Raphael Engert

(Berlin)

Einschneidende Figurationen
Zur Dingfigur des Augsburger Messers der Philippine Welser
in Thomas Bernhards «Amras»

[Incisive Figurations
On the Augsburg Knife of Philippine Welser in Thomas Bernhard’s «Amras»
]

abstract. Focusing on the example of the so-called “Augsburger Messer” in Thomas Bernhards Amras, the paper explores the possibility of overcoming the barriers to a hermeneutical reading of Bernhards texts through the exploitation of literary things. By comprising both its material and its symbolic dimension the micro analysis of the “Augsburger Messer” suggests coupling the eclectic potential of things in literary texts with Bernhards additive and associative style. Eventually, this approach not only opens up a new perspective on Amras as one of Bernhard’s most remarkable texts, but also presents his writing as one that is deeply permeated with the traumatic structures of violence and (Austrian) history.

«Jede Erklärung führe zu einem vollkommen falschen Ergebnis, daran kranke alles, daß alles erklärt werde und in jedem Fall immer falsch erklärt werde und die Ergebnisse aller Erklärungen immer verkehrte Ergebnisse seien»[1].

Die Skepsis, zur Welt einen verstehenden Zugang finden zu können, die hier in Das Kalkwerk beispielhaft formuliert wird, ist in Thomas Bernhards Prosatexten nicht nur ein wiederkehrendes Figurencharakteristikum, sondern eines der Kompositionsprinzipien, aus denen sich seine Texte entwickeln: Die Szenerien und Handlungskonstellationen, die Bernhard entwirft, erscheinen oftmals nur willkürlich miteinander verbunden, unterlaufen logische Erzählabfolgen und verweigern sich jeder inhaltlichen Geschlossenheit. Statt kohärenten Handlungssträngen, einheitlichen Erzählverfahren und thematischer Homogenität bestimmen in der Regel Fragmentarität, thematische und motivische Heterogenität sowie eine formale Offenheit die Bernhardschen Texte. Versatzstücke disparater Wissensordnungen, Anleihen und Zitate aus verschiedensten Quellen, episodenhafte Geschehnisse werden dabei oftmals unverbunden aneinandergereiht. Diese additive Überfrachtung bei gleichzeitigem Verzicht auf ordnende Instanzen resultiert in hermetischen Textgebilden, die sich vereinheitlichenden Sinngebungsversuchen konsequent entziehen[2] und die Produktivität hermeneutischer Lektüren immer wieder sabotieren. Diese Überforderung, ohne die eine Lektüre der Werke Bernhards nicht zu haben ist, hat seit jeher zu einer ausgeprägten Polarisierung ihrer Leserschaft geführt[3]. Dem eingedenk sollte eine Annäherung an die Texte Bernhards es sich zum Ziel setzen, Verbindungslinien und Potentialitäten aufzuzeigen, anstatt sie dem Primat eines kohärenten Sinnzusammenhangs zu unterstellen und Widersprüche und Ambiguitäten starkzumachen, anstatt sie vereindeutigen zu wollen. Offenen Texten lässt sich wohl am besten mit offenen Lektüren begegnen[4].

Ein solch offenes Lektüreverfahren soll im Folgenden erprobt werden. Im Fokus wird dabei das “Augsburger Messer der Philippine Welser” in Thomas Bernhards früher Erzählung Amras von 1964 stehen. Denn der für Thomas Bernhard typische Schreibstil der intertextuellen Verdichtung und einer hypertrophen Additivität lässt sich beispielhaft an ebenjenem Augsburger Messer beobachten. In Bezug auf Bernhards Schreibverfahren ist Amras dabei auch werkbiographisch von besonderem Interesse, da die Erzählung die erste Veröffentlichung nach Bernhards literarischem Durchbruch mit dem Roman Frost im Jahr 1963 darstellt. Amras kann somit als erster literarischer Text Bernhards gelten, bei dessen Publikation sich Bernhard einer breiten öffentlichen Wahrnehmung als Schriftsteller bewusst sein konnte. Durch diese Konstellation wird somit auch aus werkpolitischer Sicht die Frage fokussiert, mit welchem literarischen Schreiben und mit welchem Verständnis von Literatur Bernhard als Autor öffentlich in Verbindung steht und stehen wollte.

1. Dinge in literarischen Texten

Wo immer Dinge in literarischen Texten auftauchen, eröffnen sie potenziell einen polysemischen Raum: «Das Objekt ist polysemisch, das heißt, es ist mehreren Sinnlektüren zugänglich: vor einem Objekt sind fast immer mehrere Lektüren möglich, und zwar nicht nur von einem Leser zum anderen, sondern manchmal auch im Inneren ein und desselben Lesers»[5]. Worauf Roland Barthes bereits Mitte der 60er Jahre aufmerksam gemacht hat, hat sich spätestens mit dem “material turn” der letzten Jahrzehnte als common sense in den Kultur- und Geisteswissenschaften etabliert. Dingen in literarischen Texten ist seitdem verstärkte Aufmerksamkeit zugekommen und ihr produktives Lektürepotential hervorgehoben worden. So besitzen Dingfiguren die Eigenschaft, zwischen Materialität und Idealität zu changieren, sind in der Lage, verschiedenste Diskurse und Wissenssysteme aufzurufen und wirken als Objekte mitunter konstitutiv auf die Textsubjekte zurück[6]. Im Gegensatz zu Figuren, Erzählinstanzen oder Schriftstücken sei außerdem ein weiterer nicht zu unterschätzender Punkt genannt: Dinge sprechen nicht. Sie bewahren sich deshalb stets ein Irreduzibles an Opazität und Bedeutungsresistenz[7]. Dies macht sie für offene Lektüren ungemein attraktiv, imprägniert es sie doch nachhaltig gegen letzte Bedeutungszuweisungen und Vereindeutigung[8].

Bereits anhand dieser wenigen Punkte wird ersichtlich, warum Dinge insbesondere in Texten Thomas Bernhards als Ansatzpunkte für eine Analyse prädestiniert sind[9]. Ihr liminaler Status zwischen symbolischer und materiell-funktionaler Sphäre fügt sich nahtlos in Bernhards Vorliebe für Grenzkonstellationen ein[10], ihr Widerstand gegen letzte Ausdeutungen koinzidiert mit dem der Bernhardschen Texte. Außerdem eröffnen Dinge die Möglichkeit, disparate Diskurse einem Text zu implementieren und diese additiv übereinanderzulegen, ohne sie einzeln einführen zu müssen. Dieses interdiskursive Potential lässt sich nicht zuletzt auch am entschieden interdisziplinären Charakter der Materialitätsforschung ablesen, die vorführt, wie zahlreich und vielseitig die Zugänge und Wissenssysteme sind, für die Dinge produktiv gemacht werden können[11].

Vor diesem methodischen Hintergrund soll im Folgenden auch das Augsburger Messer der Philippine Welser in Thomas Bernhards früher Erzählung Amras als polysemische Dingfigur betrachtet werden, über die verschiedene Diskurse aufgespannt werden und die auf unterschiedlichen Ebenen auf das Textgefüge Einfluss nimmt. Es soll dadurch exemplarisch beobachtbar werden, wie eine ding- und materialitätssensible Lektüre mit den Widerständen von Texten umgehen kann, die sich einer vereinheitlichenden Deutung verweigern und ihrerseits selbst auf nicht aufzulösende “textliche Polysemie” hin angelegt sind. Im Zuge dessen wird zunächst kurz angesprochen, welche Position die Messer-Episode in der rudimentären narrativen Struktur von Amras einnimmt und inwiefern das Objekt strukturierend auf Figuren- und Raumkonstellation einwirkt. Daraufhin wird das Messer als polysemische Dingfigur betrachtet, wobei insbesondere seine symbolischen, motivischen und intertextuellen Potentiale im Mittelpunkt stehen. All dies steht unter dem methodologischen Vorbehalt eines offenen Lektüreverfahrens, das es sich ausdrücklich nicht zum Ziel setzt, Gesichertes auszuerklären, sondern Potentialitäten zu eröffnen.

