […] ich werde ihr doch nicht sagen, dass sie angekommen sei an einem ort, an dem plusquamperfekt und futur 2 zusammenflössen, das werde ich doch nicht sagen, und dass das mein letzter satz gewesen sei. (ab, 52-53)

La prospettiva di totale alienazione dal reale, espressa sin qui dai Konjunktiv I, viene interrotta da un accadimento effettivo, segnalato dall’indicativo, modo verbale deputato all’espressione della realtà. In questa prospettiva la «szenische Rede» modulata fino a questo momento si scioglie e le voci delle due protagoniste si collocano in due postazioni opposte. L’istanza sie, che mai era giunta a parlare in prima persona, soccombe a causa di un incidente domestico generato dall’incendio improvviso di un cavo elettrico. Bisogna sottolineare come la natura fatale di questo incidente derivi dalla dissociazione della vittima, così assorta nelle speculazioni telefoniche, ovvero persa in un vissuto “al congiuntivo”, da non credere alla realtà circostante. D’altra parte, la fuoriuscita dal limbo immaginativo del Konjunktiv I avviene per l’istanza ich in tutti altri toni, poiché in questa circostanza assume le vesti di chi resta a guardare la realtà da una prospettiva linguistica vicina alla profezia. Nel momento unico e irripetibile della catastrofe, questa assume il tono perentorio degli esperti tanto a lungo nominati nei dialoghi precedenti. In linea con la valenza altamente simbolica conferita al congiuntivo, la minaccia costituita da questi pareri si esprime nel carattere ineluttabile dell’indicativo futuro.

Bisogna a questo punto aggiungere che in die alarmbereiten l’impiego radicale del congiuntivo, appreso da Jandl, si riflette anche in un lavoro sui formati narrativi che esprimono la medesima rarefazione prospettica. Tra questi figura il Protokoll, modulo che Röggla utilizza nella prosa die zuseher.

Al centro del racconto si trova il rapporto di attrazione voyeuristica dalla catastrofe, ambientato presso l’Hotel Safitel di Los Angeles, dove gli impiegati di un’agenzia per il «desastertourismus», gli zuseher del titolo, tengono un convegno sulle tecniche di previsione e pianificazione di nuove strategie di vendita. Nel corso della prosa questi si esercitano ad immaginare possibili calamità mentre osservano un parcheggio popolato da gente comune, definita «panikeinkäufer» (ab, 8), al fine di poter capitalizzare un caso di emergenza futura. L’impiego di questo sostantivo designa immediatamente il mercato della paura come contesto frequentato dai protagonisti poiché mette in relazione il sentimento del panico, indotto dalla narrazione mediatica del quotidiano, con le dinamiche economiche che hanno come stazione intermedia proprio il parcheggio, in quanto luogo di sosta tra un acquisto e l’altro. Oltre a questo gruppo figura il personaggio del protokollführer che redige il verbale dell’incontro.

L’azione narrativa comincia con la segnalazione dello smarrimento del Protokoll redatto nella prima seduta, probabilmente sottratto al gruppo da paul kirchstätter, responsabile del team, anch’egli sparito[51]. Il furto del verbale introduce l’utilizzo di questo modello all’interno del testo e giustifica l’inizio dell’azione dalla seconda seduta.

Nel dispiegarsi della prosa, Röggla caratterizza immediatamente il verbale come formato legato al congiuntivo, lasciando intravedere lo sguardo esterno del protokollführer nella riscrittura in differita delle parole di gerd pregler, CEO della geosick, divenuto leader del gruppo dopo la scomparsa di kirch­stätter. La funzione simbolica di questo modello narrativo viene invece esemplificata nella rievocazione della quarta seduta del seminario, in cui appare evidente il suo potere performativo nel processo di rimessa in scena del reale:

4. sitzung: selber ort, dienstag 24.9., 8.45 uhr, anwwesende: gerd pregler, marko keglevic sowie der protokollführer.

«so reden sie nicht», habe frau strebitz gesagt, «so reden keine sonder­ermittler, keine sonderbeauftragten und auch kein sondereinsatzkommando», habe sie gleich fachmännisch festgestellt. […] «was soll’s», habe er ihr geantwortet, «uns bleiben nur diese hier» doch sie habe nur die luft eingesogen und gesagt: «du verstehst nicht, was ich meine». dann habe sie einen augenblick geschwiegen, einen augenblick, in dem er tatsächlich nicht gewusst habe, was sie meine. […] in dem augenblick sei er einfach nur wütend gewesen. da habe man sich endlich rausbegeben, da habe man sich runter auf die straße begeben und sei auch glatt auf sowas wie ein team gestoßen, und sie haue einfach ab. […] wie? einfach gegangen?, habe auch er sich gefragt, wie das möglich sein könne. (ab, 22-23)

La quarta e ultima seduta vede l’abbandono del gruppo da parte di berit strebitz, direttrice del settore sviluppo nell’azienda mur-mur-chemie (ab, 7). La discussione tra strebitz e pregler è riportata in un dialogo ibrido che oscilla fra la rievocazione in tempo reale dell’incontro, data dal discorso diretto, e la sua ratifica scritta. A margine del battibecco fra i due si trovano infatti le aggiunte del protokollführer, che riporta al congiuntivo le loro azioni fino poi a cancellare totalmente la presenza della donna dalla seduta, facendola figurare come assente (cfr. «anwesende: gerd pregler, marko keglevic sowie der protokollführer»). I tre livelli del racconto, vale a dire le didascalie protocollate, il discorso diretto e il discorso indiretto, si contraddicono dunque, delegando al protokollführer il massimo potere nella riscrittura della realtà che, nel dettato ufficiale, si sostituisce all’accadimento poiché lo sovrascrive. Anche Lewandowski solleva la facoltà di poter intervenire nella progressiva ratifica di un «Gesprochen Werden»[52] degli altri personaggi da parte di questa terza istanza, rintracciandone il raggio di azione nella trascrizione dell’oralità, momento in cui il già detto viene naturalmente sottoposto a meccanismi di manipolazione[53].

Pertanto, in die zuseher Röggla declina il motivo centrale della raccolta – lo stato di agitazione mentale – da un’angolazione atta a mostrare i processi di mistificazione del reale. In questa quadratura, il verbale risulta il modello maggiormente adatto alla rappresentazione di una tale dinamica poiché si colloca tra la realtà e la finzione. Nei loro studi riguardanti la funzione culturale del Protokoll, Niehaus e Schmidt-Hannisa sottolineano infatti come la narrazione protocollata si distingua dalle altre per una manifesta ambivalenza nella restituzione degli eventi[54]; in questo senso il formato del Protokoll riflette le caratteristiche che Jäger rintracciava nel congiuntivo: da un lato la relazione con una temporalità differente dal presente, dall’altra la predisposizione alla manipolazione dei contenuti veicolati da questo modo verbale.

Questa prospettiva di mistificazione del vissuto nella ratifica scritta si rovescia però nella nota finale, in cui – come per die ansprechbare – una catastrofe naturale si abbatte sul parcheggio studiato dai protagonisti. Qui il protokollführer, che nel corso della prosa ha diretto una messinscena del discorso fondata sull’osservazione passiva del reale, deposita il verbale e fuoriesce dal gruppo degli zuseher. Abbandonato il suo ruolo sociale, questi agisce consapevolmente ai danni dell’azienda prestando aiuto ai «panikeinkäufer» in difficoltà. Tale rivolgimento risulta possibile proprio grazie all’ istituzione di uno Stato di Eccezione concreto, non più accumulazione di immaginazioni votata all’arricchimento dei mercati, ma «ein schwarz ohne alles» (ab, 26), ovvero pura anomia[55].

L’impiego del Protokoll da parte di Röggla non si può certo ascrivere direttamente all’influsso di Jandl sulla sua poetica. Tuttavia, si può avanzare l’ipotesi che esplorando una dimensione linguistica proveniente «aus der Fremde», la scrittrice sia giunta a rintracciare in un questo modello narrativo un corrispettivo adeguato al Konjunktiv I. Non appare una coincidenza, del resto, che Jandl, insieme ad altri illustri esponenti dell’avanguardia austriaca del secondo Novecento, abbia preso parte ad una rivista nata in risposta alla censura vigente in Austria, intitolata proprio «Protokolle». Il dato interessante che qui si riscontra è quindi l’attitudine al «protokollieren»[56] sviluppata dagli interpreti di questa tradizione, intesa come modalità di registrare la realtà per restituirla in una prospettiva critica.

In definitiva è proprio quest’ultimo l’aspetto centrale che Röggla eredita dagli scrittori della Sprachskepsis: l’attitudine a “deformare” realtà in crisi grazie al virtuosismo linguistico. Il sentire austriaco della lingua, a cui si faceva accenno in precedenza, prende corpo nell’equivalenza tra Gesellschaftkritik e Sprachkritik, trovando ampio riscontro in uso congiuntivo del linguaggio. L’impiego di questo modo verbale e dei modelli narrativi ad esso connessi non risulta interessante unicamente per approfondire l’impronta di Jandl sulla scrittura di Röggla, documentata peraltro dall’autrice stessa, quanto piuttosto per osservare la reale funzione che il congiuntivo assume nei diversi tentativi di rappresentare la realtà messi in atto dai due scrittori.

L’osservazione ravvicinata di Aus der Fremde e die alarmbereiten lascia infatti trasparire come l’impiego del congiuntivo sia funzionale alla creazione di figure incapaci di esprimersi a parole proprie, espediente che concentra l’attenzione sul linguaggio in sé, in quanto sfera in cui si depositano i cambiamenti sociali. Jandl, infatti, costruisce la propria opera sulla lingua alienata di un individuo isolatosi volutamente dal proprio contesto per denunciare l’ordinamento piccolo-borghese della società austriaca; Röggla lascia invece risuonare la crisi della verità nell’era delle fake news mettendo in scena le strutture comunicative del discorso contemporaneo in istanze più simili a degli altoparlanti che a degli esseri viventi. In quest’ottica il Konjunktiv I figura quindi come strumento utile a censire con grande immediatezza lo stadio della società alle soglie e nel mezzo dell’età contemporanea poiché, nel solco della teoria dei giochi linguistici, è il linguaggio che costruisce il mondo e in questo modo verbale tale assunto trova pieno compimento. Riprendendo quindi l’interrogativo che Schmidt-Dengler si poneva nel 1984, ciò che la letteratura austriaca – incarnata in questo caso da Jandl e Röggla – ha di austriaco non riguarda unicamente la questione di “come” la Storia sia presente, ma anche, più strettamente, di “dove” questa prenda corpo. Si tratta in entrambi i casi della lingua che da un lato registra, ripresenta e sovverte le dinamiche di costruzione della società e che, dall’altro, crea la Storia stessa.

Bibliografia

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[1] K. Röggla, niemand lacht rückwärts, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1995.

[2] T. Nusser, «Realismus beginnt eigentlich immer, und das von allen Seiten, er ist eine permanente Aufforderung» Über Kathrin Rögglas Texte, in S. Fauth, R. Parr (Hg.), Neue Realismen in der Gegenwartsliteratur, Wilhelm Fink, Padeborn 2016, pp. 213-225.

[3] I. Balint et. alii (Hg.), Kathrin Röggla, edition text+kritik, München 2017.

[4] F. Marx, J. Schöll (Hg.), Literatur im Ausnahmezustand. Beiträge zum Werk Kathrin Rögglas, Könighausen & Neumann, Würzburg 2019.

[5] K. Röggla, really ground zero: 11 september und folgendes, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2001.

[6] K. Röggla, wir schlafen nicht, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2004.

[7] C. Ivanovic, Bewegliche Katastrophe, stagnierende Bilder – Mediale Verschiebungen in Kathrin Rögglas really ground zero, in «Kultur & Gespenster» N.2, 2006, pp. 108-117, qui p. 109.

[8] K. Krauthausen, Gespräche mit Untoten. Das konjunktivische Interview in Kathrin Rögglas Roman wir schlafen nicht, in «Kultur & Gespenster» N.2, 2006, pp. 118-135, qui p. 121.

[9] S. Jäger, Zu Gebrauch und Leistung des Konjunktiv in der deutschen Sprache der Gegenwart, in «Colloquia Germanica» N. 4, 1970, pp. 268-288, qui p. 276.

[10] Cfr. «Verfälschungen und Verdrehungen sind dabei Tür und Tor geöffnet, was leicht festzustellen ist, wenn man die große Rede der Politiker mit dem vergleicht, was manche Zeitungen berichten». Ibidem.

[11] Ivi, p. 281.

[12] M. Bachtin, Sprechgattungen, hrsg. von R. Grübel, R. Lachmann, S. Sasse, Matthes & Seitz, Berlin 2017.

[13] Ivi, p. 31.

[14] Paradigmi teorici centrali nell’opera di Röggla risultano essere Michel Foucault, Gilles Deleuze e Guy Debord alla cui ricezione l’autrice dedica ampio spazio nella sua produzione saggistica. L’approfondimento di questi rapporti non potrà essere sviluppato in questa sede per ragioni di brevità, pertanto si rimanda al saggio in cui questi aspetti vengono maggiormente messi a fuoco. Cfr. K. Röggla Stottern und Stolpern. Strategie einer literarischen Gesprächführung (2007), in ead., besser wäre: keine. Essays und Theater, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013, pp. 307-332.

[15] H. von Hofmannstahl, Ein Brief, in Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe, hrsg. von E. Ritter, Fischer Verlag, Frankfurt a. M 1991, pp. 45-55.

[16] L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1971.

[17] L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991.

[18] L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, cit., p. 19.

[19] Ivi, p. 40.

[20] Cfr. «also meint der, der sagt, der Besen stehe in der Ecke, eigentlich: der Stiel sei dort und die Bürste, und der Stiel stecke in der Bürste?». Ivi, p. 45.

[21] E. Kormann, Jelineks Tochter und das Medienspiel. Zu Kathrin Rögglas wir schlafen nicht, in I. Nagelschmidt, L. Müller-Dannhausen (Hg.), Zwischen Inszenierung und Botschaft: zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, Frank&Timme, Berlin 2006, pp. 229-245 qui p. 239.

[22] Ivi.

[23] M. Szczepaniak, Elfriede Jelinek und Kathrin Röggla «in Mediengewittern», in J. Drynda, M. Wimmer (Hg.), Neue Stimmen aus Österreich: 11 Einblicke in die Literatur der Jahrtausendwende, Peter Lang, Frankfurt a. M. 2013, pp. 25-35.

[24] W. von Bernstoff, Die Macht der Bilder. Terror statt Toleranz. Theaterstücke von Kathrin Röggla, Elfriede Jelinek, Aly Jalaly, in R. Weierhausen (Hg.), Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011, pp. 157-174, qui p. 161.

[25] Cfr. K. Röggla, Zürich I – Zukunft als literarische Ressource, LINK [06.03.2020].

[26] Ivi.

[27] Ivi.

[28] Cfr. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in Gesammelte Werke in Einzelausgabe, hrsg. von Adolf Frisé, Rowohlt, Hamburg 1957, pp. 18-21.

[29] E. Jandl, Voraussetzungen Beispiele und Ziele einer poetischen Arbeitsweise, In «Protokolle 70/2», Wien/München 1970, p. 34.

[30] K. Röggla, Zürich I, cit.

[31] E. Jandl, Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1985, p. 128.

[32] E. Jandl, laut und luise, Walter, Olten 1960.

[33] E. Jandl, der künstliche baum, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1976.

[34] E. Jandl, Voraussetzungen, cit., p. 28.

[35] I. Haag, E. Wiecha, Konversation auf Abwegen – zu Ernst Jandl Bühnensatire Die Humanisten, in «Modern Austrian Literature» vol. 15 N. 1, 1982, pp. 115-126, qui p. 120.

[36] W. Schmidt-Dengler, Geschichten gegen die Geschichte. Gibt es das Österreichische in der österreichischen Literatur?, in «Modern Austrian Literature» vol. 17 N. 3, 1984, pp. 149-157.

[37] Ivi, p. 151.

[38] Ivi, p. 154.

