Massimo Salgaro

(Verona)

«Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen»[1]
Die virtuelle Liebe in “Gut gegen Nordwind” (2006)
von Daniel Glattauer

[«Writing is like kissing, only without lips»
Virtual love in “Gut gegen Nordwind” (2006) by Daniel Glattauer
]

abstract. Daniel Glattauer’s novel Gut gegen Nordwind (2006), English translation: Love virtually (2011) is the first email-novel of German literature. The love triangle between Leo Leike, Emma and Bernhard Rothner is narrated through 785 emails. Their “computer mediated communication” gives birth to a virtual world that is separated from their ordinary lives. This virtual dimension becomes the projection screen for their identities, bodily representations and desires. It also becomes their cage as they will never meet in reality.

In einer 1975 publizierten Studie[2] beschreibt der Psychiater Kenneth Colby ein – aus heutiger Sicht – geradezu prophetisches Experiment: Colby hatte ein Computerprogramm geschaffen, das eine paranoide Persönlichkeit simulierte und das er liebevoll “Parry” nannte. Parry war imstande, an ihn gerichtete Fragen und Inputs zu beantworten, indem er nach einer semantischen Analyse der Anfragen aus vorgefertigten Wortlisten sachbezogene Antworten produzierte. Um die Übertragbarkeit seiner Simulation zu testen, wurde Parry in Kontakt mit 41 Psychiatern und 67 Informatikern gebracht. Nur ungefähr die Hälfte dieser professionellen Leser zeigte sich in der Lage, die Protokolle des Computers von denen der realen Patienten zu unterscheiden.

Colbys zukunftsweisendes Computerprogramm und seine täuschende Wirkung bringen uns heute zum Schmunzeln. Wir sind inzwischen gewohnt, mit Computerprogrammen zu interagieren, kommunizieren und zu leben, ohne dass uns das irgendwie verwundern würde. Trotz massiver Interaktionen mit Computern gibt es noch immer Widerstände, emotionale Bindungen mit Computern einzugehen. Deshalb hat vor wenigen Jahren der Film Her (2013)[3] lebhafte Diskussionen ausgelöst, weil der Protagonist Theodore Twombly sich in ein von artifizieller Intelligenz gespeistes Programm namens “Samantha” verliebt und darauf seine Frau verlässt.

Im Film Her kann die virtuelle Liebhaberin die reale Ehefrau ersetzen, weil die digitale Entwicklung inzwischen den Realismus der technologisch gestützten virtuellen Welt erheblich verbessert hat. Durch einen mit dem Internet verbundenen Helm oder eine Virtual-Reality-Brille kann man, von zuhause aus, ein Museum besuchen[4] oder Extremsportarten live miterleben[5]. Solche Technologien erlauben inzwischen emotionelle und intensive Erlebnisse, z.B. synästhetische und haptische Erfahrungen[6] und sogar, jemanden aus der Ferne zu küssen[7]. Die Möglichkeit, auf Distanz eindrückliche Erfahrungen zu erleben, wurde vor allem in partnerschaftlichen Bereichen mannigfach genützt: in der Partnersuche, in der Pornographie[8], aber auch, um in Second Life und damit in reinen Virtual-Reality-Umgebungen Hochzeiten zwischen Avatars zu feiern[9].

Daniel Glattauers Roman Gut gegen Nordwind (2006) bewegt sich genau in die hier eingeschlagene Richtung. Die Protagonistin Emma Rothner schreibt am Anfang des Romans eine E-Mail, um ein Abonnement einer Zeitschrift des “Like”-Verlags abzubestellen. Es antwortet ihr ein gewisser Leo Leike, der irrtümlicherweise ihre Nachricht erhalten hat. Aus dieser nur durch einen Tippfehler veranlassten Fehlkommunikation entwickelt sich ein reger E-Mailaustausch und eine zunehmend emotionsgeladene Beziehung, die aber in keinem wirklichen Rendezvous kulminiert. Diese Liebesgeschichte kann kein gutes Ende finden, weil Emma bereits mit Bernhard verheiratet und nicht bereit ist, ihre Ehe aufzugeben. Wie im Experiment mit Parry bleibt bis zum Ende offen, ob Leo als Person tatsächlich existiert, oder ob er bloß ein Computer-Programm und damit eine künstliche Intelligenz ist[10]. Eng damit verbunden ist auch die Frage nach der Realität und Authentizität seiner Emotionen.

Auch auf der formalen Ebene ist Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind innovativ: Es ist der erste E-Mail-Roman der deutschen Literatur. In Glat­tauers Roman wird die Liebesgeschichte zwischen Leo Leike und Emma Rothner in 785 E-Mails dargestellt. Dieser Roman, der rasch zum Bestseller geworden ist und mehrfach für Theater und Film adaptiert wurde, scheint sich nur schwer der Gattung der Pop-Literatur zuordnen zu lassen. Er behandelt nämlich grundsätzliche Fragen der Medialität, Individualität und Körperlichkeit, die durch die Informatisierung der Gesellschaft eine neue Kontur bekommen haben. Deshalb ist er inzwischen in den Kanon der Literatur des 21. Jahrhunderts aufgenommen und als Schullektüre empfohlen worden[11]. Dank des großen Erfolgs dieses Liebesromans erschien 2009 eine Fortsetzung mit dem Titel Alle sieben Wellen[12].

1. Computergestützte Virtual reality

Die Sekundärliteratur hat die internetgestützte Kommunikation zwischen Leo und Emmi aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Was bisher in der Forschung nicht genügend fokussiert wurde, ist die Virtualität der dargestellten Beziehung. Virtuell ist die Beziehung zwischen Leo und Emmi[13], weil sie nur im Internet gelebt wird. Virtuell ist ihre Beziehung auch, weil sie zur Teilnahme an diesem E-Mail-Austausch die Verwendung eines Computers voraussetzt. Es ist eine im eigentlichen Sinne “computer mediated communication” (CMC), wie der Fachausdruck dafür lautet. Aber der Computer ermöglicht nicht nur Kommunikationen zwischen den Figuren; er nimmt auch zwei Mal an ihrer Kommunikation “aktiv” teil, da er automatisch Abwesenheitsnotizen von Leo verschickt. Dies macht klar, dass der Computer das Medium der Liebesbeziehung ist und gerade deshalb die Macht hat, diese auch zu verunmöglichen:

achtung. geänderte e-mail-adresse. der empfänger kann seine post unter der gewählten adresse nicht mehr aufrufen. neue e-mails im posteingang werden automatisch gelöscht. für rückfragen steht der systemmanager gerne zur verfügung.[14]

Mit dieser in Großbuchstaben verfassten E-Mail endet der Roman. Symptomatisch für die Zentralität des Computers in ihrer Beziehung schreibt Leo: “Ich hatte nie vor, Sie näher kennenzulernen, näher als im elektronischen Briefaustausch möglich ist”. Und es ist nicht Leo, sondern der Computer, der von Bernhard als “Kosmos ihrer Wunschträume”[15] definiert wird. Interessanterweise fällt auch aufmerksamen Lesern oft nicht auf, dass im Roman auch ein Computer zu Wort kommt[16].