2. “Das Augsburger Messer oder das Messer der Philippine Welser”

«Amras ist die Geschichte einer fehlgeschlagenen Initiation […]»[12]. So hat Juliane Vogel versucht, die sonderbare Handlungskonstellation von Amras zu fassen. Die Schwierigkeit, das Geschehen in Amras bündig zu skizzieren, zeigt bereits an, dass sich Handlungsstruktur und -abfolge der Erzählung narrativen Konventionen nahezu vollständig entziehen. Dies beginnt schon mit dem Einsatz der Erzählung, der – ein Familiensuizid – eher ein Ende als einen Anfang zu markieren versucht, was jedoch nur bedingt gelingt: Während die beiden Eltern des Bruderpaars nicht überleben, entgehen Karl und Walter dem Tod und werden daraufhin von ihrem Onkel in einen Turm nahe des Ortes Amras gebracht, um einer Einweisung in die Psychiatrie zu entgehen[13]. Physisch wie sozial an den Rand der Gesellschaft verfrachtet, gehen im Laufe der Erzählung daraufhin sämtliche Versuche der beiden Brüder, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, fehl. Der Text schreibt sich so von einem Ende her zu einem Anfang hin, der nie gefunden wird. Der medial enorm heterogene Text – neben Erzählpassagen aus der Sicht Karls reihen sich Briefe, Notizen und Tagebuchaufzeichnungen – lässt sich grob in zwei Teile untergliedern: Während im ausführlicheren ersten Teil der Aufenthalt der beiden Brüder im Turm bei Amras und ihre gelegentlichen Kontaktaufnahmen mit der Gesellschaft geschildert werden, steht im zweiten Teil Karl alleine im Mittelpunkt, der nach dem Selbstmord Walters von seinem Onkel nach Aldrans gebracht wird[14].

Das Augsburger Messer[15], das zur Ausstattung des von Karl und Walter bewohnten Turms zählt, wird bereits dadurch prominent in Amras eingeführt, dass der Abschnitt, in dem das Messer erstmals auftaucht und thematisiert wird[16], eigens die Überschrift «DAS AUGSBURGER MESSER ODER DAS MESSER DER PHILIPPINE WELSER»[17] trägt. Der Doppeltitel deutet hier bereits das polysemische Potential des Gegenstands an und markiert durch das «ODER» gleichzeitig die Absage an eine singuläre alleingültige Charakterisierung des Objekts[18].

Die etwa vierseitige Passage befindet sich in der Mitte des ersten Teils, den die beiden Brüder im Turm bei Amras verbringen. Auf diesen Seiten finden sich die Fixpunkte, um die insbesondere der erste Teil der Erzählung kreist, verdichtet dargestellt: So bettet das Messer die beiden Brüder nachdrücklich in eine familiäre Struktur ein, indem es einerseits als langjähriger Besitz des Onkels ausgewiesen wird, andererseits Kindheitsszenen evoziert[19]. Außerdem erfolgt in seinem Zusammenhang die erste explizite Vorausdeutung auf den späteren Tod Walters[20]. Die Messer-Episode fungiert strukturell somit als eine Art Spiegelachse des ersten Teils: In dessen Mitte platziert bindet sie die Situation der beiden Brüder an die familiäre Tragödie des elterlichen Suizids zurück, mit der die Erzählung beginnt, und eröffnet eine Verbindungslinie von dort zum bevorstehenden Suizid Walters, welcher das Ende des ersten Teils markiert.

Neben dieser strukturierenden Achsenfunktion deutet sich in der Einbindung der beiden Brüder in einen familiär-generationellen Zusammenhang durch das Messer außerdem bereits an, dass diesem auch in Bezug auf die Figurenkonstellation eine eigene “agency” zugeschrieben werden muss. Dies zeigt sich insbesondere im Verhältnis der beiden Brüder, einer der wenigen Gravitationspunkte, um die herum die lose verbunden Textbausteine zusammengehalten werden. Dem Messer ist als mögliche Waffe stets ein latentes Gewaltpotential inhärent, das auf Nähe- und Machtverhältnisse zwischen Karl und Walter einwirkt. So scheint die beinahe symbiotische Verbindung der beiden miteinander durch das Messer akut bedroht und eine Trennung, ein Abschneiden voneinander antizipiert zu werden[21]. Durch Walters panische Angst vor jeder Berührung mit dem Messer kommt Karl außerdem die aktive Rolle des Messerverwenders zu. Dadurch wird er nicht nur mit der gewalttätigen Potenz des Artefakts ausgestattet, er nimmt zusätzlich die männlich codierte Rolle des Versorgers ein, da das Messer im Turm als Werkzeug fungiert, um Brot und Fleisch zu schneiden. Während das Messer also durch die Zuweisung dieser Versorgerrolle und seine gewalttätige Potenz in doppelter Hinsicht ein Machtgefälle zugunsten der Figur Karls installiert, lässt es Walter dagegen in kindliche Schemata zurückfallen. Nicht nur wird erwähnt, dass das Messer bei Walter schon als Kind große Angst ausgelöst habe, es wird außerdem eine Anekdote eingeschoben, in der der Onkel der beiden Brüder aus Unverständnis über Walters Angst, «es [das Messer, Anm. d. Verf.] ihm einmal aufzwingen, es ihm mit Erwachsenenschnelle in die Hand pressen [wollte], doch war mein Walter davor zurückgesprungen» (132). Das kindliche Verhalten Walters wird hier noch zusätzlich durch die Kontrastierung mit der «Erwachsenenschnelle» des Onkels verstärkt und seine Angst in ein fast schon pathologisches Extremum getrieben. Bemerkenswert ist außerdem die Hierarchisierung, die Karl als Erzähler der Anekdote selbst vornimmt, wenn er von «mein Walter» spricht. Durch diese Possessivierung trägt Karl in seinem Erzählen zur Zementierung der asymmetrischen Machtverteilung zwischen den beiden Brüdern bei, wobei die Führungsrolle Karls in dem «mein» geradezu herrische Züge annimmt. Dieses herrische Moment ließe sich durchaus auch in einem wörtlichen, geschlechtlich codierten Sinne betonen und das Messer mithin als “gendered object” kennzeichnen[22]: Während im Verhältnis der beiden Brüder in der gesamten Erzählung immer wieder homoerotisch-inzestuöse Andeutungen und Spannungen mitschwingen[23], nimmt Karl in der Messerepisode die männlich codierten Rollen des Versorgers, Gewalttäters und Besitzers ein, die einer Charakterisierung Walters gegenüberstehen, die immer wieder ins Feminine zu tendieren scheint, wenn es etwa heißt: «Auf mich erschreckende Weise beobachtete ich, wie er, Walter, von Tag zu Tag auch physiognomisch, in seiner Schweigsamkeit, Hautfarbe, Stimmgebung, seelische Reaktionen, Körperfunktionen betreffend, unserer Mutter immer noch ähnlicher wurde» (116). Die gewalttätige Potenz, die Karl durch das Messer verliehen wird, lässt sich somit nicht zuletzt auch als sexuell dimensioniert und das Messer gleichsam als Phallussymbol auffassen – eine symbolische Aufladung, die mit dem Bild des Turms korrespondiert und das Messer somit als ein maßgebliches Element für das gesamte Settings hervortreten lässt. Dass Messer und Turm eng miteinander verknüpft sind, wird außerdem durch ein weiteres Detail indiziert: Auf beiden Seiten der Messerklinge finden sich «die Türme der Lechstadt Augsburg» (131) einziseliert. Diese «“philosophische Ziselierung”» (131) generiert eine “mise-en-abyme”-Konstellation, in der auf der materiellen Oberfläche des sich im Turm befindlichen Messers die Lebenssituation der beiden Brüder im Turm visualisiert wird. Die klaustrophobische Enge im Turm, die die Unmöglichkeit eines Fortkommens in Amras verräumlicht, ist durch diese “Spiegel-im-Spiegel”-Konstellation des “mise-en-abyme” dem Messer eingekerbt.

Zusätzlich zu dem Einfluss, den es auf das Verhältnis der beiden Brüder ausübt, greift das Messer als Artefakt also auch in die symbolische Codierung seiner direkten Umgebung als Ort nachhaltig ein. Abgesehen von der nicht weiter beschriebenen «Schwarzen Küche» (122) und den beiden Strohsäcken, auf denen die Brüder schlafen, ist das Messer der einzige Einrichtungsgegenstand des Turms, der in Amras erwähnt wird. Die unheimliche, latent gewalttätige Ausstrahlung des Messers sowie das Changieren zwischen panischer Angst und Faszination, mit dem die beiden Brüder auf es reagieren, machen den Turm zu einem Ort des “suspense”. Der Turm wird so zu einem gänzlich unwirtlichen Lebensraum, der die Atmosphäre in Amras maßgeblich bestimmt. Die Erzählung inszeniert das Augsburger Messer somit nachdrücklich – in Hinblick auf Handlungsstruktur, Machtverhältnisse und Raum – als symbolischen Mittelpunkt von Amras, in dem sich immer wieder die Linien der Erzählung kreuzen. Dies ist umso bemerkenswerter als das Messer lediglich in einer Szene explizit vorkommt. Das Messer im Turm ließe sich somit als figurativer Nukleus der Erzählung beschreiben, in dem die beherrschenden Motive und Konstellationen von Amras bereits angelegt sind und sich davon ausgehend in ihrer fatalen Dynamik aus dem Messer, aus dem Turm heraus nach außen hin entwickeln oder eben gerade nicht entwickeln – ganz in der Logik des “mise-en-abyme”, die jede Entwicklung lediglich als weitere Selbstbespiegelung prozediert und ein Fortkommen aus dem Nukleus verunmöglicht.

3. Das Augsburger Messer als polysemische Dingfigur

Vor dem Hintergrund dieser strukturellen und symbolischen Relevanz soll sich im Folgenden den Assoziationsräumen und intertextuellen Dimensionen angenähert werden, die das Augsburger Messer in Amras eröffnet.

3.1. Ding der Gewalt

Das Augsburger Messer lässt sich als Dingfigur nicht auf eine singuläre Bedeutung oder Symbolfunktion reduzieren. Wie bereits gesehen, stellt es vielmehr ein multicodiertes Objekt dar, das Erbstück, Waffe, Werkzeug, Kunstwerk und Dingsymbol zugleich ist[24]. Seinen Einfluss auf die Figuren der Erzählung übt das Messer nicht zuletzt durch sein latentes trennendes Gewaltpotential aus, welches textlich schon dadurch generiert wird, dass immer wieder auf seine «ungewöhnliche[ ] Schärfe» (133) verwiesen wird. Diese potenzielle Gewalttätigkeit wirkt jedoch nicht nur in die Handlungskonstellation von Amras hinein, sondern spannt ein intertextuelles Verweisgeflecht über dem Artefakt auf.

Das Bild einer an der Wand hängenden Waffe, die durch ihre Präsenz permanent auf eine potenzielle Eskalation der Gewalt vorausdeutet, ist literarisch als “fatales Requisit” hochgradig vorgeprägt[25]. Indem das Messer in Amras – etwa durch die von ihm hervorgerufenen Reaktionen der beiden Brüder – überproportional stark Aufmerksamkeit auf sich zieht, stellt es sich in diese dramatische Tradition. Es erzeugt dabei nicht nur eine Vorahnung von Gewalt, sondern versieht diese außerdem mit dem Vorzeichen einer scheinbaren Unausweichlichkeit. Analog etwa zu Schicksalstragödien des 19. Jahrhunderts, in denen mitunter ganze Wagenladungen an entsprechenden Signalrequisiten auf der Szene platziert sind und der fatale Ausgang durch Genrekonventionen determiniert ist, wird auch in Amras die Katastrophe eines Selbst- oder Brudermords durch das Augsburger Messer scheinbar antizipiert. Die Atmosphäre von latenter Gewalt, die vom Messer in Amras ausgeht und die den Turm immer wieder zu einem “locus horribilis” werden lässt, lässt sich auch auf diese signalhafte Intertextualität zurückführen[26].

Die intertextuell aufscheinende Möglichkeit eines Selbst- oder Brudermords stellt allerdings nicht die einzige Ebene dar, auf der das Messer einen Assoziationsraum der Gewalt und des Todes eröffnet. Denn das Augsburger Messer fungiert für die beiden Waisen im Turm nicht zuletzt als Küchenwerkzeug, um das von der Decke herabhängende Rauchfleisch in dünne Scheiben zu portionieren. Ebenjenes Schneiden des Rauchfleisches überblendet Bernhard mit einer alptraumhaften, brutalen Phantasie:

[D]as von der Decke der Schwarzen Küche herunterhängende Rauchfleisch war uns, die wir augenblicklich immer in tödlicher Angst lebten, […] ein phantastisches Bild von getöteten Militärischen, von aus dem Dunkel der Küchendecke herunterhängenden toten Ärschen und Fersen und Köpfen und Armen und Beinen … eine von unseren Grauenverstärkungsanlagen hervorgerufene Fiktion von Leichen, sich immer rhythmisch zufallenden Männerleichen … Unser Onkel hatte uns erlaubt, von dem Rauchfleisch zu essen, uns schon am ersten Tag, an welchem wir beide darüber erschrocken waren, dazu ermuntert … ich schnitt es uns jeden Abend so kunstvoll als möglich in hauchdünne Blätter und tunkte es uns in den Wein… (130f.)

Das Rauchfleisch löst bei den beiden Brüdern die Assoziation von Soldatenleichen aus. Nichtsdestotrotz essen sie jeden Abend davon, wobei sie es zuvor in Wein tauchen. Diese Szene lässt nicht nur das für Bernhards Texte typische Bild einer schuldigen und vom Weltkrieg traumatisierten Gesellschaft aufschimmern, es verschränkt die Topoi von Tod und Gewalt – repräsentiert durch tote Soldatenkörper – mit einer religiös-rituellen Symbolik. Die Handlungen des Schneidens und in Wein Tunkens, die Karl routinemäßig jeden Abend mit dem Fleisch vollzieht, stellen unverkennbar die Verrichtungen des christlichen Abendmahls dar[27]. Statt mit dem Leib Christi findet die Transsubstantiation hier allerdings mit Soldatenleichen statt. Die Eucharistie, die darüber hinaus in einer «Schwarzen Küche» (130) stattfindet, wird somit zu einer maximal entstellten und der Ritus, den die beiden Brüder allabendlich aufführen, zur «Schwarze[n] Messe»[28]. Dem Messer kommt in dieser Pervertierung der zentralen christlichen Opfersymbolik eine entscheidende Rolle zu. Nicht nur werden die Soldatenleichen von Vornherein als gewaltsam zerstückelte evoziert, wenn von «aus dem Dunkel der Küchendecke herunterhängenden toten Ärschen und Fersen und Köpfen und Armen und Beinen» (130f.) die Rede ist, die rituelle Handlung selbst, die durch das Messer vollzogen wird, erweist sich als zutiefst defekt. Denn anstatt das Brot als symbolische Opfergabe zu brechen bzw. zu schneiden und zusammen mit dem Wein zu konsekrieren, wird das Fleisch selbst gleich mitgeschnitten: «Ich schnitt das Rauchfleisch wie auch das Brot mit dem Messer, […] das in der Schwarzen Küche, zwei Meter von unseren Strohsäcken weg, an der Wand hing» (131). Es ist somit insbesondere der Schnitt mit dem Messer ins Fleisch, der die christliche Eucharistie hier auf drastische Weise entstellt, in kannibalistische Assoziationen abdriften lässt und eine symbolische Handlung zu einer gewalttätigen macht. Auf dieser Folie der Gewalt, die – wie es in vielen von Bernhards Texten geschieht – durch das evozierte Bild der Soldatenleichen auf die Geschichte Österreichs referiert, wird außerdem noch einmal die ganze Drastik der dem Messer einziselierten “mise-en-abyme”-Logik sichtbar: Denn als “mise-en-abyme” symbolisiert das Messer in Amras auch die Unmöglichkeit, aus der Dynamik der Gewalt und der Kontamination durch Geschichte auszubrechen. Das Messer verweist somit direkt ins Zentrum des Schreibens von Thomas Bernhard, in dem österreichische Literatur grundsätzlich nur als eine von Geschichte traumatisierte denkbar ist.

Diese Aufladung des Augsburger Messers als schneidendes Artefakt, von dem Gewalt und Destruktion ausgehen, generiert nicht nur einen vielschichtigen Assoziationsraum der Gewalt. Sie lässt das Objekt darüber hinaus zu einem Symbol werden, das auf die Machart des gesamten Textes verweist. Denn zum einen wird in Amras mit dem Messer und seiner «ungewöhnlichen Schärfe» (133) allerlei geschnitten, zum anderen entspricht Amras aber auch als Text in seiner radikal fragmentarischen Form selbst einem zerschnittenen Ganzen. Nicht nur besteht die Erzählung aus einzelnen oftmals unverbundenen Episoden, auch einzelne Sätze werden immer wieder gekappt und verbleiben als kupierte Anakoluthe. In dieses Schema fragmentierenden Erzählens fügt sich auch die Messer-Episode ein. Ihre Überschrift findet sich mitten in den Fließtext gerammt, gleichsam zwei inhaltlich verknüpfte Sätze zerschneidend:

[I]ch schnitt es uns jeden Abend so kunstvoll als möglich in hauchdünne Blätter und tunkte es uns in den Wein …

DAS AUGSBURGER MESSER
ODER DAS MESSER DER PHILIPPINE WELSER

Ich schnitt das Rauchfleisch wie auch das Brot mit dem Messer, das die Philippine Welser 1557 für den Erzherzog Ferdinand aus Augsburg nach Tirol mitgebracht hatte und das in der Schwarzen Küche, zwei Meter von unseren Strohsäcken weg, an der Wand hing. (131)

Die Überschrift, die selbst aus zwei durch einen Absatz voneinander separierten Teilen besteht, trennt hier inhaltlich wie optisch zwei Sätze voneinander, die beide ihrerseits den Akt des Schneidens thematisieren und mit den Worten «Ich schnitt» beginnen. Ebenso unvermittelt, wie es einsetzt, endet das Kapitel einige Seiten später. Diese Fragmentierung des Textes und des Textbildes setzt sich in der inhaltlichen Gestaltung von Amras fort. Die beiden Brüder finden sich im Turm nahezu vollständig von der Gesellschaft abgeschnitten, ihre Familiengeschichte wird durch den gewaltsamen Bruch des elterlichen Suizids dominiert und nicht zuletzt bekennen die beiden Brüder selbst als Erzählinstanzen ihre Abneigung gegenüber Ganzheit und Kontinuität: «…wir haßten, verachteten alles Ausgesprochene, Zuendegeredete…wir waren ja, wie Sie wissen, Feinde der Prosa, uns ekelte vor der geschwätzigen Literatur, vor dem dummen Erzählerischen» (152).

Von dieser textkompositorischen Technik des Kappens und Zerschneidens, die Amras maßgeblich bestimmt, lässt sich eine direkte Rückkopplung zur gewaltsamen Potenz des Augsburger Messers schlagen. Thomas Bernhard selbst hat in einem Interview das Fragmentieren von Texten und Narrativen in Bezug auf seine Erzählweise mit einer gewaltsamen Tötung verglichen:

In meiner Arbeit, wenn sich irgendwo Anzeichen einer Geschichte bilden, oder wenn ich nur in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel die Andeutung einer Geschichte auftauchen sehe, schieße ich sie ab. Es ist auch mit den Sätzen so, ich hätte fast die Lust, ganze Sätze, die sich möglicherweise bilden könnten, schon im vorhinein abzutöten.[29]

Physische Gewalt wird hier zur Metapher, um die Absage an narrative Strukturen zu beschreiben, die den Eindruck einer erzählerischen Ganzheit erzeugen könnten, wobei die narrative Technik des fragmentierenden Erzählens in die Nähe der Kulturtechnik des Jagens gerückt wird[30]. Eine ähnlich bildhaft-poetologische Symbolfunktion wie in Drei Tage dem Abschießen von Geschichten, die hinter Prosahügeln aufzutauchen drohen, kann in Amras dem Augsburger Messer zugeschrieben werden. Denn es handelt sich bei ihm um eine Dingfigur, deren Eigenschaft, Zusammenhängendes durchtrennen zu können, immer wieder betont wird; und zwar von einem Text, der die Fragmentierung des eigenen Textmaterials selbst als eines seiner charakteristischsten kompositorischen Prinzipien aufweist. Die potenzielle, trennende Gewalttätigkeit des Messers wirkt somit nicht nur intradiegetisch in den Inhalt der Erzählung hinein, sondern verleiht dem Messer als Ding ebenso eine symbolische Ebene, auf der es als Werkzeug des Fragmentierens auf die Fragmentarität des gesamten Textes verweist. In Hinblick auf seine Aura als “Ding der Gewalt” ließe sich dem Messer also eine dingsymbolische Funktionsweise attestieren, die unmissverständlich signalisiert, dass Kontinuitäten und Kohärenzen, die in der Nähe des Prosahügels Amras auftauchen, kurz und klein geschnitten werden.

3.2. Historizität

Neben dem Aspekt der Gewalt, der in Amras auf mehreren Ebenen mit dem Augsburger Messer verbunden ist, ist es auch dessen spezifische Historizität, die das Messer maßgeblichen Einfluss auf den Text nehmen lässt. Das Augsburger Messer, das ebenso als «Messer der Philippine Welser» (132) in den Text eingeführt ist, verfügt über eine bemerkenswerte Objektbiografie, die sich sowohl aus intra- als auch extratextuellen Verbindungslinien speist. In Amras wird es als historisches Artefakt präsentiert, «das die Philippine Welser 1557 für den Erzherzog Ferdinand aus Augsburg nach Tirol mitgebracht hatte» (131). Während durch die Nennung der Jahreszahl einerseits ein expliziter realweltlicher Bezug hergestellt wird, ist das Messer anderseits jedoch auch in der fiktionalen Handlungs- und Figurenkonstellation von Amras geschichtlich verwurzelt, da es als langjähriger Besitz des Onkels ausgewiesen und somit in eine fiktionale Erbschaftskonstellation eingebettet ist.

Diese Spannung zwischen Fiktionalität und Faktualität, die somit bereits intratextuell angedeutet ist, intensiviert sich weiter, wenn man die Objektbiografie des Augsburger Messers extratextuell anreichert. Den realweltlichen Hintergrund liefert hierbei die Lebensgeschichte der historischen Philippine Welser. Stammend aus einer Augsburger Patrizierfamilie heiratete diese 1557 den Habsburger Erzherzog Ferdinand II. Hochzeit und Ehe wurden aufgrund des nicht standesgemäßen Charakters der Verbindung – weshalb Vater und Kaiser Ferdinand I. seinen Sohn auch von der Erbfolge ausschloss – jedoch lange geheim gehalten. Auch wenn 1576 Ferdinand und Philippine schließlich ihr Schweigegelübde aufgaben und ihre Ehe offiziell gemacht wurde, blieb diese Unterbrechung des dynastischen Kontinuums bis zum Schluss untrennbar mit der Verbindung der beiden verknüpft. Einige Jahre nach ihrer Hochzeit siedelte das Paar – Ferdinand II. war mittlerweile zum Landesfürsten von Tirol ernannt worden – auf das bei Amras gelegene Schloss Ambras über. Die Wahl fiel dabei insbesondere deshalb auf Ambras, da man es für geeignet hielt, großes Aufsehen zu vermeiden. Dort lebte Philippine, bis sie 1580 starb[31]. Nach ihrem Tod heiratete Ferdinand umgehend ein zweites Mal, um doch noch einen sukzessionsfähigen Nachkommen zeugen zu können, da Andreas und Karl (!), die beiden gemeinsamen Söhne Ferdinands und Philippines, offiziell als Findelkinder galten[32]. Sowohl Welser als auch ihr Mann, der eifriger Sammler von Kunst, Schmiedearbeiten, Münzen und anderen Raritäten war und diese in einer Wunderkammer zusammenstellte und präsentierte, hinterließen nach ihrem Tod einen beträchtlichen Besitz, der in Teilen bis heute auf Schloss Ambras in der dortigen “Kunst- und Wunderkammer” besichtigt werden kann. Auch wenn sich unter den privaten Gegenständen Philippines tatsächlich auch reich verziertes Besteck befindet – unter anderem ein Löffel, der als «Löffel der Philippine Welser» im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum aufbewahrt wird[33] – und Philippine Zeit ihres Lebens ein Kochbuch verfasste[34], ist das Augsburger Messer wohl als Erfindung Bernhards anzusehen.

Zwischen Bernhards Amras und dieser historischen Konstellation verlaufen offensichtlich relevante Verbindungslinien. So fokussiert die Lebensgeschichte der historischen Philippine Welser unverkennbar defekte Erbschaftskonstellationen. Durch die nicht standesgemäße Ehe zwischen ihr und Ferdinand II. wird das dynastische Kontinuum der Habsburger gekappt und die zwei Söhne der beiden müssen als Findlinge getarnt werden. Eine solch defekte Generationenfolge findet sich auch in Amras wieder. Die Erzählung beginnt mit dem Suizid der Eltern Karls und Walters, die daraufhin allein zurückbleiben und bei dem Versuch scheitern, selbst einen neuen Anfang zu setzen. Auch sie repräsentieren somit das tote Ende einer Generationenfolge. Hierbei erinnert der Turm in seiner Funktion als Aufenthaltsort der beiden außerdem an Schloss Ambras, da auch Karl und Walter in den Turm verbracht werden, um einer drohenden Entdeckung zu entgehen.

Durch die Objektbiografie des Augsburger Messers wird somit die fiktionale Handlungskonstellation in Amras mit einer historischen enggeführt. Das Messer selbst gliedert sich dabei als Gegenstand, der zwar als fiktiv gelten kann, gleichzeitig jedoch große Ähnlichkeiten zu realen Artefakten aufweist, in die Verflechtung von Fiktionalität und Faktualität ein. Zusätzliche Betonung erhält diese Verflechtung außerdem noch in anderer Hinsicht: Die historische Figur Philippine Welsers avancierte nach ihrem Tod selbst ebenfalls zu einem Symbol der Diffusion von Fiktion und Realität. Tatsächlich entsponnen sich nach ihrem Tod zahlreiche Mythen um ihre vermeintliche Ermordung und Auferstehung[35], die insbesondere im frühen 19. Jahrhundert gar zur Vorlage von Dramen, Romanen und einer Oper wurden[36]. Diese doppelte Existenz als sowohl historische wie auch mythisch-fiktive Figur vor Augen stellt ein Biograph Welsers nicht ohne Pathos fest:

Keinesfalls sollten wir dies [die Mythen um Philippine Welser, Anm. d. Verf.] verdrängen und uns mit knochentrockenen Fakten begnügen. In dem Namen Philippine Welser wird Realität und Fiktion, gelebtes Leben und lustvolles Erzählen zu einem einzigen funkelnden Ganzen verschmolzen.[37]

Die Dingfigur des Augsburger Messers kann vor diesem Hintergrund also in mehrfacher Hinsicht als Interferenzpunkt angesehen werden, in dessen Historizität fiktionale und faktuale Linien zusammenlaufen und der selbst zwischen Fiktion und Realität changiert[38].

Dieser komplexe Assoziationsraum ist jedoch nicht die einzige Perspektive, die durch die Historizität des Augsburger Messers in Amras eröffnet wird: Durch die historische Verortung und Aufladung des Objekts als ein Gegenstand, der untrennbar mit der Figur Philippine Welsers und Schloss Ambras verbunden ist, wird die Aufmerksamkeit auf die historische Institution der Wunderkammer gelenkt. Denn die «Kunst- und Wunderkammer» auf Schloss Ambras gilt bis heute als Musterbeispiel für einen derartigen Sammlungsort[39]. Damit wird das Messer – als Ding, das sich auf der Basis seiner Beschreibung nahtlos in die reale Sammlung der Ambraser Wunderkammer einfügen würde, wobei noch einmal an den «Löffel der Philippine Welser» erinnert sei – nicht nur in seiner potenziellen Funktion als Sammlungsgegenstand als kulturelles Erbe[40] markiert, sondern es wird auch das Kompositionsprinzip des Additiv-Assoziativen aufgerufen. Denn die Institution der Wunderkammer, die sich in der Frühen Neuzeit ausbildete, konstituiert sich gerade aus der scheinbar wahllosen räumlichen Zusammenstellung disparater Gegenstände. An solchen Sammlungsorten fanden bekanntermaßen Objekte verschiedenster Machart, Größe und Herkunft zusammen, wobei mit dieser «symbolischen Positionierung von Objekten im Raum eine Welterklärung verbunden [war]»[41]. Gerade in der Verräumlichung der ungeordneten Diversität der Gegenstände wurde der Makrokosmos im Gesamten als erfahr- und erklärbar erlebt. Sinn wird bei diesem «archaische[n] Sammlungsprinzip»[42] also nicht durch Kausalität, sondern durch Korrelation produziert. In der hierarchielosen Kopräsenz der Objekte sind es nicht Kohärenz und Kontinuität, die die vielfältigen Wissenstechniken, Diskurse und Materialien miteinander in Beziehung setzen, sondern eine exzessive Additivität.

Somit lässt sich – wie schon in Bezug auf die Fragmentarität von Amras – erneut eine Verbindung zwischen der Dingfigur des Messers und der Bauart des Textes erkennen: Das Objekt ist zum einen ein Beispiel für die im gesamten Text hervorstechende additive Kompositionstechnik, bei der nicht etwa inhaltlich kohärente Sinnstrukturen aufgebaut werden, sondern die Produktion von Zusammenhängen im additiven Aufeinanderschichten disparater Diskurse und Assoziationsfelder erfolgt. So werden auch in der Dingfigur des Augsburger Messers verschiedene Motive und Ebenen – wie etwa die Themenkomplexe der Erbschaft, der Gewalt, der Religion oder des Krieges – verdichtet aufgerufen. Durch den ihm inhärenten Verweis auf die Institution der Wunderkammer ist das Messer zum anderen aber auch ein Symbol für gerade diese Technik des additiven Nebeneinanderstellens, da sich die Wunderkammer als Ort der Anhäufung von Dingen gerade aus dem Prinzip einer exzessiven Additivität heraus konstituiert. Es ließe sich deshalb formulieren, dass das Augsburger Messer das Bernhardsche Schreiben in Amras in die Tradition der frühneuzeitlichen Wunderkammer stellt und es mithin als literarischen Akt des Akkumulierens kennzeichnet. Das Messer initiiert als Dingfigur durch seine Historizität also nicht nur einen weiteren Assoziationsraum, es weist als Exponent des Wunderkammermodells ebenso eine – neben seiner Eigenschaft als Sinnbild der Fragmentarität des Textes – zweite dingsymbolische Funktionsweise auf.

4. Poetik des Messers

Die vorliegende Betrachtung verlangt eine abschließende Einordnung. Denn die Additivität, die Bernhards Schreiben auszeichnet und die in der Dingfigur exemplarisch auf die Spitze getrieben ist, zieht zwangsläufig auch eine stellenweise Additivität der Analyse nach sich. Das Objekt des Augsburger Messers eröffnet in Amras eine Vielzahl an Assoziationsräumen, für die es als intertextueller und symbolischer Signalgegenstand fungiert. Diese Verbindungslinien, die in der vorliegenden Untersuchung entlang der Themenkomplexe von Gewalt und Historizität verfolgt wurden, reichen dabei von der dramatischen Tradition des “fatalen Requisits” über religiöse Opfersymboliken bis hin zu Diffusionsmomenten von Fiktionalität und Faktualität. Diese breit gefächerten Verknüpfungen werden dabei nicht separat in Amras eingeführt, sondern in der Materialität und symbolischen Potenz der Dingfigur additiv übereinandergeschichtet. Angesichts der Feststellung, dass das Augsburger Messer in seiner Präsenz als übercodiertes Objekt besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf sein Gewaltpotential und seine Historizität generiert, kann ihm zusätzlich eine dingsymbolische Funktionsweise zugeschrieben werden; und dies in doppelter Hinsicht: In seiner Eigenschaft als außergewöhnlich scharfes, einschneidendes und durchtrennendes Objekt korrespondiert das Messer zum einen mit der fragmentarischen Erzählweise von Amras. Durch seine historische Aufladung ruft es zum anderen das Sammlungsprinzip der Wunderkammer auf und verweist dadurch auf die additive Bauart des Textes. Das Augsburger Messer funktioniert als Dingsymbol also nicht in erster Linie auf einer inhaltlichen, sondern vielmehr auf einer strukturellen Ebene, die das Kompositionsprinzip von Amras als literarischem Text fokussiert. Das Messer besitzt in Bezug auf Amras als Text somit symbolisch sowohl eine zerstörerische als auch generative Funktion: Als fragmentierendes “Ding der Gewalt” repräsentiert es ein Schreibverfahren, das sich gegen die Abgeschlossenheit des Textes richtet und verletzte und verstümmelte Textkorpora produziert, die “Text” nicht als eine Ganzheit, sondern gerade als deren Unmöglichkeit lesbar machen. Als historischer Gegenstand und Exponent der kulturellen Institution der Wunderkammer repräsentiert das Messer aber auch die generative Technik der Akkumulation disparaten Materials, wodurch der literarische Text als vielschichtiges und kulturgeschichtlich durchtränktes Erzeugnis ausgewiesen wird. In dieser Hinsicht ereignet sich in Amras ein Schreiben, das – wenn man so will – ganz im Zeichen einer Poetik des Messers steht.

Diese hier vorgestellten Anknüpfungspunkte, die durch das Augsburger Messer offeriert werden, stellen sicherlich keine erschöpfende Spurensuche dar, lässt sich in einer einzelnen Lektüre die irreduzible Opazität eines literarischen Dinges doch keinesfalls abtragen. Thomas Bernhards Schreibweise zeichnet sich wie gesehen nicht zuletzt dadurch aus, dass auf engstem Raum diverse Diskurse additiv übereinandergelegt und somit dichte Ambiguitätsgeflechte und Emergenzen erzeugt werden. Der Widerständigkeit gegen vereindeutigende Sinnzuweisungen, die diesen Texten dadurch inhärent wird, lässt sich auch mit dingzentrierten Betrachtungen begegnen, wie es in dieser Untersuchung geschehen ist. Denn die Polysemie literarischer Dingfiguren ermöglicht es, das exzessive “zu viel” der Bernhardschen Texte in das produktive Lektürepotential des “sowohl, als auch, als auch” zu übersetzen. In dieser Hinsicht können derart offene Lektüren einen wichtigen Beitrag zu Erschließung der Texte Thomas Bernhards leisten, die – mit Michel Foucault gesprochen – vieles, aber sicherlich keine Komplizen unserer Erkenntnis sind.

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[1] Thomas Bernhard: Das Kalkwerk. In: ders.: Werke. Bd. 3: Das Kalkwerk. Hrsg. von Renate Langer. Frankfurt am Main 2004, S. 71.

[2] Oliver Jahraus hat dieses exzessive Anhäufen von Bedeutungsebenen, Wiederholungen und Assoziationen, die in ein «mehrdimensionales Beziehungsgeflecht» münden, versucht, als “monomanisches Werk” zu fassen. Vgl. Oliver Jahraus: Das «monomanische» Werk. Eine strukturale Werkanalyse des Œuvres von Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1992, hier: insbesondere S. 20ff.

[3] Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Von der Schwierigkeit, Thomas Bernhard zu lesen. Zu Thomas Bernhards «Gehen». In: Bernhard. Annäherungen. Hrsg. von Manfred Jurgensen. Bern 1981, S. 123-141, hier: S. 124.

[4] Eine konzise Diskussion der Problematik hermeneutischer Zugänge für die Texte Thomas Bernhards und die Notwendigkeit eines alternativen Zugangs bietet ebenfalls Oliver Jahraus. Vgl. Jahraus 1992, Das «monomanische» Werk, S. 16ff.

[5] Roland Barthes: Semantik des Objekts. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, S. 187-198, hier: S. 195.

[6] Der Materialitäts- und Dingforschung ist es ebenfalls anzurechnen, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt eo ipso als dialektisches beschrieben zu haben. Ein einführender Überblick zu zentralen Diskussionspunkten der (literarischen) Materialitätsforschung der letzten Jahre findet sich bei Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Vgl. Susanne Scholz/Ulrike Vedder: Einleitung. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von dies. Berlin/Boston 2018, S. 1-17.

[7] Vgl. Peter Geimer: Theorie der Gegenstände. «Die Menschen sind nicht mehr unter sich». In: Person, Schauplatz. Hrsg. von Jörg Huber. Zürich / New York 2003, S. 209-222, hier: S. 211ff.

[8] So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich einige der maßgeblichen Referenzen der literarischen Materialitätsforschung im französischen Poststrukturalismus verorten lassen.

[9] Für eine Untersuchung einiger Beispiele prominenter Dingfiguren in den Texten Bernhards vgl. Ernst Leonardy: Das Verhältnis der Erzählfiguren zu den Dingen im Werk Thomas Bernhards. In: Germanistische Mitteilungen 43-33 (1996), S. 97-114.

[10] Till Greite spricht in Hinblick auf diese für Bernhard typischen Grenzkonstellationen von einer «liminalen Poetik». Vgl. Till Greite: Watten. Ein Nachlaß. In: Bernhard-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Martin Huber, Manfred Mittermayer und Bernhard Judex. Stuttgart 2018, S. 106-108, hier: S. 107.

[11] Vgl. Scholz/Vedder 2018, Einleitung, S. 2ff.

[12] Juliane Vogel: Vorüberlegungen zu Thomas Bernhards «Amras». In: Modern Austrian Literature 42 (2009), H. 1, S. 41-44, hier: S. 41.

[13] Im Hintergrund steht hier die sogenannte Entmündigungsordnung, die in Österreich bis in die 1970er Jahre hinein Geltung hatte und die vorsah, dass Menschen gewaltsam und ohne gerichtlichen Entscheid in psychiatrische Anstalten eingewiesen werden konnten, sobald ihnen lediglich von amts- oder polizeiärztlicher Seite eine Eigen- oder Fremdgefährdung attestiert wurde. Vgl. Susanne Jaquemar und Harald Kinzl: Vom Narrentum zum Heimaufenthaltsgesetz. In: VertretungsNetz. 2005, S. 7f. LINK. Zugriff am: 30.03.2022.

[14] Darauf, dass sich der vergebliche Versuch eines Fortkommens auch in der Unmöglichkeit einer Überschreitung des ersten Buchstabens im Alphabet im Ortswechsel von Amras nach Aldrans widerspiegelt, hat ebenfalls Juliane Vogel aufmerksam gemacht. Vgl. Vogel 2009, Vorüberlegungen zu Thomas Bernhards «Amras», S. 42.

[15] Die herausgehobene Stellung des Abschnitts sowie die explizite Erwähnung des Messers in seiner Überschrift mögen dazu beigetragen haben, dass in der Bernhard-Forschung das Augsburger Messer mehrfach Erwähnung findet. So widmet Burghard Damerau dem Messer in seiner Bernhard-Monografie eine ausführliche Passage, in der er dieses als Schlüsselsymbol für die historischen Referenzen in Amras ausdeutet. Vgl. Burghard Damerau: Selbstbehauptungen und Grenzen. Zu Thomas Bernhard. Würzburg 1996, S. 123ff. Jens Klenner hebt dagegen vor allem eine enigmatische Aufladung des Messers hervor, die in seiner Lesart die materielle Existenz des Artefakts transzendiert und so eine «fast magische Evokation» initiiert. Vgl. Jens Klenner: Ektopia. Skizze einer topographischen Anatomie in Thomas Bernhards Amras. In: Modern Austrian Literature 42 (2009), H. 1, S. 63-84, hier: S. 75f. In eine ähnliche Richtung weisen die Bemerkungen Alexander Rudolphs, als auch dieser dem Augsburger Messer das Potential zuspricht, die Realität zu transzendieren und ein «radikal Imaginäre[s]» aufzurufen. Vgl. Alexander Rudolph: “Es ist nichts…”. Der Tod als das “radikal Imaginäre” in Thomas Bernhards Erzählung «Amras». In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2011), H. 3, S. 563-576, hier: S. 570f. Ulrike Vedder schließlich macht auf das polysemische Potential des Messers aufmerksam, das sie in ihrem Aufsatz über Erbschaftskonstellationen bei Thomas Bernhard als «multi-coded object» klassifiziert, wobei sie darüber hinaus andeutet, wie das Messer die Möglichkeit verschiedener Perspektivierungen – vom Erbstück bis zum “fatalen Requisit” – eröffnet. Vgl. Ulrike Vedder: Destructive Legacies. Thomas Bernhard’s Literary Critique of Inheritance. In: Law & Literature, 07.04.2021, S. 11f. LINK. Zugriff am: 30.03.2022.

[16] Außerhalb dieses Abschnitts wird das Augsburger Messer lediglich zwei Mal erwähnt, ohne allerdings in irgendeiner Form noch einmal Teil einer Handlung zu werden. Auch dieser Umstand zeigt die fragmentarische, oftmals unverbundene Struktur von Amras deutlich auf und stützt die methodische Entscheidung, sich bei der vorliegenden Lektüre vornehmlich auf einen einzelnen Abschnitt zu beschränken.

[17] Thomas Bernhard: Amras. In: ders.: Werke. Bd. 11: Erzählungen I. Hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2004, S. 109-179, hier: S. 131. In Amras variieren die Überschriften der einzelnen Absätze auch typographisch, was in dieser Arbeit, soweit dies möglich ist, in den Zitaten übernommen wird. Im Folgenden werden wörtliche Zitate aus Amras im Fließtext mit in Klammern gesetzten Seitenzahlen angegeben, die sich auf die hier genannte Ausgabe beziehen.

[18] Im Folgenden wird in der Regel lediglich vom «Augsburger Messer» die Rede sein. Dies stellt jedoch keine Gewichtung dar, was Bezeichnung oder Bedeutung des Messers anbelangt, sondern geschieht ausschließlich aus textökonomischen Gründen.

[19] Für den Raum des Turms gilt dies die gesamte Erzählung über. Immer wieder wird dieser in direkte Nähe mit Erinnerungen an die Eltern gerückt, wobei insbesondere die Krankheit Walters – gleichsam die engste Verbindung zur Mutter – an diesen Stellen «durch die Turmatmosphäre begünstigt» (116) nahezu omnipräsent wird.

[20] «…und so berührte er es die ganze Zeit, die er im Turm war, bis zu seinem Tod, nicht…» (131).

[21] In dieser Hinsicht ließen sich Argumente finden, das Messer aus der Sicht Walters eher als Abjekt im Sinne Julia Kristevas denn als Objekt zu verstehen. Denn wie auch in Kristevas Abhandlung über die Powers of Horror scheint das Messer für Walter die Trennung einer symbiotischen Verbindung, die ein sexuelles Befriedigungsmoment bereithält, zu symbolisieren. Passend in Kristevas Beschreibung des Abjekts empfindet Walter gegenüber dem Augsburger Messer ein tiefes Abstoßen, in dem Ekel und Angst gleichermaßen präsent zu sein scheinen. Trotz dieser Parallelen sollte allerdings nicht übersehen werden, dass Kristevas Abjektkonstruktion insbesondere auf flüssige, amorphe Substanzen wie Erbrochenes oder Blut abzielt und weniger auf klar konturierte fassbare Gegenstände. Außerdem wird Amras durch die symbiotische, sexuell aufgeladene Verbindung zwischen den zwei Brüdern und nicht – zumindest nicht explizit – zwischen Walter und seiner Mutter dominiert, was die psychoanalytische Grundkonstellation für Kristevas Abjektkonstruktion darstellen würde. Deshalb ließe sich etwas vorsichtiger formulieren, dass in Amras zweifellos Vorgänge des Abjezierens präsent sind, diese aber nicht ohne Weiteres mit der Dingfigur des Messers kurzgeschlossen werden können. Dass in Thomas Bernhards gesamtem Oeuvre Abjektkonstellationen grundsätzlich eine wichtige Rolle spielen, hat Claude Haas in einer Monografie gezeigt, die sich diesem Komplex eingehend widmet. Vgl. Claude Haas: Arbeit am Abscheu. Zu Thomas Bernhards Prosa. München 2007.

[22] Die Objektkategorie des “gendered object” hier auf das Messer anzuwenden, erweist sich vor allem deshalb als ergiebig, da mit diesem Terminus insbesondere das dialektische Wirkungsverhältnis, welches in Bezug auf geschlechtliche Codierungen zwischen Subjekt und Objekt besteht, präzise erfasst werden kann: Nicht nur wird das Messer durch seine Benutzung in bestimmte Codierungen und Bedeutungszusammenhänge eingebettet, auch das Objekt selbst wirkt auf seinen Benutzer zurück, indem es etwa im vorliegenden Fall die Figur Karls mit männlich codierten Rollenbildern auflädt. Für eine eingehende Beschäftigung mit den Wirkungsweisen von “gendered objects” vgl. Ulrike Vedder: Gendered Objects. Literarische Ding- und Geschlechtercodierungen. In: Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns. Hrsg. von Sarah Schmidt. Paderborn 2016, S. 43-58.

[23] Für ausführlichere Bemerkungen zu den homoerotisch-inzestuösen Andeutungen in Amras vgl. Klenner 2009, Ektopia, S. 78f. sowie Fatima Naqvi: Bernhard und die Musilsche Tradition. «Andere Zustände» in Amras. In: «Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?». Ein Symposium zum Werk von Thomas Bernhard. Hrsg. von Attila Bombitz und Martin Huber. Wien 2010, S. 161-176, hier: S. 163ff.

[24] Vgl. Vedder 2021, Destructive Legacies, S. 11.

[25] Vgl. Claude Haas: Fatale Requisiten in Tragödie und Trauerspiel. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Berlin/Boston 2018, S. 197-205.

[26] Die Echolosigkeit, mit der diese Signalhaftigkeit schließlich erlischt, kann als mustergültiges Beispiel dafür angesehen werden, wie Bernhards Texte ein klassisch hermeneutisches Interpretieren sabotieren: Zwar werden im Übermaß interpretatorische Fährten – wie etwa die Inszenierung des Augsburger Messers im Stil eines “fatalen Requisits” – ausgelegt; allerdings nur, um diese im Anschluss konsequent wieder zu unterlaufen. So kommt dem Messer in Amras trotz aller Andeutungen letzten Endes keinerlei Rolle beim Selbstmord Walters oder der Trennung der beiden Brüder zu.

[27] Vgl. Damerau 1996, Selbstbehauptungen und Grenzen, S. 127ff.

[28] Naqvi 2010, Bernhard und die Musilsche Tradition, S. 174.

[29] Thomas Bernhard: Drei Tage. In: ders.: Werke. Bd. 22, Teilband II: Journalistisches, Reden, Interviews. Hrsg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Berlin 2015, S. 54-66, hier: S. 59f.

[30] Diese Metapher ist durchaus bemerkenswert, ereignet sich im Akt des Jagens kulturhistorisch doch das Markieren eines territorialen Herrschaftsanspruchs. In dieser Hinsicht ließe sich dieses poetologische Bild Bernhards durchaus als auktoriale Ermächtigungsgeste verstehen. Angesichts dessen, dass in Bernhards Stück Die Jagdgesellschaft neben der Thematisierung von (im Verfallen begriffenen) Machtstrukturen unverkennbar – eine der Figuren ist selbst Schriftsteller – auch poetologische Fragestellungen eine Rolle spielen, könnte es ein lohnendes Unterfangen darstellen, den poetologischen Implikationen des Jagdmotivs bei Thomas Bernhard weiter nachzugehen.

[31] Für die Lebensdaten und -geschichte der Philippine Welser vgl. Gunter Bakay: Philippine Welser. Eine geheimnisvolle Frau und ihre Zeit. Innsbruck/Wien 2013.

[32] Vgl. ebd., S. 191ff.

[33] Der Verf. verdankt diese sowie weitere hilfreiche Informationen zur heutigen Sammlung auf Schloss Ambras und den Hinterlassenschaften Philippine Welsers Dr. Katharina Seidl vom Schloss Ambras Innsbruck.

[34] Vgl. Bakay 2013, Philippine Welser, S. 256ff.

[35] Vgl. ebd., S. 296ff.

[36] Bei den literarischen Aneignungen des Welser-Stoffes handelt es sich nahezu ausschließlich um Werke heute weitestgehend unbekannter Autoren, die eine beachtliche Gattungsbreite aufweisen. Beispiele sind etwa «ein dramatisches Gemälde in einem Akte» mit dem Titel Philippine Welser von Wilhelm Ferdinand Zernecke, ein Roman des Schriftstellers Heinrich Zerkaulen mit dem Titel Die heimliche Fürstin. Roman um Philippine Welser oder Philippine Welser. Historische Erzählung von Moritz Richter. Vgl. Wilhelm Ferdinand Zernecke: Philippine Welser. Ein dramatisches Gemälde in einem Akte. Danzig 1821; Heinrich Zerkaulen: Die heimliche Fürstin. Roman um Philippine Welser. Leipzig 1939; Moritz Richter: Philippine Welser. Historische Erzählung. Leipzig 1830. Eine Auflistung und vergleichende Untersuchung dieser literarischen Ausformungen der Figur der Philippine Welser liegt nicht vor, könnte aber in Bezug auf Bernhards Amras und die Diffusion von Fiktionalität und Faktualität in der Welser-Figur durchaus weitere interessante Spuren zutage fördern.

[37] Bakay 2013, Philippine Welser, S. 301.

[38] Vgl. Vedder 2021, Destructive Legacies, S. 11f.

[39] Vgl. Gabriele Bessler: Raumfindung Wunderkammer. Ein Weltmodell aus dem 16. Jahrhundert. In: Werk, Bauen + Wohnen 99 (2012), H. 12, S. 12-19, hier: S. 15ff.

[40] Vgl. Vedder 2021, Destructive Legacies, S. 12. Es ist ein weiteres Beispiel für die unabtragbare Widersprüchlichkeit und Sinnuntergrabung von Bernhards Texten, dass die Figur eines kulturellen Erbes hier einerseits aufgerufen wird, an anderer Stelle aber beileibe nicht ungeschoren davonkommt. Ganz im Gegenteil wird die Idee eines kulturellen Erbes bei Thomas Bernhard immer wieder massiv attackiert. Auch in diesem Zusammenhang sei auf die ambivalente Beschaffenheit der Dingfigur des Augsburger Messers verwiesen, das auch als kulturelles Erbe seine Eigenschaft als Werkzeug potenzieller Destruktion nie ganz verliert.

[41] Bessler 2012, Raumfindung Wunderkammer, S. 14.

[42] Ebd., S. 18.