Stefano Apostolo

(Milano)

Reitergeschichten
Gaito Gasdanow und das Phantom des Hugo von Hofmannsthal

[Cavalry Tales
Gaito Gasdanow and the Spectre of Hugo von Hofmannsthal
]

abstract. In 1947 the Russian writer Gaito Gasdanow published The Spectre of Alexander Wolf, a novel that appears to mirror various aspects of Hugo von Hofmannsthal’s Reitergeschichte [A Cavalry Tale] (1899). Although at present it cannot be philologically proved that the Reitergeschichte directly inspired Gasdanow, several striking parallels can be drawn be­tween the two works, such as the way the themes of war and revolution are addressed, the encounter with doppelgängers, their deaths, and how the capture of the horse ultimately deals the fatal blow to both protagonists. This article examines these aspects closely by contextualizing them within the literary output and the biographies of both authors.

Spiegelgeschichten und Doppelgänger

Zur Analyse und Interpretation von Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte sind im vergangenen und mittlerweile auch im jetzigen Jahrhundert zahllose Studien erschienen, die sich mit allen denkbaren Aspekten auseinandersetzen und versuchen, die Rätsel um dieses für die Poetik des österreichischen Autors so ungewöhnliche Werk zu lösen[1]. Die erstmals am 24. Dezember 1899 in der Weihnachtsbeilage der Wiener «Neuen Freien Presse» veröffentlichte Geschichte stellt noch heute für die Literaturwissenschaft ein beliebtes Untersuchungsobjekt dar. Es ist ein düsterer, zur weihnachtlichen Atmosphäre nicht ganz passender und außerdem irritierender Text, der mehrere Fragen aufwirft und plötzlich endet, ohne diese beantwortet zu haben. In vielerlei Hinsicht ist die Reitergeschichte, einer der wenigen Prosa-Texte Hofmannsthals, ein «Fremdkörper» in der Produktion des Dichters und regte vermutlich gerade deswegen über die Jahre eine «außerordentlich reichhaltige Reaktion der Forschung» an[2]. Nach der Erstveröffentlichung wurde die Geschichte, zu deren Entstehung sehr wenig bekannt ist[3], zwar wieder dreimal mit anderen Erzählungen publiziert, ohne allerdings in die Gesammelten Werke von 1924 aufgenommen zu werden, als wollte sich Hofmannsthal von diesem Werk – quasi wie von einer Jugendsünde, die er seinem Verleger Anton Kippenberg gegenüber als «bloße Schreibübung» definierte – dezidiert distanzieren[4]. Zudem soll sich hinter dieser «Schlachtenerzählung» der Schatten eines Plagiats verbergen, wie einem Tagebucheintrag Arthur Schnitzlers entnommen werden kann, in dem dieser von einem sich am 12. Dezember 1902 ereigneten Abendgespräch mit Gustav Schwarzkopf berichtet:

Über Hugo einiges. Seine fast unverständliche Neigung zu literar. Aneignungen: Bassompierre in der Zeit, s. Z. eine Schlachtenerzählung in der N. Fr. Pr. (Uhl sagte damals im Schachclub: Ich habe fast wörtlich dasselbe vor kurzem gelesen und weiss nicht mehr wo. Hugo fand es auch merkwürdig, gestand aber nichts zu.)[5]

Ob es sich dabei um ein bewusstes Plagiat, einen unbewussten Einfluss eines anderen Autors oder eine intendierte Ehrerweisung dessen handelt, konnte bis jetzt nicht nachgewiesen werden und wird sehr wahrscheinlich nie nachweisbar sein. Spekulationen zu einem bestimmten Widerhall von Kleists Stil und Ähnlichkeiten mit Passagen aus Goethes Dichtung und Wahrheit bzw. mit Theophile Gautiers Avatar – aber auch Le Chevalier double – wurden im Lauf der Zeit von der Forschung angestellt[6], doch auch hier geht es vielmehr um Vermutungen und Interpretationen, die nicht gänzlich genügen, um fundiert von einem Plagiat zu sprechen. Dass auch der Journalist Friedrich Uhl «damals» den Eindruck hatte, anderswo etwas sehr Ähnliches gelesen zu haben, hat keine ausreichende Aussagekraft, zumal zwischen der Veröffentlichung – möglicherweise der Zeitpunkt, zu dem Uhl die Geschichte gelesen hatte – und dem Tagebucheintrag Schnitzlers fast drei Jahre verstrichen.

Doch selbst Werke, die unter Plagiatsverdacht stehen bzw. von anderen Schriften beeinflusst worden sein dürften, können weitere literarische Produkte inspirieren. Wer den erst 2012 ins Deutsche übersetzten, wie ein verschollenes Meisterwerk begrüßten Roman des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow (1903-1971), Das Phantom des Alexander Wolf (1947-48), liest, muss bereits auf den ersten Seiten zusammenzucken und hat – wie Uhl vor über 100 Jahren – den Eindruck, schon anderswo «fast wörtlich» dasselbe gelesen zu haben. Um es gleich vorwegzunehmen: Selbstverständlich ist das Motiv des Doppelgängers in der Literaturgeschichte sehr verbreitet, und freilich finden sich die in diesem Aufsatz untersuchten Aspekte, die auf einen heutigen Rezipienten wie konstruierte Ereignisse bzw. Begegnungen wirken dürften, im damaligen Kriegskontext nicht selten wieder; außerdem handelt es sich hier um zwei sehr unterschiedliche Werke mit einer eigenen Identität, die in einem sehr unterschiedlichen Stil verfasst wurden. Hofmannsthals Text, von symbolistischen Merkmalen durchdrungen, ist eine kurze Novelle, die bis zum fatalen und furchtbaren Ende an Intensität gewinnt; Gasdanows Roman ist hingegen ein Werk des Existentialismus mit detektivischen Zügen, das von einem schicksalhaften Ereignis ausgeht. Aber gerade dieses Ereignis ist der Schlussepisode der Reitergeschichte verblüffend ähnlich.