Virtuell ist ihre Beziehung auch in einem übertragenen Sinn, weil sie nur auf Distanz stattfindet und folglich in den Phantasien der beiden Teilnehmer ausgelebt wird. “Wir”, schreibt Leo, “erzeugen virtuelle Fantasiegestalten, fertigen illusionistische Phantombilder voneinander an. […] Wir bemühen uns krampfhaft, den anderen richtig einzuschätzen. Und gleichzeitig sind wir akribisch darauf bedacht, nur ja nichts Wesentliches von uns selbst zu verraten”[17]. Emmi verlangt eine klare Grenzziehung zwischen ihrem “wirklichen Leben”[18] und der “Außenwelt”[19], ihrer virtuellen Beziehung mit Leo. Da sie sich im Laufe der Handlung nie treffen werden, basiert ihre Identität auf ihren Selbstinszenierungen im Schreibprozess. Dieses Umstandes bewusst, taufen sie sich um in “Fantasie-Emmi” und “Virtuell-Leo”[20]. Emmi ist sich im Klaren, dass sie sich über ein schriftliches Medium in Leo verliebt hat. Ihre computergenerierten Gefühle könnten ebenso ein Irrtum sein und der tatsächliche, hinter den E-Mails verborgene Leo Leike könnte auch nicht dem Mann entsprechen, den sie zu lieben glaubt. Ihre computer mediated communication hat ein neues literarisches Genre, den E-Mail-Roman hervorgebracht, der einen noblen Vorfahren im Briefroman hat.

Die Forschung hat bereits die Nähe des Romans zur Gattung des Briefromans und seinen Reichtum an metalinguistischen und metaliterarischen Bezügen aufgezeigt[21]. Für Katrin Schneider-Özbek versucht Glattauer, “eine Modifikation des Genres angesichts technologischer Neuerungen vorzunehmen”[22]. Sabine Kusche, die auf überzeugende Weise den E-Mail-Roman als “Briefroman des 21. Jahrhunderts”[23] definiert, versucht die Kontinuitäten und Brüche zwischen den beiden Gattungen aufzuzeigen. Es ist nicht unerheblich, dass der Roman selbst sich in diese neue Gattung eingliedert; so nennt Leo seine Schreibpartnerin einmal “meine Heldin Emmi aus meinem E-Mail-Roman”[24].

Es sind vor allem die E-Mails von Emmis Mann Bernhard, die die Distanz zwischen E-Mailroman und Briefroman veranschaulichen. Bernhard gesteht am Anfang seiner Mail, dass das für ihn eine unübliche Kontaktform sei. Er adressiert Leo als “Hr. Leike” und imitiert somit den Briefkopf eines formellen Schreibens auf Papier. Außerdem liest er den Briefverkehr seiner Frau auf Papier, weil Emma die E-Mails ausgedruckt hat. Im Vergleich zum Brief hinterlässt das Schreiben im digitalen Zeitalter keine materielle Spur: Die E-Mails erlauben nicht, die Handschrift des Schreibers zu interpretieren, noch den Duft des Papiers zu spüren.

2. Die zeitliche Dimension des Virtuellen

Die beiden Hauptfiguren scheinen sich ihrer “virtuellen Zweisamkeit”[25] bewusst zu sein. Ihre professionelle Beschäftigung liefert ihnen dazu das nötige Hintergrundwissen, weil Leo als Psycholinguist gerade an einer Studie über den Einfluss der E-Mails arbeitet und Emmi Webdesignerin ist. Das Internet ist für sie sowohl professionell als auch privat von Relevanz. “Wir wohnen”, meint Leo, “nirgendwo. Wir haben kein Alter. Wir haben keine Gesichter […]. Wir haben nur unsere beiden Bildschirme”[26]. Emmi und Leo schaffen sich ein Paralleluniversum, das eine “virtuelle Alternative”[27] zu ihrem Alltag darstellt. Es ist eigentlich ein second life, genau wie die vor einigen Jahren sehr erfolgreiche Plattform, in der sich die Avatars der Teilnehmer in einer virtuellen Dimension treffen konnten.

Virtuell ist auch die Zeitlichkeit, in der sie sich befinden. Die Einstiegs-E-Mail in den Roman ist die einzige, die mit einem konkreten Datum, nämlich dem 15. Januar eines undefinierten Jahres, versehen ist. Allen anderen Nachrichten geht stattdessen eine zeitliche Bezeichnung voraus, die keinen Rückschluss auf die Alltagswelt erlaubt: “Acht Minuten später”, “33 Tage später”, “Am nächsten Tag”[28]. In ihrem E-Mail-Austausch konstituieren Emma und Leo eine Gegenwelt mit einer spezifischen Raum-Zeitlichkeit. Diese “Heterotopie” ist vom Alltag der Schreibenden abgegrenzt und steht als virtueller Ort dem Alltag gegenüber[29]. Nicht nur die Zeitlichkeit, sondern auch die Räumlichkeit ist hier virtuell, weil – anders als beim Briefverkehr – die räumliche Distanz für den E-Mail-Verkehr belanglos ist.

Ihr Schreiben ist auch ein Kampf mit der Zeit: Leo und Emma ringen um das Jetzt, sie “schreiben für die unmögliche Gegenwart”[30]. In ihrer Kommunikation wird eine paradoxe Situation mangelnder Präsenz geschaffen: Als Briefpartner, die schreiben und lesen, sind sie zugleich abwesend und präsent, nah und fern. Darüber hinaus ist es für den E-Mail-Schreiber nicht möglich, ein Ereignis zu erleben und gleichzeitig darüber zu berichten. Trotz der Simultaneität der digitalen Kommunikation stimmt die Gegenwart des Schreibenden nie exakt mit der des Lesenden überein. Da die Gegenwart unzureichend ist, wird die unmittelbare Zukunft, die die (virtuelle) Präsenz des anderen verspricht, “ein Magnet, der die Protagonisten an ihre Bildschirme fesselt”[31]. Emma und Leo erdichten und antizipieren bis zum Ende des Romans ein Treffen, das nie stattfinden wird.

Was diesen E-Mail-Austausch noch charakterisiert – vor allem im Vergleich zum Briefverkehr – ist Schnelligkeit, Verkürzung der Reaktionszeit, und daraus erwachsend Verlangen nach Antwort und Dynamisierung des Austausches. Diese Schnelligkeit wird auch von den beiden Kommunikationspartnern mehrmals thematisiert:

Nun, Ihre E-Mails lesen sich wie “heruntergesprudelt”, wenn ich mir diese Einschätzung erlauben darf. Ich hätte schwören können, daß Sie eine Schnellsprecherin und Schnellschreiberin sind, eine quirlige Person, der die Abläufe des Alltags niemals rasch genug vonstatten gehen können. Wenn ich Ihre E-Mails lese, dann kann ich darin keine Pausen erkennen. Die kommen mir im Ton und Tempo antriebsstark, atemlos, energievoll, flott, ja sogar ein wenig aufgeregt vor.[32]

Glattauer wechselt ständig das Tempo der Erzählung, indem er lange E-Mails mit kurzen Nachrichten mit erhöhtem Erzähltempo alterniert. Der Stil pendelt zwischen dem eines etwas formalen Briefverkehrs und dem informellen eines Chats. Die Schnelligkeit der “E-Mail-Quasi-Dialoge”, in der sich die Zeitenabstände zwischen den Mitteilungen verringern, zeichnet sich durch zahlreiche Ellipsen aus, die typisch für orale Kommunikation sind[33]. Der Eindruck mündlicher Kommunikation wird auch durch graphische und stilistische Ausdrucksmittel, die die Mimik und Gestik der Mündlichkeit simulieren, verstärkt. Emmi “ruft” Leo durch ein in Großbuchstaben gesetztes: “leeeeeeeeeooooooo, huuuuuuu-uuu­uuuhhhh????????[34].

