Teresa Vinardell Puig

(Barcelona)

Wien als Blickgewebe
Überlegungen zu Veza Canettis «Die Gelbe Straße»

[Vienna’s interwoven glances. On Veza Canetti’s «Die Gelbe Straße»]

abstract. The following article is focused on the importance of visual perception in Veza Canetti’s Die Gelbe Straße. The novelist portraits a Viennese microcosmos as a fabric in which glances are tightly interwoven, representing an urban way of life that, due to its complexity, demands sharp attention and cunning strategic behaviour from everybody. Canetti aims to challenge all the clichés which praised Vienna as an anti-modern, idyllic capital city, characterizing it as deeply rooted in history and art, and thus more humane. Her novel opposes this idealized vision of her hometown by revealing the pitiless nature of its inhabitants. The multiple ways of looking which may be detected on one street mostly reflect different forms of exerting power in society.

Keine Vedute. Stadt und Blick

Seit Ende des 17. und besonders im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden Städte oder Stadtteile in sogenannten Veduten porträtiert, die so wirklichkeitsgetreu wie möglich zu sein beabsichtigten. Im Unterschied zur vorhergehenden Landschaftsmalerei handelte sich dabei um keine stark idealisierte oder gar erfundene Szenerie, die menschliche Handlung in irgendeiner Form einbettete und erst recht zur Geltung brachte. Die Künstler, die sich dieser neuen Gattung widmeten, setzten sich zum Ziel, dass man aus ihren Gemälden heraus hauptsächlich eine Landschaft oder ein Stadtpanorama mühelos wiedererkennen könne. Dem rationalen Geist der Aufklärung gemäß, versuchten sie zum ersten Mal städtische oder ländliche Umgebungen auf eine objetive und naturgetreue Art und Weise darzustellen[1].

Anders als die meisten Vedutenmaler, scheint Veza Canetti in ihren Romanen und Erzählungen keinen Wert auf die Loslösung des Räumlichen vom menschlichen Tun und Handeln zu legen. Bei ihr fußt die Wiedererkennbarkeit des dargestellten Milieus fast ausschließlich auf dem Unverwechselbaren des Menschen und auf den in Wien üblichen Umgangsformen. In Die Gelbe Straße erwähnt Veza Canetti Wien zwar nirgends ausdrücklich, verstreut aber darin mehrere Einzelheiten, die deutlich auf die österreichische Hauptstadt hinweisen – topographische, wie den Volksprater und den Donaukanal, aber auch sprachliche, wie einige Austriazismen oder die dialektale Färbung in der Ausdrucksweise mancher Figuren. Deren soziale Konstellation ist so beschaffen, dass ein breites Spektrum von überwiegend kleinen Leuten (armen Waisenkindern, Dienstmädchen, Angestellten …) bis hin zu Großbürgern und Aristokraten vertreten ist[2]. Die Handlung führt in das meist karge Leben einer fiktiven Straße der Wiener Leopoldstadt, die dem Roman seinen Titel verleiht und die in ihrer Atmosphäre laut Elias Canetti große Ähnlichkeiten mit der Ferdinandstraße zeigte, in der die Autorin jahrelang gelebt hatte[3]. Deren Einwohner werden als «Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte» bezeichnet[4]. Das dort herrschende Gefälle zwischen Armen und Wohlhabenden, Unterdrückten und Unterdrückern, Frauen und Männern wird sozialkritisch beleuchtet; Macht- und Gewaltverhältnisse, klar umrissen, treten in privaten oder halb-öffentlichen Räumen (Geschäften, Kaffee- und Treppenhäusern …) besonders deutlich hervor. Das Moment räumlicher und sozialer Mobilität wird manchmal aufgegriffen, denn die «Gelbe Straße» ist ein Transitort für Waren und Menschen[5]: Darin auftretende Figuren sind Einsässige, Besucher und Kunden. In ihrer Vielfalt besitzt ihre sprachliche Kennzeichnung eine Stellvertreterfunktion: Die porträtierte Straße ist als «Großstadt in Miniaturform» aufgefasst worden[6], obwohl die dort waltende Atmosphäre mitunter eher kleinstädtisch-familiär wirkt. Wenn man das sich dort abspielende Leben durch das Vergrößerungsglas der Erzählung beobachtet, so werden viele Einzelheiten als Symptome weitreichender sozialer Pathologien lesbar, die für die gesamte Stadt bezeichnend sind.

Die Schärfe und Unerbittlichkeit des physiognomischen Blickes von Veza Canetti hat bereits Alexandra Strohmeier gewürdigt:

Die Körper der Figuren in den Texten Veza Canettis sind durch eine augenfällige Zeichenhaftigkeit charakterisiert, an ihnen scheint sich eine semiotische Vorstellung von Körper als Träger von Zeichen zu materialisieren, wie sie im physiognomischen Diskurs der 20er Jahre dominiert und im Stummfilmkino mit seinen (historisch und medial) bedingten diskursiven Beziehungen zur Tradition der Groteske performativ inszeniert wird.[7]

Auch Julian Preece hebt die Faszination hervor, die sowohl Veza als auch Elias Canetti für den Sehsinn empfanden: Bei ihr steht Kurzsichtigkeit oft für den Egoismus der Mächtigen, ihr Mann bildet die Conditio humana als eine unheilbar geblendete ab[8]. In Die Gelbe Straße steht der Blick also nicht nur als eine Metapher für Aufmerksamkeit, Prägnanz und Scharfsinn der Erzählerinstanz[9], sondern wird auch thematisiert. In ihrem Roman stellt die Autorin den Wiener Mikrokosmos als ein Blickgewebe dar, in dem Blicke eine großstädtische Lebensweise signalisieren, die ein besonders ausgefeiltes strategisches Benehmen erfordert. In der Großstadt werden die zahlreichen, oft nur flüchtigen zwischenmenschlichen Beziehungen mit einem spürbaren Sinn für Ökonomie gehandhabt. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts stellte Georg Simmel in seinem berühmten Aufsatz «Die Großstädte und das Geistesleben» fest, dass die anfangs nur in Städten gängige Geldwirtschaft sich dort langsam auf den gesamten Raum menschlicher Relationen übertragen und darin weitreichende Folgen hinterlassen habe:

Das Wesentliche auf wirtschaftspsychologischem Gebiet ist hier, daß in primitiveren Verhältnissen für den Kunden produziert wird, der die Ware bestellt, so daß Produzent und Abnehmer sich gegenseitig kennen. Die moderne Großstadt aber nährt sich fast vollständig von der Produktion für den Markt, d.h. für völlig unbekannte […] Abnehmer. Dadurch bekommt das Interesse beider Parteien eine unbarmherzige Sachlichkeit, ihr verstandesmäßig rechnender wirtschaftlicher Egoismus hat keine Ablenkung durch die Imponderabilien persönlicher Beziehungen zu fürchten. Und dies steht offenbar mit der Geldwirtschaft, die in den Großstädten dominiert, […] in so enger Welchselwirkung, daß niemand zu sagen wüßte, ob zuerst jene seelische, intellektualistische Verfassung auf die Geldwirtschaft hindrängte oder ob diese der bestimmende Faktor für jene war. Sicher ist nur, daß die Form des großstädtischen Lebens der nährendste Boden für diese Wechselwirkung ist […][10]

Simmel hebt hervor, der ununterbrochene Wechsel äußerer und innerer Eindrücke intensiviere bei Großstädtern das Nervenleben. Die «rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen» würden für ständige Erregung sorgen und einen Großteil des menschlichen Bewusstseins verbrauchen[11]. Man versuche, extreme Ermüdungserscheinungen, die dieser Steigerung Folge leisten und «Blasiertheit» hervorrufen würden, durch Zurückhaltung vorzubeugen. Der Preis, den dieses Phänomen der gesteigerten Reizanhäufung auf der emotionalen Ebene zu zahlen habe, sei praktisch die Ablösung des Gemütes durch den Verstand, der kühler und distanzierter auf die Außenwelt reagiere und somit laut Simmel als ein «Schutzorgan gegen die Entwurzelung» fungiere, mit der die «Strömungen und Diskrepanzen» des «äußeren Milieus» den Großstadtbewohner bedrohen würden[12]. Bei aller Distanz zum Urbanen gibt Simmel aber zu, dass die Intensität großstädtischer Stimulation und besonders auch der Wunsch, sich von der Masse abzuheben, geistig aufweckend sein könnten[13].