Gasdanow verbrachte das Gros seines Lebens in Paris, wo er, ein ehemaliger Weißgardist, 1923 nach der russischen Revolution über einen langen Umweg ankam; damals war er 20 Jahre alt, und um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, übernahm er alle möglichen Gelegenheitsarbeiten. Nebenbei besuchte er Universitätsvorlesungen an der Sorbonne, veröffentlichte erste Prosastücke in Zeitschriften der russischen Emigration und beteiligte sich an der Résistance während des Zweiten Weltkriegs. Anfang der fünfziger Jahre widmete er sich intensiver dem Journalismus und fing an, als freier Mitarbeiter für den amerikanischen Sender «Radio Liberation» zu arbeiten, weswegen er mehrere Jahre auch in München – zum Schluss als Leiter des russischen Programms – tätig war, wo er schließlich 1971 starb.

Ob Gasdanow Hofmannsthals Geschichte tatsächlich las und sich an sie dann teilweise anlehnte, um seinen Roman zu schreiben, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Die meiste Sekundärliteratur steht – obwohl er in Russland erst nach dem Zerfall der Sowjetunion herausgebracht und wirklich entdeckt wurde –[7] lediglich auf Russisch zur Verfügung. Man könnte nichtsdestotrotz zu denken wagen, dass der lange Münchner Aufenthalt einen Autor, dessen Poetik so oft mit derjenigen von Camus und Kafka verglichen wird, auch weitere Werke der neueren deutschsprachigen Literatur entdecken ließ, darunter nicht unwahrscheinlich auch Werke von Hofmannsthal. Manche signifikanten Affinitäten zwischen Gasdanows Roman und der oft für ein Stück der Moderne gehaltenen Reitergeschichte stechen ins Auge und sollen im Folgenden erörtert werden.

Die größte, nicht zu übersehende Parallele lässt sich am Ende der Reitergeschichte und am Anfang des Phantoms beobachten – möglicherweise die bestgelungenen Passagen beider Texte: Sowohl der Wachtmeister Anton Lerch als auch der namenlose Ich-Erzähler des Phantoms geraten in ein Zweiergefecht und erbeuten das außerordentlich schöne Pferd ihres Gegners, was sich in beiden Fällen als ein fatales Ereignis erweist. Am Ende eines langen, unwahrscheinlich erfolgreichen Tages Ende Juli 1848, nachdem Lerch mit seiner Eskadron zahlreiche italienische Truppen geschlagen hat und durch Mailand von Nordosten nach Süden geritten ist[8], kommt er zu einem heruntergekommenen Dorf, wo er während einer einsamen Rekognoszierung an die unwirkliche Erscheinung seines ihm entgegenkommenden Ebenbildes gerät. Kurz nachher wird die ganze Truppe von einer feindlichen Schwadron überrascht, Lerch befindet sich plötzlich allein mit einem italienischen Offizier, verfolgt und tötet ihn grausam und erbeutet seinen prächtigen Eisenschimmel, «der leicht und zierlich wie ein Reh die Füße über seinen sterbenden Herrn hinhob»[9]. Gerade das Beutepferd wird ihm zum Verhängnis: Zurück beim Gros der Truppe, weigert er sich, das wertvolle Tier freizulassen und wird wegen Insubordination vom Rittmeister erschossen. Mit diesem absurden Ende, das mit dem ans Unglaubliche grenzenden Glück der Vormittagsstunden kontrastiert, bricht Hofmanns­thals Geschichte ab.

Der Protagonist von Gasdanows Phantom erlebt eine sehr ähnliche Situation, die im Unterschied zur Reitergeschichte den Anfang des Romans ausmacht, fast wie eine Spiegelgeschichte. Getrennt von seiner Truppe wird er von einem feindlichen Reiter attackiert, der zwar auf ihn schießt, aber statt ihm sein Tier tötet – auch Hofmannsthals feindlicher Offizier versucht, auf Lerch mit einer Pistole zu zielen, hat aber nicht genügend Zeit und wird horrend überrumpelt. Gasdanows Ich-Erzähler schießt zurück und der Gegner fällt zu Boden. In der festen Überzeugung, dass der Andere dem tödlichen Schuss erliegen würde – auch Lerchs Gegner stirbt nicht sofort –, nimmt er ihm sein weißes Pferd, das als «ein gewaltiger Hengst, sehr gepflegt und reinrassig» beschrieben wird, und galoppiert davon[10]. Was im Roman folgt, ist freilich eine andere Geschichte, die aber in mancher Hinsicht für eine alternative Fortsetzung von Hofmannsthals Werk gehalten werden könnte. Auf diesen ersten Seiten, die sehr eindrucksvoll geschrieben sind und mit Sicherheit zu den besten des Romans zählen, baut der Rest des Buches auf. Jahre später stößt der Protagonist, der in Paris eine Existenz als Journalist bestreitet, auf ein englisches Buch mit dem ominösen Titel «I’ll Come Tomorrow», in dem eine Geschichte enthalten ist, welche dieselbe, von ihm erlebte Kriegsepisode haargenau wiedergibt – nur aus der entgegengesetzten Perspektive erzählt. Nach langer Suche stellt sich heraus, dass der Autor tatsächlich jener feindliche Soldat ist, der den Schuss überlebt und daher diese unglaubliche Erzählung unter dem Titel «The Adventure in the Steppe» schriftlich festgehalten hat.

Das ist ein absolut zentraler Punkt in der Handlung beider Werke: Die Hauptfiguren sind mit einer anderen, ihnen unbekannten Person konfrontiert, die sich als schicksalhafter Doppelgänger erweist. Der Protagonist der Reitergeschichte trifft, nachdem er durch das unheimliche Dorf geritten ist, auf sein genaues Ebenbild, das ihm entgegenkommt und spiegelverkehrt dieselben Gesten und Bewegungen ausführt. Das gilt sozusagen als symbolische Vorbereitung auf die anschließende Begegnung mit dem feindlichen Offizier, der ein weiterer Doppelgänger des Protagonisten ist, weil er sich in derselben Lage befindet: Er ist jung – über den Protagonisten ist nicht viel bekannt, aber er ist vermutlich auch jung, zumal er als Wachtmeister den Rang eines niedrigen Unteroffiziers bekleidet – und muss als Soldat Befehle ausführen. Allerdings trägt er eine andere Uniform und hat im Gefecht weniger Glück als Lerch. Die kurze Begegnung und die Tötung des Italieners lassen eine fatale Bindung zwischen den beiden entstehen, die in der Hinrichtung Lerchs ihr Nachspiel findet.