Da die Mailenden nicht immer verfügbar und online sind, entstehen Kommunikationspausen, die von Emmi in dramatischer Weise erlebt werden[35]. Sie äußert immer wieder die Sorge, dass Leo seine Kommunikation ganz abbrechen könnte, und fordert ihn auf, ihr zu antworten[36]. Die E-Mail von Bernhard führt hingegen zu einem narrativen Stillstand und unterbricht den Kommunikationsfluss zwischen den beiden Dialogpartnern.

Gerade weil sie in einer virtuellen raumzeitlichen Dimension leben, ist die zentrale Frage für die Protagonisten in Gut gegen Nordwind die nach Identität und Authentizität. Von Anfang an projizieren sie Wunschbilder von­einander, die sie nie bestätigen oder widerlegen können, weil sie sich nie treffen. Der Adressat ihrer E-Mails wird somit die Projektionsfläche ihres Wunschideals. Programmatisch stellt Leo Leike fest: “Ich bastle mir meine eigene Emmi Rothner”[37]. Daher kann sich das Kennenlernen nur durch das Schreiben und durch die Selbstinszenierungen der Schreibenden vollziehen. Für Katrin Schneider-Özbek geht es in Gut gegen Nordwind um die “Wirksamkeit des Wortes im virtuellen Raum”[38]. Außer der Schrift werden nämlich alle taktilen, akustischen und visuellen Wahrnehmungselemente ausgeschaltet. Weil es zu keinem wirklichen Treffen kommt, können diese Projektionen und Eindrücke weder bestätigt noch dementiert werden. Die Identität der Schreibenden bleibt deshalb bis zum Ende flüssig und offen.

Auch durch ihre Verabredung in einem überfüllten Café entsteht keine Klarheit, im Gegenteil. Emmi sieht Leo nur im Spiegel der Augen von dessen Schwester Adrienne; Leo hält drei potentielle Kandidatinnen für Emmi unter den Besuchern des Cafés für möglich, die aber von Emmi weder bestätigt noch negiert werden[39]. Auch ihre letzte Verabredung, die ebenfalls nicht zustande kommt, planen sie, und das gleich drei Mal, als “blind date’[40]. Ein Treffen in einem dunklen Zimmer kann, definitionsgemäß, keine Klarheit schaffen.

Trotz ihrer medialen Kompetenz können Emma und Leo den Einfluss des Computers auf ihre Beziehung nicht durchschauen. “Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben”[41], konstatiert Emmi, als die Beziehung zwischen ihnen sich entschieden zu erwärmen beginnt. Am Anfang ihrer Beziehung unterstellt Emmi dem Sprachpsychologen, er benutze sie für seine Studien über die “E-Mail als Transportmittel von Emotionen”. Der vermeintliche Leo teilt ihr mit, dass er imstande sei, “Sprachpsychogramme” zu erstellen[42]. Emmi könnte unwillentlich an einem von ihm geschaffenen psycholinguistischen oder informatischen Experiment teilnehmen[43]. Allein die Undurchsichtigkeit des Mediums würde ein solches Experiment erst ermöglichen. Mit ihren Zweifeln erfasst Emma vielleicht intuitiv, was der Sozialpsychologe Robert Feldman in seinen Experimenten gezeigt hat, nämlich dass Menschen online fünf Mal häufiger lügen als in einer Kommunikation mit Blickkontakt[44]. Emmis Verdacht kann bis zum Ende des Romans nicht ausgeräumt werden.

3. Reale Emotionen in einer virtuellen Welt

Wollte man die Liebesgeschichte von Leo und Emmi mit den Kriterien der Alltagswelt beurteilen, drängte sich eine Frage auf: Warum treffen sich die beiden Liebenden nicht?[45]. Wie kann man eine Liebesbeziehung interpretieren, die ohne den Körper auskommt? Wie soll man Leos programmatische Aussage verstehen: “Ich will gar nicht wissen, wie Sie aussehen”?[46]. Wie Bruno Dupont bündig ausdrückt: “Die Hauptfiguren tun alles, was in ihrer Macht steht, um sich einander so stark wie möglich anzunähern, ohne aus der Virtualität herauszutreten”[47].

Einerseits scheinen diese Figuren das Modell der körperlosen Liebe des Abendlandes von Denis de Rougemont zu verwirklichen. In seinem monumentalen L’amour et l’occident rekonstruiert de Rougemont die Geschichte der Liebes-Emotionen in der westlichen Kultur[48]. Diese Geschichte erscheint ihm als ein Widerstreit zwischen christlicher Liebe und “amour passion” oder “Eros”[49]. Während das erste Prinzip sich in der Ehe verwirkliche und die Billigung der Grenzen des Bestehenden impliziere, zielt die amour passion auf ein sich stets steigerndes Begehren, das sich vor allem in der außerehelichen Liebesbeziehung manifestiere. Dieses zweite Prinzip, das ein Erbe von Platons Denken wäre, hat viele bedeutende literarische Werke angeregt, von Tristan und Isolde bis Romeo und Julia[50]. Auch Emma und Leo sind Nachfolger dieser noblen Vorfahren und Zeugen einer unglücklichen geschlechts- und körperlosen Liebe.

Für de Rougemont drücke der Mythos von Tristan[51] eine Liebe für die Liebe aus, eine narzisstische Liebe. Tristan liebt Isolde nicht als “Andere”, sondern nur, weil er durch sie sein eigenes Begehren nähren kann. Er braucht die Hindernisse, die die Erfüllung seiner Liebe vereiteln, damit das Begehren verlängert und zur höchstmöglichen Intensität gesteigert wird[52]. Es sei, laut de Rougemont, eine Liebe der Hindernisse der Liebe und der Abwesenheit des Partners. Der Schmerz und der Sturm des Begehrens und der Emotionen sind der amour passion eigen. Diese zielt auf ein Jenseits, ein Unendliches; weil aber kein endliches Wesen eine Unendlichkeit befriedigen kann, endet diese Liebe oft in Suizid.

Wollen wir es als einen Zufall betrachten, dass Emmi ihre Beziehung mit Leo als “Tristan und Isolde auf virtuell” definiert?[53]. Aus der Perspektive von de Rougemonts Analyse könnte der Selbstboykott ihrer Beziehung eine kulturwissenschaftliche Erklärung finden. Ihre misslungene Beziehung müsste als eine Realisierung der amour passion gewertet werden, die eine lange und glorreiche Tradition hat[54].

Emma und Leo sind aber, andererseits, sehr stark in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts verwurzelt und zeigen das typische Verhalten zeitgenössischer kompulsiver Internetnutzer auf. Bernhard beschreibt die Geistesabwesenheit Emmas mit den folgenden Worten: “Stundenlang sitzt sie in ihrem Zimmer und starrt in den Computer”[55]. Ihre Geistesabwesenheit ist ein typisches Merkmal von “distracted mind”, was charakteristisch für die Zwangsnutzer der digitalen Medien geworden ist[56]. “Mit Mühe gelingt es ihr, ihr Weggetretensein vor den Kindern zu verbergen. Ich merke wie sehr sie sich quält, länger neben mir zu sitzen”[57]. Die Fokussierung auf das Computermedium nimmt der Realität jeglichen Reiz.

Ihre Liebe, die in der Realität scheitert, sich aber in der Virtualität realisiert, könnte deshalb auch einem anderen kulturhistorischen Modell entspringen. Sie scheint ein perfektes Beispiel der “kalten Intimität” zu sein, die Eva Illouz als die typische Form der Liebe im Zeitalter des Internets definiert hat[58]. Die israelische Soziologin bezieht ihre Beobachtungen aus den Singlebörsen, die ein sehr erfolgreiches und profitables Geschäft geworden sind. Die Nutzer dieser Webseiten werden ersucht, sich ein Profil zu erstellen, in dem sie, aufgrund von Selbstbeobachtung, ein psychologisches Profil von sich selbst liefern. Dieses Profil beinhaltet Informationen zu Person, Beruf, Hobbys und Aussehen. In dieser Selbstpräsentation muss der Nutzer der Singlebörse seine Individualität in Kategorien zerlegen, damit man testen kann, ob seine Werte mit denen eines potentiellen Partners kompatibel sind. Es kommt dabei zu einer “Textualisierung der Subjektivität [...], das heißt zu einer Art des Selbstzugangs, die das Selbst mit Hilfe visueller Mittel der Repräsentation und Sprache externalisiert und objektiviert”. Die daraus resultierende Beziehung ist eine “entkörperlichte textuelle Interaktion”[59].

Diese Textualisierung habe, laut Illouz, drei Konsequenzen: Das Ich wird gezwungen, sich auf sich selbst zu konzentrieren, auf sein Selbst- und Liebesideal. Die zweite Konsequenz ist schwerwiegender, zumal sie die Ordnung und das Prinzip der romantischen Liebe auf den Kopf stellt: “Wo Anziehung normalerweise dem Wissen vom anderen vorausgeht, geht hier Wissen der Anziehung oder zumindest der physischen Präsenz und Verkörperung romantischer Interaktionen voraus”[60]. Die dritte Folge ist, dass die Partnersuchenden durch ihr Profil auf dem “Liebesmarkt” auftreten und somit in Konkurrenz mit allen anderen Trägern eines vergleichbaren Profils geraten[61].

Die Selbstpräsentation im Internet ist auf ein abstraktes, generelles Publikum gerichtet. Auch deshalb werden immer wieder dieselben stereotypen Beschreibungen benützt, die zur Vereinheitlichung der Profile führt[62]. Wiederum wird die Logik der romantischen Liebe auf den Kopf gestellt: Stand diese im Zeichen der Einzigkeit des Geliebten, ist das Internet von der Idee des Überflusses und der Austauschbarkeit der Partner charakterisiert[63].

Sollte sich, trotz dieser Beschränkungen, in einer Singlebörse eine glückliche Kombination der Eigenschaften zweier Partner ergeben, tritt ein anderes Problem auf. Die virtuellen Beziehungen seien, laut Illouz, von einer ständigen Angst vor der Konfrontation mit der Realität geprägt. Diese Angst vor der Desillusionierung ist nicht unbegründet. In einer Kommunikation von Angesicht zu Angesicht bildet sich eine Beziehung zum Gesprächspartner, die körperliche, mimische und unbewusste Elemente mit dem Wissen über die Person vermengt. Dabei wird die gegenwärtige Erfahrung der Person mit Bildern und Erfahrungen der eigenen Vergangenheit in Beziehung gesetzt. In diesem Prozess wird die geliebte Person idealisiert und als einzigartig empfunden[64]. Im Internet wird die Person hingegen durch abstrakte Kategorien und Kognitionen wahrgenommen, die sich nicht auf reale und vergangene Erfahrungen stützen. Die im Internet entstandenen Bekanntschaften sind also hohen “prospektischen” Erwartungen ausgesetzt, die die besten Voraussetzungen für Desillusionierungen bereiten. Illouz erklärt diese Antizipationsmechanismen folgendermaßen:

Die Vorstellungskraft im Internet untergräbt die intuitive Vorstellungskraft, weil sie nicht retrospektiv, sondern prospektiv ist, also vorwärtsschauend und folglich losgelöst vom intuitiven, praktischen und unausgesprochenen Wissen des Vergangenen. Mehr noch, weil sie sich auf eine Masse an textbasiertem kognitiven Wissen verläßt, wird sie durch «verbal overshadowing» beherrscht, eine Sprachdominanz, die den Prozeß visueller und körperlicher Anerkennung stört.[65]

Das von Illouz entworfene Modell der Liebe im digitalen Zeitalter lässt sich unschwer auf Glattauers Roman übertragen. Auch Emma und Leo “textualisieren” ihre Individualität durch ihr Schreiben; ihre komplette Korrespondenz ist das Produkt einer solchen Textualisierung. Folglich ist auch ihre Beziehung entkörperlicht und von der Sprache dominiert. In Gut gegen Nordwind werden die Körper der Protagonisten durch Zeichenkörper ersetzt. Sie schaffen “Liebesillusionen per E-Mail”[66].

Die beiden Korrespondenzpartner sind sich bewusst, dass ihre verschriftlichte Selbstinszenierung sie in Konkurrenz mit vielen anderen “textualisierten” Internetbesuchern bringen kann. Deshalb versuchen sie durch eine gepflegte, manchmal sogar literarisierende Sprache zu imponieren. Sie sind auch witzig und rhetorisch gewandt, wie Emmi unter Beweis stellt, wenn sie die “Familienidylle” als ein Oxymoron definiert[67]. Als kultivierte und gebildete Menschen verachten sie das “Chatroom-Geplänkel”[68] und den Gebrauch von Emoticons[69]. Ihre Sprache soll sie von der Sprache der Masse der Internetbesucher abheben. Emma fühlt sich zu “individuell”, um sich “den pauschalisierenden und zumeist auch gehässig vorgetragenen Männer-Plural überstülpen zu lassen”[70]. Und sie versuchen dabei wiederholt, ihre Individualität von einer Masse, der sie nicht angehören wollen, zu differenzieren[71].

Mit den von Illouz beschriebenen Personen auf Partnersuche teilen sie vor allem die panische Angst, ihr vom Internet produziertes Wunschideal mit der Realität zu konfrontieren. Diese Befürchtung wird obsessiv geäußert, und auch Emmi drückt das klar aus, wenn sie schreibt: “Und ich habe die Befürchtung, dass Sie mir nicht gefallen werden”[72]. Ihre Angst ist so groß, dass ihr virtuell gelebtes erotisches Liebes-Spiel aus Angst vor dem Scheitern gar nicht erst in einem Treffen mündet. Leo stellt bedrückt fest:

Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. Es wird enttäuschend sein, wenn Sie hinter der Emmi zurückbleiben, die ich kenne. Und Sie werden dahinter zurückbleiben! Sie werden deprimiert sein, wenn ich hinter dem Leo zurückbleibe, den Sie kennen. Und ich werde dahinter zurückbleiben![73]

Sie versuchen sich physisch näherzukommen, zum Beispiel, indem sie ihre Stimmen auf den Anrufbeantworter aufnehmen. Trotz ihrer Hemmungen scheinen die Projektionen, in denen sie ihre Wunschideale erfüllen, sie nicht befriedigen zu können. Ihr reales Ich aus “Fleisch und Blut” sollte diesen Projektionen standhalten können und nicht davor fliehen[74]. Aber die Desillusion lauert auch hier, und die Stimme von Emmi erzeugt bei Leo Irritation. “Ich habe sie mir ganz anders vorgestellt. Sagen Sie: Sprechen Sie eigentlich immer so? Oder haben Sie Ihre Stimme verstellt?”[75]. Es sind missglückte Versuche einer “Annäherung, die sich nicht annähern darf”[76]. Es kommt nicht zum “antivirtuellen Luftzug”[77], der, vielleicht besser als die E-Mails Leos, “gut gegen den Nordwind” zu gebrauchen wäre.

Ihre Projektionen werden durch sexuelle Phantasien gefüllt und genährt. Es sind allerdings für zwei Erwachsene recht beschränkte Phantasien, und Emmi bleibt für Leo ein Fetischobjekt mit der Schuhgröße 37[78]. Es ist “Computersex, nur ohne Sex und ohne Bilder zum Herunterladen”[79]. Für diese Liebenden, die nach dem Motto leben: “Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf”[80], ersetzt der Schriftkörper den biologischen Körper.

Wie sehr diese Angst vor der Desillusionierung mit dem von Illouz beschriebenen Liebesmarkt zusammenhängt, zeigt die Szene im Café. Für Emma hat Schönheit Priorität und alle Männer, die sie dort sieht und die als Leo in Frage kommen, waren vom ästhetischen Standpunkt “absolut indiskutabel”[81]. Auch Mias Schönheit wird mehrmals betont und wie in einem Profil im Internet beschrieben: “Mia ist 34, bildhübsch, Sportpädagogin, lange Beine, super Figur”[82]. Obwohl Emma Leo nicht erkennt, wird sein mögliches Aussehen kontrastiv evaluiert[83].

In diesem Zusammenhang wurde bisher die Onomastik, auf der die Namensgebung der Figuren von Gut gegen Nordwind fußt, nicht genügend fokussiert. Emmas Namen muss man im Kontext dieser Dreiecksbeziehung zwangsläufig mit Emma Bovary verbinden. Auch der Name Leo scheint in dieses Puzzle zu passen, weil der erste Verehrer Madame Bovarys Léon Dupuis heißt. Wie Leo Leike verlässt Léon sein Liebesobjekt, um im Ausland sein Studium fortzusetzen. Emmas Freundin “Mia”, auf Italienisch das weibliche Possessivpronomen “meine”, gehört tatsächlich jemandem: Sie ist die “Marionette”[84] von Emma, die mit Leo verkuppelt wird. Mit ihrem Namen verbindet man auch die italienische Kultur und das mediterrane Flair, die immer wieder in ihren glamourösen Gesprächen auftauchen[85]. Leos Nachname “Leike” scheint keine Anknüpfungen an literarische Modelle zu ermöglichen, aber umso mehr an Praktiken des Internets. Das “like” ist nämlich die typische Geste des Beifalls, die man in den sozialen Medien wie twitter oder facebook unter eine Mitteilung oder ein Bild setzen kann. Ein “Leike” ist also ein zeitgemäßer Don Giovanni, der Anerkennung sucht bzw. gewährt[86].

Der Lebensraum dieses Don Giovannis der Tastatur ist aber ein virtueller, eine Welt aus Wörtern, wie uns seine E-Mail-Adresse verdeutlicht: woerter@leike.com. Bernhard, der Ehemann Emmas, der fest in der Alltagswelt verankert ist, bringt den Leser auf die richtige Spur, wenn er an Leo schreibt: “Sie sind nicht real […] aus Buchstaben gebaut”[87]. Hayer glaubt, dass das Gefecht der beiden Männer mit ungleichen Waffen stattfinde, weil “die virtuelle Imago von Emmis Avatar-Geliebten in die Wirklichkeit hinein[wirkt] ohne dort körperlich präsent zu sein”[88].

Wenn Leos Existenz sprachgebunden ist, dann ist die Beziehung zwischen Leo und Emmi von hermeneutischer Natur, die sich in einer uferlosen Interpretation verwirklicht: “Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen den Wörtern, bald schon zwischen den Buchstaben”[89]. Auch die Namensgebung des Romans mit ihren Hinweisen auf literarische Modelle und auf die textuelle Dimension des Internets zeigt, dass es hier um computervermittelte Wörter geht und um nichts anderes. Emma und Leo “texten sich”, so nennt man heute die digitale Kommunikation durch das Smartphone. Sie schaffen durch Wörter eine Vereinigung, aber das Verbindungselement ist ein Internet-Server:

Angenommen, Sie spüren, dass uns beide doch viel mehr verbindet als der Internet-Server, dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass wir aneinandergeraten sind. – Leo, kann es nicht sein, dass Sie mich wiedersehen wollen? […] Kann es nicht sein, dass Sie mit mir zusammenbleiben wollen? Kann es nicht sein, dass Sie mit mir leben wollen?[90]

Der von Illouz beschriebene virtuelle Liebesmarkt hat sich inzwischen technologisch verbessert, aber seine Logik ist die gleiche geblieben, wie man auch in Glattauers Roman nachlesen kann. In der Partnersuche wird das Internet als eine Projektionsfläche betrachtet, vor der sich die beiden Hauptfiguren selbst inszenieren. Problematisiert wird dabei die Distanz dieser virtuellen Welt von der Alltagswelt. Dem Problem der Virtualität, das dargestellt wird, kann sich kein zeitgenössischer Leser des Romans entziehen, weil er, wie die Protagonisten des Romans, in einer vom Internet und von den sozialen Medien dominierten Welt lebt.

4. Virtualität und Kreativität

Aber das Internet und der Computer haben nicht nur die Lebenswelt, sondern auch die Literatur – sowohl ihre Produktion als ihre Rezeption – einschneidend verändert. Die metaliterarische Pointe Leos, der Emmi als “Heldin Emmi aus meinem E-Mail-Roman”[91] definiert, drückt explizit das Bewusstsein des Protagonisten aus, selbst ein Schriftsteller zu sein. Dieser Schreibprozess wird auch anderswo im Text thematisiert, etwa als Leo Emmis Namen als eine Folge von Handbewegungen über der Tastatur im genormten Zehn-Finger-Schreibsystem aufzeigt: “Einmal linker Mittelfinger, zweimal rechter Zeigefinger, und zwei Reihen darüber rechter Mittelfinger”[92]. Leo ist sich der Medialität des Schreibprozesses bewusst. Die computer mediated communication ist in Gut gegen Nordwind auch ausdrücklich genannt, weil Leo an einer Studie über E-Mail als “Transportmittel” arbeitet.

“Medium” ist im allgemeinen Verständnis ein Übertragungskanal von Kommunikationen. Es ist ein Träger und Übermittler von Daten, der, vor allem in der menschlichen Kommunikation, eine entscheidende Rolle spielt. Es existiert keine unvermittelte Kommunikation, weil eine Nachricht stets über ein Medium vermittelt werden muss. Die menschliche Stimme, aber auch der Brief, das Radio, das Fernsehen sind Medien. Unser Zeitalter ist hingegen von digitalen Online-Medien geprägt, die die Verwendung eines Computers voraussetzen[93].

Medien wie der Computer erzeugen, was sie vermitteln. Trotz ihrer Tendenz, irgendwie unsichtbar zu bleiben, verlangen sie von den Kommunikationspartnern spezifische Codes, die ihr Bewusstsein und Denken verändern.

Emmas und Leos Funktion als Leser und Schreiber vor einem Bildschirm wird umso relevanter, wenn man bedenkt, dass die Position des Erzählers irgendwie leer bleibt. In Gut gegen Nordwind findet man keine erzählende Instanz, die die Handlung lenkt, kommentiert oder eine Außendarstellung der Figuren ermöglicht[94]. Selbst eine Herausgeberfiktion, traditionell ein beliebtes technisches Mittel, um in der Polyperspektive des Briefverkehrs einen konstanten Blickpunkt zu garantieren, ist in diesem E-Mail-Roman nicht vorhanden. Wie bereits erörtert, sind sowohl Anfang und Ende des Romans durch Eingriffe des Mediums produziert: der Anfang durch eine informatische Fehlkommunikation, das Finale durch eine Abwesenheitsnotiz des Computers.

Dieser Schreibprozess scheint, um den Titel eines Sammelbandes zu zitieren, eine typische “Schreibszene […] im digitalen Zeitalter”[95]. Die Beiträge des zitierten Bandes hinterfragen die Schreibprozesse der Schriftsteller der neuen Generationen, auch die Computer mit ihren Textverarbeitungsprogrammen. Dabei erscheinen die Computer nicht als Werkzeuge, die die fiktionalen Welten einfach verschriftlichen, sondern als Medien, die Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Schriftstellers ermöglichen und strukturieren. Die Herausgeber glauben, dass im digitalen Zeitalter sich vieles verändert habe:

Denn mit dem zunehmenden Gebrauch des Computers (auch) als Schreibwerkzeug ist deutlich geworden, wie sehr die technischen Vorgaben – die ungewollten Korrekturen oder bevormundenden Eingriffe in die typographische Gestaltung durch das Textverarbeitungsprogramm Word können als besonders augenfällige Beispiele dienen – den Schreibprozeß mitbestimmen: wie von Geisterhand.[96]

Der Niederschlag zeigt sich beim Schreiben auf der Ebene der Instrumentalität (Technik), der Gestik (Körperlichkeit) und der Semantik (Sprach­lichkeit im weitesten Sinne). Der Computer entkoppelt, vor allem im Vergleich zur Schreibmaschine, den Schreibprozess, d.h. das Tippen der Finger vom Schreibprodukt (dem Text auf dem Bildschirm), weil Hardware und Software verstärkt diesen Prozess mitbestimmen. Während die Schreibmaschine einen isolierten Schreibprozess ermöglichte, impliziert die Arbeit am Computer eine Vernetzung durch das Internet. Das Internet ist ein sogenanntes Meta-Medium, das andere Medien in sich einverleibt. Die digitale Literatur im Internet hat in den letzten zwanzig Jahren Begriffe wie Autor und Werk, Distribution und Rezeption von Schriften sowie Instanzen der Bewertung und Institutionalisierung revolutioniert.

Am radikalsten hat wohl Kenneth Goldsmiths “Uncreative Writing” die Implikationen des Computers auf den Schreibprozess und auf die Autorschaftskonstrukte der Gegenwart reflektiert. Er zeigt, dass durch das Internet Begriffe wie Originalität und Kreativität in Frage gestellt und ersetzt werden durch manipulation” und management” of already existing and ever-increasing language”[97]. Das “copy and paste” ist das Motto dieser postmodernen internetgestützten Schreibpraxis. Am Ende seiner bahnbrechenden Studie mündet Goldsmith in ein literarisches Pamphlet, in dem er den Schriftsteller im digitalen Zeitalter als eine Hybridfigur zwischen Pirat und Programmierer charakterisiert[98].

Die Diskussion um Autorschaft und Kreativität im digitalen Zeitalter hat auch in die deutsche Literatur und Literaturwissenschaft Eingang gefunden. Das von Goldsmith beschriebene copy and paste wird problematisch, sobald es ins Plagiat mündet. Im Umkreis der Debatte um die Plagiatsvorwürfe gegenüber Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill[99] sind ältere Diskussionen um Intertextualität und Originalität, Leben und Tod des Autors wieder aufgekommen. Für einige soll sich die Kritik nicht sehr um den Autor kümmern[100], für andere darf er nicht ignoriert werden[101]. Auch der Schriftsteller Durs Grünbein, einer der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Dichter, griff in diese Kontroverse ein, indem er in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Hegemann eintrat[102]. In einem darauf folgenden Artikel erklärte Grünbein, dass sein Artikel in der FAZ zu 99% ein Plagiat des Artikels Plagiat von Gottfried Benn gewesen sei, das 1926 in der «Vossischen Zeitung» erschienen war[103]. Durch diese dadaistische Wende wollte Grünbein veranschaulichen, dass das Problem höchst aktuell und nicht durch schablonierte Positionen zu bewältigen sei.

Auch Gut gegen Nordwind thematisiert das Problem der Originalität und Autorschaft. Der Computer verfasst zwei Absätze des Romans, nämlich die beiden Abwesenheitsnotizen Leos. Er schreibt sie vor und sie werden automatisch abgeschickt. Aber er greift auch in die Kommunikation ein, wenn z.B. Softwareprobleme[104] auftreten oder wenn das Schreibprogramm “automatisch” einen Satzteil produziert[105]. Die Software der Computer ermöglicht auch ihre “textualisierten” Individualitäten in einem potentiell unendlichen Kontext von Bildern und Texten zu verorten, die das Internet zur Verfügung stellt. Die sozialen Medien, wie z.B. das Phänomen der “instapoets” zeigt, sind längst schon ein Ort der Produktion und des Genusses von Literatur geworden[106]. Symptomatisch dafür ist die Vernetzung ein Kernbegriff der zeitgenössischen Literatur geworden[107]. Wie die herabwürdigende Haltung von Leo und Emmi gegenüber der “virtuellen Anonymität”[108] der Massenmails zeigt, werden in ihrer Kommunikation auch Fragen der Originalität bzw. des Kitsches von Texten thematisiert. Diese Themen werden auch in ihrer Schreibpraxis reflektiert, in der es öfters um die Praxis des Zitierens geht[109].

Die Literatur, die im Medium der Schrift lebt, ist gezwungenermaßen auf mediale Innovationen und Reflexionen ausgerichtet. Daniel Glattauer gelingt es, diese Reflexionen zur computergestützten Medialität in einen Bestseller zu verwandeln. Interessanterweise wurde die erste literarische Beschreibung einer Dystopie, in der die virtuelle Realität die menschliche Realität ersetzt, auch von einem österreichischen Schriftsteller, nämlich Oswald Wiener, beschrieben. Im appendix A von die verbesserung von mitteleuropa, roman (1969) wird ein Mensch in einen “bio-adapter” eingefügt. Es handelt sich um einen technischen Apparat, dessen Zweck es ist, “die welt zu ersetzen, d.h. die bislang ungenügende funktion der ‘vorgefundenen umwelt’ als sender und empfänger lebenswichtiger nachrichten”[110]. Der bio-adapter, der wie ein moderner Computer imstande ist zu lernen – Stichpunkt: machine learning – riegelt den Menschen in einem “glücks-anzug”[111] hermetisch von der herkömmlichen Umwelt ab. “er simuliert wechselbeziehungen, indem er sich als partner versteht”[112]. Wiener scheint hier fast eine Regieanweisung für den fast fünfzig Jahren später produzierten Film Her zu liefern. Der Mensch ist als Inhalt des bio-adapters für die reale Welt und die Gesellschaft verloren. Er lebt in einer Illusionswelt, einem artifiziellen Paradies, das er nicht mehr verlassen kann. In der letzten Phase dieses dystopischen Experiments werden seine Organe amputiert, sein Körper abgebaut und von artifiziellen Modulen ersetzt.

Die von Wiener beschriebene Dystopie ist vom technologischen Standpunkt her längst schon Realität geworden. Die entkörperlichte Liebesgeschichte von Emmi und Leo wie auch der weltweite Erfolg von Pornographie im Netz[113] zeigen aber, dass die gewaltsame Entfernung des Körpers im bio-adapter eigentlich nicht notwendig war. Unseren Titel paraphrasierend könnte man sagen, dass der gegenwärtige Mensch getrost auf “Küsse mit Lippen” verzichtet, bloß um “mit dem Kopf zu küssen”, d.h. informiert, vernetzt, online zu bleiben.

 

 

 

 

Bibliographie

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[1] Daniel Glattauer, Gut gegen Nordwind. München: Goldmann, 2008, 88. Der Roman wird ab jetzt abgekürzt mit GN gefolgt von der Seitenzahl. Der Roman ist 2006 im Deuticke Verlag in Wien erschienen.

[2] Kenneth M. Colby: Artificial Paranoia: A computer simulation of paranoid process. New York: Pergamon Press, 1975.

[3] LINK.

[4] LINK.

[5] LINK.

[6] LINK.

[7] LINK.

[8] LINK.

[9] LINK. – Es ist inzwischen nicht mehr eine Ausnahme, dass sich spätere Partner auf Dating-Seiten treffen: Eine Studie von 2013 zeigt, dass ein Drittel der amerikanischen Beziehungen zwischen 2005 und 2012 im Netz entstanden sind, und dass diese beständiger sind als die in der realen Welt entstandenen. LINK.

[10] «Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben». GN, 99.

[11] Björn Hayer: Der E-Mail-Roman in der Schule: didaktische Überlegungen zur Medialität in Daniel Glattauers Roman «Gut gegen Nordwind». In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 48.2015, 1-2, 121-130.

[12] Daniel Glattauer: Alles sieben Wellen. Wien: Deuticke, 2009.

[13] Emma Rothner wird von Leo Emmi genannt. Hier werden also beide Namensgebungen benützt.

[14] GN, 223.

[15] GN, 183.

[16] Wastl schreibt, dass Glattauer nur drei Stimmen zu Wort kommen lasse. Nora Wastl: Geschickte Liebe – Daniel Glattauers «Gut gegen Nordwind» oder die Geburt des E-Mail-Romans. Masterarbeit, Graz, 2010, 77. So auch Sabrina Kusche: Der E-Mail-Roman. Zur Medialisierung des Erzählens in der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Literatur». Dissertation, Gießen, 2012, 148.

[17] GN, 19.

[18] GN, 43.

[19] GN, 105.

[20] GN, 84.

[21] Vgl. Bruno Dupont: Erzählen im Zeitalter des Internets: Daniel Kehlmanns “Ruhm” und Daniel Glattauers “Gut gegen Nordwind”. In: Germanica, 55.2014, 189-207 (= La prose allemande contemporaine. Voix et voies de la génération postmoderne. Ed. by Bernard Bach); Ketelsen, Uwe-Karsten: «Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben»: eine Liebe in Zeiten der digitalisierten Kommunikation; Daniel Glattauer «Gut gegen Nordwind» (2006). In: Literarische Koordinaten der Zeiterfahrung. Wrocław, Dresden, Częstochowa: ATUT, 2008, 132-142.

[22] Schneider-Özbek, Katrin: Daniel Glattauers E-Mail-Roman “Gut gegen Nordwind”: nur die Modernisierung eines alten Genres?. In: Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium, 2000-2010. Hrsg. v. Michael Boehringer, Susanne Hochreiter. Wien: Praesens, 2011, 352-370, 353.

[23] Kusche (2012), 32.

[24] GN, 126.

[25] GN, 30.

[26] GN, 19.

[27] GN, 106.

[28] Für eine detaillierte Analyse des Zeitgerüsts des Romans siehe Wastl (2012), 99-111.

[29] S. Kusche (2012), 152-153.

[30] Gellai, Szilvia: Dramatische Vernetzung in Daniel Glattauers E-Mail-Romanen. In: Österreichische Gegenwartsliteratur. Hrsg v. Hermann Korte, München: text + kritik, 2015, 153.

[31] Gellai (2015), 156.

[32] GN, 10. «Es ist so, dass sich meine beiden Mittelfingerkuppen auf der Tastatur bekriegen. Die linke will immer schneller als die rechte sein». GN, 8.

[33] Beatrice Wilke: Computervermittelte Kommunikationsformen in literarischen Texten. In: Testi e linguaggi, 1.2007, 161-162.

[34] GN, 30. Unerklärlicherweise wurden diese Stilformen in der italienischen Übersetzung nicht beibehalten S. Giulia Messeri: Daniel Glattauers E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind in italienischer Übersetzung. Magisterarbeit, Graz, 2012, 80-84.

[35] Sie betont: «Alles ist erlaubt, alles außer schweigen». GN, 191.

[36] GN, 30, 160, 176, 186.

[37] GN, 31.

[38] Schneider-Özbek (2011), 353.

[39] GN, 55.

[40] Die Einladung zum “blind date” wird drei Mal ausgedrückt (GN, 92-93; 178; 215). Einer der drei Belege: «Sie kommen herein. Sie treten vom Vorraum in das erste Zimmer links. Es ist verdunkelt. – Ich umarme Sie, ohne Sie zu sehen». GN, 215.

[41] GN, 99.

[42] GN, 19.

[43] «Allerdings fühle ich mich jetzt ein bisschen wie eine Testperson». GN, 9. «leo, studieren sie mich nur? testen sie mich als transporterin von emotionen? bin ich für sie nichts als der inhalt einer kalten doktorarbeit oder sonst einer grausamen sprachstudie». GN, 97.

[44] Mattitiyahu Zimbler, Robert Feldman: Liar, Liar, Hard Drive on Fire: How Media Context Affects Lying Behavior. In: Journal of Applied Social Psychology, 41.2011, 2492-2507.

[45] Trotz mehrerer Annäherungsversuche gelingt ihr Rendezvous nicht: Sie treffen sich in einem überfüllten Café, ohne sich zu erkennen (GN, 44), hinterlassen sich gegenseitig eine Nachricht auf ihren Anrufbeantwortern (GN, 170-173) und planen sich in einem verdunkelten Zimmer zu treffen (GN, 88).

[46] GN, 178.

[47] Dupont (2014), 196.

[48] Denis de Rougemont: L’amore e l’occidente. Milano: Rizzoli, 1977.

[49] Ebda, 103ff.

[50] Ebda, 225-299.

[51] Ebda, 193ff.

[52] Ebda, 97.

[53] GN, 194.

[54] De Rougemont zählt zu dieser Tradition die Werke von Dante und Petrarca bis Stendhal und Wagner. Ebda, 225-299.

[55] GN, 183.

[56] Adam Gazzaley, Larry D. Rosen: The distracted mind: Ancient brains in a high-tech world. Cambridge, MA: MIT Press, 2016.

[57] GN, 183.

[58] Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus: Adorno-Vorlesungen 2004, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2013 (e-book).

[59] Ebda.

[60] Ebda. Das Internet beruhe, «wo die traditionelle romantische Liebe – im Normalfall ausgelöst durch die Anwesenheit zweier physisch-materieller Körper – aufs engste mit sexueller Anziehung verbunden war, auf einer entkörperlichten textuellen Interaktion».