[39] E. Jandl, Aus der Fremde – Sprechoper in 7 Szenen, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1980. D’ora in avanti Adf.

[40] K. Röggla, Zürich I, cit.

[41] K. Röggla, die alarmbereiten, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2010. D’ora in avanti ab.

[42] La riflessione sullo Stato di Eccezione compare per la prima volta nelle ultime pagine di really ground zero, in cui Röggla fa riferimento ad una conferenza tenuta da Giorgio Agamben, filosofo che ha dedicato ampio spazio alla trattazione di questo argomento, all’indomani degli attentati. Cfr. K. Röggla, really ground zero, cit., p. 105ss; G. Agamben, Stato di Eccezione, Bollati & Boringhieri, Milano 2003.

[43] A. Rutka, Zeitgenössische Gesellschaft und ihre Ängste. Zur sprachlichen Re-Inszenierung des Katastrophischen in Kathrin Rögglas Prosaband die alarmbereiten, in «Kategorien und Konzepte» N.139, 2014, pp. 99-112, qui p. 110.

[44] K. Krauthausen, Wette auf die Wirklichkeit. Erzählkalkül in die ansprechbare und Der Wiedereintritt in die Geschichte I von Kathrin Röggla, in Literatur im Ausnahmezustand, cit., pp. 157-184, qui p. 164.

[45] Cfr. «Zwar ist das  ‘ich’, mit seinen früheren Reden über drohende Katastrophen der Hauptgegenstand der Aussagen dieses Gegenübers. Aber das ‘ich’ spricht an keiner Stelle im eigenen Namen und ist als erlebende Figur ausgeschaltet. In der Erzählung hat dieses  ‘ich’ vor allem eine Funktion: Es transportiert die Rede ihres Gegenübers und damit deren Augenperspektive auf das ‘ich’». Ibidem.

[46] Ivi, p. 168.

[47] C.Morgenroth, Erinnerungspolitik und Gegenwartliteratur, Schmidt Verlag, Berlin 2014, p. 201.

[48] I. Haag, E. Wiecha, op. cit., p. 117.

[49] S. Nöllegen. Futur Zwei. Diskurse der Zukunftfähigkeit im Werk Kathrin Rögglas, in Kathrin Röggla, cit., pp. 256-278, qui p. 270.

[50] S. Jäger, op. cit., p. 276.

[51] Si noti a tal proposito l’analogia nella trama di die zuseher con l’opera teatrale di Maeterlinck I ciechi, che si apre con la morte della guida di un gruppo di ciechi del bosco i quali, ormai smarriti, riflettono sull’esistenza attorniati da minacce che non possono osservare. Oltre alla trama anche il gioco fra i titoli sembrerebbe legare le due opere, giacché nel racconto di Röggla viene posta l’attenzione sull’attività dello stare a guardare, mentre in quella di Maeterlinck il focus è sulla cecità, quale espediente utile ad un rivolgimento della prospettiva.

[52] S. Lewandowski, Wi(e)der eine Grammatik der Ausnahme. Kathrin Rögglas die alarmbereiten, in Kathrin Röggla, cit. pp. 54-72, qui p. 62.

[53] Cfr. «Das Gesprochen Werden […] sprachlich womöglich anders eingefärbt und […] abgewandelt wird». Ibidem.

[54] Cfr. «Einerseits kann es Wahrheit beanspruchen […]. Andererseits wird ein Gültigkeitsanspruch ableitbar aus der Fiktion einer vollständigen, selektionslosen oder zumindest vorurteilsfreien Abbildung». M. Niehaus, H. W. Schmidt-Hannisa, Textsorte Protokoll. Ein Aufriß, In id., Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005, pp. 7-26, qui p. 10.

[55] Cfr. «Lo stato di eccezione non è una dittatura ma uno spazio vuoto del diritto, una zona di anomia in cui tutte le determinazioni giuridiche – e, innanzi tutto, la stessa distinzione fra pubblico e privato, sono disattivate». G. Agamben, op. cit., p. 66.

[56] Si legge infatti nella premessa di Wolfang Hackl alla fondazione della rivista: «es sollte  eine Zeitschrift werden, die protokollierte. Dieses Wort, protokollieren, war von Anfang an da». W. Hackl, Kein Bollwerk der alten Garde – keine Experimentierbude. Wort in der Zeit 1955-1965. Eine österreichische Literaturzeitschrift, in «Innsbrücker Beiträge zur Kulturwissenschaft» N. 35., 1988, p. 126.

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Stefano Apostolo

(Milano)

Reitergeschichten
Gaito Gasdanow und das Phantom des Hugo von Hofmannsthal

[Cavalry Tales
Gaito Gasdanow and the Spectre of Hugo von Hofmannsthal
]

abstract. In 1947 the Russian writer Gaito Gasdanow published The Spectre of Alexander Wolf, a novel that appears to mirror various aspects of Hugo von Hofmannsthal’s Reitergeschichte [A Cavalry Tale] (1899). Although at present it cannot be philologically proved that the Reitergeschichte directly inspired Gasdanow, several striking parallels can be drawn be­tween the two works, such as the way the themes of war and revolution are addressed, the encounter with doppelgängers, their deaths, and how the capture of the horse ultimately deals the fatal blow to both protagonists. This article examines these aspects closely by contextualizing them within the literary output and the biographies of both authors.

Spiegelgeschichten und Doppelgänger

Zur Analyse und Interpretation von Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte sind im vergangenen und mittlerweile auch im jetzigen Jahrhundert zahllose Studien erschienen, die sich mit allen denkbaren Aspekten auseinandersetzen und versuchen, die Rätsel um dieses für die Poetik des österreichischen Autors so ungewöhnliche Werk zu lösen[1]. Die erstmals am 24. Dezember 1899 in der Weihnachtsbeilage der Wiener «Neuen Freien Presse» veröffentlichte Geschichte stellt noch heute für die Literaturwissenschaft ein beliebtes Untersuchungsobjekt dar. Es ist ein düsterer, zur weihnachtlichen Atmosphäre nicht ganz passender und außerdem irritierender Text, der mehrere Fragen aufwirft und plötzlich endet, ohne diese beantwortet zu haben. In vielerlei Hinsicht ist die Reitergeschichte, einer der wenigen Prosa-Texte Hofmannsthals, ein «Fremdkörper» in der Produktion des Dichters und regte vermutlich gerade deswegen über die Jahre eine «außerordentlich reichhaltige Reaktion der Forschung» an[2]. Nach der Erstveröffentlichung wurde die Geschichte, zu deren Entstehung sehr wenig bekannt ist[3], zwar wieder dreimal mit anderen Erzählungen publiziert, ohne allerdings in die Gesammelten Werke von 1924 aufgenommen zu werden, als wollte sich Hofmannsthal von diesem Werk – quasi wie von einer Jugendsünde, die er seinem Verleger Anton Kippenberg gegenüber als «bloße Schreibübung» definierte – dezidiert distanzieren[4]. Zudem soll sich hinter dieser «Schlachtenerzählung» der Schatten eines Plagiats verbergen, wie einem Tagebucheintrag Arthur Schnitzlers entnommen werden kann, in dem dieser von einem sich am 12. Dezember 1902 ereigneten Abendgespräch mit Gustav Schwarzkopf berichtet:

Über Hugo einiges. Seine fast unverständliche Neigung zu literar. Aneignungen: Bassompierre in der Zeit, s. Z. eine Schlachtenerzählung in der N. Fr. Pr. (Uhl sagte damals im Schachclub: Ich habe fast wörtlich dasselbe vor kurzem gelesen und weiss nicht mehr wo. Hugo fand es auch merkwürdig, gestand aber nichts zu.)[5]

Ob es sich dabei um ein bewusstes Plagiat, einen unbewussten Einfluss eines anderen Autors oder eine intendierte Ehrerweisung dessen handelt, konnte bis jetzt nicht nachgewiesen werden und wird sehr wahrscheinlich nie nachweisbar sein. Spekulationen zu einem bestimmten Widerhall von Kleists Stil und Ähnlichkeiten mit Passagen aus Goethes Dichtung und Wahrheit bzw. mit Theophile Gautiers Avatar – aber auch Le Chevalier double – wurden im Lauf der Zeit von der Forschung angestellt[6], doch auch hier geht es vielmehr um Vermutungen und Interpretationen, die nicht gänzlich genügen, um fundiert von einem Plagiat zu sprechen. Dass auch der Journalist Friedrich Uhl «damals» den Eindruck hatte, anderswo etwas sehr Ähnliches gelesen zu haben, hat keine ausreichende Aussagekraft, zumal zwischen der Veröffentlichung – möglicherweise der Zeitpunkt, zu dem Uhl die Geschichte gelesen hatte – und dem Tagebucheintrag Schnitzlers fast drei Jahre verstrichen.

Doch selbst Werke, die unter Plagiatsverdacht stehen bzw. von anderen Schriften beeinflusst worden sein dürften, können weitere literarische Produkte inspirieren. Wer den erst 2012 ins Deutsche übersetzten, wie ein verschollenes Meisterwerk begrüßten Roman des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow (1903-1971), Das Phantom des Alexander Wolf (1947-48), liest, muss bereits auf den ersten Seiten zusammenzucken und hat – wie Uhl vor über 100 Jahren – den Eindruck, schon anderswo «fast wörtlich» dasselbe gelesen zu haben. Um es gleich vorwegzunehmen: Selbstverständlich ist das Motiv des Doppelgängers in der Literaturgeschichte sehr verbreitet, und freilich finden sich die in diesem Aufsatz untersuchten Aspekte, die auf einen heutigen Rezipienten wie konstruierte Ereignisse bzw. Begegnungen wirken dürften, im damaligen Kriegskontext nicht selten wieder; außerdem handelt es sich hier um zwei sehr unterschiedliche Werke mit einer eigenen Identität, die in einem sehr unterschiedlichen Stil verfasst wurden. Hofmannsthals Text, von symbolistischen Merkmalen durchdrungen, ist eine kurze Novelle, die bis zum fatalen und furchtbaren Ende an Intensität gewinnt; Gasdanows Roman ist hingegen ein Werk des Existentialismus mit detektivischen Zügen, das von einem schicksalhaften Ereignis ausgeht. Aber gerade dieses Ereignis ist der Schlussepisode der Reitergeschichte verblüffend ähnlich.

Gasdanow verbrachte das Gros seines Lebens in Paris, wo er, ein ehemaliger Weißgardist, 1923 nach der russischen Revolution über einen langen Umweg ankam; damals war er 20 Jahre alt, und um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, übernahm er alle möglichen Gelegenheitsarbeiten. Nebenbei besuchte er Universitätsvorlesungen an der Sorbonne, veröffentlichte erste Prosastücke in Zeitschriften der russischen Emigration und beteiligte sich an der Résistance während des Zweiten Weltkriegs. Anfang der fünfziger Jahre widmete er sich intensiver dem Journalismus und fing an, als freier Mitarbeiter für den amerikanischen Sender «Radio Liberation» zu arbeiten, weswegen er mehrere Jahre auch in München – zum Schluss als Leiter des russischen Programms – tätig war, wo er schließlich 1971 starb.

Ob Gasdanow Hofmannsthals Geschichte tatsächlich las und sich an sie dann teilweise anlehnte, um seinen Roman zu schreiben, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Die meiste Sekundärliteratur steht – obwohl er in Russland erst nach dem Zerfall der Sowjetunion herausgebracht und wirklich entdeckt wurde –[7] lediglich auf Russisch zur Verfügung. Man könnte nichtsdestotrotz zu denken wagen, dass der lange Münchner Aufenthalt einen Autor, dessen Poetik so oft mit derjenigen von Camus und Kafka verglichen wird, auch weitere Werke der neueren deutschsprachigen Literatur entdecken ließ, darunter nicht unwahrscheinlich auch Werke von Hofmannsthal. Manche signifikanten Affinitäten zwischen Gasdanows Roman und der oft für ein Stück der Moderne gehaltenen Reitergeschichte stechen ins Auge und sollen im Folgenden erörtert werden.

Die größte, nicht zu übersehende Parallele lässt sich am Ende der Reitergeschichte und am Anfang des Phantoms beobachten – möglicherweise die bestgelungenen Passagen beider Texte: Sowohl der Wachtmeister Anton Lerch als auch der namenlose Ich-Erzähler des Phantoms geraten in ein Zweiergefecht und erbeuten das außerordentlich schöne Pferd ihres Gegners, was sich in beiden Fällen als ein fatales Ereignis erweist. Am Ende eines langen, unwahrscheinlich erfolgreichen Tages Ende Juli 1848, nachdem Lerch mit seiner Eskadron zahlreiche italienische Truppen geschlagen hat und durch Mailand von Nordosten nach Süden geritten ist[8], kommt er zu einem heruntergekommenen Dorf, wo er während einer einsamen Rekognoszierung an die unwirkliche Erscheinung seines ihm entgegenkommenden Ebenbildes gerät. Kurz nachher wird die ganze Truppe von einer feindlichen Schwadron überrascht, Lerch befindet sich plötzlich allein mit einem italienischen Offizier, verfolgt und tötet ihn grausam und erbeutet seinen prächtigen Eisenschimmel, «der leicht und zierlich wie ein Reh die Füße über seinen sterbenden Herrn hinhob»[9]. Gerade das Beutepferd wird ihm zum Verhängnis: Zurück beim Gros der Truppe, weigert er sich, das wertvolle Tier freizulassen und wird wegen Insubordination vom Rittmeister erschossen. Mit diesem absurden Ende, das mit dem ans Unglaubliche grenzenden Glück der Vormittagsstunden kontrastiert, bricht Hofmanns­thals Geschichte ab.

Der Protagonist von Gasdanows Phantom erlebt eine sehr ähnliche Situation, die im Unterschied zur Reitergeschichte den Anfang des Romans ausmacht, fast wie eine Spiegelgeschichte. Getrennt von seiner Truppe wird er von einem feindlichen Reiter attackiert, der zwar auf ihn schießt, aber statt ihm sein Tier tötet – auch Hofmannsthals feindlicher Offizier versucht, auf Lerch mit einer Pistole zu zielen, hat aber nicht genügend Zeit und wird horrend überrumpelt. Gasdanows Ich-Erzähler schießt zurück und der Gegner fällt zu Boden. In der festen Überzeugung, dass der Andere dem tödlichen Schuss erliegen würde – auch Lerchs Gegner stirbt nicht sofort –, nimmt er ihm sein weißes Pferd, das als «ein gewaltiger Hengst, sehr gepflegt und reinrassig» beschrieben wird, und galoppiert davon[10]. Was im Roman folgt, ist freilich eine andere Geschichte, die aber in mancher Hinsicht für eine alternative Fortsetzung von Hofmannsthals Werk gehalten werden könnte. Auf diesen ersten Seiten, die sehr eindrucksvoll geschrieben sind und mit Sicherheit zu den besten des Romans zählen, baut der Rest des Buches auf. Jahre später stößt der Protagonist, der in Paris eine Existenz als Journalist bestreitet, auf ein englisches Buch mit dem ominösen Titel «I’ll Come Tomorrow», in dem eine Geschichte enthalten ist, welche dieselbe, von ihm erlebte Kriegsepisode haargenau wiedergibt – nur aus der entgegengesetzten Perspektive erzählt. Nach langer Suche stellt sich heraus, dass der Autor tatsächlich jener feindliche Soldat ist, der den Schuss überlebt und daher diese unglaubliche Erzählung unter dem Titel «The Adventure in the Steppe» schriftlich festgehalten hat.

Das ist ein absolut zentraler Punkt in der Handlung beider Werke: Die Hauptfiguren sind mit einer anderen, ihnen unbekannten Person konfrontiert, die sich als schicksalhafter Doppelgänger erweist. Der Protagonist der Reitergeschichte trifft, nachdem er durch das unheimliche Dorf geritten ist, auf sein genaues Ebenbild, das ihm entgegenkommt und spiegelverkehrt dieselben Gesten und Bewegungen ausführt. Das gilt sozusagen als symbolische Vorbereitung auf die anschließende Begegnung mit dem feindlichen Offizier, der ein weiterer Doppelgänger des Protagonisten ist, weil er sich in derselben Lage befindet: Er ist jung – über den Protagonisten ist nicht viel bekannt, aber er ist vermutlich auch jung, zumal er als Wachtmeister den Rang eines niedrigen Unteroffiziers bekleidet – und muss als Soldat Befehle ausführen. Allerdings trägt er eine andere Uniform und hat im Gefecht weniger Glück als Lerch. Die kurze Begegnung und die Tötung des Italieners lassen eine fatale Bindung zwischen den beiden entstehen, die in der Hinrichtung Lerchs ihr Nachspiel findet.

In Gasdanows Werk, sein «formal avancierteste[r]» Roman[11], ist das Doppelgänger-Motiv etwas strukturierter bzw. ausführlicher dargestellt, führt aber zu einem nicht ganz unähnlich verhängnisvollen Schluss. Der namenlose Protagonist tötet wie Lerch seinen doppelgängerartigen Gegner, ist aber ständig vom Gedanken dieses Mordes innerlich zerfressen – und gerade damit fängt der Roman an: «Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe»[12]. Das ist also der Sinn des Wortes «Phantom» im Werktitel, der Mord ist eine quälende Erinnerung und der ermordete Alexander Wolf verfolgt wie ein Phantom den Protagonisten. Als dieser erfährt, dass Wolf noch lebt, macht er sich eifrig auf die Suche nach ihm und kann ihn nicht sofort ausfindig machen – auch so zeigt sich Wolfs Phantomhaftigkeit bzw. «Zwiegesichtigkeit»[13], da der Ich-Erzähler schwer glauben kann, dass Wolf zugleich der feindliche Reiter und auch der Verfasser der so gutgelungenen Erzählung sei. Die Begegnung findet schließlich statt, und da erfährt der Protagonist, dass das alte gemeinsame Erlebnis auch Wolfs Leben und Weltanschauung zutiefst geprägt und geändert hat. Der Tod, so Wolf, begleite ständig jedes Individuum, «wir trügen immer unseren Tod mit uns»[14], behauptet er im Gespräch mit dem Ich-Erzähler, und der Tod sei der Abbruch des Lebensrhythmus, der uns wie eine «scheinbare Gefahrlosigkeit», eine «Illusion von Dauer» vorkommt[15]. Dass der Protagonist seinen Angriff überlebt habe und mit seinem wunderbaren weißen Hengst davongeritten sei, heiße laut Wolf nicht, dass er dem Tod endgültig entflohen sei. Ganz im Gegenteil, er sei sogar nicht einmal davor bewahrt geblieben, Mörder zu werden: Obwohl Wolf nicht tödlich verwundet wurde, soll er am Ende des Romans doch vom Ich-Erzähler unabsichtlich getötet werden. Die entscheidende Fatalität des Pferdes in Hofmannsthals und Gasdanows Werken wurde in den oberen Zeilen schon erwähnt, am Anfang der fiktiven Erzählung «The Adventure in the Steppe» wird diese von Wolf noch deutlicher unterstrichen:

[Mein Hengst] war so großartig, dass ich ihn am liebsten mit einem der Pferde verglichen hätte, von denen in der Apokalypse die Rede ist. Diese Ähnlichkeit trat – für mich persönlich – noch dadurch zutage, dass ich auf ebendiesem Pferd meinem eigenen Tod entgegengaloppiert bin, über glühende Erde und an einem der heißesten Tage meines ganzen Lebens.[16]

Das Pferd wird also zum apokalyptischen Tier, auf dem der Reiter – egal ob Wolf oder der Ich-Erzähler – sicheren Trittes in den Tod galoppiert, wie Wolf erklärt: «Wenn ich damals hätte sprechen können, hätte ich Ihnen nachgerufen, Sie sollten innehalten, er [der Tod] warte auf Sie, wie er auf mich gewartet hatte, und ein zweites Mal werde er nicht danebenschießen»[17].

Die vier Figuren dieser Konstellation sind ausnahmslos Opfer des Krieges und seiner gnadenlosen bzw. sinnlosen Gesetze: Der italienische Offizier und Lerch fallen im Krieg, genau genommen während und unmittelbar nach der Kampfaktion; Alexander Wolf und der Ich-Erzähler leiden hingegen unter schweren Kriegstraumata: Beide waren im Krieg und haben überlebt, sind aber täglich mit jenen tiefen Spuren konfrontiert, die er in ihren Leben hinterlassen hat. In Gasdanows Werk sind das die unausweichlichen Konsequenzen des verstörten 20. Jahrhunderts, das «die Seelenwelten beschädigt, […] Schicksale und Persönlichkeiten gespalten und den Menschen die innere Harmonie genommen» hat[18]. Nichtsdestotrotz sollten sich ihre Schicksale wieder vereinen und zur endgültigen – und zugleich banalen – Ermordung des Alexander Wolf führen.

Steppengeschichten im Schatten zweier Revolutionen

Das militärische Element ist in den zwei Werken zentral und kann u.a. auch als ein gemeinsamer Nenner in den Biographien ihrer Autoren angesehen werden. Die Genauigkeit des geschilderten Bildes entspringt nämlich direkten Erfahrungen. Als Einjährig-Freiwilliger absolvierte Hofmannsthal von 1. Oktober 1894 bis 19. September 1895 seinen Militärdienst beim 6. Dragoner-Regiment in Wien und in Mähren, worauf er in den folgenden Jahren an weiteren, regelmäßigen Militärübungen in Galizien teilnahm, wie etwa in Tlumacz und Czortkow[19]. Er war daher mit Exerzierübungen, Kasernenleben und Fachsprache vertraut, bei welcher er sich in seiner Geschichte reichlich und detailliert bedient. Gasdanow hingegen schloss sich Ende 1919, mit knapp 16 Jahren, der Weißen Armee an, diente bis November 1920 als Artillerist auf einem gepanzerten Zug in Südrussland (heute Ukraine) bzw. auf der Krim und war daher – im Unterschied zu Hofmannsthal – an wahren Kriegsereignissen beteiligt[20]. Beide schildern den Schauplatz ihrer Reitergeschichten sehr präzise: Gasdanow, der mit diesem Roman ähnliche Bilder und Stimmungen schafft wie sein Zeitgenosse Isaak Babel im Erzählzyklus Die Reiterarmee[21], schöpft aus dem Reservoir eigener Erlebnisse und porträtiert die Gegend, in der er während der Revolution kämpfte; auch Hofmannsthal, obwohl er zur Zeit Radetzkys freilich noch nicht geboren war, liefert genaue geographische Informationen, was keineswegs vom Zufall abhängt.

Dass der österreichische Autor die Stadt Mailand und ihre Umgebung gut kannte, beruht auf zwei Gründen, die für die Entstehung der Geschichte von kardinaler Bedeutung sind und die dennoch im Rahmen der Analyse der Reitergeschichte m.E. bislang oft übersehen wurden. Seitens der väterlichen Großmutter hatte Hofmannsthal lombardische Wurzeln – er schrieb an sie manchmal auf Italienisch, während sein Vater noch etwas Mailänder Dialekt konnte –[22], er verfügte also über ein sprachliches und kulturelles Vermögen, das sein Schaffen unbestreitbar beeinflusste. Diese Bindung an das südliche Nachbarland war dermaßen stark, dass der 23-jährige Hofmannsthal 1897 allein eine Fahrradrunde in die Lombardei unternahm, eine Tour, die ihn, von Tirol kommend, die norditalienische Region mit Staunen entdecken ließ: «Jetzt weiß ich freilich, daß ich früher nie eine wirklich schöne Gegend gesehen habe»[23]. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass diese und vor allem die folgende italienische Radtour, die er im Sommer 1898 machte – diesmal von der Schweiz über den Simplonpass kommend – den unmittelbaren Anlass zur Niederschrift der Reitergeschichte darstellen[24]. Die Lust am Experimentieren und der Wunsch, Prosa zu schreiben, der aus seinen damaligen Briefen hervorgeht, kombinierten sich ausgezeichnet mit dem Biographischen; eine gewisse Parallele, als Radfahrer, mit jenen österreichischen Reitern, die genau 50 Jahre zuvor ihren Streifzug durch die Lombardei machten, ist außerdem nicht auszuschließen[25].

Gasdanows Roman spielt am Anfang in einer südrussischen Steppe, einer Gegend, die nicht identifizierbar ist, weil sich der Ich-Erzähler, von den Kriegsereignissen betäubt, nur an «Empfindungen» erinnern kann[26]. Der Handlungsschauplatz wird daher meist anhand von Eindrücken beschrieben, vor allem wird er durch außerordentliche Hitze, «Hunger, Durst und zermürbende Müdigkeit» charakterisiert, die den Protagonisten quälen: «Es herrschte Gluthitze, in der Luft schwankte abflauender Rauchgeruch; vor einer Stunde hatten wir einen Wald verlassen, dessen eine Seite brannte, und wo das Sonnenlicht nicht hingelangte, war langsam ein riesiger strohgelber Schatten vorwärtsgekrochen»[27]. Diese glühende Atmosphäre, welche den Boden rissig und heiß macht, spiegelt sich auch in Alexander Wolfs Erzählung «I’ll Come Tomorrow» wider, der seinem eigenen Tod «über glühende Erde und an einem der heißesten Tage meines ganzen Lebens» entgegenritt[28]. Das Bild eines vorrückenden Endzeitszenario, als würden sich die Figuren in einer wahrhaft höllischen Gegend bewegen, wird auch in der Reitergeschichte hervorgerufen. Selbst die blühende Lombardei scheint sich im Rahmen der Geschichte in eine steppenartige, stetig heißer und blutiger werdende Ebene zu verwandeln, quasi eine Klimax, die die Schlusskatastrophe vorwegnimmt[29]. In der Stille des Frühmorgens verlassen die Soldaten ihr nächtliches Quartier: Landhäuser und Kirchen glänzen unter einem leuchtenden Himmel, der sich im Laufe des Tages ändert, um Mittag in Mailand – das mit seinen vielen Kirchen am präzisesten geschildert wird[30]«stählern funkelnd» erscheint und kurz nachher von einer «schweren metallischen Glut» geprägt ist[31]. Wegen der bedrückenden Luft wird Lerchs Pferd müde, seine Beine bewegen sich langsam und sind schwer wie Blei – quasi ein Omen; schließlich, nach dem verhängnisvollen Zweiergefecht, liefert Hofmannsthal die Beschreibung einer sehr symbolisch beladenen Stimmung:

Als der Wachtmeister mit dem schönen Beutepferd zurückritt, warf die in schwerem Dunst untergehende Sonne eine ungeheure Röte über die Hutweide. Auch an solchen Stellen, wo gar keine Hufspuren waren, schienen ganze Lachen von Blut zu stehen. Ein roter Widerschein lag auf den weißen Uniformen und den lachenden Gesichtern, die Kürasse und Schabracken funkelten und glühten, und am stärksten drei kleine Feigenbäume, an deren weichen Blättern die Reiter lachend die Blutrinnen ihrer Säbel abgewischt hatten.[32]

Mit diesen eindrucksvollen und zugleich furchtbaren Zeilen, die mit apokalyptischen Tönen die Augenblicke unmittelbar nach der Bluttat sehr bildhaft schildern, wird auf den bevorstehenden, unausweichlichen Tod Lerchs verwiesen.

Solche Gewaltepisoden, die, es sei nebenbei bemerkt, in Hofmannsthals Produktion sehr wenige Verbreitung finden, gehören zum Alltag in Zeiten politischer bzw. militärischer Unruhen, und gerade die Revolution spielt in beiden Werken eine wichtige Rolle. Die Protagonisten sind berittene Soldaten, die im Rahmen einer Revolution mit aufständischen Mächten konfrontiert sind. Beide kämpfen auf der konservativen Seite: Der Ich-Erzähler von Gasdanows Roman ist Weißgardist und stellt sich gegen den Bolschewismus, der Wachtmeister Lerch ist als österreichischer Offizier bemüht, in der aufrührerischen, durch Piemontesen und weitere italienische Truppen besetzten Lombardei Ordnung herzustellen und die Region wieder unter österreichische Kontrolle zu bringen. In beiden Werken spiegelt sich die politische bzw. kulturelle Position ihrer Autoren wider. Gasdanow lehnt sich beim Schreiben stark an das eigene Leben und die eigene Vergangenheit als Weißgardist an, so dass das Phantom – wie auch andere seiner Werke – einen sehr autobiographischen Ton annimmt. In seinem Roman Ein Abend bei Claire geht aus den Überlegungen des Protagonisten Kolja – Gasdanows Alter Ego – klar hervor, warum er mit knapp 16 Jahren beschließt, sich der Weißgarde anzuschließen:

Ich wollte wissen, was das ist, Krieg, es war dies immer noch derselbe Drang nach dem Neuen und Unbekannten. Ich meldete mich zur Weißen Armee, weil ich mich auf ihrem Gebiet befand und weil das so üblich war; wenn Kislowodsk zu jener Zeit von roten Truppen besetzt gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich zur Roten Armee gemeldet.[33]

Seine Teilnahme ist also von jugendlichem, übereiltem Enthusiasmus diktiert, von Neugierde und Drang, Unbekanntes zu entdecken, Großes zu erleben. Nichts nützen die Worte und die Mahnungsversuche des Onkels Witali, ein alter Offizier mit konservativen Ansichten, der den Sieg der Roten, die von den Bauern unterstützt werden, erahnt und den Jungen vor der Absenz von Idealen bei den Weißen warnt: «Bei den Weißen gebe es, nach Witalis verächtlicher Bemerkung, nicht einmal eine Kriegsromantik, die anziehend sein könnte; die Weißen sind eine Armee von Kleinbürgern und Halbgebildeten»[34]. Doch Kolja – und der junge Gasdanow mit ihm – zeigt sich fest entschlossen: «Das ist trotz allem meine Pflicht, glaube ich»[35].

Was Hofmannsthal angeht, weist sein Verhältnis zur Revolution einen in mancher Hinsicht ambivalenten Charakter auf. Einerseits darf angenommen werden, dass ein überzeugter Anhänger der Monarchie nie für die Revolution hätte sein können, genau wie der Wachtmeister Lerch. Dass die Reitergeschichte ausgerechnet in der «Neuen Freien Presse» erschien, die damals eines der konservativsten Blätter Österreichs war, darf auch nicht wundern. Außerdem war der Autor fünfzehn Jahre später wie viele andere Intellektuelle energisch bemüht, im gleichen Blatt zu schreiben und politisch zu agitieren. Allerdings ging es bei ihm nicht bloß um Politik, sondern vielmehr um die Rolle von Dichtung und Geist, und gerade diese Dichotomie prägte in jenem Moment epochalen Umbruchs seine Schriften. Der Krieg sollte in seinen Augen nicht bloß als zerstörerischer Akt betrachtet werden, sondern, wie er 1915 im «Berliner Tageblatt» schrieb, der «Abschluß einer ganzen Epoche, deren tiefste Tendenzen er in sich zusammenfaßt und in einer grandiosen Dissonanz zum Ausdruck bringt», ein «Ereignis gigantischer Art», auf das, «wie immer er enden möge, eine neue Orientierung der Geister» in ganz Europa folgen sollte[36].

Aber der konservative Aspekt ist nur eine Seite der Medaille, denn Hofmannsthal war als Bewohner des Vielvölkerstaates auch überzeugter Paneuropäer und Vermittler zwischen unterschiedlichen Kulturen, und – wie oben bereits erörtert – gerade Italien belegte für ihn einen wichtigen Platz. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur lombardischen Welt, zu ihrer Kultur und Literatur – vor allem des frühen 19. Jahrhunderts –, die Idee einer engen Verbundenheit mit dem südlicheren Land wird an mehreren Stellen seiner Schriften ersichtlich. In seinem Essay Manzonis «Promessi sposi» aus dem Jahr 1927 behauptet er, sich voller Ehrfurcht gegenüber dem «größte[n] unter den neueren italienischen Dichtern» zeigend[37], er könne als Ausländer nie den Roman ausführlich analysieren, und zwar aus Angst, er könne «den Italienern leicht unbescheiden erscheinen, und der Tropfen mailändischen Blutes in unseren Adern würde kaum genügen, uns zu rechtfertigen»[38].

Seine Zugehörigkeit zur italienischen Welt und zugleich seine Überlegenheit gegenüber den historischen Rivalitäten hatte Hofmannsthal – diesmal mit dezidiert stärkeren Tönen – bereits einige Jahre zuvor in seiner Antwort auf Gabriele D’Annunzios Gedicht La canzone dei Dardanelli betont. Zu dieser Lyrik, die den italienisch-türkischen Krieg zelebriert und einige Strophen voller unzeitgemäßen Ressentiments gegen Österreich und die österreichische Besetzung Norditaliens im 19. Jahrhundert enthält, schreibt er Anfang 1912: «Wir sind gestanden, wo unsere historische Mission uns gestellt hatte […]. Wir hatten dieses Land [das Königreich Lombardo-Venetien] als Erbe der Vergangenheit und haben uns betragen, wie es unsere Schuldigkeit war. Als das Geschick, das diesen tausendjährigen Kampf gewollt hatte, auch sein Ende wollte, […] da löste sich diese Umklammerung»[39]. Ferner beteuert Hofmannsthal, dass ein dermaßen antiquierter Nationalismus im 20. Jahrhundert fehl am Platz sei – nicht ahnend, was in den folgenden Jahren und Jahrzehnten noch passieren sollte –, und dass auch für einen Österreicher der Respekt und die Huldigung der vielen Toten das Einzige sei, was angesichts der Ereignisse des Risorgimento noch empfunden werden kann:

Ohne Schmerz und mit keinem anderen Gefühl als Ehrfurcht bleiben wir auch, d’Annunzio, in Ihren Dörfern vom Cadorin bis zur Brianza vor den Marmortafeln stehen, auf denen die Namen der braven Leute zu lesen sind, die im Kampf gegen brave Leute für die Freiheit und Einheit von Italien gefallen sind. Nicht als Fremde gehen wir dort umher, wahrhaftig nicht als haßerfüllte Fremde stehen wir auf dem blutgetränkten Hügel bei Vicenza oder in dem Gefilde von Peschiera, wo so viele Tote lagen; denn in diesem Jahrtausend ist viel Blut durcheinandergeflossen, auf Schlachtfeldern viel und auch bei Hochzeiten […].[40]

Der letzte Satz ist ein klarer Verweis auf seine Familiengeschichte und daher auf seine italienische Herkunft. Dass die Zeit des Risorgimento für Hofmannsthal ein Meilenstein in seiner persönlichen Geschichtsschreibung war, lässt sich indirekt auch im Essay Geschichtliche Gestalt beobachten, in dem der Dichter mit fast nostalgischen Tönen die Zeit des 19. Jahrhunderts hervorruft, die in der Erinnerung der vorherigen Generationen noch sehr präsent war: «uns sprachen unsere Väter von den Männern der napoleonischen, dann der darauffolgenden Restaurationszeit, endlich des Jahres 48 als von beinahe noch Lebendigen»[41]. Gerade diese vergangene Zeit, die ihm doch so nahe war und die trotz der Schrecken des Krieges die Begegnung zwischen der italienischen und der eigenen österreichischen Welt ermöglicht hatte, sollte ihn bereits in den frühen Jahren faszinieren und neben anderen Projekten auch zur Reitergeschichte anregen. In dieser Hinsicht kann Letztere sicherlich nicht als Produkt eines streng konservativen Geistes betrachtet werden, sondern als Hommage auf diese Epoche des Umbruchs, das Risorgimento, und auf seine alten lombardischen Wurzeln.

Liebesgeschichten

Mitten in diesem Kriegsgewirr erkämpft sich auch die Liebe einen eigenen Platz, so dass beide Texte in mancher Hinsicht – Hofmannsthals Reitergeschichte zugegebenermaßen mit etwas mehr Mühe – auch als Liebesgeschichten gelesen werden können. Während des Streifzuges trifft Lerch in Mailand auf Vuic, eine alte kroatische Bekanntschaft aus der Wiener Zeit; der Ich-Erzähler in Gasdanows Phantom lernt in Paris die ebenfalls aus Russland ausgewanderte Jelena Nikolajewna kennen. In beiden Fällen stoßen also die Hauptfiguren im Ausland auf Landsfrauen, in die sie sich verlieben – sei es auch nur für wenige Augenblicke, wie Lerch. Aber welches Frauenbild geht aus ihrer Beschreibung bzw. aus der Beziehung mit den Protagonisten hervor?

Lerch sieht in einem Mailänder Haus ein ihm «bekanntes weibliches Gesicht», eine «üppige, beinahe noch junge Frau», die sich in einem ausgeprägt südlich-klassizistischen Ambiente bewegt, von Basilikumpflanzen, Pelargonien und Porzellan mit mythologischen Szenen umgeben[42]. Auf einmal erinnert sich der Reiter an sie, die vor Jahren die Frau eines kroatischen Rechnungsoffiziers in Wien war, den sie betrog. Er fühlt sich von ihr und von ihrer «jetzigen Fülle» unwiderstehlich angesprochen, von ihrem slawischen Lächeln, das «ihm das Blut in den starken Hals und unter die Augen trieb, während eine gewisse gezierte Manier, mit der sie ihn anredete, sowie auch der Morgenanzug und die Zimmereinrichtung ihn einschüchterten»[43]. Große Anziehung also, aber auch ein wenig Ehrfurcht, die Lerch Vuic heiß begehren lässt. Die Entscheidung ist schnell gefasst, siegessicher kündigt er ihr seine baldige Rückkehr mit einem Ton an, der ihrerseits keiner Genehmigung bedarf: «in acht Tagen rücken wir ein, und dann wird das da mein Quartier»[44]. Vuic wird also fast wie eine weitere Tagesbeute dargestellt, die nicht umworben, sondern mit Kraft gewonnen werden soll – was aus der Sprache sehr klar hervorgeht: «Das ausgesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend»[45]. Doch kommt Lerch nie wieder zurück und die Türen, die er in jenem Haus mehrfach zuschlagen hört, erweisen sich fast als unheimliches Vorzeichen dessen, was ihm noch am Ende des Tages zustoßen soll.

Auch Gasdanows femme fatale, Jelena Nikolajewna, ist eine Slawin, eine sehr unabhängige, selbstsichere Russin, die der Ich-Erzähler bei einem Boxkampf – Gewalt scheint immer dabei zu sein – kennenlernt und von der er sich nicht mehr trennen kann. Jelena ist für den Protagonisten im Unterschied zu Vuic keine alte Bekanntschaft; dennoch wird mehrmals von beiden Seiten behauptet, sie hätten den Eindruck, sich schon aus früheren Zeiten zu kennen: «Aber es kommt mir andauernd so vor, als würde ich Sie schon sehr lange kennen, obwohl ich Sie erst zum zweiten Mal im Leben sehe»[46]. Die Liebe zwischen dem Ich-Erzähler und Jelena scheint ab sofort perfekt und grenzenlos zu sein, aber gerade die Darstellungsweise dieser absoluten, von totaler Hingabe, Pathos und Leidenschaft geprägten Beziehung bzw. ihr Entwicklungstempo wirken nicht ganz überzeugend. Und dennoch kann es nur die Liebe sein, die die Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Nachkriegswelt lindert, wie Rosemarie Tietze im erhellenden Nachwort zum Roman schreibt: «Nur die Liebe, die Einheit von geistiger Verbindung und Sinnlichkeit, kann dem kalten Fatalismus dieses Weltempfindens widerstehen»[47]. Die Liebe in Gasdanows Roman erweist sich allerdings nicht frei von jeglicher Fatalität, weil gerade Jelena, die ehemalige Geliebte von Alexander Wolf, im Endeffekt der ultimative, unabsichtliche Auslöser seines Mordes ist.

Die Auseinandersetzung mit den Frauenbildern erlaubt abschließend auch ein paar Bemerkungen zu den Namen der Figuren dieser beiden Werke. Der Protagonist der Reitergeschichte heißt Lerch, ein Name, der figürlich nicht nur auf eine Vogelart und somit auf das glückliche, lebhafte und fleißige Schaffen an diesem Julitag verweist, sondern auch den Baron Ochs auf Lerchenau vom Rosenkavalier vorwegzunehmen scheint. Interessant ist hier die chiastische Struktur der Namen in der frühen Erzählung und im späteren Opernstück: Lerch ist in der Reitergeschichte der naiv-gute Protagonist, der dem gnadenlosen Baron Rittmeister Rofrano gegenübergestellt wird; im Rosenkavalier heißt die Hauptfigur hingegen Octavian Graf Rofrano, der mit dem skrupellosen Baron Ochs von Lerchenau konfrontiert wird. Die slawische Bekannte, auf die Lerch in Mailand trifft, heißt Vuic, was “Wölfin” bedeutet, ein sehr sprechender Name, die auf eine nicht zu zähmende Persönlichkeit, gesteigert auf eine nicht domestizierte Sexualität verweist. Lerch ist von ihr angezogen und möchte sie besitzen, aber die Frau lässt sich nicht leicht fangen, sie erwidert weder seine Blicke noch seine Anforderungen eindeutig und am Ende wird er sich auch nicht bei ihr einquartieren können.

Auch in Gasdanows Roman findet sich ein Wolf, der titelgebende Alexander Wolf, der aber eher einem alten, müden und einsamen Wolf gleicht, der seinen Charakter und seinen Jagdinstinkt komplett verloren zu haben scheint. Der Name «Alexander Wolf» setzt sich interessanterweise aus zwei Teilen zusammen, die in der Reitergeschichte an separaten Stellen vorkommen. Das mag eine kühne, weit hergeholte Spekulation sein, und dennoch kann der Nachname «Wolf» mit Vuic in Verbindung gebracht werden, während der Vorname «Alexander» bereits im ersten Satz von Hofmannsthals Geschichte vorkommt: «Den 22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens, verließ ein Streifkommando, die zweite Eskadron von Wallmodenkürassieren, Rittmeister Baron Rofrano mit 107 Reitern, das Kasino San Alessandro und ritt gegen Mailand»[48]. Und so wie Alexander Wolf eine schwer fassbare, am Anfang des Romans gar nicht ausfindig zu machende Figur ist, erweist sich heute auch die genaue Identifizierung des «Kasino San Alessandro» als ziemlich schwierig. Die topographische Beschaffenheit des Mailänder Hinterlands hat sich seit dem 19. Jahrhunderts gewaltig verändert, ein solches Kasino – kein Spieltreff im heutigen Sinne, sondern wohl eher ein Offizierskasino oder eine “cascina”, ein größerer Bauernhof, ein typisches Bauelement der norditalienischen Bauernlandschaft – mag sehr wohl verschwunden oder einfach ein weiterer, ausgedachter Teil der komplizierten Symbolik dieser Geschichte sein[49].

Die in diesem Aufsatz ausgeführten Überlegungen zu den Ähnlichkeiten beider Texte und zu ihren Parallelen gehören selbstverständlich zur Sphäre der Interpretation, weil es bis jetzt noch keine sicheren, philologischen Beweise gibt, dass das Phantom auch nur in Ansätzen von der Reitergeschichte beeinflusst wurde. Es ist aber immerhin fragenswert, warum sich die Forschung mit einer vergleichenden Analyse dieser an manchen Stellen so affinen Werke noch nicht beschäftigt hat. Die Revolution, der Krieg, die Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger, die bedrückende, ja fast unwirkliche Atmosphäre um das Gefecht und die anschließende Erbeutung eines wunderbaren Pferdes, das sich im Endeffekt als fatal erweist, sind alles Elemente, welche die Forschung aufmerksam machen sollten, zumindest bis aus Gasdanows Nachlass klare Beweise zur tatsächlichen Entstehung des Phantoms auftauchen. Natürlich ist es durchaus möglich, dass Gasdanow auch trotz des ca. 10-jährigen Münchner Aufenthaltes die Reitergeschichte nie las, dass es sich dabei um bloße Zufälle bzw. Konvergenzen handelt. Es fällt jedoch schwer zu glauben, dass diese eleganten Seiten, das Resultat gutgelungener Vermengung von Realismus, Metaphysik, Reflexion, Sinnlichkeit, zumindest thematisch nicht von der Lektüre von Hofmannsthals Geschichte beeinflusst wurden. Aber vielleicht handelt es sich einfach um ein weiteres Phantom.

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Werlitz, Julian: «Reitergeschichte» (1899), in Mathias Mayer, Julian Werlitz (hrsg. von), Hofmannsthal-Handbuch, Stuttgart, Metzler 2016, S. 279-282.



[1] Die Sekundärliteratur zur Reitergeschichte ist über die Jahre wahrhaft unüberschaubar geworden. Unter den letztlich erschienen Studien sei hier auf folgenden Aufsatz verwiesen, der sich u.a. mit der tierischen Komponente des Werkes beschäftigt: Eva Hoffmann, «Jede unserer Seelen lebt nur einen Augenblick». Erzählperspektive, Wahrnehmung und Animalität in Hofmannsthals «Reitergeschichte», in Studia Austriaca XXIII (2015), S. 51-64.

[2] Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte, in Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Stuttgart, Reclam 1996, S. 8.

[3] Vgl. Julian Werlitz, «Reitergeschichte» (1899), in Mathias Mayer, Julian Werlitz (hrsg. von), Hofmannsthal-Handbuch, Stuttgart, Metzler 2016, S. 279-282, hier S. 279.

[4] Mayer, S. 8.

[5] Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition, Freitag, 12. Dezember 1902, (zuletzt konsultiert am 1.10.2020) LINK.

[6] Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 28 (Erzählungen 1), S. Fischer 1975, Frankfurt a.M., S. 220-221.

[7] Vgl. Rosemarie Tietze, Das Phantom des Gaito Gasdanow, in Gaito Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, Dt. und mit einem Nachw. von Rosemarie Tietze, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2015, S. 181-191, hier S. 181.

[8] Trotz der sorgfältigen Darstellungsweise ist die Reitergeschichte aus historischer Sicht nicht gerade fehlerfrei: Am 22. Juli 1948, dem Tag des geschilderten Ereignisses, hätten die Österreicher unmöglich in Mailand sein können. Zu diesem Zeitpunkt waren sie nämlich im Begriff, weit östlich in Venetien jene Serie von Gefechten zu beginnen, die zwischen 22. und 27. Juli stattfanden und als Schlacht bei Custozza (Italienisch: Custoza) in die Geschichte eingehen sollten. Erst am 6. August durften die Truppen Radetzkys in Mailand wiedereinziehen. Als mögliche Erklärung für dieses unhistorische Datum verweist Mathias Mayer darauf, dass der 22. Juli einen hohen symbolischen Wert hat, da dieser im katholischen Heiligenkalender zugleich als Glücks- und Unglückstag gilt (siehe dazu Mayer, S. 10f). Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass Hofmannsthal diese kleine historische Ungenauigkeit nicht übersehen, sondern absichtlich in den Text eingeflochten hat: Bereits am Anfang wird somit auf das Unwirkliche, auf das Phantastische hingewiesen, das die Geschichte an mehreren Stellen durchdringt.

[9] Hugo von Hofmannsthal, Reitergeschichte, in Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 28, Erzählungen I, S. Fischer, Frankfurt a.M. 1975, S. 37-48, hier S. 46.

[10] Gaito Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, Dt. und mit einem Nachw. von Rosemarie Tietze, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2015, S. 11.

[11] Ingeborg Jandl, Textimmanente Wahrnehmung bei Gajto Gazdanov. Sinne und Emotion als motivische und strukturelle Schnittstelle zwischen Subjekt und Weltbild, Peter Lang, Berlin 2019, S. 21.

[12] Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, S. 7.

[13] Ebenda, S. 36.

[14] Ebenda, S. 137.

[15] Ebenda, S. 139.

[16] Ebenda, S. 14.

[17] Ebenda, S. 142.

[18] Tietze, S. 190f.

[19] Vgl. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Phasen eines Lebenslaufes, in Mathias Mayer, Julian Werlitz (hrsg. von), Hofmannsthal-Handbuch, Stuttgart, Metzler 2016, S. 32-42, hier S. 35.

[20] Vgl. Laszlo Dienes, Russian literature in exile. The life and work of Gajto Gazdanov, München, Sagner 1982, S. 28.

[21] Im Unterschied zu Gasdanow war Babel allerdings bei der Roten Armee.

[22] Vgl. Elena Raponi, Hofmannsthal e l’Italia. Fonti italiane nell’opera poetica e teatrale di Hugo von Hofmannsthal, V&P Università, Milano, 2002, S. 31.

[23] Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1890-1901, S. Fischer, Berlin 1935, S. 225 (Varese, 24.8.1897).

[24] Es ist sehr wahrscheinlich, dass Hofmannsthal um den 22. Juli 1898, genau fünfzig Jahre nach der geschilderten Episode, die Idee für diese Geschichte hatte. Obwohl er am 23. Juli den Eltern mitteilt, in schlechter Schreibstimmung zu sein (Hofmannsthal, Briefe 1890-1901, S. 261f), liest man in einem am selben Tag verfassten und an Leopold von Andrian adressierten Brief: «Wenn ich imstande bin, überhaupt Prosa zu schreiben, so werd ich für das Heft [Pan] eine kurze Reitergeschichte aus dem Feldzug Radetzkys im Jahr 1848 schreiben» (Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 28, S. 219).

[25] Dabei soll die Faszination des Fahrrads als revolutionäres Verkehrsmittel auf eine ganze Generation – man denke auch an Arthur Schnitzler und Theodor Herzl – präsent gehalten werden. Auch im zur selben Zeit entstandenen Reiselied, in dem der nicht ganz ungefährliche Abstieg vom Simplonpass im Sommer 1898 literarisiert wird, können die «starken Schwingen» der Vögel nicht nur eine Metapher für die lyrische Inspiration sein, sondern auch für das Fahrrad («Wasser stürzt, uns zu verschlingen, / Rollt der Fels, uns zu erschlagen, / Kommen schon auf starken Schwingen / Vögel her, uns fortzutragen», Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 1, Gedichte 1, S. Fischer, Frankfurt a.M. 1984, S. 84).

[26] Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, S. 8.

[27] Ebenda.

[28] Ebenda, S. 14.

[29] Die Tage in Lugano im September 1898, die sehr wahrscheinliche Entstehungszeit der Reitergeschichte, werden als sehr heiß beschrieben und erinnern den jungen Hofmannsthal an den Militärdienst im galizischen Czortkow (vgl. Hofmannsthal, Briefe 1890-1901, S. 261f).

[30] Die Soldaten reiten zwischen Porta Venezia und Porta Ticinese an den wichtigsten Kirchen der Mailänder Altstadt vorbei, indem sie jedoch nicht den kürzesten Weg nehmen: Nach San Babila ist San Carlo die nächste Kirche und nicht San Fedele. Entweder hat sich Hofmannsthal bei der Wegplanung absichtlich für einen Umweg entschieden oder es handelt sich dabei um einen kleinen Fehler.

[31] Hofmannsthal, Reitergeschichte, S. 40, 42.

[32] Ebenda, S. 46.

[33] Gaito Gasdanow, Ein Abend bei Claire, Dt. und mit einem Nachw. von Rosemarie Tietze, Carl Hanser Verlag, München 2014, S. 112f.

[34] Ebenda, S. 113.

[35] Ebenda, S. 114.

[36] Hugo von Hofmannsthal, Krieg und Kultur, in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 9, Reden und Aufsätze, II, S. 417-420, hier S. 418.

[37] Hugo von Hofmannsthal, Manzonis «Promessi sposi», in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 10, Reden und Aufsätze, III, S. 119-127, hier. S. 119.

[38] Ebenda, S. 120.

[39] Hugo von Hofmannsthal, Antwort auf die «Neunte Canzone» Gabriele D’Annunzios, in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 8, Reden und Aufsätze, I, S. 625-629, hier S. 627.

[40] Ebenda, S. 627f.

[41] Hugo von Hofmannsthal, Geschichtliche Gestalt, in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 10, Reden und Aufsätze, III, S. 197-204, hier S. 198.

[42] Hofmannsthal, Reitergeschichte, S. 41.

[43] Ebenda.

[44] Ebenda, S. 42.

[45] Ebenda.

[46] Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, S. 71.

[47] Tietze S. 191.

[48] Hofmannsthal, Reitergeschichte, S. 39.

[49] Am naheliegendsten ist die Identifizierung des «Kasino San Alessandro» mit dem Stadtviertel Sant’Alessandro in Monza, das zur Zeit des Geschehens noch ein winziger Ortsteil südlich der einstigen Langobardenstadt war. Diese Interpretation ist besonders plausibel, weil die Eskadron in Mailand durch Porta Venezia, das nord-östliche Tor der Stadt, einreitet und Sant’Alessandro nord-östlich zwischen Monza und Mailand liegt. Ein herzlicher Dank gilt Prof. Franz Haas, der mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat.

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Massimo Salgaro

(Verona)

«Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen»[1]
Die virtuelle Liebe in “Gut gegen Nordwind” (2006)
von Daniel Glattauer

[«Writing is like kissing, only without lips»
Virtual love in “Gut gegen Nordwind” (2006) by Daniel Glattauer
]

abstract. Daniel Glattauer’s novel Gut gegen Nordwind (2006), English translation: Love virtually (2011) is the first email-novel of German literature. The love triangle between Leo Leike, Emma and Bernhard Rothner is narrated through 785 emails. Their “computer mediated communication” gives birth to a virtual world that is separated from their ordinary lives. This virtual dimension becomes the projection screen for their identities, bodily representations and desires. It also becomes their cage as they will never meet in reality.

In einer 1975 publizierten Studie[2] beschreibt der Psychiater Kenneth Colby ein – aus heutiger Sicht – geradezu prophetisches Experiment: Colby hatte ein Computerprogramm geschaffen, das eine paranoide Persönlichkeit simulierte und das er liebevoll “Parry” nannte. Parry war imstande, an ihn gerichtete Fragen und Inputs zu beantworten, indem er nach einer semantischen Analyse der Anfragen aus vorgefertigten Wortlisten sachbezogene Antworten produzierte. Um die Übertragbarkeit seiner Simulation zu testen, wurde Parry in Kontakt mit 41 Psychiatern und 67 Informatikern gebracht. Nur ungefähr die Hälfte dieser professionellen Leser zeigte sich in der Lage, die Protokolle des Computers von denen der realen Patienten zu unterscheiden.

Colbys zukunftsweisendes Computerprogramm und seine täuschende Wirkung bringen uns heute zum Schmunzeln. Wir sind inzwischen gewohnt, mit Computerprogrammen zu interagieren, kommunizieren und zu leben, ohne dass uns das irgendwie verwundern würde. Trotz massiver Interaktionen mit Computern gibt es noch immer Widerstände, emotionale Bindungen mit Computern einzugehen. Deshalb hat vor wenigen Jahren der Film Her (2013)[3] lebhafte Diskussionen ausgelöst, weil der Protagonist Theodore Twombly sich in ein von artifizieller Intelligenz gespeistes Programm namens “Samantha” verliebt und darauf seine Frau verlässt.

Im Film Her kann die virtuelle Liebhaberin die reale Ehefrau ersetzen, weil die digitale Entwicklung inzwischen den Realismus der technologisch gestützten virtuellen Welt erheblich verbessert hat. Durch einen mit dem Internet verbundenen Helm oder eine Virtual-Reality-Brille kann man, von zuhause aus, ein Museum besuchen[4] oder Extremsportarten live miterleben[5]. Solche Technologien erlauben inzwischen emotionelle und intensive Erlebnisse, z.B. synästhetische und haptische Erfahrungen[6] und sogar, jemanden aus der Ferne zu küssen[7]. Die Möglichkeit, auf Distanz eindrückliche Erfahrungen zu erleben, wurde vor allem in partnerschaftlichen Bereichen mannigfach genützt: in der Partnersuche, in der Pornographie[8], aber auch, um in Second Life und damit in reinen Virtual-Reality-Umgebungen Hochzeiten zwischen Avatars zu feiern[9].

Daniel Glattauers Roman Gut gegen Nordwind (2006) bewegt sich genau in die hier eingeschlagene Richtung. Die Protagonistin Emma Rothner schreibt am Anfang des Romans eine E-Mail, um ein Abonnement einer Zeitschrift des “Like”-Verlags abzubestellen. Es antwortet ihr ein gewisser Leo Leike, der irrtümlicherweise ihre Nachricht erhalten hat. Aus dieser nur durch einen Tippfehler veranlassten Fehlkommunikation entwickelt sich ein reger E-Mailaustausch und eine zunehmend emotionsgeladene Beziehung, die aber in keinem wirklichen Rendezvous kulminiert. Diese Liebesgeschichte kann kein gutes Ende finden, weil Emma bereits mit Bernhard verheiratet und nicht bereit ist, ihre Ehe aufzugeben. Wie im Experiment mit Parry bleibt bis zum Ende offen, ob Leo als Person tatsächlich existiert, oder ob er bloß ein Computer-Programm und damit eine künstliche Intelligenz ist[10]. Eng damit verbunden ist auch die Frage nach der Realität und Authentizität seiner Emotionen.

Auch auf der formalen Ebene ist Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind innovativ: Es ist der erste E-Mail-Roman der deutschen Literatur. In Glat­tauers Roman wird die Liebesgeschichte zwischen Leo Leike und Emma Rothner in 785 E-Mails dargestellt. Dieser Roman, der rasch zum Bestseller geworden ist und mehrfach für Theater und Film adaptiert wurde, scheint sich nur schwer der Gattung der Pop-Literatur zuordnen zu lassen. Er behandelt nämlich grundsätzliche Fragen der Medialität, Individualität und Körperlichkeit, die durch die Informatisierung der Gesellschaft eine neue Kontur bekommen haben. Deshalb ist er inzwischen in den Kanon der Literatur des 21. Jahrhunderts aufgenommen und als Schullektüre empfohlen worden[11]. Dank des großen Erfolgs dieses Liebesromans erschien 2009 eine Fortsetzung mit dem Titel Alle sieben Wellen[12].

1. Computergestützte Virtual reality

Die Sekundärliteratur hat die internetgestützte Kommunikation zwischen Leo und Emmi aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Was bisher in der Forschung nicht genügend fokussiert wurde, ist die Virtualität der dargestellten Beziehung. Virtuell ist die Beziehung zwischen Leo und Emmi[13], weil sie nur im Internet gelebt wird. Virtuell ist ihre Beziehung auch, weil sie zur Teilnahme an diesem E-Mail-Austausch die Verwendung eines Computers voraussetzt. Es ist eine im eigentlichen Sinne “computer mediated communication” (CMC), wie der Fachausdruck dafür lautet. Aber der Computer ermöglicht nicht nur Kommunikationen zwischen den Figuren; er nimmt auch zwei Mal an ihrer Kommunikation “aktiv” teil, da er automatisch Abwesenheitsnotizen von Leo verschickt. Dies macht klar, dass der Computer das Medium der Liebesbeziehung ist und gerade deshalb die Macht hat, diese auch zu verunmöglichen:

achtung. geänderte e-mail-adresse. der empfänger kann seine post unter der gewählten adresse nicht mehr aufrufen. neue e-mails im posteingang werden automatisch gelöscht. für rückfragen steht der systemmanager gerne zur verfügung.[14]

Mit dieser in Großbuchstaben verfassten E-Mail endet der Roman. Symptomatisch für die Zentralität des Computers in ihrer Beziehung schreibt Leo: “Ich hatte nie vor, Sie näher kennenzulernen, näher als im elektronischen Briefaustausch möglich ist”. Und es ist nicht Leo, sondern der Computer, der von Bernhard als “Kosmos ihrer Wunschträume”[15] definiert wird. Interessanterweise fällt auch aufmerksamen Lesern oft nicht auf, dass im Roman auch ein Computer zu Wort kommt[16].

Virtuell ist ihre Beziehung auch in einem übertragenen Sinn, weil sie nur auf Distanz stattfindet und folglich in den Phantasien der beiden Teilnehmer ausgelebt wird. “Wir”, schreibt Leo, “erzeugen virtuelle Fantasiegestalten, fertigen illusionistische Phantombilder voneinander an. […] Wir bemühen uns krampfhaft, den anderen richtig einzuschätzen. Und gleichzeitig sind wir akribisch darauf bedacht, nur ja nichts Wesentliches von uns selbst zu verraten”[17]. Emmi verlangt eine klare Grenzziehung zwischen ihrem “wirklichen Leben”[18] und der “Außenwelt”[19], ihrer virtuellen Beziehung mit Leo. Da sie sich im Laufe der Handlung nie treffen werden, basiert ihre Identität auf ihren Selbstinszenierungen im Schreibprozess. Dieses Umstandes bewusst, taufen sie sich um in “Fantasie-Emmi” und “Virtuell-Leo”[20]. Emmi ist sich im Klaren, dass sie sich über ein schriftliches Medium in Leo verliebt hat. Ihre computergenerierten Gefühle könnten ebenso ein Irrtum sein und der tatsächliche, hinter den E-Mails verborgene Leo Leike könnte auch nicht dem Mann entsprechen, den sie zu lieben glaubt. Ihre computer mediated communication hat ein neues literarisches Genre, den E-Mail-Roman hervorgebracht, der einen noblen Vorfahren im Briefroman hat.

Die Forschung hat bereits die Nähe des Romans zur Gattung des Briefromans und seinen Reichtum an metalinguistischen und metaliterarischen Bezügen aufgezeigt[21]. Für Katrin Schneider-Özbek versucht Glattauer, “eine Modifikation des Genres angesichts technologischer Neuerungen vorzunehmen”[22]. Sabine Kusche, die auf überzeugende Weise den E-Mail-Roman als “Briefroman des 21. Jahrhunderts”[23] definiert, versucht die Kontinuitäten und Brüche zwischen den beiden Gattungen aufzuzeigen. Es ist nicht unerheblich, dass der Roman selbst sich in diese neue Gattung eingliedert; so nennt Leo seine Schreibpartnerin einmal “meine Heldin Emmi aus meinem E-Mail-Roman”[24].

Es sind vor allem die E-Mails von Emmis Mann Bernhard, die die Distanz zwischen E-Mailroman und Briefroman veranschaulichen. Bernhard gesteht am Anfang seiner Mail, dass das für ihn eine unübliche Kontaktform sei. Er adressiert Leo als “Hr. Leike” und imitiert somit den Briefkopf eines formellen Schreibens auf Papier. Außerdem liest er den Briefverkehr seiner Frau auf Papier, weil Emma die E-Mails ausgedruckt hat. Im Vergleich zum Brief hinterlässt das Schreiben im digitalen Zeitalter keine materielle Spur: Die E-Mails erlauben nicht, die Handschrift des Schreibers zu interpretieren, noch den Duft des Papiers zu spüren.

2. Die zeitliche Dimension des Virtuellen

Die beiden Hauptfiguren scheinen sich ihrer “virtuellen Zweisamkeit”[25] bewusst zu sein. Ihre professionelle Beschäftigung liefert ihnen dazu das nötige Hintergrundwissen, weil Leo als Psycholinguist gerade an einer Studie über den Einfluss der E-Mails arbeitet und Emmi Webdesignerin ist. Das Internet ist für sie sowohl professionell als auch privat von Relevanz. “Wir wohnen”, meint Leo, “nirgendwo. Wir haben kein Alter. Wir haben keine Gesichter […]. Wir haben nur unsere beiden Bildschirme”[26]. Emmi und Leo schaffen sich ein Paralleluniversum, das eine “virtuelle Alternative”[27] zu ihrem Alltag darstellt. Es ist eigentlich ein second life, genau wie die vor einigen Jahren sehr erfolgreiche Plattform, in der sich die Avatars der Teilnehmer in einer virtuellen Dimension treffen konnten.

Virtuell ist auch die Zeitlichkeit, in der sie sich befinden. Die Einstiegs-E-Mail in den Roman ist die einzige, die mit einem konkreten Datum, nämlich dem 15. Januar eines undefinierten Jahres, versehen ist. Allen anderen Nachrichten geht stattdessen eine zeitliche Bezeichnung voraus, die keinen Rückschluss auf die Alltagswelt erlaubt: “Acht Minuten später”, “33 Tage später”, “Am nächsten Tag”[28]. In ihrem E-Mail-Austausch konstituieren Emma und Leo eine Gegenwelt mit einer spezifischen Raum-Zeitlichkeit. Diese “Heterotopie” ist vom Alltag der Schreibenden abgegrenzt und steht als virtueller Ort dem Alltag gegenüber[29]. Nicht nur die Zeitlichkeit, sondern auch die Räumlichkeit ist hier virtuell, weil – anders als beim Briefverkehr – die räumliche Distanz für den E-Mail-Verkehr belanglos ist.

Ihr Schreiben ist auch ein Kampf mit der Zeit: Leo und Emma ringen um das Jetzt, sie “schreiben für die unmögliche Gegenwart”[30]. In ihrer Kommunikation wird eine paradoxe Situation mangelnder Präsenz geschaffen: Als Briefpartner, die schreiben und lesen, sind sie zugleich abwesend und präsent, nah und fern. Darüber hinaus ist es für den E-Mail-Schreiber nicht möglich, ein Ereignis zu erleben und gleichzeitig darüber zu berichten. Trotz der Simultaneität der digitalen Kommunikation stimmt die Gegenwart des Schreibenden nie exakt mit der des Lesenden überein. Da die Gegenwart unzureichend ist, wird die unmittelbare Zukunft, die die (virtuelle) Präsenz des anderen verspricht, “ein Magnet, der die Protagonisten an ihre Bildschirme fesselt”[31]. Emma und Leo erdichten und antizipieren bis zum Ende des Romans ein Treffen, das nie stattfinden wird.

Was diesen E-Mail-Austausch noch charakterisiert – vor allem im Vergleich zum Briefverkehr – ist Schnelligkeit, Verkürzung der Reaktionszeit, und daraus erwachsend Verlangen nach Antwort und Dynamisierung des Austausches. Diese Schnelligkeit wird auch von den beiden Kommunikationspartnern mehrmals thematisiert:

Nun, Ihre E-Mails lesen sich wie “heruntergesprudelt”, wenn ich mir diese Einschätzung erlauben darf. Ich hätte schwören können, daß Sie eine Schnellsprecherin und Schnellschreiberin sind, eine quirlige Person, der die Abläufe des Alltags niemals rasch genug vonstatten gehen können. Wenn ich Ihre E-Mails lese, dann kann ich darin keine Pausen erkennen. Die kommen mir im Ton und Tempo antriebsstark, atemlos, energievoll, flott, ja sogar ein wenig aufgeregt vor.[32]

Glattauer wechselt ständig das Tempo der Erzählung, indem er lange E-Mails mit kurzen Nachrichten mit erhöhtem Erzähltempo alterniert. Der Stil pendelt zwischen dem eines etwas formalen Briefverkehrs und dem informellen eines Chats. Die Schnelligkeit der “E-Mail-Quasi-Dialoge”, in der sich die Zeitenabstände zwischen den Mitteilungen verringern, zeichnet sich durch zahlreiche Ellipsen aus, die typisch für orale Kommunikation sind[33]. Der Eindruck mündlicher Kommunikation wird auch durch graphische und stilistische Ausdrucksmittel, die die Mimik und Gestik der Mündlichkeit simulieren, verstärkt. Emmi “ruft” Leo durch ein in Großbuchstaben gesetztes: “leeeeeeeeeooooooo, huuuuuuu-uuu­uuuhhhh????????[34].

Da die Mailenden nicht immer verfügbar und online sind, entstehen Kommunikationspausen, die von Emmi in dramatischer Weise erlebt werden[35]. Sie äußert immer wieder die Sorge, dass Leo seine Kommunikation ganz abbrechen könnte, und fordert ihn auf, ihr zu antworten[36]. Die E-Mail von Bernhard führt hingegen zu einem narrativen Stillstand und unterbricht den Kommunikationsfluss zwischen den beiden Dialogpartnern.

Gerade weil sie in einer virtuellen raumzeitlichen Dimension leben, ist die zentrale Frage für die Protagonisten in Gut gegen Nordwind die nach Identität und Authentizität. Von Anfang an projizieren sie Wunschbilder von­einander, die sie nie bestätigen oder widerlegen können, weil sie sich nie treffen. Der Adressat ihrer E-Mails wird somit die Projektionsfläche ihres Wunschideals. Programmatisch stellt Leo Leike fest: “Ich bastle mir meine eigene Emmi Rothner”[37]. Daher kann sich das Kennenlernen nur durch das Schreiben und durch die Selbstinszenierungen der Schreibenden vollziehen. Für Katrin Schneider-Özbek geht es in Gut gegen Nordwind um die “Wirksamkeit des Wortes im virtuellen Raum”[38]. Außer der Schrift werden nämlich alle taktilen, akustischen und visuellen Wahrnehmungselemente ausgeschaltet. Weil es zu keinem wirklichen Treffen kommt, können diese Projektionen und Eindrücke weder bestätigt noch dementiert werden. Die Identität der Schreibenden bleibt deshalb bis zum Ende flüssig und offen.

Auch durch ihre Verabredung in einem überfüllten Café entsteht keine Klarheit, im Gegenteil. Emmi sieht Leo nur im Spiegel der Augen von dessen Schwester Adrienne; Leo hält drei potentielle Kandidatinnen für Emmi unter den Besuchern des Cafés für möglich, die aber von Emmi weder bestätigt noch negiert werden[39]. Auch ihre letzte Verabredung, die ebenfalls nicht zustande kommt, planen sie, und das gleich drei Mal, als “blind date’[40]. Ein Treffen in einem dunklen Zimmer kann, definitionsgemäß, keine Klarheit schaffen.

Trotz ihrer medialen Kompetenz können Emma und Leo den Einfluss des Computers auf ihre Beziehung nicht durchschauen. “Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben”[41], konstatiert Emmi, als die Beziehung zwischen ihnen sich entschieden zu erwärmen beginnt. Am Anfang ihrer Beziehung unterstellt Emmi dem Sprachpsychologen, er benutze sie für seine Studien über die “E-Mail als Transportmittel von Emotionen”. Der vermeintliche Leo teilt ihr mit, dass er imstande sei, “Sprachpsychogramme” zu erstellen[42]. Emmi könnte unwillentlich an einem von ihm geschaffenen psycholinguistischen oder informatischen Experiment teilnehmen[43]. Allein die Undurchsichtigkeit des Mediums würde ein solches Experiment erst ermöglichen. Mit ihren Zweifeln erfasst Emma vielleicht intuitiv, was der Sozialpsychologe Robert Feldman in seinen Experimenten gezeigt hat, nämlich dass Menschen online fünf Mal häufiger lügen als in einer Kommunikation mit Blickkontakt[44]. Emmis Verdacht kann bis zum Ende des Romans nicht ausgeräumt werden.

3. Reale Emotionen in einer virtuellen Welt

Wollte man die Liebesgeschichte von Leo und Emmi mit den Kriterien der Alltagswelt beurteilen, drängte sich eine Frage auf: Warum treffen sich die beiden Liebenden nicht?[45]. Wie kann man eine Liebesbeziehung interpretieren, die ohne den Körper auskommt? Wie soll man Leos programmatische Aussage verstehen: “Ich will gar nicht wissen, wie Sie aussehen”?[46]. Wie Bruno Dupont bündig ausdrückt: “Die Hauptfiguren tun alles, was in ihrer Macht steht, um sich einander so stark wie möglich anzunähern, ohne aus der Virtualität herauszutreten”[47].

Einerseits scheinen diese Figuren das Modell der körperlosen Liebe des Abendlandes von Denis de Rougemont zu verwirklichen. In seinem monumentalen L’amour et l’occident rekonstruiert de Rougemont die Geschichte der Liebes-Emotionen in der westlichen Kultur[48]. Diese Geschichte erscheint ihm als ein Widerstreit zwischen christlicher Liebe und “amour passion” oder “Eros”[49]. Während das erste Prinzip sich in der Ehe verwirkliche und die Billigung der Grenzen des Bestehenden impliziere, zielt die amour passion auf ein sich stets steigerndes Begehren, das sich vor allem in der außerehelichen Liebesbeziehung manifestiere. Dieses zweite Prinzip, das ein Erbe von Platons Denken wäre, hat viele bedeutende literarische Werke angeregt, von Tristan und Isolde bis Romeo und Julia[50]. Auch Emma und Leo sind Nachfolger dieser noblen Vorfahren und Zeugen einer unglücklichen geschlechts- und körperlosen Liebe.

Für de Rougemont drücke der Mythos von Tristan[51] eine Liebe für die Liebe aus, eine narzisstische Liebe. Tristan liebt Isolde nicht als “Andere”, sondern nur, weil er durch sie sein eigenes Begehren nähren kann. Er braucht die Hindernisse, die die Erfüllung seiner Liebe vereiteln, damit das Begehren verlängert und zur höchstmöglichen Intensität gesteigert wird[52]. Es sei, laut de Rougemont, eine Liebe der Hindernisse der Liebe und der Abwesenheit des Partners. Der Schmerz und der Sturm des Begehrens und der Emotionen sind der amour passion eigen. Diese zielt auf ein Jenseits, ein Unendliches; weil aber kein endliches Wesen eine Unendlichkeit befriedigen kann, endet diese Liebe oft in Suizid.

Wollen wir es als einen Zufall betrachten, dass Emmi ihre Beziehung mit Leo als “Tristan und Isolde auf virtuell” definiert?[53]. Aus der Perspektive von de Rougemonts Analyse könnte der Selbstboykott ihrer Beziehung eine kulturwissenschaftliche Erklärung finden. Ihre misslungene Beziehung müsste als eine Realisierung der amour passion gewertet werden, die eine lange und glorreiche Tradition hat[54].

Emma und Leo sind aber, andererseits, sehr stark in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts verwurzelt und zeigen das typische Verhalten zeitgenössischer kompulsiver Internetnutzer auf. Bernhard beschreibt die Geistesabwesenheit Emmas mit den folgenden Worten: “Stundenlang sitzt sie in ihrem Zimmer und starrt in den Computer”[55]. Ihre Geistesabwesenheit ist ein typisches Merkmal von “distracted mind”, was charakteristisch für die Zwangsnutzer der digitalen Medien geworden ist[56]. “Mit Mühe gelingt es ihr, ihr Weggetretensein vor den Kindern zu verbergen. Ich merke wie sehr sie sich quält, länger neben mir zu sitzen”[57]. Die Fokussierung auf das Computermedium nimmt der Realität jeglichen Reiz.

Ihre Liebe, die in der Realität scheitert, sich aber in der Virtualität realisiert, könnte deshalb auch einem anderen kulturhistorischen Modell entspringen. Sie scheint ein perfektes Beispiel der “kalten Intimität” zu sein, die Eva Illouz als die typische Form der Liebe im Zeitalter des Internets definiert hat[58]. Die israelische Soziologin bezieht ihre Beobachtungen aus den Singlebörsen, die ein sehr erfolgreiches und profitables Geschäft geworden sind. Die Nutzer dieser Webseiten werden ersucht, sich ein Profil zu erstellen, in dem sie, aufgrund von Selbstbeobachtung, ein psychologisches Profil von sich selbst liefern. Dieses Profil beinhaltet Informationen zu Person, Beruf, Hobbys und Aussehen. In dieser Selbstpräsentation muss der Nutzer der Singlebörse seine Individualität in Kategorien zerlegen, damit man testen kann, ob seine Werte mit denen eines potentiellen Partners kompatibel sind. Es kommt dabei zu einer “Textualisierung der Subjektivität [...], das heißt zu einer Art des Selbstzugangs, die das Selbst mit Hilfe visueller Mittel der Repräsentation und Sprache externalisiert und objektiviert”. Die daraus resultierende Beziehung ist eine “entkörperlichte textuelle Interaktion”[59].

Diese Textualisierung habe, laut Illouz, drei Konsequenzen: Das Ich wird gezwungen, sich auf sich selbst zu konzentrieren, auf sein Selbst- und Liebesideal. Die zweite Konsequenz ist schwerwiegender, zumal sie die Ordnung und das Prinzip der romantischen Liebe auf den Kopf stellt: “Wo Anziehung normalerweise dem Wissen vom anderen vorausgeht, geht hier Wissen der Anziehung oder zumindest der physischen Präsenz und Verkörperung romantischer Interaktionen voraus”[60]. Die dritte Folge ist, dass die Partnersuchenden durch ihr Profil auf dem “Liebesmarkt” auftreten und somit in Konkurrenz mit allen anderen Trägern eines vergleichbaren Profils geraten[61].

Die Selbstpräsentation im Internet ist auf ein abstraktes, generelles Publikum gerichtet. Auch deshalb werden immer wieder dieselben stereotypen Beschreibungen benützt, die zur Vereinheitlichung der Profile führt[62]. Wiederum wird die Logik der romantischen Liebe auf den Kopf gestellt: Stand diese im Zeichen der Einzigkeit des Geliebten, ist das Internet von der Idee des Überflusses und der Austauschbarkeit der Partner charakterisiert[63].

Sollte sich, trotz dieser Beschränkungen, in einer Singlebörse eine glückliche Kombination der Eigenschaften zweier Partner ergeben, tritt ein anderes Problem auf. Die virtuellen Beziehungen seien, laut Illouz, von einer ständigen Angst vor der Konfrontation mit der Realität geprägt. Diese Angst vor der Desillusionierung ist nicht unbegründet. In einer Kommunikation von Angesicht zu Angesicht bildet sich eine Beziehung zum Gesprächspartner, die körperliche, mimische und unbewusste Elemente mit dem Wissen über die Person vermengt. Dabei wird die gegenwärtige Erfahrung der Person mit Bildern und Erfahrungen der eigenen Vergangenheit in Beziehung gesetzt. In diesem Prozess wird die geliebte Person idealisiert und als einzigartig empfunden[64]. Im Internet wird die Person hingegen durch abstrakte Kategorien und Kognitionen wahrgenommen, die sich nicht auf reale und vergangene Erfahrungen stützen. Die im Internet entstandenen Bekanntschaften sind also hohen “prospektischen” Erwartungen ausgesetzt, die die besten Voraussetzungen für Desillusionierungen bereiten. Illouz erklärt diese Antizipationsmechanismen folgendermaßen:

Die Vorstellungskraft im Internet untergräbt die intuitive Vorstellungskraft, weil sie nicht retrospektiv, sondern prospektiv ist, also vorwärtsschauend und folglich losgelöst vom intuitiven, praktischen und unausgesprochenen Wissen des Vergangenen. Mehr noch, weil sie sich auf eine Masse an textbasiertem kognitiven Wissen verläßt, wird sie durch «verbal overshadowing» beherrscht, eine Sprachdominanz, die den Prozeß visueller und körperlicher Anerkennung stört.[65]

Das von Illouz entworfene Modell der Liebe im digitalen Zeitalter lässt sich unschwer auf Glattauers Roman übertragen. Auch Emma und Leo “textualisieren” ihre Individualität durch ihr Schreiben; ihre komplette Korrespondenz ist das Produkt einer solchen Textualisierung. Folglich ist auch ihre Beziehung entkörperlicht und von der Sprache dominiert. In Gut gegen Nordwind werden die Körper der Protagonisten durch Zeichenkörper ersetzt. Sie schaffen “Liebesillusionen per E-Mail”[66].

Die beiden Korrespondenzpartner sind sich bewusst, dass ihre verschriftlichte Selbstinszenierung sie in Konkurrenz mit vielen anderen “textualisierten” Internetbesuchern bringen kann. Deshalb versuchen sie durch eine gepflegte, manchmal sogar literarisierende Sprache zu imponieren. Sie sind auch witzig und rhetorisch gewandt, wie Emmi unter Beweis stellt, wenn sie die “Familienidylle” als ein Oxymoron definiert[67]. Als kultivierte und gebildete Menschen verachten sie das “Chatroom-Geplänkel”[68] und den Gebrauch von Emoticons[69]. Ihre Sprache soll sie von der Sprache der Masse der Internetbesucher abheben. Emma fühlt sich zu “individuell”, um sich “den pauschalisierenden und zumeist auch gehässig vorgetragenen Männer-Plural überstülpen zu lassen”[70]. Und sie versuchen dabei wiederholt, ihre Individualität von einer Masse, der sie nicht angehören wollen, zu differenzieren[71].

Mit den von Illouz beschriebenen Personen auf Partnersuche teilen sie vor allem die panische Angst, ihr vom Internet produziertes Wunschideal mit der Realität zu konfrontieren. Diese Befürchtung wird obsessiv geäußert, und auch Emmi drückt das klar aus, wenn sie schreibt: “Und ich habe die Befürchtung, dass Sie mir nicht gefallen werden”[72]. Ihre Angst ist so groß, dass ihr virtuell gelebtes erotisches Liebes-Spiel aus Angst vor dem Scheitern gar nicht erst in einem Treffen mündet. Leo stellt bedrückt fest:

Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. Es wird enttäuschend sein, wenn Sie hinter der Emmi zurückbleiben, die ich kenne. Und Sie werden dahinter zurückbleiben! Sie werden deprimiert sein, wenn ich hinter dem Leo zurückbleibe, den Sie kennen. Und ich werde dahinter zurückbleiben![73]

Sie versuchen sich physisch näherzukommen, zum Beispiel, indem sie ihre Stimmen auf den Anrufbeantworter aufnehmen. Trotz ihrer Hemmungen scheinen die Projektionen, in denen sie ihre Wunschideale erfüllen, sie nicht befriedigen zu können. Ihr reales Ich aus “Fleisch und Blut” sollte diesen Projektionen standhalten können und nicht davor fliehen[74]. Aber die Desillusion lauert auch hier, und die Stimme von Emmi erzeugt bei Leo Irritation. “Ich habe sie mir ganz anders vorgestellt. Sagen Sie: Sprechen Sie eigentlich immer so? Oder haben Sie Ihre Stimme verstellt?”[75]. Es sind missglückte Versuche einer “Annäherung, die sich nicht annähern darf”[76]. Es kommt nicht zum “antivirtuellen Luftzug”[77], der, vielleicht besser als die E-Mails Leos, “gut gegen den Nordwind” zu gebrauchen wäre.

Ihre Projektionen werden durch sexuelle Phantasien gefüllt und genährt. Es sind allerdings für zwei Erwachsene recht beschränkte Phantasien, und Emmi bleibt für Leo ein Fetischobjekt mit der Schuhgröße 37[78]. Es ist “Computersex, nur ohne Sex und ohne Bilder zum Herunterladen”[79]. Für diese Liebenden, die nach dem Motto leben: “Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf”[80], ersetzt der Schriftkörper den biologischen Körper.

Wie sehr diese Angst vor der Desillusionierung mit dem von Illouz beschriebenen Liebesmarkt zusammenhängt, zeigt die Szene im Café. Für Emma hat Schönheit Priorität und alle Männer, die sie dort sieht und die als Leo in Frage kommen, waren vom ästhetischen Standpunkt “absolut indiskutabel”[81]. Auch Mias Schönheit wird mehrmals betont und wie in einem Profil im Internet beschrieben: “Mia ist 34, bildhübsch, Sportpädagogin, lange Beine, super Figur”[82]. Obwohl Emma Leo nicht erkennt, wird sein mögliches Aussehen kontrastiv evaluiert[83].

In diesem Zusammenhang wurde bisher die Onomastik, auf der die Namensgebung der Figuren von Gut gegen Nordwind fußt, nicht genügend fokussiert. Emmas Namen muss man im Kontext dieser Dreiecksbeziehung zwangsläufig mit Emma Bovary verbinden. Auch der Name Leo scheint in dieses Puzzle zu passen, weil der erste Verehrer Madame Bovarys Léon Dupuis heißt. Wie Leo Leike verlässt Léon sein Liebesobjekt, um im Ausland sein Studium fortzusetzen. Emmas Freundin “Mia”, auf Italienisch das weibliche Possessivpronomen “meine”, gehört tatsächlich jemandem: Sie ist die “Marionette”[84] von Emma, die mit Leo verkuppelt wird. Mit ihrem Namen verbindet man auch die italienische Kultur und das mediterrane Flair, die immer wieder in ihren glamourösen Gesprächen auftauchen[85]. Leos Nachname “Leike” scheint keine Anknüpfungen an literarische Modelle zu ermöglichen, aber umso mehr an Praktiken des Internets. Das “like” ist nämlich die typische Geste des Beifalls, die man in den sozialen Medien wie twitter oder facebook unter eine Mitteilung oder ein Bild setzen kann. Ein “Leike” ist also ein zeitgemäßer Don Giovanni, der Anerkennung sucht bzw. gewährt[86].

Der Lebensraum dieses Don Giovannis der Tastatur ist aber ein virtueller, eine Welt aus Wörtern, wie uns seine E-Mail-Adresse verdeutlicht: woerter@leike.com. Bernhard, der Ehemann Emmas, der fest in der Alltagswelt verankert ist, bringt den Leser auf die richtige Spur, wenn er an Leo schreibt: “Sie sind nicht real […] aus Buchstaben gebaut”[87]. Hayer glaubt, dass das Gefecht der beiden Männer mit ungleichen Waffen stattfinde, weil “die virtuelle Imago von Emmis Avatar-Geliebten in die Wirklichkeit hinein[wirkt] ohne dort körperlich präsent zu sein”[88].

Wenn Leos Existenz sprachgebunden ist, dann ist die Beziehung zwischen Leo und Emmi von hermeneutischer Natur, die sich in einer uferlosen Interpretation verwirklicht: “Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen den Wörtern, bald schon zwischen den Buchstaben”[89]. Auch die Namensgebung des Romans mit ihren Hinweisen auf literarische Modelle und auf die textuelle Dimension des Internets zeigt, dass es hier um computervermittelte Wörter geht und um nichts anderes. Emma und Leo “texten sich”, so nennt man heute die digitale Kommunikation durch das Smartphone. Sie schaffen durch Wörter eine Vereinigung, aber das Verbindungselement ist ein Internet-Server:

Angenommen, Sie spüren, dass uns beide doch viel mehr verbindet als der Internet-Server, dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass wir aneinandergeraten sind. – Leo, kann es nicht sein, dass Sie mich wiedersehen wollen? […] Kann es nicht sein, dass Sie mit mir zusammenbleiben wollen? Kann es nicht sein, dass Sie mit mir leben wollen?[90]

Der von Illouz beschriebene virtuelle Liebesmarkt hat sich inzwischen technologisch verbessert, aber seine Logik ist die gleiche geblieben, wie man auch in Glattauers Roman nachlesen kann. In der Partnersuche wird das Internet als eine Projektionsfläche betrachtet, vor der sich die beiden Hauptfiguren selbst inszenieren. Problematisiert wird dabei die Distanz dieser virtuellen Welt von der Alltagswelt. Dem Problem der Virtualität, das dargestellt wird, kann sich kein zeitgenössischer Leser des Romans entziehen, weil er, wie die Protagonisten des Romans, in einer vom Internet und von den sozialen Medien dominierten Welt lebt.

4. Virtualität und Kreativität

Aber das Internet und der Computer haben nicht nur die Lebenswelt, sondern auch die Literatur – sowohl ihre Produktion als ihre Rezeption – einschneidend verändert. Die metaliterarische Pointe Leos, der Emmi als “Heldin Emmi aus meinem E-Mail-Roman”[91] definiert, drückt explizit das Bewusstsein des Protagonisten aus, selbst ein Schriftsteller zu sein. Dieser Schreibprozess wird auch anderswo im Text thematisiert, etwa als Leo Emmis Namen als eine Folge von Handbewegungen über der Tastatur im genormten Zehn-Finger-Schreibsystem aufzeigt: “Einmal linker Mittelfinger, zweimal rechter Zeigefinger, und zwei Reihen darüber rechter Mittelfinger”[92]. Leo ist sich der Medialität des Schreibprozesses bewusst. Die computer mediated communication ist in Gut gegen Nordwind auch ausdrücklich genannt, weil Leo an einer Studie über E-Mail als “Transportmittel” arbeitet.

“Medium” ist im allgemeinen Verständnis ein Übertragungskanal von Kommunikationen. Es ist ein Träger und Übermittler von Daten, der, vor allem in der menschlichen Kommunikation, eine entscheidende Rolle spielt. Es existiert keine unvermittelte Kommunikation, weil eine Nachricht stets über ein Medium vermittelt werden muss. Die menschliche Stimme, aber auch der Brief, das Radio, das Fernsehen sind Medien. Unser Zeitalter ist hingegen von digitalen Online-Medien geprägt, die die Verwendung eines Computers voraussetzen[93].

Medien wie der Computer erzeugen, was sie vermitteln. Trotz ihrer Tendenz, irgendwie unsichtbar zu bleiben, verlangen sie von den Kommunikationspartnern spezifische Codes, die ihr Bewusstsein und Denken verändern.

Emmas und Leos Funktion als Leser und Schreiber vor einem Bildschirm wird umso relevanter, wenn man bedenkt, dass die Position des Erzählers irgendwie leer bleibt. In Gut gegen Nordwind findet man keine erzählende Instanz, die die Handlung lenkt, kommentiert oder eine Außendarstellung der Figuren ermöglicht[94]. Selbst eine Herausgeberfiktion, traditionell ein beliebtes technisches Mittel, um in der Polyperspektive des Briefverkehrs einen konstanten Blickpunkt zu garantieren, ist in diesem E-Mail-Roman nicht vorhanden. Wie bereits erörtert, sind sowohl Anfang und Ende des Romans durch Eingriffe des Mediums produziert: der Anfang durch eine informatische Fehlkommunikation, das Finale durch eine Abwesenheitsnotiz des Computers.

Dieser Schreibprozess scheint, um den Titel eines Sammelbandes zu zitieren, eine typische “Schreibszene […] im digitalen Zeitalter”[95]. Die Beiträge des zitierten Bandes hinterfragen die Schreibprozesse der Schriftsteller der neuen Generationen, auch die Computer mit ihren Textverarbeitungsprogrammen. Dabei erscheinen die Computer nicht als Werkzeuge, die die fiktionalen Welten einfach verschriftlichen, sondern als Medien, die Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Schriftstellers ermöglichen und strukturieren. Die Herausgeber glauben, dass im digitalen Zeitalter sich vieles verändert habe:

Denn mit dem zunehmenden Gebrauch des Computers (auch) als Schreibwerkzeug ist deutlich geworden, wie sehr die technischen Vorgaben – die ungewollten Korrekturen oder bevormundenden Eingriffe in die typographische Gestaltung durch das Textverarbeitungsprogramm Word können als besonders augenfällige Beispiele dienen – den Schreibprozeß mitbestimmen: wie von Geisterhand.[96]

Der Niederschlag zeigt sich beim Schreiben auf der Ebene der Instrumentalität (Technik), der Gestik (Körperlichkeit) und der Semantik (Sprach­lichkeit im weitesten Sinne). Der Computer entkoppelt, vor allem im Vergleich zur Schreibmaschine, den Schreibprozess, d.h. das Tippen der Finger vom Schreibprodukt (dem Text auf dem Bildschirm), weil Hardware und Software verstärkt diesen Prozess mitbestimmen. Während die Schreibmaschine einen isolierten Schreibprozess ermöglichte, impliziert die Arbeit am Computer eine Vernetzung durch das Internet. Das Internet ist ein sogenanntes Meta-Medium, das andere Medien in sich einverleibt. Die digitale Literatur im Internet hat in den letzten zwanzig Jahren Begriffe wie Autor und Werk, Distribution und Rezeption von Schriften sowie Instanzen der Bewertung und Institutionalisierung revolutioniert.

Am radikalsten hat wohl Kenneth Goldsmiths “Uncreative Writing” die Implikationen des Computers auf den Schreibprozess und auf die Autorschaftskonstrukte der Gegenwart reflektiert. Er zeigt, dass durch das Internet Begriffe wie Originalität und Kreativität in Frage gestellt und ersetzt werden durch manipulation” und management” of already existing and ever-increasing language”[97]. Das “copy and paste” ist das Motto dieser postmodernen internetgestützten Schreibpraxis. Am Ende seiner bahnbrechenden Studie mündet Goldsmith in ein literarisches Pamphlet, in dem er den Schriftsteller im digitalen Zeitalter als eine Hybridfigur zwischen Pirat und Programmierer charakterisiert[98].

Die Diskussion um Autorschaft und Kreativität im digitalen Zeitalter hat auch in die deutsche Literatur und Literaturwissenschaft Eingang gefunden. Das von Goldsmith beschriebene copy and paste wird problematisch, sobald es ins Plagiat mündet. Im Umkreis der Debatte um die Plagiatsvorwürfe gegenüber Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill[99] sind ältere Diskussionen um Intertextualität und Originalität, Leben und Tod des Autors wieder aufgekommen. Für einige soll sich die Kritik nicht sehr um den Autor kümmern[100], für andere darf er nicht ignoriert werden[101]. Auch der Schriftsteller Durs Grünbein, einer der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Dichter, griff in diese Kontroverse ein, indem er in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Hegemann eintrat[102]. In einem darauf folgenden Artikel erklärte Grünbein, dass sein Artikel in der FAZ zu 99% ein Plagiat des Artikels Plagiat von Gottfried Benn gewesen sei, das 1926 in der «Vossischen Zeitung» erschienen war[103]. Durch diese dadaistische Wende wollte Grünbein veranschaulichen, dass das Problem höchst aktuell und nicht durch schablonierte Positionen zu bewältigen sei.

Auch Gut gegen Nordwind thematisiert das Problem der Originalität und Autorschaft. Der Computer verfasst zwei Absätze des Romans, nämlich die beiden Abwesenheitsnotizen Leos. Er schreibt sie vor und sie werden automatisch abgeschickt. Aber er greift auch in die Kommunikation ein, wenn z.B. Softwareprobleme[104] auftreten oder wenn das Schreibprogramm “automatisch” einen Satzteil produziert[105]. Die Software der Computer ermöglicht auch ihre “textualisierten” Individualitäten in einem potentiell unendlichen Kontext von Bildern und Texten zu verorten, die das Internet zur Verfügung stellt. Die sozialen Medien, wie z.B. das Phänomen der “instapoets” zeigt, sind längst schon ein Ort der Produktion und des Genusses von Literatur geworden[106]. Symptomatisch dafür ist die Vernetzung ein Kernbegriff der zeitgenössischen Literatur geworden[107]. Wie die herabwürdigende Haltung von Leo und Emmi gegenüber der “virtuellen Anonymität”[108] der Massenmails zeigt, werden in ihrer Kommunikation auch Fragen der Originalität bzw. des Kitsches von Texten thematisiert. Diese Themen werden auch in ihrer Schreibpraxis reflektiert, in der es öfters um die Praxis des Zitierens geht[109].

Die Literatur, die im Medium der Schrift lebt, ist gezwungenermaßen auf mediale Innovationen und Reflexionen ausgerichtet. Daniel Glattauer gelingt es, diese Reflexionen zur computergestützten Medialität in einen Bestseller zu verwandeln. Interessanterweise wurde die erste literarische Beschreibung einer Dystopie, in der die virtuelle Realität die menschliche Realität ersetzt, auch von einem österreichischen Schriftsteller, nämlich Oswald Wiener, beschrieben. Im appendix A von die verbesserung von mitteleuropa, roman (1969) wird ein Mensch in einen “bio-adapter” eingefügt. Es handelt sich um einen technischen Apparat, dessen Zweck es ist, “die welt zu ersetzen, d.h. die bislang ungenügende funktion der ‘vorgefundenen umwelt’ als sender und empfänger lebenswichtiger nachrichten”[110]. Der bio-adapter, der wie ein moderner Computer imstande ist zu lernen – Stichpunkt: machine learning – riegelt den Menschen in einem “glücks-anzug”[111] hermetisch von der herkömmlichen Umwelt ab. “er simuliert wechselbeziehungen, indem er sich als partner versteht”[112]. Wiener scheint hier fast eine Regieanweisung für den fast fünfzig Jahren später produzierten Film Her zu liefern. Der Mensch ist als Inhalt des bio-adapters für die reale Welt und die Gesellschaft verloren. Er lebt in einer Illusionswelt, einem artifiziellen Paradies, das er nicht mehr verlassen kann. In der letzten Phase dieses dystopischen Experiments werden seine Organe amputiert, sein Körper abgebaut und von artifiziellen Modulen ersetzt.

Die von Wiener beschriebene Dystopie ist vom technologischen Standpunkt her längst schon Realität geworden. Die entkörperlichte Liebesgeschichte von Emmi und Leo wie auch der weltweite Erfolg von Pornographie im Netz[113] zeigen aber, dass die gewaltsame Entfernung des Körpers im bio-adapter eigentlich nicht notwendig war. Unseren Titel paraphrasierend könnte man sagen, dass der gegenwärtige Mensch getrost auf “Küsse mit Lippen” verzichtet, bloß um “mit dem Kopf zu küssen”, d.h. informiert, vernetzt, online zu bleiben.

 

 

 

 

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[1] Daniel Glattauer, Gut gegen Nordwind. München: Goldmann, 2008, 88. Der Roman wird ab jetzt abgekürzt mit GN gefolgt von der Seitenzahl. Der Roman ist 2006 im Deuticke Verlag in Wien erschienen.

[2] Kenneth M. Colby: Artificial Paranoia: A computer simulation of paranoid process. New York: Pergamon Press, 1975.

[3] LINK.

[4] LINK.

[5] LINK.

[6] LINK.

[7] LINK.

[8] LINK.

[9] LINK. – Es ist inzwischen nicht mehr eine Ausnahme, dass sich spätere Partner auf Dating-Seiten treffen: Eine Studie von 2013 zeigt, dass ein Drittel der amerikanischen Beziehungen zwischen 2005 und 2012 im Netz entstanden sind, und dass diese beständiger sind als die in der realen Welt entstandenen. LINK.

[10] «Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben». GN, 99.

[11] Björn Hayer: Der E-Mail-Roman in der Schule: didaktische Überlegungen zur Medialität in Daniel Glattauers Roman «Gut gegen Nordwind». In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 48.2015, 1-2, 121-130.

[12] Daniel Glattauer: Alles sieben Wellen. Wien: Deuticke, 2009.

[13] Emma Rothner wird von Leo Emmi genannt. Hier werden also beide Namensgebungen benützt.

[14] GN, 223.

[15] GN, 183.

[16] Wastl schreibt, dass Glattauer nur drei Stimmen zu Wort kommen lasse. Nora Wastl: Geschickte Liebe – Daniel Glattauers «Gut gegen Nordwind» oder die Geburt des E-Mail-Romans. Masterarbeit, Graz, 2010, 77. So auch Sabrina Kusche: Der E-Mail-Roman. Zur Medialisierung des Erzählens in der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Literatur». Dissertation, Gießen, 2012, 148.

[17] GN, 19.

[18] GN, 43.

[19] GN, 105.

[20] GN, 84.

[21] Vgl. Bruno Dupont: Erzählen im Zeitalter des Internets: Daniel Kehlmanns “Ruhm” und Daniel Glattauers “Gut gegen Nordwind”. In: Germanica, 55.2014, 189-207 (= La prose allemande contemporaine. Voix et voies de la génération postmoderne. Ed. by Bernard Bach); Ketelsen, Uwe-Karsten: «Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben»: eine Liebe in Zeiten der digitalisierten Kommunikation; Daniel Glattauer «Gut gegen Nordwind» (2006). In: Literarische Koordinaten der Zeiterfahrung. Wrocław, Dresden, Częstochowa: ATUT, 2008, 132-142.

[22] Schneider-Özbek, Katrin: Daniel Glattauers E-Mail-Roman “Gut gegen Nordwind”: nur die Modernisierung eines alten Genres?. In: Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium, 2000-2010. Hrsg. v. Michael Boehringer, Susanne Hochreiter. Wien: Praesens, 2011, 352-370, 353.

[23] Kusche (2012), 32.

[24] GN, 126.

[25] GN, 30.

[26] GN, 19.

[27] GN, 106.

[28] Für eine detaillierte Analyse des Zeitgerüsts des Romans siehe Wastl (2012), 99-111.

[29] S. Kusche (2012), 152-153.

[30] Gellai, Szilvia: Dramatische Vernetzung in Daniel Glattauers E-Mail-Romanen. In: Österreichische Gegenwartsliteratur. Hrsg v. Hermann Korte, München: text + kritik, 2015, 153.

[31] Gellai (2015), 156.

[32] GN, 10. «Es ist so, dass sich meine beiden Mittelfingerkuppen auf der Tastatur bekriegen. Die linke will immer schneller als die rechte sein». GN, 8.

[33] Beatrice Wilke: Computervermittelte Kommunikationsformen in literarischen Texten. In: Testi e linguaggi, 1.2007, 161-162.

[34] GN, 30. Unerklärlicherweise wurden diese Stilformen in der italienischen Übersetzung nicht beibehalten S. Giulia Messeri: Daniel Glattauers E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind in italienischer Übersetzung. Magisterarbeit, Graz, 2012, 80-84.

[35] Sie betont: «Alles ist erlaubt, alles außer schweigen». GN, 191.

[36] GN, 30, 160, 176, 186.

[37] GN, 31.

[38] Schneider-Özbek (2011), 353.

[39] GN, 55.

[40] Die Einladung zum “blind date” wird drei Mal ausgedrückt (GN, 92-93; 178; 215). Einer der drei Belege: «Sie kommen herein. Sie treten vom Vorraum in das erste Zimmer links. Es ist verdunkelt. – Ich umarme Sie, ohne Sie zu sehen». GN, 215.

[41] GN, 99.

[42] GN, 19.

[43] «Allerdings fühle ich mich jetzt ein bisschen wie eine Testperson». GN, 9. «leo, studieren sie mich nur? testen sie mich als transporterin von emotionen? bin ich für sie nichts als der inhalt einer kalten doktorarbeit oder sonst einer grausamen sprachstudie». GN, 97.

[44] Mattitiyahu Zimbler, Robert Feldman: Liar, Liar, Hard Drive on Fire: How Media Context Affects Lying Behavior. In: Journal of Applied Social Psychology, 41.2011, 2492-2507.

[45] Trotz mehrerer Annäherungsversuche gelingt ihr Rendezvous nicht: Sie treffen sich in einem überfüllten Café, ohne sich zu erkennen (GN, 44), hinterlassen sich gegenseitig eine Nachricht auf ihren Anrufbeantwortern (GN, 170-173) und planen sich in einem verdunkelten Zimmer zu treffen (GN, 88).

[46] GN, 178.

[47] Dupont (2014), 196.

[48] Denis de Rougemont: L’amore e l’occidente. Milano: Rizzoli, 1977.

[49] Ebda, 103ff.

[50] Ebda, 225-299.

[51] Ebda, 193ff.

[52] Ebda, 97.

[53] GN, 194.

[54] De Rougemont zählt zu dieser Tradition die Werke von Dante und Petrarca bis Stendhal und Wagner. Ebda, 225-299.

[55] GN, 183.

[56] Adam Gazzaley, Larry D. Rosen: The distracted mind: Ancient brains in a high-tech world. Cambridge, MA: MIT Press, 2016.

[57] GN, 183.

[58] Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus: Adorno-Vorlesungen 2004, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2013 (e-book).

[59] Ebda.

[60] Ebda. Das Internet beruhe, «wo die traditionelle romantische Liebe – im Normalfall ausgelöst durch die Anwesenheit zweier physisch-materieller Körper – aufs engste mit sexueller Anziehung verbunden war, auf einer entkörperlichten textuellen Interaktion».

[61] «Die Idee der romantischen Liebe war häufig von der Vorstellung der Einzigartigkeit der geliebten Person begleitet. Exklusivität ist wesentlich für die Ökonomie der Knappheit, die für die romantische Leidenschaft maßgeblich war. Wenn das Internet andererseits einen Geist hat, dann den der Fülle und Auswechselbarkeit. Der Grund liegt darin, daß die Partnersuche im Internet den Bereich romantischer Begegnungen mit den auf einer Ökonomie der Fülle, der endlosen Wahlfreiheit, der Effizienz, der Rationalisierung, der selektiven Auswahl und der Standardisierung basierenden Prinzipien des Massenkonsums vertraut gemacht hat». Ebda.

[62] Diese Uniformierung wird von Illouz folgendermaßen erklärt: «“Ich bin eine attraktive, extrem aufgeschlossene neununddreißigjährige Frau, die sich um die kümmert, die sie liebt”, oder “Oh je, was soll ich sagen – humorvoll, unbekümmert, hoffnungslos romantisch”. Ich denke, was hier passiert, ist nicht sehr mysteriös. Der Prozeß der Selbstbeschreibung bedient sich kultureller Skripte der wünschenswerten Persönlichkeit. Wenn sie sich in einer entkörperlichten Form anderen präsentieren, benutzen die Menschen etablierte Konventionen der wünschenswerten Person und applizieren sie auf ihr Selbst. Mit anderen Worten, die Verwendung der geschriebenen Sprache für die Präsentation des Selbst schafft, ironischerweise, Uniformität, Standardisierung und Verdinglichung». Ebda.

[63] Ebda.

[64] «Die traditionelle romantische Vorstellungskraft vereinheitlicht Erfahrung, da sie ihr Zentrum im Körper hat; sie vermischt und kombiniert das gegenwärtige Objekt mit Bildern und Erfahrungen aus der Vergangenheit und konzentriert sich auf einige wenige «verräterische» Details am anderen. Darüber hinaus gilt für das dem Internet vorausgehende Subjekt, daß die Liebe die Vorstellungskraft durch Prozesse der Idealisierung anstachelt. Zu lieben heißt, überzubewerten, das heißt, einen (realen) anderen mit zusätzlichen Werten auszustatten. Es ist der Akt der Idealisierung, der die andere Person einzigartig macht». Ebda.

[65] Ebda. Aus einer psychologischen Perspektive werden die gleichen Phänomene untersucht in: Patricia Wallace: The psychology of the internet. Cambridge: Cambridge University Press, 2016, 124-158.

[66] GN, 183.

[67] GN, 146. Zu Humor in GN s. Messeri (2012), 89-95 und Wilke (2007), 163.

[68] Emma schlägt ein «gehobenes» Kommunikationsniveau vor, wenn sie Leo auffordert: «Ich will nämlich nicht, dass die Art unseres Gesprächs hier auf das Niveau eines Kontaktanzeigen- und Chatroom-Geplänkels absinkt». GN, 17.

[69] Nur eines wird im ganzen Roman verwendet. Was für einen Email-Roman recht sonderbar ist. GN, 12.

[70] GN, 94.

[71] GN, 7.

[72] GN, 35. Zur Angst vor Frustration s. auch GN, 20, 37, 58, 95, 160, 161, 212.

[73] GN, 161.

[74] Emmi schreibt: «Sie haben immer von Ihrer “Fantasie-Emmi” geschrieben. Ich bin vielleicht weniger bereit, mich mit einem “Fantasie-Leo” zufrieden zu geben, mir jemanden, den ich so gern mag, auf Dauer nur einzubilden. Der muss schon aus Fleisch, Blut und Ähnlichem sein. Und er muss einer Begegnung mit mir standhalten können». GN, 99.

[75] GN, 175.

[76] GN, 43.

[77] GN, 161.

[78] Der Schriftkörper scheint dem biologischen Körper überlegen zu sein, wenn die folgende Maxime gilt: «Emmi, genau so einen Mann hätte ich gerne, einen, der lieber eine E-Mail von mir haben will als Sex. Sex wollen alle Männer. Klasse hat einer, der nicht das eine, sondern das andere von mir will: Post!». GN, 111.

[79] GN, 43.

[80] GN, 88.

[81] GN, 47.

[82] GN, 107.

[83] «Mein Fall wären Sie dann offen gesagt eher nicht so ganz». GN, 48.

[84] GN, 144.

[85] GN, 122, 161.

[86] Emmi schreibt: «Ja das ist total wichtig […] Ich mag 1.) Gefallen finden. Und ich mag 2.) gefallen». GN, 36.

[87] GN, 181.

[88] Hayer (2015), 126.

[89] GN, 19.

[90] GN, 213.

[91] GN, 126.

[92] GN, 89.

[93] Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 4. überarb. u. aktual. Aufl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2002, 38.

[94] Kusche (2012), 147.

[95] Davide Giuriato, Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.): «System ohne General». Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München: Wilhelm Fink, 2006 (= Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 3).

[96] Ebda, 10.

[97] Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing: Managing Language in the Digital Age. NY: Columbia University Press, 2011, 15.

[98] Contemporary writing requires the expertise of a secretary crossed with the attitude of a pirate: replicating, organizing, mirroring, archiving, and reprinting, along with a more clandestine proclivity for bootlegging, plundering, hoarding and file sharing […] The traditional writer’s solitary lair is transformed into a socially networked alchemical laboratory, dedicated to the brute physicality of textual transference. […] Data mining. Sucking on words. […] Our task is simply mind [sic] the machines. Ebda, 220-221.

[99] Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Berlin: Ullstein, 2010.

[100] Eckart Löhr: Der Autor und sein Werk. Hamsun Céline, Benn und andere Beispiele. In: «literaturkritik.de», 3.03.2010.

[101] Thomas Anz: Playgiarism. Hegemann, die postmoderne Literaturtheorie und die Rückkehr des Autors in der Literaturwissenschaft. In: «literaturkritik.de», 3.03.2010. Auch andere Publikationen scheinen die «Rückkehr des Autors» zu belegen, etwa: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martìnez, Simone Winko (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer, 1999; Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft: Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2002.

[102] Durs Grünbein: Plagiat: Eine Wortmeldung von Durs Grünbein. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 23.02.2010, n. 45, 33.

[103] Gottfried Benn: Plagiat. In Ders., Gesammelte Werke in acht Bänden, hrsg. v. Dieter Wellers­hoff, Wiesbaden, Limes, 1968, Bd. VII, 1646-1649.

[104] GN, 95.

[105] GN, 110.

[106] Zum Phänomen der instapoets gibt es fast noch keine Sekundärliteratur, obwohl ihre Vertreter, wie etwa Rupi Kaur, inzwischen weltberühmt geworden sind und ihre auf Instagram erschienenen Werke in Buchform veröffentlicht haben. S. Kathi Inman Berens:  «E-Lit’s #1 Hit: Is Instagram Poetry E-literature?». In: Electronic Book Review, 7.4.2019, LINK; Marylyn Tan, Samuel Caleb Wee: Leav Rupi alone. – eXXXtreme #instapoetry. LINK.

[107] Szilvia Gellai: Netzwerkpoetiken in der Gegenwartsliteratur. Stuttgart: Metzler, 2018.

[108] GN, 37.

[109] «Ich freue mich sehr, dass Sie immer wieder aus alten E-Mails von mir zitieren». GN, 35. S. auch GN, 110.

[110] Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek: Rowohlt, 1969.

[111] Ebda, CLXXV.

[112] Ebda, CLXXVI.

[113] Ein empirischer und «textualisierter» Beleg dieses Erfolgs: «Porn» und «sex» sind nach den weltweit bekannten brands die am meisten gegoogelten Begriffe. LINK.

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Studia austriaca

An international journal devoted to the study
 of Austrian culture and literature
Published annually in the spring
Hosted by Università degli Studi di Milano under OJS
ISSN 2385-2925
http://riviste.unimi.it/index.php/StudiaAustriaca/

Editor-in-chief: Fausto Cercignani

Co-Editor: Marco Castellari

Editorial Board
Achim Aurnhammer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Cornelia Blasberg (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Alberto Destro (Università degli Studi di Bologna)
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All essays should comply with a few essential typographic rules and be accompanied by a short abstract in English
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Studia austriaca was founded 1992. For vols. I-XIX, published in print between 1992 and 2011, see:

Studia austriaca I-XIX (1992-2011)

The Editor-in-chief of “Studia austriaca”

Fausto Cercignani

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