In Gasdanows Werk, sein «formal avancierteste[r]» Roman[11], ist das Doppelgänger-Motiv etwas strukturierter bzw. ausführlicher dargestellt, führt aber zu einem nicht ganz unähnlich verhängnisvollen Schluss. Der namenlose Protagonist tötet wie Lerch seinen doppelgängerartigen Gegner, ist aber ständig vom Gedanken dieses Mordes innerlich zerfressen – und gerade damit fängt der Roman an: «Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe»[12]. Das ist also der Sinn des Wortes «Phantom» im Werktitel, der Mord ist eine quälende Erinnerung und der ermordete Alexander Wolf verfolgt wie ein Phantom den Protagonisten. Als dieser erfährt, dass Wolf noch lebt, macht er sich eifrig auf die Suche nach ihm und kann ihn nicht sofort ausfindig machen – auch so zeigt sich Wolfs Phantomhaftigkeit bzw. «Zwiegesichtigkeit»[13], da der Ich-Erzähler schwer glauben kann, dass Wolf zugleich der feindliche Reiter und auch der Verfasser der so gutgelungenen Erzählung sei. Die Begegnung findet schließlich statt, und da erfährt der Protagonist, dass das alte gemeinsame Erlebnis auch Wolfs Leben und Weltanschauung zutiefst geprägt und geändert hat. Der Tod, so Wolf, begleite ständig jedes Individuum, «wir trügen immer unseren Tod mit uns»[14], behauptet er im Gespräch mit dem Ich-Erzähler, und der Tod sei der Abbruch des Lebensrhythmus, der uns wie eine «scheinbare Gefahrlosigkeit», eine «Illusion von Dauer» vorkommt[15]. Dass der Protagonist seinen Angriff überlebt habe und mit seinem wunderbaren weißen Hengst davongeritten sei, heiße laut Wolf nicht, dass er dem Tod endgültig entflohen sei. Ganz im Gegenteil, er sei sogar nicht einmal davor bewahrt geblieben, Mörder zu werden: Obwohl Wolf nicht tödlich verwundet wurde, soll er am Ende des Romans doch vom Ich-Erzähler unabsichtlich getötet werden. Die entscheidende Fatalität des Pferdes in Hofmannsthals und Gasdanows Werken wurde in den oberen Zeilen schon erwähnt, am Anfang der fiktiven Erzählung «The Adventure in the Steppe» wird diese von Wolf noch deutlicher unterstrichen:

[Mein Hengst] war so großartig, dass ich ihn am liebsten mit einem der Pferde verglichen hätte, von denen in der Apokalypse die Rede ist. Diese Ähnlichkeit trat – für mich persönlich – noch dadurch zutage, dass ich auf ebendiesem Pferd meinem eigenen Tod entgegengaloppiert bin, über glühende Erde und an einem der heißesten Tage meines ganzen Lebens.[16]

Das Pferd wird also zum apokalyptischen Tier, auf dem der Reiter – egal ob Wolf oder der Ich-Erzähler – sicheren Trittes in den Tod galoppiert, wie Wolf erklärt: «Wenn ich damals hätte sprechen können, hätte ich Ihnen nachgerufen, Sie sollten innehalten, er [der Tod] warte auf Sie, wie er auf mich gewartet hatte, und ein zweites Mal werde er nicht danebenschießen»[17].

Die vier Figuren dieser Konstellation sind ausnahmslos Opfer des Krieges und seiner gnadenlosen bzw. sinnlosen Gesetze: Der italienische Offizier und Lerch fallen im Krieg, genau genommen während und unmittelbar nach der Kampfaktion; Alexander Wolf und der Ich-Erzähler leiden hingegen unter schweren Kriegstraumata: Beide waren im Krieg und haben überlebt, sind aber täglich mit jenen tiefen Spuren konfrontiert, die er in ihren Leben hinterlassen hat. In Gasdanows Werk sind das die unausweichlichen Konsequenzen des verstörten 20. Jahrhunderts, das «die Seelenwelten beschädigt, […] Schicksale und Persönlichkeiten gespalten und den Menschen die innere Harmonie genommen» hat[18]. Nichtsdestotrotz sollten sich ihre Schicksale wieder vereinen und zur endgültigen – und zugleich banalen – Ermordung des Alexander Wolf führen.

Steppengeschichten im Schatten zweier Revolutionen

Das militärische Element ist in den zwei Werken zentral und kann u.a. auch als ein gemeinsamer Nenner in den Biographien ihrer Autoren angesehen werden. Die Genauigkeit des geschilderten Bildes entspringt nämlich direkten Erfahrungen. Als Einjährig-Freiwilliger absolvierte Hofmannsthal von 1. Oktober 1894 bis 19. September 1895 seinen Militärdienst beim 6. Dragoner-Regiment in Wien und in Mähren, worauf er in den folgenden Jahren an weiteren, regelmäßigen Militärübungen in Galizien teilnahm, wie etwa in Tlumacz und Czortkow[19]. Er war daher mit Exerzierübungen, Kasernenleben und Fachsprache vertraut, bei welcher er sich in seiner Geschichte reichlich und detailliert bedient. Gasdanow hingegen schloss sich Ende 1919, mit knapp 16 Jahren, der Weißen Armee an, diente bis November 1920 als Artillerist auf einem gepanzerten Zug in Südrussland (heute Ukraine) bzw. auf der Krim und war daher – im Unterschied zu Hofmannsthal – an wahren Kriegsereignissen beteiligt[20]. Beide schildern den Schauplatz ihrer Reitergeschichten sehr präzise: Gasdanow, der mit diesem Roman ähnliche Bilder und Stimmungen schafft wie sein Zeitgenosse Isaak Babel im Erzählzyklus Die Reiterarmee[21], schöpft aus dem Reservoir eigener Erlebnisse und porträtiert die Gegend, in der er während der Revolution kämpfte; auch Hofmannsthal, obwohl er zur Zeit Radetzkys freilich noch nicht geboren war, liefert genaue geographische Informationen, was keineswegs vom Zufall abhängt.