[61] «Die Idee der romantischen Liebe war häufig von der Vorstellung der Einzigartigkeit der geliebten Person begleitet. Exklusivität ist wesentlich für die Ökonomie der Knappheit, die für die romantische Leidenschaft maßgeblich war. Wenn das Internet andererseits einen Geist hat, dann den der Fülle und Auswechselbarkeit. Der Grund liegt darin, daß die Partnersuche im Internet den Bereich romantischer Begegnungen mit den auf einer Ökonomie der Fülle, der endlosen Wahlfreiheit, der Effizienz, der Rationalisierung, der selektiven Auswahl und der Standardisierung basierenden Prinzipien des Massenkonsums vertraut gemacht hat». Ebda.

[62] Diese Uniformierung wird von Illouz folgendermaßen erklärt: «“Ich bin eine attraktive, extrem aufgeschlossene neununddreißigjährige Frau, die sich um die kümmert, die sie liebt”, oder “Oh je, was soll ich sagen – humorvoll, unbekümmert, hoffnungslos romantisch”. Ich denke, was hier passiert, ist nicht sehr mysteriös. Der Prozeß der Selbstbeschreibung bedient sich kultureller Skripte der wünschenswerten Persönlichkeit. Wenn sie sich in einer entkörperlichten Form anderen präsentieren, benutzen die Menschen etablierte Konventionen der wünschenswerten Person und applizieren sie auf ihr Selbst. Mit anderen Worten, die Verwendung der geschriebenen Sprache für die Präsentation des Selbst schafft, ironischerweise, Uniformität, Standardisierung und Verdinglichung». Ebda.

[63] Ebda.

[64] «Die traditionelle romantische Vorstellungskraft vereinheitlicht Erfahrung, da sie ihr Zentrum im Körper hat; sie vermischt und kombiniert das gegenwärtige Objekt mit Bildern und Erfahrungen aus der Vergangenheit und konzentriert sich auf einige wenige «verräterische» Details am anderen. Darüber hinaus gilt für das dem Internet vorausgehende Subjekt, daß die Liebe die Vorstellungskraft durch Prozesse der Idealisierung anstachelt. Zu lieben heißt, überzubewerten, das heißt, einen (realen) anderen mit zusätzlichen Werten auszustatten. Es ist der Akt der Idealisierung, der die andere Person einzigartig macht». Ebda.

[65] Ebda. Aus einer psychologischen Perspektive werden die gleichen Phänomene untersucht in: Patricia Wallace: The psychology of the internet. Cambridge: Cambridge University Press, 2016, 124-158.

[66] GN, 183.

[67] GN, 146. Zu Humor in GN s. Messeri (2012), 89-95 und Wilke (2007), 163.

[68] Emma schlägt ein «gehobenes» Kommunikationsniveau vor, wenn sie Leo auffordert: «Ich will nämlich nicht, dass die Art unseres Gesprächs hier auf das Niveau eines Kontaktanzeigen- und Chatroom-Geplänkels absinkt». GN, 17.

[69] Nur eines wird im ganzen Roman verwendet. Was für einen Email-Roman recht sonderbar ist. GN, 12.

[70] GN, 94.

[71] GN, 7.

[72] GN, 35. Zur Angst vor Frustration s. auch GN, 20, 37, 58, 95, 160, 161, 212.

[73] GN, 161.

[74] Emmi schreibt: «Sie haben immer von Ihrer “Fantasie-Emmi” geschrieben. Ich bin vielleicht weniger bereit, mich mit einem “Fantasie-Leo” zufrieden zu geben, mir jemanden, den ich so gern mag, auf Dauer nur einzubilden. Der muss schon aus Fleisch, Blut und Ähnlichem sein. Und er muss einer Begegnung mit mir standhalten können». GN, 99.

[75] GN, 175.

[76] GN, 43.

[77] GN, 161.

[78] Der Schriftkörper scheint dem biologischen Körper überlegen zu sein, wenn die folgende Maxime gilt: «Emmi, genau so einen Mann hätte ich gerne, einen, der lieber eine E-Mail von mir haben will als Sex. Sex wollen alle Männer. Klasse hat einer, der nicht das eine, sondern das andere von mir will: Post!». GN, 111.

[79] GN, 43.

[80] GN, 88.

[81] GN, 47.

[82] GN, 107.

[83] «Mein Fall wären Sie dann offen gesagt eher nicht so ganz». GN, 48.

[84] GN, 144.

[85] GN, 122, 161.

[86] Emmi schreibt: «Ja das ist total wichtig […] Ich mag 1.) Gefallen finden. Und ich mag 2.) gefallen». GN, 36.

[87] GN, 181.

[88] Hayer (2015), 126.

[89] GN, 19.

[90] GN, 213.

[91] GN, 126.

[92] GN, 89.

[93] Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 4. überarb. u. aktual. Aufl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2002, 38.

[94] Kusche (2012), 147.

[95] Davide Giuriato, Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.): «System ohne General». Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München: Wilhelm Fink, 2006 (= Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 3).

[96] Ebda, 10.

[97] Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing: Managing Language in the Digital Age. NY: Columbia University Press, 2011, 15.

[98] Contemporary writing requires the expertise of a secretary crossed with the attitude of a pirate: replicating, organizing, mirroring, archiving, and reprinting, along with a more clandestine proclivity for bootlegging, plundering, hoarding and file sharing […] The traditional writer’s solitary lair is transformed into a socially networked alchemical laboratory, dedicated to the brute physicality of textual transference. […] Data mining. Sucking on words. […] Our task is simply mind [sic] the machines. Ebda, 220-221.

[99] Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Berlin: Ullstein, 2010.

[100] Eckart Löhr: Der Autor und sein Werk. Hamsun Céline, Benn und andere Beispiele. In: «literaturkritik.de», 3.03.2010.

[101] Thomas Anz: Playgiarism. Hegemann, die postmoderne Literaturtheorie und die Rückkehr des Autors in der Literaturwissenschaft. In: «literaturkritik.de», 3.03.2010. Auch andere Publikationen scheinen die «Rückkehr des Autors» zu belegen, etwa: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martìnez, Simone Winko (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer, 1999; Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft: Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2002.

[102] Durs Grünbein: Plagiat: Eine Wortmeldung von Durs Grünbein. In: «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 23.02.2010, n. 45, 33.

[103] Gottfried Benn: Plagiat. In Ders., Gesammelte Werke in acht Bänden, hrsg. v. Dieter Wellers­hoff, Wiesbaden, Limes, 1968, Bd. VII, 1646-1649.

[104] GN, 95.

[105] GN, 110.

[106] Zum Phänomen der instapoets gibt es fast noch keine Sekundärliteratur, obwohl ihre Vertreter, wie etwa Rupi Kaur, inzwischen weltberühmt geworden sind und ihre auf Instagram erschienenen Werke in Buchform veröffentlicht haben. S. Kathi Inman Berens:  «E-Lit’s #1 Hit: Is Instagram Poetry E-literature?». In: Electronic Book Review, 7.4.2019, LINK; Marylyn Tan, Samuel Caleb Wee: Leav Rupi alone. – eXXXtreme #instapoetry. LINK.

[107] Szilvia Gellai: Netzwerkpoetiken in der Gegenwartsliteratur. Stuttgart: Metzler, 2018.

[108] GN, 37.

[109] «Ich freue mich sehr, dass Sie immer wieder aus alten E-Mails von mir zitieren». GN, 35. S. auch GN, 110.

[110] Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek: Rowohlt, 1969.

[111] Ebda, CLXXV.

[112] Ebda, CLXXVI.

[113] Ein empirischer und «textualisierter» Beleg dieses Erfolgs: «Porn» und «sex» sind nach den weltweit bekannten brands die am meisten gegoogelten Begriffe. LINK.