Der Wunsch nach Übersichtlichkeit

In einer höchst komplexen Umwelt, die sich durch unterschiedliche, zum Teil einander widersprechenden Hierarchien kennzeichnet, wird der Gesichtssinn besonders stark in Anspruch genommen. Über ihn ließe sich, so David Le Breton, allgemein behaupten, dass er im Unterschied zum Gehör beweglich und selektiv sei[14]. Somit sei er fähig, visuelle Landschaften ausgiebig zu untersuchen oder nur zu überfliegen.Der Blick könne sich sowohl beliebig entfalten, um Fernliegendes panoramisch wahrzunehmen, als auch sich in allernächste Nähe fokussieren, um möglichst viele Einzelheiten zu erfassen. Übersichtlichkeit sei für die meisten Menschen eine wichtige Bedingung zum Handeln; der Sehsinn schenke ein schlüssiges Bild des Raumes, der Menschen und Objekte, die sich darin verteilen würden, und der Art und Weise, wie sie aufeinander bezogen seien. Allerdings sei das Sehvermögen ohne den Tastsinn verstümmelt, denn beide würden sich in der räumlichen Wahrnehmung ergänzen. Die sprichwörtliche Verbindung von Sehen und Begreifen beruhe also auf einer empirischen Basis (Sehen und Greifen) und weite sich dann im übertragenen Sinn auf die geistige Ebene aus. Goethes berühmtes «fühlende[s] Aug’» bezieht sich zwar auf einen stark erotisierten Blick, könnte aber im urbanen Kontext auch die semantische Nuance der Distanz erhalten, wenn es nicht gerade wie in den Römischen Elegien durch eine «sehend[e] Hand» ergänzt wäre[15]. Anstelle von Berührung, bei der man durch die eigene Präsenz immerhin auch etwas riskiert, neigt man in der Großstadt zur viel abgesicherteren Beobachtung, die nicht auf voyeuristische Schaulust verzichtet und weniger aufreibende Nähe erfordert. Den Blicken, die Veza Canetti mit großer Insistenz darstellt, mangelt es meistens an Empathie. Sie zeugen jedenfalls kaum von einem dahinter wirksamen Anspruch des Verstehen-Wollens, es sei denn, dass dahinter kühle Berechnung auf einen Gewinn lauert. Dass in diesem «Augenspiel» Unwissende oder Naive den Kürzeren zu ziehen pflegen, versteht sich von selbst. Manche kommen dabei zu lebenspraktischen Erkenntnissen.

Wiener Blicke. Ein kleines Panorama

Während man in kleineren Gemeinden scharf zwischen Fremden und Nachbarn oder Bekannten unterscheidet und Misstrauen hauptsächlich ersteren gilt, sind die Blicke in der Großstadt im allgemeinen prüfender. Veza Canettis Roman scheint die Klischees endgültig widerlegen zu wollen, die Wien als eine historisch tief verwurzelte, antimoderne und dadurch menschlichere Kunststadt stilisierten. Konservative, kulturpessimistisch orientierte deutsche Soziologen, wie etwa Werner Sombart, hatten bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts die Wiener Idylle gegen ein amerikanisiertes Berlin ausgespielt[16]. Wohl wird in Canettis Roman die Vielfalt der Lebensformen angedeutet, die Wien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer noch als eine besonders heterogene Metropole charakterisierte, während sich andere Großstädte schon lange einer wachsenden Tendenz zur Homogeneität angepasst hatten. In seiner Analyse der Diskurse und der Erfahrungen, die die europäischen Städte der Moderne prägten, hebt David Frisby Wiens Reichhaltigkeit hervor:

The «suburbs of… language» actually comprised different languages and forms of life within its boundaries based upon the migration of diverse nationalities from the Austro-Hungarian Empire. If we add this ethnic and linguistic diversity to the segmentation of social class groupings and, in turn, the gendered access to the public sphere, then Vienna reveals itself to be a much more heterogeneous metropolis than either Paris or Berlin.[17]

Innerhalb der Leopoldstadt, das jüdischste Viertel der Stadt, war laut Ruth Beckermann diese Heterogeneität besonders deutlich zu sehen: «Hier lebten nicht nur die Religionen, sondern auch die Klassen eng zusammen. […] Ihre Bevölkerung läßt sich nicht soziologisch oder ethnisch in ein gemeinsames Konzept zwängen»[18].

Veza Canetti legt aber die Gier nach Reichtum, Macht oder Ruhm als eine Kraft bloß, die in Wien die große Mehrheit aller Beziehungen praktisch auf denselben Nenner bringt. Blicke bringen diese Habsucht unmittelbar zum Ausdruck: «Der Hausbesorger sah die Goldstücke, und die Goldstücke sehen und nach ihnen greifen war eins»[19]. Im Roman werden Menschen bloß auf ihre Arbeitskraft hin erwogen und als Objekte ihrer Würde beraubt. Eine nicht näher genannte «Gnädige» etwa sucht bei der Stellenvermittlerin Hatvany eine Hausgehilfin und stellt eine ganze Reihe absurder Bedingungen, die sofort ihre arbiträre und rücksichtslose Haltung gegenüber jeder möglichen Arbeitnehmerin bloßlegen. Wenn man ihr am Ende ein junges Mädchen vorstellt, das ihren Wünschen gemäß nicht aus dem Burgenland stammt und nicht Anna heißt, bezweifelt die Dame ohne jegliche Politesse, dass es für den Posten geeignet sei: «Ist sie nicht zu schwach? Zeigen Sie einmal Ihre Beine her!»[20]. Zur Norm erhobener Mangel an Respekt –und nicht nur von Seiten der Arbeitgeberinnen–, häufige Demütigungen, die in der Art, in der man jemanden anschaut, nur eine ihrer Ausdrucksformen finden, wirken sich bei den jungen oder älteren Frauen, die bei der Hatvany auf eine Stelle warten, direkt in ihrem Gesicht aus: «Der Verräter an den Mägden ist ihr Blick. Die Wahrheit darin ist verschüttet, das Ziel ist ausgepeitscht. Sie wissen nicht, daß nicht sie sich erniedrigen. Und nur zuweilen ahnen sie es»[21]. Die Erzählinstanz ergreift Partei; Veza Canettis Aufmerksamkeit auf visuelle Signalisierung und Wahrnehmung weist nicht zuletzt auf die Skrupellosigkeit, die Wien aller hauptstädtischen Selbstzufriedenheit zum Trotz kennzeichnet. Sie spricht zwar den Dienstboten ab, «die Wahrheit über sich selbst im Blick zu äußern», aber indem sie auf die Möglichkeit eines Ahnens deutet, lässt sie dennoch einen kleinen Spalt für eine «Epiphanie einer Spur zu einem ganz neuen Wissen über sich selbst»[22].

Fleischliche Begierde wird von Veza Canetti als ein lediglich nach Besitz gerichtetes Verlangen dargestellt und erhält demzufolge eine negative Konnotation[23]. Blicke versuchen begehrenswerter Dinge oder Menschen habhaft zu werden. Jemanden zu erblicken ist nie belanglos, denn Blicke sind zwar immateriell, aber sie wirken sich symbolisch aus. Unter Umständen können sie sogar bei dem oder der Erblickten physische Reaktionen hervorrufen: Erröten, beschleunigter Atem oder Herzklopfen sind dabei bekanntlich nicht seltene Symptome. Der Blick ist tatsächlich eine Form des Kontakts[24]. Emma, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das bereits einmal von der Stellenvermittlerin Hatvany für einen überaus dubiosen Posten weiterempfohlen worden war, versucht die Absichten ihrer neuen Arbeitgeberin, Frau Vaß, zu durchschauen. Angeblich möchte sie das Mädchen für die Garderobe eines Klubs engagieren. Wie es sich herausstellen wird, sind Emmas Zweifel alles andere als unbegründet. Frau Vaß’ Bruder, der Bankier Schleier, «ein alter Kater im Frack, steifen Hemd mit Brillantknöpfen und mit gelb gefärbtem Schnurrbart»[25], hat ein erotisches Faible für Teenager[26]:

«Bist du schon vierzehn?» fragte der Kater und seine Lippen trieften. […] Die Emma sah auf das Lächeln der Frau Vaß und auf die pfiffig stechenden Augen des Herrn vor ihr, es lag so viel Überlegenheit in den Blicken der beiden, daß die Emma auf dem Sessel sitzen blieb wie festgebannt, obwohl sie gerne davongelaufen wäre.[27]

Arroganz hat hier mit der Verachtung von Unschuld zu tun. Dass jemand sich weigert, sich zu verkaufen, stößt in diesem Kontext bei denen, die sich daraus einen Gewinn erhoffen, auf Unverständnis oder gar Empörung. Aber interessanterweise gibt Veza Canetti im gleichen Zug diesselbe Haltung bei denen zu erkennen, die schon den Entschluss gefasst haben, sich selber einen Preis zu setzen und im neuen Mädchen eine mögliche Konkurrentin sehen, deren Unwissenheit nicht allzu gefährlich für ihr Geschäft scheint: «Die Frauen hatten die Emma erblickt und jetzt sahen sie mit jener rätselhaften Überlegenheit drein, die die Emma so einschüchterte»[28].

Libidinöse Blicke stellt Veza Canetti also negativ dar. Ihre eigenen Vorurteile im Bereich der Sexualität, weitgehend mit denjenigen ihrer Zeitgenossen identisch, werden dabei ersichtlich. Weibliche Begierde erhält den Anschein einer lächerlichen Zudringlichkeit, die Männer nach dem Motto «Man merkt die Absicht, und ist verstimmt» abweisen können. Obwohl gesellschaftliche Kontrolle in der Großstadt im Vergleich mit derjenigen in einer kleinen Gemeinde relativ gering ist, bleibt darin die Ökonomie der Blicke patriarchalisch gefärbt. Die Kohlenfrau etwa sehnt sich wollüstig nach dem Angestellten Alois und versucht erfolglos auf eine sehr direkte Art, seine Blicke auf ihren Körper zu lenken: «[…] sie hob die kohlengeschwärzten Armschinken und riß die Bluse von ihrem dicken Busen weg. Der Alois hätte hinein fallen können, aber er wollte nicht»[29]. Ihre Fleischeslust scheint groß zu sein, denn auch den Dichter Knut Tell schaut sie «lüstern» an und sie «watschel[t] geil» hinter dem Lederhändler Koppstein her[30]. Die feinere «Gnädige» gibt ihren erotischen Neigungen auf eine unauffälligere Art nach: sie sieht den Dichter so an, «daß er ihr Oval von der vorteilhaftesten Seite» sehen kann, und versucht auf diese subtile Weise seine Begierde zu steuern[31]. Als Vertreterin der Bourgoisie legt sie großen Wert darauf, sich dem gängigen Code der Verführung anzupassen, in dem Zurückhaltung als eine Form der Eleganz angesehen wird.

Was weibliche Begierde anbelangt, schützt Vornehmheit im Roman allerdings keineswegs vor Lächerlichkeit. Mizzi Schadn, eine hübsche junge Frau, die bei der Hatvany auf ihre künftige Stelle wartet, wird von einer eintretenden Baronin so angeschaut, als wäre sie «eine auferstandene Tote aus dem engsten Familienkreis»[32]. Die Aristokratin lässt die Augen nicht von ihr ab, fordert sie auf, sofort in ihren Dienst zu treten, bietet als Monatslohn die unübliche Summe von achtzig Schilling an, und chauffiert Mizzi zu ihrem neuen Heim, nachdem sie die Stelle angenommen hat. Ihr Glück empfindet Mizzi als eine Fiktion, als ein Ding der Unmöglichkeit, das sie anfangs spielerisch genießt, obwohl oder eben weil es sich bald als grundlos erweisen könnte[33]. Dies trifft auch zu. Bald wird es offensichtlich, dass die Baronin, von Mizzis Schönheit angezogen, von ihr Dienste besonderer Art erwartet. Mizzi solle mit ihr schlafen, denn so viel Geld bekomme sie schließlich nicht umsonst:

Und gerade in diesem Augenblick geschah das Ungeheuerliche. Im Nachtgewand trat nämlich die Baronin ein und legte sich zu ihr ins Bett. // Die Mizzi sah es erschrocken mit an, doch verlor sie auch sogleich den Respekt vor solch einer Dame. // […] «Lassen Sie mich», bat die blasse Baronin bebend, «[…] Sie sind so schön! […]» Ihr Körper zitterte mitleiderregend. // Die Mizzi aber war über das Lob ihrer Schönheit nicht ein bißchen geschmeichelt. Denn wenn es verkehrt kommt, freut es einen nicht.[34]

Die Behauptung der Erzählinstanz verliert hier den sozialkritischen Ton, den diese Episode im Großen und Ganzen kennzeichnet, und erhält einen prüden und entschieden homophoben Beigeschmack. Dadurch, dass die Baronin am nächsten Morgen immer noch «unaufhörlich» die Schönheit ihrer Bediensteten preist[35], gewinnt Mizzi neue Einsichten in bisher ungeahnte Formen der Macht, die für sie jetzt plötzlich erreichbar scheinen. Trotz ihrer bescheidenen Herkunft und ihrer untergeordneten sozialen Stellung könnte Mizzi in Zukunft vielleicht von ihrer Ausstrahlung Gebrauch machen. Mizzis Blick auf die Welt und auf sich selbst hat sich allem Anschein nach verändert: «Und da geschah es, daß die Mizzi Schadn ihren weglosen Blick verlor, als sie die feine Baronin im Atlaskleid noch ein letztes Mal um ihre Gunst betteln sah, um die Gunst der Mizzi Schadn aus Stuben im Burgenland»[36]. Der Weg, den Mizzis Blick im Haus einer Wiener Baronin erkannt hat, führt anscheinend in das Dickicht eigennütziger Beziehungen.

Der verarmten Fabrikantengattin Andrea Sandoval, die als Pianistin im Café Planet ihr Lebensunterhalt verdient, entgeht der «flackernd[e] Blick» ihres Chefs auch nicht, und ebensowenig seine «Zweideutigkeiten»[37]. Aber Frau Sandoval weiß sich dagegen zu wehren. In einem Gespräch mit ihrer begabten Tochter, der Bildhauerin Diana, beteuert sie, ihre Strategie bestehe darin, in Tigers Rede nur die Deutung zu verstehen, die ihr «gemäß» sei, worauf Diana ihr vorwirft: «Du siehst nur dich in den andern wieder, Mutter»[38]. Narzissmus erscheint unter diesen Umständen als eine Überlebensform; mit etwas List vermengt[39], bietet er eine Möglichkeit, sich vor den Gefahren in dieser harten Umwelt durch eine Art selbstberuhigender «Blendung» zu schützen[40], die Vera Jost folgendermaßen deutet:

Diese Art von List steht Frauen der höheren Klasse zu, und dies um Männer zu besiegen. Vorgeführt wird das Reinfallen Tigers, ohne daß jemand nach den Konsequenzen fragt. Die bürgerlichen Damen stehen letzten Endes über den materiellen Zwängen. […] Die Privilegierung der höheren Moral der Sandovals vor den Notwendigkeiten der Erwerbssituation ist etwas, das der Erzählung unterläuft. Es bleibt undurchschaut, daß mit der Privilegierung der Frauen vor den Männern zugleich eine sexualmoralische Klassenprivilegierung wieder eingeführt wird.[41]

Diana gesteht, sie selber sehe nur «die andern» in sich, was ihr eine «Qual» sei[42], die sie letzten Endes dem Risiko einer Zersplitterung ihres Ichs ausliefert. Für die metaliterarische Dimension des Romans ist es interessant, dass die Mutter eben darin Dianas «Kunst» erkennt[43]: Ihr Talent bestehe dieser Auffassung nach also zunächst darin, Fremdes zu erkennen, dann in der Aneignung desselben und schließlich in dessen Sichtbarmachung. Ähnliches ließe sich von der Poetik des Romans Die Gelbe Straße behaupten. Allerdings garantiert nicht einmal die allergrößte Konsequenz darin den Erfolg, weder bei Veza Canetti noch bei Diana. Von ihr behauptet die Erzähl­instanz, «sie hätte die berühmten Bildhauer unserer Stadt in Verwunderung versetzt, wäre es nicht eine Gepflogenheit der Berühmtheiten, aufblühende Talente zu übersehen»[44]. Wien erweist sich als ein Ort, wo das Herausragen oder Auffallen außerordentlich schwer ist. Begabte oder gesellschaftlich irgendwann einmal abgestiegene Frauen merken es deutlich und leiden darunter; das sogenannte niedere Volk, wie wir im Falle Emilie Jakschs noch sehen werden, rechnet allerdings schon von Anfang mit seiner Unsichtbarkeit.

Einem tröstenden oder komplettierenden Spiegelerlebnis setzt Veza Canetti einen gefährdenden Blick entgegen, dem missgestaltete Figuren wie Frieda Runkel ausgesetzt sind, die nicht in das enge Raster des sogenannten körperlich Normalen hineinpassen. Obwohl sie eine wohlhabende Unternehmerin ist, vermag sie es nicht, sich als Ganzes zu fühlen, sieht sich selber bloß als etwas Mangelhaftes, weil – so Franziska Schlößler – «das Defizitäre der Ordnungen in ih[r] Körper eingelassen ist»[45]: «Jeden Morgen, knapp ehe die Runkel erwacht, sieht sie die Wahrheit. Sie sieht ihr eigenes Bild. Sie fühlt sich selbst, wie sie wirklich ist. Sie stöhnt so laut, daß sie erwacht»[46]. Im Voraus unerbittlich verurteilende Blicke umgeben diese verkrüppelte Frau, und sie ist nicht imstande, diese Unerbittlichkeit zu hinterfragen und somit zu bekämpfen. Stattdessen wird letztere automatisch auf sich und auf andere angewandt: Frieda Runkel hasst sich selbst und ist schlichtweg eine Tyrannin. Einzig die Bedienerin Therese Schranz zeigt sich willig, einen wohlwollenden Blick hinter die Abscheu erregende Fassade der Runkel zu werfen. In deren Häkelarbeit ahnt sie trotz allem verborgene Schätze: Sensibilität, Fleiß, zarte Innerlichkeit.

Und als die Therese den gediegenen Prunk der Runkel sah, den Reichtum von so armen Händen, wußte sie, daß sie auf diesem Posten bleiben wurde. […] Sie hatte in ihrem arbeitsreichen Leben nicht gelernt, Gesichter zu unterscheiden. Sie fand die Runkel zwerghaft klein, aber am Gesicht hatte sie nichts Besonderes bemerken können.[47]

Vera Jost hebt zu Recht hervor, dass Therese Schranz ein feines Gespür für moralische Korrektheit der Herrschaften und der Arbeitssituation habe, in die sie gestellt sei[48]. Ihre unbedingte Loyalität gelte einer anständigen Herrin, was ebenso die schöne Frau Iger als auch die häßliche Runkel sei. Das zerbrechliche Innere der Runkel wiegt in Thereses Augen ihr ungerechtes Benehmen anderen Menschen gegenüber auf. Die Mechanismen des sozialen Systems, die zahlreiche Formen der Ausbeutung und des Missbrauchs erlauben und sogar fördern, werden von ihr nur indirekt in Frage gestellt.

Das Aufeinandertreffen von Begehren nach erotischer Zuwendung oder nach Anerkennung, die sich sozial oder finanziell ausdrückt, und sein Pendant in den einander kreuzenden Blicken findet, bestimmt die Handlung in Die Gelbe Straße von Anfang an. Veza Canetti macht die Schattenseite großstädtischer Anomie sichtbar, indem sie im ersten Kapitel des Romans, unter anderen Figuren, Herrn Vlk porträtiert, einen reichen Hausbesitzer, der aber «weit unter seinem Vermögensstand» lebt und von seiner Bedienerin als «sehr pedantisch» geschildert wird[49]. Für seinen Egotismus und seine soziale Unfähigkeit ist die Tatsache bezeichnend, dass er bei verschiedenen Auskunftbüros Berichte über sich selbst bestellt. Er selber ist aber nicht einmal imstande, einen Nachbarn wiederzuerkennen[50]. «Das Bestreben Vlks, die ihn unmittelbar umgebende Welt soweit wie möglich zu ignorieren, wird durch seine tägliche Angewohnheit das Panoptikum im Volksprater zu besuchen augenfällig kontrastiert», hebt Andreas Erb hervor[51]. Dort könne er sich «in gesicherter Distanz zum Anderen, dem Wachsstarren, seiner eigenen Ich-Größe und -Stabilität vergewissern, ohne dafür aktiv werden oder in Kontakt zu seiner Umwelt treten zu müssen»[52].

Herr Vlk kann sich ein Leben ohne Arbeit leisten, aber trotzdem ist sein Tagesablauf streng durchorganisert. Jede Abweichung darin wirkt auf ihn wie ein persönlicher Angriff. Er beschwert sich bei Frieda Runkel über Lina Seidler, eine ihrer Angestellten, aus Gründen, die eigentlich nur seinen kleinkarierten und extrem überempfindlichen Charakter durchscheinen lassen. Als Lina versucht, sich zu rechtfertigen, würdigt Herr Vlk sie keines Blickes; einen Verteidiger von ihr schaut Vlk «tückisch» an[53]. Wenn jemanden zu ignorieren in der Großstadt zum Habitus geworden ist, so gleicht sogar ein böswilliger Blick fast einer Auszeichnung[54]. So ähnlich versteht es auch Frieda Runkel, Besitzerin der erwähnten Trafik und eines gegenüberliegenden Seifenladens, der in seiner Ausrichtung und Funktion an das Benthamsche Panoptikum erinnert: von dort aus «bewach[t]» sie das Tabakgeschäft und bestraft bei Gelegenheit auch ihre Angestellte[55]. Denn die Runkel erweist sich für Herrn Vlks Beschwerden empfänglich. Dass sich der sonst so hochnäsige Herr an sie wendet, empfindet sie als eine Ehrung[56]:

Er sieht mich nicht an, er sieht niemanden an. Er schätzt die Leute nach ihrem Wert und nicht nach dem Schein. Er achtet Autorität, Bildung, Stand. Die Runkel sprach sonst, als wären ihre Stimmbänder aus Leder. Aber jetzt waren sie Seide.[57]

Gnadenlos entlässt die Runkel Lina, die bei allen beliebte Seele ihres Geschäfts, die gerade deswegen ihrer verbitterten Arbeitsgeberin «ein Dorn im missgünstigen Auge» ist[58]. Die Absicht ihrer Stammkunden, Linas Entlassung rückgängig werden zu lassen, bestätigt sie nur in ihrer Entscheidung. Sie, die sich kaum bewegen kann, beobachtet neidisch von ihrem Rollstuhl aus ihre junge und schöne Angestellte und fasst jede Geste und Bewegung von ihr als eine Provokation auf[59]: «Sie stellt sich eigens auf, damit sie zeigen kann, wie groß sie ist. Ich hab ihr doch verboten, sich mit den Kunden zu unterhalten! Wenn sie noch einmal herschaut. […] Wir werden doch sehen, wer mehr ist»[60]. Etwas später wird sich herausstellen, dass besonders die Wirkung von Linas Sexappeal auf einige Kunden die Runkel aus dem Häuschen bringt. Dem großtuerischen Dichter Knut Tell[61], der anfangs vorgibt, die Revolte von Linas Stammkunden gegen Frau Runkel und deren arbiträre Entscheidungen zu führen (obwohl es dann eine Krankenschwester ist, die die mühselige Arbeit des Unterschriftensammelns auf sich nimmt), scheint die Laden- und Trafikbesitzerin kein Lebewesen, sondern etwas Versteinertes[62]. Als sich die Runkel weigert, die Entlassung rückgängig zu machen, verwandelt sich sein Blick in ein empörtes Anstarren, das in ein aggressives Selbstgespräch mündet:

Knut starrte sie an. Beschützen wir das blühende Leben, das Glück, die Macht, vor dem verdorrten Leben hier! Treten wir noch weiter herum auf diesem Entsetzen vor uns, mein Herr, wir sind ja so groß! Es krümmt sich vor uns! Treten wir darauf! Zertreten wir es![63]

Veza Canetti legt die Schwäche und Hilflosigkeit eines Intellektuellen bloß, der immerhin – anders als die Bildhauerin Diana – nicht ganz übersehen wird, indem sie unmittelbar nach diesem wohlgemerkt inneren Ausbruch der Empörung und der Aggressivität auch Tells äußere Reaktion auf die Antwort von Linas Chefin wiedergibt, deren Entlassung sei eine Privatangelegenheit: «Ja. – Ja. Das ist etwas anderes. Das ist freilich etwas anderes. Verzeihen Sie. Das wußte ich nicht. Entschuldigen Sie bitte»[64]. Nach Tell kommen noch viele andere. Auch sie sind nicht imstande, Linas Rechte zu verteidigen, und am Ende erklären sie sich alle sogar damit einverstanden, dass Lina sich vor der Runkel erniedrigen und sie um ihre Stelle bitten soll[65]. Der Einzige, der sich offen gegen Runkels Präpotenz wehrt, ist ein junger Mann namens Graf. Dies aber macht der Laden- und Trafikbesitzerin nichts aus: «Zum ersten Mal treten sie ein, ohne zu erschrecken, zu verachten, zu bedauern. Sie kommen, bitten und fordern, sie sehen sie voll an, die Runkel»[66]. Der Ausduck «voll ansehen» erhält hier sowohl eine wörtliche als auch eine übertragene Bedeutung: erst durch den Blick anderer kann jemand zu einer Respektsperson werden[67]. Die Runkel sehnt sich danach, und nicht einmal Grafs Vorwürfe können sie davon abbringen, den Augenblick voll zu genießen, wenn sie davon überzeugt ist, endlich diese Kategorie, sei es nur momentan, erreicht zu haben. Doch Grafs verborgene Gründe zu seiner mutigen Tat werden im ersten Kapitel der Gelben Straße ebenfalls durchschaut. Lina ist für Graf bloß ein Besitz, der ihn über andere stellt, eine Form der Macht, die sich voyeuristisch damit begnügt, die Begierde anderer Männer nach seiner Braut festzustellen:

Und die Lina sitzt im Haus und weint. […] Aber er [Graf] geht nicht. (Er braucht sie manchmal.) Er sitzt mißvergnügt und quält sie. Sie gefällt ihm nicht mehr, seit er nicht auf dem Sessel sitzen kann und zusehen, wie die anderen nach ihr hungern. […] Aber er läßt sie nicht stehn. Die Lina findet leicht einen andern. Das könnte ihn dann ärgern.[68]

Grafs Eifersucht will nur seine eigene Dominanz absichern. Sein Voyeurismus wird hier als eine perverse Form der Teilnahmslosigkeit enttarnt, die im Roman die Atmosphäre in der Gelben Straße im allgemeinen prägt, wobei sie manchmal als Sensationslust oder Indiskretion – beides unechte Formen des Interesses – auftritt.

Schmerzende Blicke und Blickverweigerung

Unrecht, Unglück und der damit verbundene Schmerz scheinen in der Gelben Straße zu grassieren: Sensiblen und gutmütigen Menschen scheint dort jeder Blick und jeder Anblick wehzutun. Frau Maja Iger, die mit ihren Kindern unter den Misshandlungen ihres Mannes leidet, legt die Hände ihres kleinen Sohns auf ihre Augen und Lippen, «als wären dort Wunden»[69].

Ganz am Anfang, unmittelbar nach ihrer Heirat, war es nicht so: «Die Lederhändler in der Gelben Straße blickten mit Genuß auf diese neue Erscheinung. Maja […] begann sich über das bißchen Aufsehen zu freuen»[70]. Bald bekommt sie jedoch die Grausamkeit ihres Mannes zu spüren, der sie bloß ihrer Mitgift wegen heiratete. Majas Verhalten dürfte niemanden wundern, der den unwiderstehlichen Hang Igers zur Heuchelei kennt. Nach außen hin tritt er als gutgelaunter, freigiebiger Wohltäter auf, der für jede öffentliche gutgesinnte Initiative zu haben ist. Auch im Privaten zeigt er sich durchaus gewillt, etwa seine Nichte Yanka zu verwöhnen, damit sein guter Ruf im Kreise seiner Angehörigen erhalten bleibt. Aber innerhalb seiner vier Wänden ist er geizig und gewalttätig gegen seine Kinder und seine Frau. Ihre Augen blicken stets «in abgrundtiefer Angst auf ihn»[71]. Hinter seiner jovialen Maske versteckt er eine düstere, augenlose Miene, die sein terrorisiertes Gegenüber nicht als solches wahrnehmen will, sondern nur als ein schuldiges: «Er bekam schwarze Flecke, die Augen verschwanden, das Gesicht war aufgedunsen. […] Herr Iger stürzte auf die junge Frau zu, die sich erhob und mit dem Kind in die Ecke flüchtete. Er sprach immer denselben Satz und schlug mit dem Stock auf sie ein»[72]. Der Anblick der Verwandlung dieses Ogers in den freundlichen Weltmann, den er vor der Öffentlichkeit vortäuscht, ist einfach nicht auszuhalten. Außerdem ist sich Maja auch bewusst, dass man ihr Leid leicht aus ihren Augen herauslesen könne und sie fühlt sich dadurch beschämt. Nur allzu oft hat sie außer der Gewalttätigkeit ihres Mannes noch die höhnische Neugier der im Hause angestellten Bonne ertragen müssen[73], die obendrein ihrem Mann noch schöne Augen macht und seinen Befehlen folgt, auch wenn dabei Frau Iger in ihrem eigenen Haus eingesperrt bleibt[74]. Es ist also besser, möglichst nicht aufzufallen, und die Aufmerksamkeit von Nachbarn und Passanten nicht durch den eigenen Blick hervorzulocken. Trotzdem aber lässt Maja Igers privilegierte gesellschaftliche Stellung sie nicht ganz unsichtbar werden[75]. Zu ihrem Glück. Denn in der Anteilnahme anderer, selbst wenn darin soziale Erwägungen eine Rolle spielen, kann sie mitunter auch etwas Halt finden[76].

Theatralik

Unsichtbarkeit kann nämlich in der Stadt die schlimmsten Folgen haben. Dies drängt Gefährdete zu allerlei Inszenierungen, die sie aus ihrer Situation heraus retten mögen. Emilie Jakschs Lage ist zum Verzweifeln: Sie ist arm und arbeitslos, und die Jobvermittlerin rührt keinen Finger, damit sie zu einer Stelle kommt[77]. Als die Hatvany sich darüber beklagt, dass die Polizeidirektion mittellose Mädchen, die sich umzubringen versucht hätten, zu Quartier, Kost und Posten verhelfe, kommt Emilie auf die Idee, einen Selbstmordversuch zu inszenieren. Dreimal geht sie an einen Wachmann vorüber, der bei der Kreuzung am Kanal steht, damit er sie wirklich bemerkt, und als sie sich dessen sicher ist, springt sie ins Wasser:

Emilie stak im Wasser, hilflos, rettungslos, wehrlos, sie hielt die Hand nach oben und winkte, aber gleichzeitig war sie sich bewußt, daß kein Mensch sie sehen würde, daß kein Mensch sie jetzt beachtete, wo sie fast tot war, wenn man sie doch früher nicht beachtet hatte, da sie noch lebte.[78]

Am Ende wird Emilie doch noch von dem Wachmann gerettet, der sich dabei eine tödliche Lungenentzündung herbeiholt, und kommt ins Obdachlosenheim «als die jüngste Selbstmörderin, deren Leid noch ganz frisch war»[79]. Von ihren Mitinsassinnen wird sie besonders nachsichtig und taktvoll behandelt. Dieses Erlebnis hinterlässt in ihren Augen einen «listige[n] Ausdruck, der ganz neu war»[80]. Hier, ähnlich wie in der Episode von Mizzi Schadn und der Baronin, gelangt die anfangs Benachteiligte dank dieser Erfahrung zu einer wichtigen Erkenntnis, was die selten offen ausgesprochenen Gesetze der Lebens- und Überlebenskunst in Wien (und anderswo) betrifft: Wer nicht schreit, geht leer aus.

Edward Timms kommt in seiner Studie über Karl Kraus auf das Theater als soziales Paradigma im Wien der Jahrhundertwende zu sprechen, ein Thema, das unter anderen schon Hermann Bahr in Wien (1906), Felix Salten in Das österreichische Antlitz (1910) und natürlich auch Karl Kraus in vielen seiner Beiträge für Die Fackel und besonders in Die letzten Tage der Menschheit (1918) bereits behandelt hatten. Elias Canetti behauptete von Kraus, «er allein sei ein ganzes Theater»[81]. Spätestens seit dem 18. Jahhundert war die deutschsprachige Literatur darum bekanntlich bemüht, aus dem Theater eine moralische Anstalt des Bürgertums entstehen zu lassen; mit dem Bau des Burgtheaters hatte man in Wien zudem noch eine Schule der vornehmen Ausbildung und -sprache, eine Lehranstalt der feinsten éducation sentimentale errichtet, nach der sich beispielsweise Elias Canettis’ Eltern als überzeugte Bildungsbürger immer noch richteten[82]. Das große Prestige von Schauspielern und Schauspielerinnen im Habsburger Reich und die allgemeine Praxis einer ausgefeilten Theatralik, die oft in Heuchelei ausartete, können laut Edward Timms als Symptome einer Tendenz zur systematischen Verhüllung aufgefasst werden[83]. Deren Ziel sei es, ungelöste Konflikte sowohl im sozialen als auch im politischen Bereich zu verdecken, die in der Hauptstadt des Vielvölkerstaats krass zum Vorschein traten. Einer so belesenen und aufmerksamen Zuhörerin der Vorlesungen Karl Kraus’ wie Veza Canetti kann diese Dimension im Leben ihrer Heimatstadt gar nicht entgangen sein, zumal ein stark ausgeprägtes Merkmal ihres Briefwechsels mit Georges Canetti ihre spielerische Vorliebe für die Maskerade sei[84]. Es wundert also kaum, dass sie der Figur des Heuchlers Iger, der ja obendrein ein Taschenspieler ist, in ihrem Roman so viel Raum schenkt. Mit Hilfe eines regelrechten Wortschwalls weiß er den Blick seiner Zuschauer auf das spektakuläre Ergebnis seiner «Igertricks» zu lenken. Am Ende verleitet ihn aber sein Größenwahn zu einer Lüge, die sogar sein freundlich gesinntes Publikum empört: Iger täuscht vor, Helli Wunderer, ein für ermordet gehaltenes Mädchen zurück ins Leben erweckt zu haben, was die Zuschauerschaft verständlicherweise aus der Fassung bringt. Das Interessante daran ist aber, dass die Zuschauer ihre Wut nun nicht gegen Iger richten, sondern gegen Helli, deren Anwesenheit ihre blutrünstigen Fantasien Lügen straft[85].

Allerdings wird nicht nur Iger im Text als der Inbegriff einer Wiener Art der Verstellung verhöhnt; eine vermeintlich ehrbare Institution des Bürgertums, dem er angehört, wird auch bloßgestellt: «Das Kinderheim in der Gelben Straße wird von wohltätigen Damen finanziert, was noch fehlt, verdienen die Kinder selbst»[86]. Diese Art der Fürsorge entpuppt sich als eine rein paternalistische Pose. In einer Benefizveranstaltung führen die in dieser Anstalt behüteten Mädchen einige Märchenbilder mit fröhlichem Einsatz auf. Danach bedankt sich die Leiterin bei ihren «edlen Spendern»[87]. Mit ihrer Rede und einem sogenannten «taktvollen Augenaufschlag zur armen Herde» nagelt sie die Kinder auf deren Opferrolle fest[88]. Die niederschmetternde Wirkung ihres Blicks und ihrer Worte lässt nicht auf sich warten; die offiziösen Vertreterinnen der Barmherzigkeit können sich weiterhin in aller Ruhe ihrer eigenen Philanthropie und der Dankbarkeit ihrer Mündel erfreuen[89]:

Kaum hatte die Rede begonnen, als alle diese munteren kleinen Mädchen plötzlich mager und vergrämt wurden, sie drückten sich, blickten steif zu Boden, schlichen dann steif die Treppe vom Podium hinunter, auf die Stadtrat Platz zu und küßten ihr die Hand, die Rückwärtigen mit der Vergünstigung, daß der Geruch schon weggeküßt war, der bei alten Damen offenbar von ihren schlaffen Gedärmen herrührt.[90]

Die Szene macht die aufbauende Wirkung deutlich, die anerkennende Blicke anderer auf das eigene Selbstbild erreichen. Trotz der papiernen Kostüme haben die Mädchen bei ihrer Zuschauerschaft durch ihren Elan auf der Bühne große Bewunderung geerntet. Der somit entstandenen Umkehrung der bisherigen Dankbarkeitsdynamik setzt die Leiterin des Heims mutwillig ein Ende, in dem sie die Waisenkinder an ihre frühere Rolle als Schuldnerinnen erinnert. Veza Canetti illustriert hiermit, so Vreni Amsler, den austromarxistischen Diskurs um Sinn und Unsinn von privater Wohltätigkeit und legt dabei deren «übersteigerte Egozentrik» dar[91]:

Diese Form von Wohltätigkeit funktioniert nur, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse erhalten bleiben, das heisst, wenn die Kinder ihren Platz als vernachlässigte Opfer der Geselllschaft weiter bereit sind einzunehmen.[92]

Angebliche Fürsorge, die sich bloß als gespielt erweist, böswillige Heuchelei, teilnahmsloser Voyeurismus, Inszenierung des eigenen Unglücks, Überwachung, narzisstisches Leugnen einer komplexen Realität, naive, scheue, libidinöse, arrogante, agressive und unerbittlich verurteilende Blicke: Das sind alles Elemente, die dem Roman Die Gelbe Straße seine Dichte verleihen. Die Schriftstellerin bildet damit ein Gewebe, das die keineswegs glatte Textur zwischenmenschlicher Beziehungen in Wien darstellt und deren konservative Charakterisierung als antimoderne und folglich menschenfreundliche Kulturstadt Lügen straft. So bietet Veza Canetti ihrer Heimatstadt und ihrer Zeit eine Schrift, die nicht nur deren «Laster […] verewigt»[93], sondern auch die zahlreichen Blicke, die sich dort kreuzen, wie ein Spiegel auffängt und dabei die Folgen derer Selbstgefälligkeit nicht außer Acht lässt. Von diesem Spiegel sollten auch heutige Leser und Leserinnen nicht das Gesicht abwenden, wenn sie darin die Blickrichtung ihrer eigenen Pupillen verfolgen wollen.

 

 

Literatur

Amsler, Vreni (2017). Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Canetti, Elias (1994a). Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. München; Wien: Hanser.

Canetti, Elias (1994b). Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München; Wien: Hanser.

Canetti, Elias; Canetti, Veza (2009). Briefe an Georges. Frankfurt am Main: Fischer.

Canetti, Veza (2009). Die Gelbe Straße. Mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel. Frankfurt am Main: Fischer.

De Seta, Cesare (Hg.) (1996). Città d’Europa. Iconografia e vedutismo dal XV al XIX secolo. Neapel: Electa.

Erb, Andreas (1995). «Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien. Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße», in: Der Deutschunterricht, 47. Jg. H. 5, S. 55-64.

Fischer-Westhauser, Ulla (2005). Österreich in alten Ansichten. Wien: Ueberreuter.

Frisby, David (2001). Cityscapes of Modernity. Cambridge: Polity Press.

Frisby, David (2008). «Streets, Imagineries and Modernity. Vienna is Not Berlin», in: Prakash, Gyan; Kruse, Kevin M. (Hg.), The Spaces of Modern City: Imaginaries, Politics and Everyday Life. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, S. 21-57.

Goethe, Johann Wolfgang von (1998). Werke. Jubiläumsausgabe, hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus, u.a. Erster Band: Gedichte. West-östlicher Divan, hg. v. Hendrik Birus und Karl Eibl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Hamann, Brigitte (1996). Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München: Piper.

Hanuschek, Sven (2005). Elias Canetti. München; Wien: Hanser.

Jost, Vera (2002). Fliegen oder Fallen. Prostitution als Thema in der Literatur von Frauen im 20. Jahrhundert. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer.

Košenina, Alexander (2005). «Veza Canetti. Die Gelbe Straße (1932-33/1990)», in Claudia Benthien und Inge Stephan (Hg.), Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln u.a.: Böhlau, S. 52-71.

Košenina, Alexander (2007). «Die Kunst der Charakterisierung bei Elias und Veza Canetti», in Germanisch-Romanische Monatsschrift, 57, S. 241-249

Le Breton, David (2006). La saveur du monde. Une anthropologie des sens, Paris: Éditions Métailié.

Painitz, Sarah S. (2008). «Political Bodies: Physiognomy in Veza Canetti’s Fiction», Modern Austrian Literature, Jg. 41, H. 3, S. 37-53

Preece, Julian (2006). The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Rochester, New Yord: Camden House.

Schedel, Angelika (2002). Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Würzburg: Könighausen & Neumann.

Schlößler, Franziska (2005). «Maske, Musik und Narzissmus. Zu den Dramen von Elias und Veza Canetti» in Text + Kritik, Heft 28 (Elias Canetti), 4. Auflage, Neufassung, S. 26-91.

Simmel, Georg (1995). «Die Großstädte und das Geistesleben», in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, S. 116-131, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Strohmaier, Alexandra (2005). «Groteske Physiognomien. Zum semiotischen Konzept des Körpers in den Texten Veza Canettis», in: Spörk, Ingrid; Strohmaier, Alexandra (Hg.), Veza Canetti. Graz: Droschl, S. 121-147.

Edward Timms (1986), Karl Kraus, Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven; London: Yale University Press.

Wrobel, Dieter (2010). «Veza Canetti, Die gelbe [sic] Straße» in: Ders., Vergessene Texte der Moderne: Wiederentdeckungen für den Literaturunterricht. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 224-239.



[1] Trotzdem neigte man dazu, Malerisches hervorzuheben, da das Ziel vieler Veduten war, als Reiseandenken verkauft zu werden: In diesem Sinne achtete man auf eine szenographischen Verteilung der im Bild auftauchenden natürlichen oder architektonischen Elemente und auf eine wirksame Nutzung der Lichteffekte. Vgl. Ulla Fischer-Westhauser (2005), Österreich in alten Ansichten. Wien: Ueberreuter; Cesare de Seta (Hg.) (1996), Città d’Europa Iconografia e vedutismo dal XV al XIX secolo. Neapel: Electa.

[2] Allgemein zum Wiener Milieu bemerkte der aus Berlin eingereiste Jakob Wassermann in Mein Weg als Deutscher und Jude (Berlin 1921): «Der Hof, die Kleinbürger und die Juden verliehen der Stadt das Gepräge» (zitiert nach Brigitte Hamann (1996), Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München: Piper, S. 469).

[3] Elias Canetti, «Vorwort» in Veza Canetti (2009), Die Gelbe Straße. Mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel. Frankfurt am Main: Fischer, S. 7-8; vgl. Sven Hanuschek (2005), Elias Canetti. München; Wien: Hanser, S. 108.

[4] Veza Canetti (2009), Die Gelbe Straße. Frankfurt am Main: Fischer, S. 71. Im Folgenden abgekürzt als GS.

[5] Vgl. Dieter Wrobel (2010), «Veza Canetti, Die gelbe [sic] Straße» in ders., Vergessene Texte der Moderne: Wiederentdeckungen für den Literaturunterricht. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 224-239, hier S. 236.

[6] Erb, Andreas (1995). «Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien. Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße», in: Der Deutschunterricht, 47. Jg. H. 5, S. 55-64, hier S. 62.

[7] Alexandra Strohmaier (2005), «Groteske Physiognomien. Zum semiotischen Konzept des Körpers in den Texten Veza Canettis», in: Spörk, Ingrid; Strohmaier, Alexandra (Hg.), Veza Canetti. Graz: Droschl, S. 121-147, hier S. 121.

[8] Julian Preece (2006), The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Rochester, New Yord: Camden House, S. 153-154.

[9] Vgl. hierzu Alexander Košenina (2005), «Veza Canetti. Die Gelbe Straße (1932-33/1990)», in Claudia Benthien und Inge Stephan (Hg.), Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln u. a.: Böhlau, S. 52-71, und ders. (2007), «Die Kunst der Charakterisierung bei Elias und Veza Canetti», in Germanisch-Romanische Monatsschrift, 57, S. 241-249.

[10] Georg Simmel (1995), «Die Großstädte und das Geistesleben», in ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp,, S. 116-131, hier S. 118-119.

[11] Ebda., S. 116.

[12] Ebda., S. 117.

[13] «Wo die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie an ihre Grenze kommen, greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewußtsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen». Ebda., S. 128.

[14] Vgl. David Le Breton (2006), La saveur du monde. Une anthropologie des sens. Paris: Éditions Métailié, S. 61-111.

[15] Johann Wolfgang von Goethe (1998). Werke. Jubiläumsausgabe, hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus, u.a. Erster Band: Gedichte. West-östlicher Divan, hg. v. Hendrik Birus und Karl Eibl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 89.

[16] Vgl. hierzu David Frisby (2001), Cityscapes of Modernity. Cambridge: Polity Press, S. 159-178, und ders. (2008), «Streets, Imagineries and Modernity. Vienna is Not Berlin», in: Gyan Prakash; Kevin M. Kruse (Hg.), The Spaces of Modern City: Imaginaries, Politics and Everyday Life. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, S. 21-57.

[17] David Frisby (2001), Cityscapes of Modernity, a.a.O., S. 186.

[18] Ruth Beckermann zitiert nach Angelika Schedel (2002), Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Würzburg: Könighausen & Neumann, S. 140-141.

[19] GS, S. 146.

[20] GS, S. 87.

[21] GS, S. 97.

[22] Beide Zitate auf Vreni Amsler (2017), Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 211.

[23] Angelika Schedel knüpft in ihrer Quellenanalyse zu Veza Canetti an Lou Andreas-Salomés Narzissmusbegriff, der anders als bei Freud betont positiv ist. Angelika Schedel (2002), Sozialismus und Psychoanalyse, a.a.O., S. 84-91.

[24] David Le Breton (2006), La saveur du monde, a.a.O., S. 70.

[25] GS, S. 110.

[26] In seinen Unpublizierten Kapiteln aus Die Fackel im Ohr schreibt Elias Canetti: «Veza und Peter Altenberg. Der Stadtpark. Ihre Angst vor ihm. Ihre Faszination. Wie er in seinen Sandalen stehen blieb und kleine Mädchen ansah». Zitiert nach Vreni Amsler (2017), Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, a.a.O., S. 209 (Unterstrichenes im Original). Richard Reichensperger charakterisiert Peter Altenberg in einem Artikel schlicht als «Kinderschänder». Richard Reichensperger, «Alkohol und kleine Mädchen», Der Standard, 23. Jänner 2003, LINK (Stand 05/03/2020).

[27] GS, S. 110-111.

[28] GS, S. 111.

[29] GS, S. 28.

[30] GS, S. 32 bzw. 80. Dass die Frau mit Nachnamen Zenmann [zehn Mann] heißt und dass ihre Hündin im Stellenvermittlungsbüro der Hatvany auch noch Junge wirft (GS, S. 88), sind natürlich weitere Indizien ihrer unersättlichen Libido. Im ironischen Gegensatz dazu ist der Name ihres Haustiers «Susi» (GS, S. 89), eine Verkleinerungsform von Susanna, die im biblischen Buch Daniels (Dan 13, 1-64) des Ehebruchs fälschlich bezichtigt wird. Über Canettis Benützung sprechender Namen im allgemeinen vgl. u.a. Vreni Amsler (2017), Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, a.a.O., S. 169.

[31] GS, S. 32-33.

[32] GS, S. 95.

[33] «Zuerst saß sie am äußersten Rand des Wagensitzes, so peinlich war ihr diese Umkehrung, sie, die Mizzi im Wagen und die Baronin am Chauffeursitz, aber dann schüttelte sie der Wagen und sie lehnte sich zurück und einige Straßen weiter fand die Mizzi Schadn schon, daß sie sich, lang und dünn wie sie war, vornehm ausnahm und sie lugte sogar nach dem Effekt aus, den sie auf die Vorübergehenden machen mochte, denn der Mensch gewöhnt sich blitzschnell an das Behagen» (GS, S. 97).

[34] GS, S. 99, Hervorhebung von mir.

[35] GS, S. 100.

[36] Ebda.

[37] Beide Zitate in GS, S. 132.

[38] GS, S. 132.

[39] Nachdem Andrea Sandoval sich auf ein Treffen im Lusthaus mit Herrn Tiger eingelassen hat, lässt sie ihn wissen, sie habe ihre Tochter Diana nachbestellt (GS, S. 136-140).

[40] Franziska Schlößler (2005), «Maske, Musik und Narzissmus. Zu den Dramen von Elias und Veza Canetti» in Text + Kritik, Heft 28 (Elias Canetti), 4. Auflage, Neufassung, S. 26-91, hier S. 86.

[41] Vera Jost (2002), Fliegen oder Fallen. Prostitution als Thema in der Literatur von Frauen im 20. Jahrhundert. Königstein/ Taunus: Ulrike Helmer, S. 112.

[42] GS, S. 132.

[43] Ebda.

[44] GS, S. 120.

[45] Franziska Schlößler (2005), «Maske, Musik und Narzissmus», a.a.O., S. 86.

[46] GS, S. 71, Hervorhebungen von mir.

[47] GS, S. 106.

[48] Vera Jost (2002), Fliegen oder Fallen, a.a.O., S. 108.

[49] GS, S. 18.

[50] GS, S. 23.

[51] Andreas Erb (1995), «Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien», a.a.O., S. 61.

[52] Ebda., S. 62.

[53] GS, S. 23.

[54] Vlks Widerwille, die Singularität anderer zu würdigen, erhält immer groteskere Züge. Als später Herr Vlk die Gelbsucht bekommt, setzt er eine gelbe Brille auf, «damit die anderen auch gelb» aussehen (GS, S. 159).

[55] GS, S. 16.

[56] Andreas Erb bringt den Parallelismus von Pilatus Vlk und der Runkel als gescheiterte urbane Existenzen auf den Punkt: «Gemeinsam ist beiden, daß sie eine autonome Existenz anstreben, sie in wirtschaftlicher Hinsicht auch verwirklichen können und dennoch scheitern […]. Aktiv angestrebte Autonomie setzt Gesellschaftlichkeit voraus, ansonsten schlägt sie um in passiv zu ertragende Isolation und Ausgrenzung. – Dabei ist es die Großstadt, die Biografien wie jene von Runkel und Vlk überhaupt erst möglich macht: Die Gelbe Straße erweckt zwar vordergründig den Anschein eines über- und durchschaubaren Kollektivraumes, tatsächlich herrschen in ihr die Prinzipien von Trennung und Ausschließung». Andreas Erb (1995), «Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien. Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße», a.a.O., S. 62.

[57] GS, S. 30-31.

[58] Dieter Wrobel (2010), «Veza Canetti, Die gelbe [!] Straße», a.a.O., S. 231.

[59] Anna, der älteren Angestellten im Seifengeschäft, erspart die Runkel ihre verächtlichen Blicke auch nicht: «Sie muß folgen. Sie muß. Ich hetz sie hin und her. – Das Fleisch ist ihr abgefallen, aber ihre Füße brechen nicht» (GS, S. 35).

[60] GS, S. 34.

[61] Dass Knut Tell seine literarische Berufung bekanntgibt, und zwar auf einem Schild an der Gangtür («Knut Tell, Dichter», GS, S. 25), ist für seine Haltung gegenüber der Öffentlichkeit bezeichnend.

[62] GS, S. 32.

[63] GS, S. 38.

[64] GS, S. 16.

[65] Vera Jost analysiert die wahren Gründe der «Gnädigen», um Lina Seidler nicht zu verteidigen: «Sehr genau spürt sie, daß sie von ihrer eigenen Bediensteten beobachtet und beurteilt wird. Darum hält sie es für nötig ihre Dominanz herauszukehren und zu festigen. Der Versuch ihr eigenes Begehren hinter ihrem Dominzanspruch zu verstecken, wird dennoch durchschaut. […] die gegenseitige argwöhnische Beobachtung der Frauen anhand der Maßstäbe einer restriktiven Sexualmoral verhindert das solidarische Eintreten füreinander in materiellen Belangen». Vera Jost (2002), Fliegen oder Fallen. Prostitution als Thema in der Literatur von Frauen im 20. Jahrhundert. Königstein/ Taunus: Ulrike Helmer, S. 66.

[66] GS, S. 43.

[67] Etymologisch hat das Wort Respekt auch visuelle Konnotationen; es kommt vom lateinischen respectus: Zurückschauen, Rücksicht, Berücksichtigung.

[68] GS, S. 43, Hervorhebung von mir.

[69] GS, S. 55.

[70] GS, S. 49.

[71] GS, S. 53.

[72] Dasselbe verschwollene Gesicht, in dem man die Augen kaum erkennen kann, zeigt Herr Iger, wenn er sich von den anderen ertappt fühlt, wenn der Glanz seiner öffentlichen Persönlichkeit zu verlöschen scheint (GS, S. 82).

[73] GS, S. 61.

[74] Vgl. GS, S. 53 bzw. S. 74.

[75] «“Er [Iger] hat ohnehin ihre Mitgift gehabt, jetzt wollt er auch noch ihr Erbteil […], sie ist doch aus reichem Haus!” “So! Sie ist reich? Das ist etwas anderes!”» (GS, S. 82).

[76] «“Nicht weinen. Alles wird gut werden. […] Sie sind ein guter lieber Mensch. […] Beruhigen Sie sich, Frau Maja”. Die Weiß streichelte ihre Hände». (GS, S. 79).

[77] GS, S. 96.

[78] GS, S. 114.

[79] GS, S. 115.

[80] Ebda.

[81] Elias Canetti (1994b), Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München; Wien: Hanser, S. 67.

[82] «Sie [Vater und Mutter] liebten sich sehr in dieser Zeit und hatten eine eigene Sprache unter sich, die ich nicht verstand, sie sprachen Deutsch, die Sprache ihrer glücklichen Schulzeit in Wien. Am liebsten sprachen sie vom Burgtheater, da hatten sie, noch bevor sie sich kannten, dieselben Stücke und dieselben Schauspieler gesehen und kamen mit ihren Erinnerungen nie zu Ende. Später erfuhr ich, daß sie sich unter solchen Gesprächen ineinander verliebt hatten». Elias Canetti (1994a), Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. München; Wien: Hanser, S. 33.

[83] Edward Timms (1986), Karl Kraus, Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven; London: Yale University Press, S. 27.

[84] Diese Vorliebe wird im parodistischen Ton mancher Briefe und ganz besonders in den Gruß- und Abschiedsformeln deutlich, wie etwa: «Liebster Sohn, Lieber Georges Canetti, dit le Beau, dit le Savant, dit le Grand, dit Phoebus, dit Romeo, lieber Benjamin» bzw. «Love, Peggy, Pharaonin von Aegypten». Elias Canetti; Veza Canetti (2009), Briefe an Georges. Frankfurt am Main: Fischer, S. 177 und 236.

[85] Sarah S. Painitz hebt die metaliterarische Dimension dieser Szene hervor: «Ironically Iger’s trick reestablishes reality by betraying the comunal illusion of Helli’s “disappearance”, her assumed murder. The illusion of her disappearance rather than her forced reappearance, then, was the real magic trick. The episode as a whole, coming at the end of the novel, constitutes Canetti’s own magic trick, achieved via the “pattern” of fiction. […] For Canetti magic tricks are an analogy for reading». Sarah S. Painitz (2008), «Political Bodies: Physiognomy in Veza Canetti’s Fiction», Modern Austrian Literature, Jg. 41, H. 3, S. 37-53, hier S. 48.

[86] GS, S. 151.

[87] Ebda.

[88] GS, S. 153.

[89] «All the on-stage scenes in Die gelbe [!] Straße ultimately reveal more about the audience than about the actors». Sarah S. Painitz (2008), «Political Bodies», a.a.O., S. 46.

[90] GS, S. 153.

[91] Vreni Amsler (2017), a.a.O., S. 159.

[92] Ebda.

[93] GS, S. 129-130.