Dass der österreichische Autor die Stadt Mailand und ihre Umgebung gut kannte, beruht auf zwei Gründen, die für die Entstehung der Geschichte von kardinaler Bedeutung sind und die dennoch im Rahmen der Analyse der Reitergeschichte m.E. bislang oft übersehen wurden. Seitens der väterlichen Großmutter hatte Hofmannsthal lombardische Wurzeln – er schrieb an sie manchmal auf Italienisch, während sein Vater noch etwas Mailänder Dialekt konnte –[22], er verfügte also über ein sprachliches und kulturelles Vermögen, das sein Schaffen unbestreitbar beeinflusste. Diese Bindung an das südliche Nachbarland war dermaßen stark, dass der 23-jährige Hofmannsthal 1897 allein eine Fahrradrunde in die Lombardei unternahm, eine Tour, die ihn, von Tirol kommend, die norditalienische Region mit Staunen entdecken ließ: «Jetzt weiß ich freilich, daß ich früher nie eine wirklich schöne Gegend gesehen habe»[23]. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass diese und vor allem die folgende italienische Radtour, die er im Sommer 1898 machte – diesmal von der Schweiz über den Simplonpass kommend – den unmittelbaren Anlass zur Niederschrift der Reitergeschichte darstellen[24]. Die Lust am Experimentieren und der Wunsch, Prosa zu schreiben, der aus seinen damaligen Briefen hervorgeht, kombinierten sich ausgezeichnet mit dem Biographischen; eine gewisse Parallele, als Radfahrer, mit jenen österreichischen Reitern, die genau 50 Jahre zuvor ihren Streifzug durch die Lombardei machten, ist außerdem nicht auszuschließen[25].

Gasdanows Roman spielt am Anfang in einer südrussischen Steppe, einer Gegend, die nicht identifizierbar ist, weil sich der Ich-Erzähler, von den Kriegsereignissen betäubt, nur an «Empfindungen» erinnern kann[26]. Der Handlungsschauplatz wird daher meist anhand von Eindrücken beschrieben, vor allem wird er durch außerordentliche Hitze, «Hunger, Durst und zermürbende Müdigkeit» charakterisiert, die den Protagonisten quälen: «Es herrschte Gluthitze, in der Luft schwankte abflauender Rauchgeruch; vor einer Stunde hatten wir einen Wald verlassen, dessen eine Seite brannte, und wo das Sonnenlicht nicht hingelangte, war langsam ein riesiger strohgelber Schatten vorwärtsgekrochen»[27]. Diese glühende Atmosphäre, welche den Boden rissig und heiß macht, spiegelt sich auch in Alexander Wolfs Erzählung «I’ll Come Tomorrow» wider, der seinem eigenen Tod «über glühende Erde und an einem der heißesten Tage meines ganzen Lebens» entgegenritt[28]. Das Bild eines vorrückenden Endzeitszenario, als würden sich die Figuren in einer wahrhaft höllischen Gegend bewegen, wird auch in der Reitergeschichte hervorgerufen. Selbst die blühende Lombardei scheint sich im Rahmen der Geschichte in eine steppenartige, stetig heißer und blutiger werdende Ebene zu verwandeln, quasi eine Klimax, die die Schlusskatastrophe vorwegnimmt[29]. In der Stille des Frühmorgens verlassen die Soldaten ihr nächtliches Quartier: Landhäuser und Kirchen glänzen unter einem leuchtenden Himmel, der sich im Laufe des Tages ändert, um Mittag in Mailand – das mit seinen vielen Kirchen am präzisesten geschildert wird[30]«stählern funkelnd» erscheint und kurz nachher von einer «schweren metallischen Glut» geprägt ist[31]. Wegen der bedrückenden Luft wird Lerchs Pferd müde, seine Beine bewegen sich langsam und sind schwer wie Blei – quasi ein Omen; schließlich, nach dem verhängnisvollen Zweiergefecht, liefert Hofmannsthal die Beschreibung einer sehr symbolisch beladenen Stimmung:

Als der Wachtmeister mit dem schönen Beutepferd zurückritt, warf die in schwerem Dunst untergehende Sonne eine ungeheure Röte über die Hutweide. Auch an solchen Stellen, wo gar keine Hufspuren waren, schienen ganze Lachen von Blut zu stehen. Ein roter Widerschein lag auf den weißen Uniformen und den lachenden Gesichtern, die Kürasse und Schabracken funkelten und glühten, und am stärksten drei kleine Feigenbäume, an deren weichen Blättern die Reiter lachend die Blutrinnen ihrer Säbel abgewischt hatten.[32]

Mit diesen eindrucksvollen und zugleich furchtbaren Zeilen, die mit apokalyptischen Tönen die Augenblicke unmittelbar nach der Bluttat sehr bildhaft schildern, wird auf den bevorstehenden, unausweichlichen Tod Lerchs verwiesen.

Solche Gewaltepisoden, die, es sei nebenbei bemerkt, in Hofmannsthals Produktion sehr wenige Verbreitung finden, gehören zum Alltag in Zeiten politischer bzw. militärischer Unruhen, und gerade die Revolution spielt in beiden Werken eine wichtige Rolle. Die Protagonisten sind berittene Soldaten, die im Rahmen einer Revolution mit aufständischen Mächten konfrontiert sind. Beide kämpfen auf der konservativen Seite: Der Ich-Erzähler von Gasdanows Roman ist Weißgardist und stellt sich gegen den Bolschewismus, der Wachtmeister Lerch ist als österreichischer Offizier bemüht, in der aufrührerischen, durch Piemontesen und weitere italienische Truppen besetzten Lombardei Ordnung herzustellen und die Region wieder unter österreichische Kontrolle zu bringen. In beiden Werken spiegelt sich die politische bzw. kulturelle Position ihrer Autoren wider. Gasdanow lehnt sich beim Schreiben stark an das eigene Leben und die eigene Vergangenheit als Weißgardist an, so dass das Phantom – wie auch andere seiner Werke – einen sehr autobiographischen Ton annimmt. In seinem Roman Ein Abend bei Claire geht aus den Überlegungen des Protagonisten Kolja – Gasdanows Alter Ego – klar hervor, warum er mit knapp 16 Jahren beschließt, sich der Weißgarde anzuschließen:

Ich wollte wissen, was das ist, Krieg, es war dies immer noch derselbe Drang nach dem Neuen und Unbekannten. Ich meldete mich zur Weißen Armee, weil ich mich auf ihrem Gebiet befand und weil das so üblich war; wenn Kislowodsk zu jener Zeit von roten Truppen besetzt gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich zur Roten Armee gemeldet.[33]

Seine Teilnahme ist also von jugendlichem, übereiltem Enthusiasmus diktiert, von Neugierde und Drang, Unbekanntes zu entdecken, Großes zu erleben. Nichts nützen die Worte und die Mahnungsversuche des Onkels Witali, ein alter Offizier mit konservativen Ansichten, der den Sieg der Roten, die von den Bauern unterstützt werden, erahnt und den Jungen vor der Absenz von Idealen bei den Weißen warnt: «Bei den Weißen gebe es, nach Witalis verächtlicher Bemerkung, nicht einmal eine Kriegsromantik, die anziehend sein könnte; die Weißen sind eine Armee von Kleinbürgern und Halbgebildeten»[34]. Doch Kolja – und der junge Gasdanow mit ihm – zeigt sich fest entschlossen: «Das ist trotz allem meine Pflicht, glaube ich»[35].

Was Hofmannsthal angeht, weist sein Verhältnis zur Revolution einen in mancher Hinsicht ambivalenten Charakter auf. Einerseits darf angenommen werden, dass ein überzeugter Anhänger der Monarchie nie für die Revolution hätte sein können, genau wie der Wachtmeister Lerch. Dass die Reitergeschichte ausgerechnet in der «Neuen Freien Presse» erschien, die damals eines der konservativsten Blätter Österreichs war, darf auch nicht wundern. Außerdem war der Autor fünfzehn Jahre später wie viele andere Intellektuelle energisch bemüht, im gleichen Blatt zu schreiben und politisch zu agitieren. Allerdings ging es bei ihm nicht bloß um Politik, sondern vielmehr um die Rolle von Dichtung und Geist, und gerade diese Dichotomie prägte in jenem Moment epochalen Umbruchs seine Schriften. Der Krieg sollte in seinen Augen nicht bloß als zerstörerischer Akt betrachtet werden, sondern, wie er 1915 im «Berliner Tageblatt» schrieb, der «Abschluß einer ganzen Epoche, deren tiefste Tendenzen er in sich zusammenfaßt und in einer grandiosen Dissonanz zum Ausdruck bringt», ein «Ereignis gigantischer Art», auf das, «wie immer er enden möge, eine neue Orientierung der Geister» in ganz Europa folgen sollte[36].

Aber der konservative Aspekt ist nur eine Seite der Medaille, denn Hofmannsthal war als Bewohner des Vielvölkerstaates auch überzeugter Paneuropäer und Vermittler zwischen unterschiedlichen Kulturen, und – wie oben bereits erörtert – gerade Italien belegte für ihn einen wichtigen Platz. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur lombardischen Welt, zu ihrer Kultur und Literatur – vor allem des frühen 19. Jahrhunderts –, die Idee einer engen Verbundenheit mit dem südlicheren Land wird an mehreren Stellen seiner Schriften ersichtlich. In seinem Essay Manzonis «Promessi sposi» aus dem Jahr 1927 behauptet er, sich voller Ehrfurcht gegenüber dem «größte[n] unter den neueren italienischen Dichtern» zeigend[37], er könne als Ausländer nie den Roman ausführlich analysieren, und zwar aus Angst, er könne «den Italienern leicht unbescheiden erscheinen, und der Tropfen mailändischen Blutes in unseren Adern würde kaum genügen, uns zu rechtfertigen»[38].

Seine Zugehörigkeit zur italienischen Welt und zugleich seine Überlegenheit gegenüber den historischen Rivalitäten hatte Hofmannsthal – diesmal mit dezidiert stärkeren Tönen – bereits einige Jahre zuvor in seiner Antwort auf Gabriele D’Annunzios Gedicht La canzone dei Dardanelli betont. Zu dieser Lyrik, die den italienisch-türkischen Krieg zelebriert und einige Strophen voller unzeitgemäßen Ressentiments gegen Österreich und die österreichische Besetzung Norditaliens im 19. Jahrhundert enthält, schreibt er Anfang 1912: «Wir sind gestanden, wo unsere historische Mission uns gestellt hatte […]. Wir hatten dieses Land [das Königreich Lombardo-Venetien] als Erbe der Vergangenheit und haben uns betragen, wie es unsere Schuldigkeit war. Als das Geschick, das diesen tausendjährigen Kampf gewollt hatte, auch sein Ende wollte, […] da löste sich diese Umklammerung»[39]. Ferner beteuert Hofmannsthal, dass ein dermaßen antiquierter Nationalismus im 20. Jahrhundert fehl am Platz sei – nicht ahnend, was in den folgenden Jahren und Jahrzehnten noch passieren sollte –, und dass auch für einen Österreicher der Respekt und die Huldigung der vielen Toten das Einzige sei, was angesichts der Ereignisse des Risorgimento noch empfunden werden kann:

Ohne Schmerz und mit keinem anderen Gefühl als Ehrfurcht bleiben wir auch, d’Annunzio, in Ihren Dörfern vom Cadorin bis zur Brianza vor den Marmortafeln stehen, auf denen die Namen der braven Leute zu lesen sind, die im Kampf gegen brave Leute für die Freiheit und Einheit von Italien gefallen sind. Nicht als Fremde gehen wir dort umher, wahrhaftig nicht als haßerfüllte Fremde stehen wir auf dem blutgetränkten Hügel bei Vicenza oder in dem Gefilde von Peschiera, wo so viele Tote lagen; denn in diesem Jahrtausend ist viel Blut durcheinandergeflossen, auf Schlachtfeldern viel und auch bei Hochzeiten […].[40]

Der letzte Satz ist ein klarer Verweis auf seine Familiengeschichte und daher auf seine italienische Herkunft. Dass die Zeit des Risorgimento für Hofmannsthal ein Meilenstein in seiner persönlichen Geschichtsschreibung war, lässt sich indirekt auch im Essay Geschichtliche Gestalt beobachten, in dem der Dichter mit fast nostalgischen Tönen die Zeit des 19. Jahrhunderts hervorruft, die in der Erinnerung der vorherigen Generationen noch sehr präsent war: «uns sprachen unsere Väter von den Männern der napoleonischen, dann der darauffolgenden Restaurationszeit, endlich des Jahres 48 als von beinahe noch Lebendigen»[41]. Gerade diese vergangene Zeit, die ihm doch so nahe war und die trotz der Schrecken des Krieges die Begegnung zwischen der italienischen und der eigenen österreichischen Welt ermöglicht hatte, sollte ihn bereits in den frühen Jahren faszinieren und neben anderen Projekten auch zur Reitergeschichte anregen. In dieser Hinsicht kann Letztere sicherlich nicht als Produkt eines streng konservativen Geistes betrachtet werden, sondern als Hommage auf diese Epoche des Umbruchs, das Risorgimento, und auf seine alten lombardischen Wurzeln.

Liebesgeschichten

Mitten in diesem Kriegsgewirr erkämpft sich auch die Liebe einen eigenen Platz, so dass beide Texte in mancher Hinsicht – Hofmannsthals Reitergeschichte zugegebenermaßen mit etwas mehr Mühe – auch als Liebesgeschichten gelesen werden können. Während des Streifzuges trifft Lerch in Mailand auf Vuic, eine alte kroatische Bekanntschaft aus der Wiener Zeit; der Ich-Erzähler in Gasdanows Phantom lernt in Paris die ebenfalls aus Russland ausgewanderte Jelena Nikolajewna kennen. In beiden Fällen stoßen also die Hauptfiguren im Ausland auf Landsfrauen, in die sie sich verlieben – sei es auch nur für wenige Augenblicke, wie Lerch. Aber welches Frauenbild geht aus ihrer Beschreibung bzw. aus der Beziehung mit den Protagonisten hervor?

Lerch sieht in einem Mailänder Haus ein ihm «bekanntes weibliches Gesicht», eine «üppige, beinahe noch junge Frau», die sich in einem ausgeprägt südlich-klassizistischen Ambiente bewegt, von Basilikumpflanzen, Pelargonien und Porzellan mit mythologischen Szenen umgeben[42]. Auf einmal erinnert sich der Reiter an sie, die vor Jahren die Frau eines kroatischen Rechnungsoffiziers in Wien war, den sie betrog. Er fühlt sich von ihr und von ihrer «jetzigen Fülle» unwiderstehlich angesprochen, von ihrem slawischen Lächeln, das «ihm das Blut in den starken Hals und unter die Augen trieb, während eine gewisse gezierte Manier, mit der sie ihn anredete, sowie auch der Morgenanzug und die Zimmereinrichtung ihn einschüchterten»[43]. Große Anziehung also, aber auch ein wenig Ehrfurcht, die Lerch Vuic heiß begehren lässt. Die Entscheidung ist schnell gefasst, siegessicher kündigt er ihr seine baldige Rückkehr mit einem Ton an, der ihrerseits keiner Genehmigung bedarf: «in acht Tagen rücken wir ein, und dann wird das da mein Quartier»[44]. Vuic wird also fast wie eine weitere Tagesbeute dargestellt, die nicht umworben, sondern mit Kraft gewonnen werden soll – was aus der Sprache sehr klar hervorgeht: «Das ausgesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend»[45]. Doch kommt Lerch nie wieder zurück und die Türen, die er in jenem Haus mehrfach zuschlagen hört, erweisen sich fast als unheimliches Vorzeichen dessen, was ihm noch am Ende des Tages zustoßen soll.

Auch Gasdanows femme fatale, Jelena Nikolajewna, ist eine Slawin, eine sehr unabhängige, selbstsichere Russin, die der Ich-Erzähler bei einem Boxkampf – Gewalt scheint immer dabei zu sein – kennenlernt und von der er sich nicht mehr trennen kann. Jelena ist für den Protagonisten im Unterschied zu Vuic keine alte Bekanntschaft; dennoch wird mehrmals von beiden Seiten behauptet, sie hätten den Eindruck, sich schon aus früheren Zeiten zu kennen: «Aber es kommt mir andauernd so vor, als würde ich Sie schon sehr lange kennen, obwohl ich Sie erst zum zweiten Mal im Leben sehe»[46]. Die Liebe zwischen dem Ich-Erzähler und Jelena scheint ab sofort perfekt und grenzenlos zu sein, aber gerade die Darstellungsweise dieser absoluten, von totaler Hingabe, Pathos und Leidenschaft geprägten Beziehung bzw. ihr Entwicklungstempo wirken nicht ganz überzeugend. Und dennoch kann es nur die Liebe sein, die die Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Nachkriegswelt lindert, wie Rosemarie Tietze im erhellenden Nachwort zum Roman schreibt: «Nur die Liebe, die Einheit von geistiger Verbindung und Sinnlichkeit, kann dem kalten Fatalismus dieses Weltempfindens widerstehen»[47]. Die Liebe in Gasdanows Roman erweist sich allerdings nicht frei von jeglicher Fatalität, weil gerade Jelena, die ehemalige Geliebte von Alexander Wolf, im Endeffekt der ultimative, unabsichtliche Auslöser seines Mordes ist.

Die Auseinandersetzung mit den Frauenbildern erlaubt abschließend auch ein paar Bemerkungen zu den Namen der Figuren dieser beiden Werke. Der Protagonist der Reitergeschichte heißt Lerch, ein Name, der figürlich nicht nur auf eine Vogelart und somit auf das glückliche, lebhafte und fleißige Schaffen an diesem Julitag verweist, sondern auch den Baron Ochs auf Lerchenau vom Rosenkavalier vorwegzunehmen scheint. Interessant ist hier die chiastische Struktur der Namen in der frühen Erzählung und im späteren Opernstück: Lerch ist in der Reitergeschichte der naiv-gute Protagonist, der dem gnadenlosen Baron Rittmeister Rofrano gegenübergestellt wird; im Rosenkavalier heißt die Hauptfigur hingegen Octavian Graf Rofrano, der mit dem skrupellosen Baron Ochs von Lerchenau konfrontiert wird. Die slawische Bekannte, auf die Lerch in Mailand trifft, heißt Vuic, was “Wölfin” bedeutet, ein sehr sprechender Name, die auf eine nicht zu zähmende Persönlichkeit, gesteigert auf eine nicht domestizierte Sexualität verweist. Lerch ist von ihr angezogen und möchte sie besitzen, aber die Frau lässt sich nicht leicht fangen, sie erwidert weder seine Blicke noch seine Anforderungen eindeutig und am Ende wird er sich auch nicht bei ihr einquartieren können.

Auch in Gasdanows Roman findet sich ein Wolf, der titelgebende Alexander Wolf, der aber eher einem alten, müden und einsamen Wolf gleicht, der seinen Charakter und seinen Jagdinstinkt komplett verloren zu haben scheint. Der Name «Alexander Wolf» setzt sich interessanterweise aus zwei Teilen zusammen, die in der Reitergeschichte an separaten Stellen vorkommen. Das mag eine kühne, weit hergeholte Spekulation sein, und dennoch kann der Nachname «Wolf» mit Vuic in Verbindung gebracht werden, während der Vorname «Alexander» bereits im ersten Satz von Hofmannsthals Geschichte vorkommt: «Den 22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens, verließ ein Streifkommando, die zweite Eskadron von Wallmodenkürassieren, Rittmeister Baron Rofrano mit 107 Reitern, das Kasino San Alessandro und ritt gegen Mailand»[48]. Und so wie Alexander Wolf eine schwer fassbare, am Anfang des Romans gar nicht ausfindig zu machende Figur ist, erweist sich heute auch die genaue Identifizierung des «Kasino San Alessandro» als ziemlich schwierig. Die topographische Beschaffenheit des Mailänder Hinterlands hat sich seit dem 19. Jahrhunderts gewaltig verändert, ein solches Kasino – kein Spieltreff im heutigen Sinne, sondern wohl eher ein Offizierskasino oder eine “cascina”, ein größerer Bauernhof, ein typisches Bauelement der norditalienischen Bauernlandschaft – mag sehr wohl verschwunden oder einfach ein weiterer, ausgedachter Teil der komplizierten Symbolik dieser Geschichte sein[49].

Die in diesem Aufsatz ausgeführten Überlegungen zu den Ähnlichkeiten beider Texte und zu ihren Parallelen gehören selbstverständlich zur Sphäre der Interpretation, weil es bis jetzt noch keine sicheren, philologischen Beweise gibt, dass das Phantom auch nur in Ansätzen von der Reitergeschichte beeinflusst wurde. Es ist aber immerhin fragenswert, warum sich die Forschung mit einer vergleichenden Analyse dieser an manchen Stellen so affinen Werke noch nicht beschäftigt hat. Die Revolution, der Krieg, die Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger, die bedrückende, ja fast unwirkliche Atmosphäre um das Gefecht und die anschließende Erbeutung eines wunderbaren Pferdes, das sich im Endeffekt als fatal erweist, sind alles Elemente, welche die Forschung aufmerksam machen sollten, zumindest bis aus Gasdanows Nachlass klare Beweise zur tatsächlichen Entstehung des Phantoms auftauchen. Natürlich ist es durchaus möglich, dass Gasdanow auch trotz des ca. 10-jährigen Münchner Aufenthaltes die Reitergeschichte nie las, dass es sich dabei um bloße Zufälle bzw. Konvergenzen handelt. Es fällt jedoch schwer zu glauben, dass diese eleganten Seiten, das Resultat gutgelungener Vermengung von Realismus, Metaphysik, Reflexion, Sinnlichkeit, zumindest thematisch nicht von der Lektüre von Hofmannsthals Geschichte beeinflusst wurden. Aber vielleicht handelt es sich einfach um ein weiteres Phantom.

Bibliographie

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Werlitz, Julian: «Reitergeschichte» (1899), in Mathias Mayer, Julian Werlitz (hrsg. von), Hofmannsthal-Handbuch, Stuttgart, Metzler 2016, S. 279-282.



[1] Die Sekundärliteratur zur Reitergeschichte ist über die Jahre wahrhaft unüberschaubar geworden. Unter den letztlich erschienen Studien sei hier auf folgenden Aufsatz verwiesen, der sich u.a. mit der tierischen Komponente des Werkes beschäftigt: Eva Hoffmann, «Jede unserer Seelen lebt nur einen Augenblick». Erzählperspektive, Wahrnehmung und Animalität in Hofmannsthals «Reitergeschichte», in Studia Austriaca XXIII (2015), S. 51-64.

[2] Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte, in Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Stuttgart, Reclam 1996, S. 8.

[3] Vgl. Julian Werlitz, «Reitergeschichte» (1899), in Mathias Mayer, Julian Werlitz (hrsg. von), Hofmannsthal-Handbuch, Stuttgart, Metzler 2016, S. 279-282, hier S. 279.

[4] Mayer, S. 8.

[5] Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition, Freitag, 12. Dezember 1902, (zuletzt konsultiert am 1.10.2020) LINK.

[6] Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 28 (Erzählungen 1), S. Fischer 1975, Frankfurt a.M., S. 220-221.

[7] Vgl. Rosemarie Tietze, Das Phantom des Gaito Gasdanow, in Gaito Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, Dt. und mit einem Nachw. von Rosemarie Tietze, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2015, S. 181-191, hier S. 181.

[8] Trotz der sorgfältigen Darstellungsweise ist die Reitergeschichte aus historischer Sicht nicht gerade fehlerfrei: Am 22. Juli 1948, dem Tag des geschilderten Ereignisses, hätten die Österreicher unmöglich in Mailand sein können. Zu diesem Zeitpunkt waren sie nämlich im Begriff, weit östlich in Venetien jene Serie von Gefechten zu beginnen, die zwischen 22. und 27. Juli stattfanden und als Schlacht bei Custozza (Italienisch: Custoza) in die Geschichte eingehen sollten. Erst am 6. August durften die Truppen Radetzkys in Mailand wiedereinziehen. Als mögliche Erklärung für dieses unhistorische Datum verweist Mathias Mayer darauf, dass der 22. Juli einen hohen symbolischen Wert hat, da dieser im katholischen Heiligenkalender zugleich als Glücks- und Unglückstag gilt (siehe dazu Mayer, S. 10f). Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass Hofmannsthal diese kleine historische Ungenauigkeit nicht übersehen, sondern absichtlich in den Text eingeflochten hat: Bereits am Anfang wird somit auf das Unwirkliche, auf das Phantastische hingewiesen, das die Geschichte an mehreren Stellen durchdringt.

[9] Hugo von Hofmannsthal, Reitergeschichte, in Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 28, Erzählungen I, S. Fischer, Frankfurt a.M. 1975, S. 37-48, hier S. 46.

[10] Gaito Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, Dt. und mit einem Nachw. von Rosemarie Tietze, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2015, S. 11.

[11] Ingeborg Jandl, Textimmanente Wahrnehmung bei Gajto Gazdanov. Sinne und Emotion als motivische und strukturelle Schnittstelle zwischen Subjekt und Weltbild, Peter Lang, Berlin 2019, S. 21.

[12] Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, S. 7.

[13] Ebenda, S. 36.

[14] Ebenda, S. 137.

[15] Ebenda, S. 139.

[16] Ebenda, S. 14.

[17] Ebenda, S. 142.

[18] Tietze, S. 190f.

[19] Vgl. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Phasen eines Lebenslaufes, in Mathias Mayer, Julian Werlitz (hrsg. von), Hofmannsthal-Handbuch, Stuttgart, Metzler 2016, S. 32-42, hier S. 35.

[20] Vgl. Laszlo Dienes, Russian literature in exile. The life and work of Gajto Gazdanov, München, Sagner 1982, S. 28.

[21] Im Unterschied zu Gasdanow war Babel allerdings bei der Roten Armee.

[22] Vgl. Elena Raponi, Hofmannsthal e l’Italia. Fonti italiane nell’opera poetica e teatrale di Hugo von Hofmannsthal, V&P Università, Milano, 2002, S. 31.

[23] Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1890-1901, S. Fischer, Berlin 1935, S. 225 (Varese, 24.8.1897).

[24] Es ist sehr wahrscheinlich, dass Hofmannsthal um den 22. Juli 1898, genau fünfzig Jahre nach der geschilderten Episode, die Idee für diese Geschichte hatte. Obwohl er am 23. Juli den Eltern mitteilt, in schlechter Schreibstimmung zu sein (Hofmannsthal, Briefe 1890-1901, S. 261f), liest man in einem am selben Tag verfassten und an Leopold von Andrian adressierten Brief: «Wenn ich imstande bin, überhaupt Prosa zu schreiben, so werd ich für das Heft [Pan] eine kurze Reitergeschichte aus dem Feldzug Radetzkys im Jahr 1848 schreiben» (Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 28, S. 219).

[25] Dabei soll die Faszination des Fahrrads als revolutionäres Verkehrsmittel auf eine ganze Generation – man denke auch an Arthur Schnitzler und Theodor Herzl – präsent gehalten werden. Auch im zur selben Zeit entstandenen Reiselied, in dem der nicht ganz ungefährliche Abstieg vom Simplonpass im Sommer 1898 literarisiert wird, können die «starken Schwingen» der Vögel nicht nur eine Metapher für die lyrische Inspiration sein, sondern auch für das Fahrrad («Wasser stürzt, uns zu verschlingen, / Rollt der Fels, uns zu erschlagen, / Kommen schon auf starken Schwingen / Vögel her, uns fortzutragen», Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 1, Gedichte 1, S. Fischer, Frankfurt a.M. 1984, S. 84).

[26] Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, S. 8.

[27] Ebenda.

[28] Ebenda, S. 14.

[29] Die Tage in Lugano im September 1898, die sehr wahrscheinliche Entstehungszeit der Reitergeschichte, werden als sehr heiß beschrieben und erinnern den jungen Hofmannsthal an den Militärdienst im galizischen Czortkow (vgl. Hofmannsthal, Briefe 1890-1901, S. 261f).

[30] Die Soldaten reiten zwischen Porta Venezia und Porta Ticinese an den wichtigsten Kirchen der Mailänder Altstadt vorbei, indem sie jedoch nicht den kürzesten Weg nehmen: Nach San Babila ist San Carlo die nächste Kirche und nicht San Fedele. Entweder hat sich Hofmannsthal bei der Wegplanung absichtlich für einen Umweg entschieden oder es handelt sich dabei um einen kleinen Fehler.

[31] Hofmannsthal, Reitergeschichte, S. 40, 42.

[32] Ebenda, S. 46.

[33] Gaito Gasdanow, Ein Abend bei Claire, Dt. und mit einem Nachw. von Rosemarie Tietze, Carl Hanser Verlag, München 2014, S. 112f.

[34] Ebenda, S. 113.

[35] Ebenda, S. 114.

[36] Hugo von Hofmannsthal, Krieg und Kultur, in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 9, Reden und Aufsätze, II, S. 417-420, hier S. 418.

[37] Hugo von Hofmannsthal, Manzonis «Promessi sposi», in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 10, Reden und Aufsätze, III, S. 119-127, hier. S. 119.

[38] Ebenda, S. 120.

[39] Hugo von Hofmannsthal, Antwort auf die «Neunte Canzone» Gabriele D’Annunzios, in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 8, Reden und Aufsätze, I, S. 625-629, hier S. 627.

[40] Ebenda, S. 627f.

[41] Hugo von Hofmannsthal, Geschichtliche Gestalt, in Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. 10, Reden und Aufsätze, III, S. 197-204, hier S. 198.

[42] Hofmannsthal, Reitergeschichte, S. 41.

[43] Ebenda.

[44] Ebenda, S. 42.

[45] Ebenda.

[46] Gasdanow, Das Phantom des Alexander Wolf, S. 71.

[47] Tietze S. 191.

[48] Hofmannsthal, Reitergeschichte, S. 39.

[49] Am naheliegendsten ist die Identifizierung des «Kasino San Alessandro» mit dem Stadtviertel Sant’Alessandro in Monza, das zur Zeit des Geschehens noch ein winziger Ortsteil südlich der einstigen Langobardenstadt war. Diese Interpretation ist besonders plausibel, weil die Eskadron in Mailand durch Porta Venezia, das nord-östliche Tor der Stadt, einreitet und Sant’Alessandro nord-östlich zwischen Monza und Mailand liegt. Ein herzlicher Dank gilt Prof. Franz Haas, der mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat.