Luis S. Krausz

(São Paulo)

Kolonialismus, Regression und Sinnlichkeit
in Robert Menasses «Sinnliche Gewissheit»

[Colonialism, regression and sensuality in Robert Menasse’s «Sinnliche Gewissheit»]

abstract. Even though Robert Menasse claims, through the words of his alter ego Roman Gilanian, the protagonist of Sinnliche Gewissheit [Sensual Certainty], that he does not know what to say about the Brazilians, this novel displays a certain portrait of Brazil. As a land of blatant social injustice, of sensuality, hedonism and irrationality, Brazil is at the same time fascinating and repulsive for a novelist who sees it through European eyes. For Menasse, Brazil remains foreign and mysterious, a land full of contradictions and paradoxes that seem to pose a threat to his philosophical concepts. This article highlights three themes that play a key role in the plot of Sinnliche Gewissheit: colonialism, regression and sensuality which, at the same time, challenge the idea of Heimat.

Einerseits stehen Themen wie Gewalttätigkeit, Korruption, Zerstörung der Urwälder, soziale Ungerechtigkeit, Umweltverschmutzung usw. an der Tagesordnung der internationalen Medienberichterstattung über Brasilien, andererseits werden die enormen natürlichen Ressourcen, die reine Größe des Landes mit kontinentalen Dimensionen, die Freundlichkeit seiner Bevölkerung, die Schönheit und Stärke seiner Natur und seine Entwicklungsmöglichkeiten hervorgehoben. Zwei entgegengesetzte Bilder, die nichts Gemeinsames haben, so als ob es sich um zwei verschiedene Länder der Welt handelte; zwei extreme Ansichtspunkte, zwischen denen sich anscheinend kaum etwas befindet.

Auch als Land der Gegensätze erscheint Brasilien in Robert Menasses Roman Sinnliche Gewissheit. Jeroen Dewulf kommentiert, dass Brasilien nicht das eigentliche Thema dieses Romans ist, «doch vermittelt es ein diversifiziertes Brasilien-Bild, das keineswegs in Phantasien, Mythen oder Klischees à la Samba, Fußball und Karneval verfällt» (Dewulf 2002: 560)

Menasse befasst sich nicht direkt mit den Kontradiktionen, die die brasilianische Gesellschaft bestimmen, da die Handlung sich innerhalb einer in sich geschlossenen Festung abspielt, die sich anscheinend nur zufälligerweise in der Stadt São Paulo befindet, und aus der Brasilien und die Brasilianer immer mit einem gewissen Abstand beobachtet werden: die Festung der von ihn genannten Verschanzten, der Mitglieder der europäischen herrschenden Schicht der brasilianischen Gesellschaft.

Jedenfalls teilt sich für Menasse die brasilianische Gesellschaft zwischen den Verschanzten und den Ausgesperrten. Die Verschanzten können einheimische europäischer Herkunft sowie ausländische Vertreter des Großkapitalismus sein. Die Ausgesperrten sind ihrerseits praktisch ausnahmslos Einheimische.

In seinen Beschreibungen São Paulos, mit seinen elektrifizierten Stacheldrahtgittern, den hohen Mauern und bewaffneten privaten Sicherheitskräften, evoziert Menasse eine Szenerie, die in Europa nie als Normalität gelten könnte. Die sozialen Sünden und die verschiedenen Schattierungen der Humanität, die in der brasilianischen Gesellschaft als Selbstverständlichkeiten gelten, werden nur deswegen ausführlich beschrieben, weil sie für einen Europäer ein Tabu bedeuten, und weil sie nur in einer Gesellschaft denkbar sind, die fern von den europäischen politischen Begriffen liegt. «Menasse ist auch meisterhaft in der Ironisierung der brasilianischen Gesellschaft, wie etwa beim Fest nach dem Motto ‘Die schöne Brasilianerin’, wo niemand recht weiss, wie eine schöne Brasilianerin eigentlich auszusehen hätte». (Dewulf 2002: 561) Was «Brasilianer» bedeutet, ist für Menasse nicht klar, und trotzdem scheinen die Brasilianer einige Eigenschaften zu besitzen, wie etwa die Indifferenz der sozialen Ungerechtigkeit gegenüber.

Doch werden für diejenigen, die schon lange genug in der «Kolonie» sind, die Gegensätze der brasilianischen Gesellschaft naturalisiert, sodass sie einfach zu Bestandteilen der Landschaft werden, genauso wie die Palmen, deren Blätter im Wind rauschen. Wer verschanzt ist, egal ob es ein Europäer oder ein Mitglied der brasilianischen Oberschicht ist, geht davon aus, dass jeder Ausgesperrte irgendwie ein minderwertigeres Wesen ist, dessen Menschlichkeit in Frage gestellt werden muss. Brasilien erscheint daher «als eine höchst bürgerliche und konservative Gesellschaft, die sich einmal im Jahr dank des Karnevals von einer erstickenden Enge befreit» (Dewulf 2002: 564). Das menschliche Dasein wird dermaßen abgestuft, dass es einer Skala entspricht, an deren Spitze sich der weiße Mensch, und an dessen tiefsten Punkt sich die Schwarzen befinden.

Nur vage erinnerte die Fehlzündung eines Autos an den Krieg, der außerhalb dieses Viertels herrschte.

Granja Julieta, ein Villen- und Gartenbezirk in São Paulo, Mauern oder Gitter um die Häuser, Scherengitter vor den Fenstern, vergitterte Privatparkplätze, einige große weiße Apartmenthäuser mit Wächterhäuschen und wieder Mauern, ein dichtes Gittersystem, das zusammen mit den Gittersystemen anderer guter Viertel einen Käfig um die schäbigen, armen Teile der Stadt bildete, so daß nicht die Verschanzten, sondern die Ausgesperrten gefangen sind. (Menasse, 1988: 7)

Dieses hoffnungslose, ja pessimistische Bild Brasiliens passt zur Ästhetik, die für den kritischen Standpunkt der österreichischen Schriftsteller der 1980er-Jahre typisch ist. Menasse fokussiert immer auf die höllischen Aspekte der brasilianischen Gesellschaft und ihrer herrschenden sozialen Schichten, dessen Hedonismus als verführerisch aber auch als sündhaft abgebildet wird.

Das bedingungslose sich Wohlfühlen in der sinnlichen Welt und in der eigenen Haut, das sich Begnügen mit der sinnlichen Gewissheit, das in der österreichischen Literatur der 1980er-Jahre immer wieder eine negative Rolle spielt, wird im Roman als charakteristisch für die Brasilianer abgebildet. Daher auch Menasses Misstrauen jeder Form von Schönheit gegenüber. Er scheint davon auszugehen, dass Schönheit, körperliche Freude und Wohlbehagen trügerisch sind, dass nur eine politische Betrachtung der Welt sinnvoll sein kann, und dass der Ästhetizismus und der Hedonismus nichts als eine Art von Blindheit sind, hinter die sich eine grundsätzliche Ungerechtigkeit befindet.

In diesem Sinne scheint es egal zu sein, ob es im Roman um Beschreibungen der idyllischen Küste des «Litoral Norte» oder der Betonhässlichkeit der Praça Roosevelt in São Paulo geht, denn weder Schönheit noch Hässlichkeit werden als solche betrachtet und sind Begriffe, für die es in den Erzählungen überhaupt keinen Platz gibt.

Sogar wenn Frauen im Roman beschrieben werden, scheint ihre Schönheit unbedeutend zu sein. Der «Körperfetischismus» wird von Robert Menasse als gefährliche Perversion geschildert, die es durch politisches Denken zu dekonstruieren gilt:

Dummheit sei ja nichts anderes als blinde Übereinstimmung mit dem äußeren Schein der Welt, was ein Gefühl von Harmonie schaffe, das sich natürlich auch physisch ausdrücke. Intelligenz hingegen sei Negation des äußeren Scheins, steter Widerspruch zu den Erscheinungsformen des äußeren Lebens. […] Ein Beweis für diesen Sachverhalt sei auch der Spruch vom «gesunden Geist in einem gesunden Körper», denn der als gesund apostrophierte Geist sei in jenen Gesellschaften, in denen diesem Spruch ein hoher Wert beigemessen werde, stets ein irgendwie faschistischer, zumindest radikal affirmativer, also, ein verblödeter. (Menasse, 1988: 174)

Im Guten, aber nicht im sinnlich Schönen, scheint die Wahrheit zu stecken. Die Politisierung des Schönen führt auch zu einer Ästhetik des Hässlichen. Helmut Gollner behauptet, dass diese Ästhetik, die auch diejenige des Hasses ist, als eine Form von Kulturkritik zu verstehen sei. Es werden die Hässlichkeit, die Gemeinheit und die Vulgarität immer wieder betont, um die feste Überzeugung auszudrücken, dass die Schönheit nichts als Trug ist.

Über Autoren wie Elfriede Jelinek, Ernst Jandl und Werner Schwab schreibt Gollner:

Sie hatten im Grunde ganz ähnliche Motive, die herrschende Kultur zu hassen und niederzutönen wie die Jungen: jenen bürgerlichen Humanismus aus dem 18. Jahrhundert (zusammengesetzt aus Aufklärung, Christentum, Idealismus, auf der Basis des materiellen und sozialen Aufschwungs des Bürgertums), der ein Menschenbild entwarf, das den Klassenbedürfnissen entsprach, aber nicht der Wirklichkeit: der Mensch sei letzten Endes gut, letzten Endes frei, letzten Endes vernünftig, unsere Geschichte habe sinn: G. W. F. Hegel, Oberidealist der Bürgerlichkeit, hat einen Weltgeist angesetzt (der schaut Gott ziemlich ähnlich), der die Menschheit zu Vernunft und Freiheit führt (wo ist er denn gerade jetzt?). Der liebe Gott der Bürgerstube lässt J. W. von Goethe die Frohbotschaft verkünden, seinen besten Mann: «Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange/ ist sich des rechten Weges wohl bewusst» (sagt Gott zum Teufel, in Faust). Da kriegt die Literatur ihre Wutanfälle, sie hat in unsere Geschichte geschaut und dort Hitler & Holocaust gesehen, sie sieht im Fernsehen die Gegenwart mörderischer Unmenschlichkeiten – und verhöhnt zornig (in Österreich auch humorvoll) den humanistisch ideologisierten Menschen, den Bürgerklon, zerschlägt die Schönheit des Humanismus, streut stattdessen Hass, Hässlichkeit und Nonsense, vor allem in der Sprache selbst, dieser Posaune von Geist und Wohllaut. (Gollner, 2021: 220-221)

Sinnliche Gewissheit wäre auch in diese Ästhetik einzureihen und könnte daher als Affirmation eines philosophischen Systems gelten, in dem die Erfahrung der Entfremdung eine zentrale Rolle spielt und als radikale Negation jedweden bürgerlichen Humanismus und Romantismus gelesen werden kann.

Das Misstrauen dem Sinnlichen gegenüber, das für Hegels Philosophie am Vorbild Platons charakteristisch ist, wird somit von Menasse unterstützt: Seine Skepsis gegenüber Mythos und Mimesis, Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Ästhetik und Schönheit kommt immer wieder klar zum Ausdruck.

Die Idee der Sinnlichkeit als Schein ist in der westlichen Kulturtradition tief eingewurzelt. Sie stammt aus der platonisch-aristotelischen Philosophie sowie aus der hebräischen Bibel. Die Überlegenheit, sei es der Vernunft, wie im Falle der sokratischen Tradition, sei es der Revelation, wie im Judentum, dem Sinnlichen gegenüber, bedeutet auch die Unterdrückung des Sinnlichen, der Emotionen und der Gefühle, ohne die die westlich-europäische Kultur nicht zu denken wäre. Solcherart Misstrauen ist aber in der außereuropäischen Welt kaum zu finden. Vom europäischen Standpunkt gesehen, gelten die Regionen der Sinnlichkeit als Regionen, die beherrscht werden müssen, die es einerseits zu «zivilisieren», andererseits auszubeuten gilt.

Die Rückkehr in die sinnliche Gewissheit wird von Menasse mit Brasilien assoziiert. Spiel und Schauspiel sind in diesem Roman Bestandteile des täglichen Lebens der Brasilianer. Die Sinnlichkeit und die Natürlichkeit, mit der sie die Angelegenheiten ihres Alltags erledigen, werden von dem ziel- und nutzenorientierten Blick der europäischen und nordamerikanischen Neokolonisatoren als Zeichen ihrer Untauglichkeit verstanden.

In den Abendlokalen, die von Norbert und Roman Gilanian besucht werden, befindet sich eine Kundschaft, die selbstverständlich zur Gruppe der Verschanzten gehört: «Sorgenlose Menschen, die nur die eine Sorge hatten, daß die sorglose Vergnügtheit nicht nachläßt, frequentierten dieses Lokal». (Menasse, 1988: 22)

Die sorglose Vergnügtheit scheint für solche Menschen das Höchste auf Erden zu sein: Sie verkörpern somit den Triumph der sinnlichen Gewissheit über jede andere Gewissensform. Daher ist das Brasilianerbild bei Menasse mit einer Regression verbunden, mit einer Rückkehr in einen Zustand des Gewissens, dem die niedrigste Stufe der menschlichen Entwicklung in Hegels philosophischem System entspricht:

Ich entgegnete, daß die “Sinnliche Gewißheit”, soweit ich mich erinnere, doch das erste Kapitel der Phänomenologie des Geistes sei, also der Ausgangspunkt oder, mit anderen Worten, die primitivste Stufe des menschlichen Bewußtseins beschreibe […]. (Menasse, 1988: 68)

Aus der sinnlichen Gewissheit soll, nach Hegels Philosophie, sich die nächste Stufe der Gewissheit entwickeln:

[…] diese Erfahrung – was immer sie jetzt auch sei – der “Sinnlichen Gewißheit” hat aber kein unmittelbares Geschichtsziel, kein Ende, sie geht über in die nächste Stufe der Entwicklung, in die – ich blätterte einmal um – in die “Wahrnehmung”. (Menasse, 1988: 185)

Obwohl sich der Ich-Erzähler in Sinnliche Gewissheit als unwillig und unfähig erklärt, irgendwelche Charakterisierungen der Brasilianer vorzunehmen, ist ein gewisses Brasilienbild in diesem Roman angelegt. Roman Gilanian, Menasses alter ego in der Erzählung, behauptet:

Zum Thema “der Brasilianer” wußte ich nichts zu sagen, die Brasilianer, die Europäer, die Deutschen oder Österreicher gar. Ich fühlte mich noch nicht wirklich in Brasilien angekommen, ich war nur geographisch da, und die Heimat, die man überallhin als Ghetto mitnehmen kann, hatte ich schon verloren. (Menasse, 1988, 146)

Allerdings werden anhand von gewissen Figuren und Schicksalen im Roman den Brasilianern bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die schließlich doch eine Charakterisierung ausmachen. Vor allem wird das Leben der Brasilianer in Menasses Roman von der überwältigenden Sinnlichkeit bestimmt, was, nach Hegels philosophischem System, mit einer gewissen Stupidität gleichgesetzt wird:

Der konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit läßt sie unmittelbar als die reichste Erkenntnis, ja als eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum erscheinen, für welchen ebensowohl, wenn wir im Raume und in der Zeit, als worin er sich ausbreitet, hinaus,als wenn wir uns ein Stück aus dieser Fülle nehmen, und durch Teilung in dasselbe hineingehen, keine Grenze zu finden ist. Sie erscheint außerdem als die Wahrhafteste; denn sie hat von dem Gegenstand noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich. Diese Gewißheit aber gibt in der Tat sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus. (Hegel, 2010: 78)

Der Mangel an Wahrheit, den Hegel der sinnlichen Gewissheit zuschreibt, stellt sie als illusorisch dar, als einer höheren Gewissheit unterstellt, die nur durch die Anwendung der Vernunft zu erreichen ist. Das Übergeordnetsein der Vernunft, die sich dem Mythischen gegenüberstellt, ist eine Voraussetzung des hegelianischen philosophischen Systems, dessen Gültigkeit nicht von Menasse in Frage gestellt wird, denn dieser wendet sich entschieden gegen den Mythos und gegen die berauschende Erfahrung der Sinnlichkeit. Die Rückkehr in die Sinnlichkeit, ins Mythische, wird von Menasse nie als positives Phänomen dargestellt.

Jedenfalls bleibt für diejenigen, deren Gewissheit ausschließlich oder überwiegend mit den Sinnen verbunden ist, die Mimesis oder Nachahmung bestimmter Verhaltens-, Benehmens- und Kleidungsweisen, die mit einem vermutlich höheren Niveau der Menschheit, d. h. demjenigen der Europäer, verbunden sind, übrig. Für die Brasilianer der «guten Familien» galt Europa wenigstens bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Vorbild und Paradigma. So bemühten sich diese «guten Familien» nicht nur um europäisches Aussehen und Sitten, sondern soweit wie möglich auch um europäische Bildung und Kultur.

Am Beispiel von Beatriz, einer attraktiven, wenngleich nicht mehr ganz jungen Frau der brasilianischen élite, die Roman Gilanian in der Aspirina Bar kennenlernt, und die sich jünger und sexier wähnt, als sie tatsächlich ist, werden diese Bemühungen um einen europäischen Firnis beschrieben:

«Yesss!» sagte Beatriz, sich wieder mir zuwendend, es sei schade, daß sie jetzt nicht Deutsch mit mir reden könne, das wäre jetzt very nice gewesen. Und sie erläuterte diesen Satz mit dem ersten Kapitel ihrer Biographie: In ihrer frühen Kindheit sei nämlich bei ihr zuhause nicht nur Portugiesisch, sondern auch Französisch und Deutsch gesprochen worden. Ihr Vater habe auf europäische Ausbildung und europäische Lebensformen, wie sie sagte, größten Wert gelegt. Die Kinder, also sie, ihre Schwester und ihr Bruder, hätten sogar Hauslehrer für Deutsch und Französisch gehabt. Als aber Deutschland den Zweiten Weltkrieg auslöste, habe ihr Vater von einem Tag auf den anderen nie wieder Deutsch gesprochen, die Sprache im Haus verboten und statt des deutschen Hauslehrers sei dann immer ein Englischlehrer gekommen. (Menasse, 1988: 25)

So ist es nicht dem Zufall zuzurechnen, dass Roman Gilanian Beatriz kennenlernt, als in der Aspirina Bar gerade ein Kostümfest stattfindet und ihr zu schmeicheln versucht, indem er ihr sagt, dass sie sehr europäisch wirke. Denn alle Bemühungen um europäische Erziehung lassen sich auch als eine Art von Maskerade verstehen: Sie sind die Verfälschung der Identität der brasilianischen élite, die sich nicht damit zufriedengibt, brasilianisch zu sein, sondern die Allüren eines besseren Ortes wie Schmuck zur Schau stellen muss.

Dass ein Europäer behauptet, sie wirke gar nicht wie eine Brasilianerin, sondern eben wie eine Europäerin, ist daher für Beatriz natürlich ein großes Kompliment, denn letzten Endes bestand darin das Ziel ihrer Erziehung:

Ich sagte, daß sie gar nicht wie eine Brasilianerin wirke, sondern eher wie eine Europäerin. Ich weiß nicht, ob ich mich richtiggehend vor mir selbst schämte, aber ein flaues Gefühl breitete sich augenblicklich in mir aus – und wieviel Platz es fand, um sich auszubreiten! Was soll das sein, eine “Europäerin”? Was ist typisch “europäisch”, was “brasilianisch” oder “lateinamerikanisch” gar? (Menasse, 1988: 26)

Diese Fragen zum Verhältnis von Europäern und Brasilianern sind allerdings eher rhetorischer Natur, denn Menasses Brasilienromane sind keinesfalls frei von Klischees, wie etwa der Hedonismus der Brasilianer, die Korruption, die überall verbreitet zu sein scheint, die Ineffizienz der Behörden usw.

Am Beispiel des luxuriösen und sorgenlosen Lebensstils von Beatriz wird dargestellt, inwiefern der Hedonismus der sogenannten «guten Familien» in einen ständig wiederholenden Kreislauf von belanglosen Unterhaltungen mündet: eine dolce vita, die Jagd nach immer neuen Vergnügungen, deren Geschmack sich jedoch auflöst, sobald sie zu Gewohnheiten werden.

Die Herrschaft der sinnlichen Gewissheit wird somit von Menasse nicht nur als ungerecht, sondern auch als lächerlich dargestellt. Der Papagei, den Roman Gilanian Beatriz schenkt, könnte als Sinnbild der unaufhaltsamen Wiederholungen gelten, die sich genauso wie andere Maschinerien endlos drehen, um immer neue Waren herzustellen. Auch der Papagei wiederholt in seinem goldenen Käfig Tag für Tag dieselben Worte, deren Sinn aber längst verloren gegangen ist, denn es handelt sich um nichts anderes als den sich immer wiederholenden Mimetismus der sinnlichen Gewissheit.

* * *

Neben der Kritik an der sinnlichen Gewissheit beinhaltet Menasses Roman ebenfalls eine Dekonstruktion des Wahren, Guten, Schönen sowie des Edifizierenden. Es ist daher als Rückentwicklungsroman, als Gegensatz zur klassischen Form des Bildungsromans, einzuordnen.

Der Begriff der Entwicklung, die dem Bildungsroman innewohnt, ist von der Idee des Fortschritts, wie sie im europäischen 19. Jahrhundert entstanden ist, nicht zu trennen, doch scheint für Menasse dieser Begriff heute anachronistisch zu sein. Wenn der Entwicklungsroman oder Bildungsroman das Zeitalter des Fortschrittes charakterisiert, so muss mit dem Verlust des Glaubens an den Fortschritt auch der Entwicklungsroman verloren gehen.

Das Misstrauen der Geschichte und dem Fortschritt gegenüber und somit gegenüber dem Entwicklungsroman wird von Menasse ausdrücklich erwähnt, in dem er behauptet, dass nur der Rückentwicklungsroman den Anspruch haben kann, zeitgenössisch zu sein.

Heute könnte man keinen Entwicklungsroman mehr schreiben, dachte ich, – höchstens einen Rückentwicklungsroman. Ein Roman über den Rückschritt, ja, ein umgedrehter Entwicklungsroman, der am Beispiel eines Individuums zeigt, wie dessen Hoffnungen, Fähigkeiten, Talente, während er redlich strebend sich bemüht, dazu verurteilt sind zu verkümmern und – sofern er sie nicht vergißt – zu banalen, durchschnittlichen Idiosynkrasien werden, mit denen er einen Alltag meistert, oder auch nicht, der lediglich an Beliebigkeiten unendlich reich ist. (Menasse, 1988: 214)

Was unter Rückentwicklungsroman zu verstehen ist, ist ein umgekehrter Bildungsroman, in dem es eben nicht um das Aufbauen der Subjektivität geht, sondern um die Zerstörung und um die Regression des Einzelnen, um die Entmenschlichung und Bestialisierung, um die Rückkehr ins rein Sinnliche, das von Menasse mit Sinnlosigkeit identifiziert wird.

Die große Epoche des Bildungsromans, oder des Entwicklungsromans, ist das europäische Jahrhundert des Fortschritts. Die Hauptthemen der Rückentwicklungsromane sind hingegen die Abgründe, die den Menschen von seiner unmittelbaren Umgebung trennen.

Angesichts der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gewinnt diese Gattung natürlich an Wichtigkeit, da die unwiderstehliche Gewalt der geschichtlichen und historischen Geschehnisse, und eben nicht der individuelle Wille, wie es im Bildungsroman der Fall ist, die Wege einer solchen Erzählung und den Werdegang ihrer Figuren bestimmt.

In den Rückentwicklungsromanen geht es weder um den Weg ins Innere und in die eigene Subjektivität, noch um die Suche nach dem eigenen Selbst und nach einer harmonischen Integration des Einzelnen innerhalb einer sozialen Struktur, die prinzipiell als gerecht gilt. Ganz im Gegenteil geht es hier um die absolute Gewalt der historisch-politischen Geschehnisse, die den Einzelnen mutilieren oder vernichten – und denen er wehrlos ausgeliefert ist.

Im Rückentwicklungsroman spielt das Individuum nicht die Rolle eines Protagonisten. Hier geht es nicht um die Epik einer soliden, etablierten Welt, sondern ganz im Gegenteil um den einzelnen Menschen als wehrloses Opfer historischer und politischer Umstände. Der Einzelne wird von Stürmen und von Strömungen herumgetrieben und, wenn er überhaupt überlebt, landet er an einem beliebigen Hafen, den er nicht ausgesucht hat.

In diesem Sinne bleibt im Rückentwicklungsroman der Begriff des Heldentums ausgeschlossen, wie es auch am Beispiel Roman Gilanians in Sinnliche Gewissheit deutlich wird. In den Nächten São Paulos lässt er sich hin- und hertreiben, läuft hinter Vergnügungen jeder Art her, doch bilden die Geschehnisse, die sein Leben bestimmen, keinesfalls eine kohärente Ganzheit, sondern sie bleiben Fragmente, die zueinander keinerlei Beziehungen haben, so als hätte er die Absicht, mit seinem eigenen Lebenslauf die Unmöglichkeit jeder Form von Bildung zu bestätigen.

Daher ist in den Rückentwicklungsromanen kaum vom Tragischen die Rede, denn es geht hier nicht um den heroischen Kampf eines Protagonisten gegen das Schicksal, sondern um den einfachen Versuch zu überleben und um die Resignation angesichts des Unvermeidlichen.

Die Themen der Rückentwicklungsromane sind die Entfremdung, die Unmöglichkeit der freien Subjektivität und die Unterdrückung durch Strukturen, deren Gewalt absolut ist. Daher ist diese Gattung genauso wie die Testimonialliteratur für das 20. Jahrhundert charakteristisch.

* * *

Menasses Kritik an der brasilianischen Bourgeoisie stammt aus dem Beginn der 1980er-Jahre, die Zeit des Ausgangs der Militärdiktatur. Vom Rausch des Fortschrittes besessen, der unter dem Zeichen des milagre brasileiro zu einem krebsartigen, ungeordneten Wachstum in den 1960er- und 1970er-Jahren führte, träumte die urbane Bourgeoisie des Landes noch von einer rosigen Zukunft und war angesichts dieser Träume gerne bereit, die eigene Vergangenheit zu vergessen. Es war die Zeit der Parvenüs, die, durch die Gunst der Militärdiktatur zur neuen gehobenen Mittelschicht befördert, mit den Allüren von Neureichen ihre Geschmacklosigkeit überall zur Schau trugen, während die positivistisch gesinnten Militärs immer größere und waghalsigere, ja megalomanische Bauwerke entstehen ließen, deren vermutlicher Zweck es war, aus dem país grande, aus dem weiten Land, ein grande país, ein großes Land zu machen. Wasserstromkraftwerke, zum Beispiel, um die wachsende Industrie so gut wie möglich mit billigem Strom zu speisen. Oder Autobahnen, um die Erzeugnisse der Industrie im ganzen Land zu verteilen und gleichzeitig die Interessen der internationalen Automobilindustrie zu vertreten.

Von einer megalomanischen Diktatur regiert, hatte diese Schicht der Parvenüs ihre Freude, indem sie überall die eigene Größe zeigte. Es war die Zeit der Riesenvillas, die heute in Bezirken wie Morumbi dem Verfall preisgegeben sind, sowie der Automobilriesen nach nordamerikanischen Vorbildern, mit denen die neuen Reichen ihren Wohlstand zur Schau stellten.

Die Expansionsprojekte der 1960er- und 1970er-Jahre in Brasilien können als nicht minder grausame und blutige Wiederholungen der militärischen und wirtschaftlichen Angriffe, die zur Zeit der portugiesischen Kolonisation durchgeführt worden waren, betrachtet werden, die zur Versklavung und Vernichtung der einheimischen Bevölkerung führten. (Bosi, 1992: 22)

Dank dieser Politik bildeten sich in den Umgebungen von São Paulo und Rio de Janeiro kolossale Industrieparks, während sich die Bevölkerung dieser beiden Großstädte in rasendem Tempo vervielfältigte. Für die Neuzugewanderten aus dem interior, aus dem Hinterland, blieb nichts anderes übrig, als sich in den favelas anzusiedeln, die sich in den Jahren der Militärregierung in erstaunlicher Geschwindigkeit immer weiter ausbreiteten, als wären sie der eigentliche Sinn dieses Fortschrittes.

Eine polarisierte Gesellschaft, mit großen Mengen von Arbeitslosen, die sich keiner Mühe scheuten, gerade weil sie sich auf der Flucht aus den unerträglichen Umständen im nordöstlichen sertão befanden, passte ausgezeichnet zu den Zielen großer Industrieunternehmen und zog daher auch ausländische Konzerne an, die sich in rasendem Tempo in der Umgebung von São Paulo niederließen.

Die Bundesrepublik Deutschland und insbesondere die bundesrepublikanische Industrie galten und gelten immer noch in São Paulo als Sinnbilder des Fortschrittes. Der Fortschritt, o progresso, steht nicht nur im Mittelpunkt der unter dem Zeichen des Positivismus entworfenen brasilianischen Flagge, in der man die Worte Ordem e Progresso liest, sondern vor allem im Mittelpunkt der politischen Gesinnung der Militärdiktatur.

Der fortschrittliche Charakter des deutschen Wirtschaftswunders entspricht ebenfalls dem fortschrittlichen Charakter der brasilianischen Militärdiktatur, die sich um das milagre brasileiro, die brasilianische Version des deutschen Wirtschaftswunders, bemühte: Es besteht eine ideologische Korrespondenz zwischen dem deutschen Industrialismus und dem brasilianischen Militärpositivismus, die auch die enge Kooperation zwischen den deutschen Industriekonzernen und der brasilianischen Militärdiktatur erklärt.

Die Effizienz der deutschen Industrie wird in Sinnliche Gewissheit von Norbert verkörpert, Roman Gilanians deutscher Freund und Tennispartner, ein Firmenangestellter, der es immer sehr eilig hat:

Er genoß es, zu spielen, aber nur, wenn das Spiel schnell war. Ganz schnell! Wenn er länger spielte, dann spielte er eben schnell etwas länger. (Menasse, 1988: 20); Er fuhr, wie immer, rasend schnell. In Brasilien nennt man seine Fahrweise costurar: nähen. Auf die rechte Spur, auf die linke Spur, auf die rechte, auf die linke, in jedes Loch auf die gerade schnellere Spur. (Menasse, 1988: 21)

Das faustische Gebot, immer hastig weiterzuziehen und niemals der Gegenwart zu gehören, wird von Norbert, der immer auf der Suche nach dem Neuen ist, buchstäblich befolgt. Das Prinzip des Fortschrittes regiert sein Leben dermaßen, dass ihm nichts übrig bleibt, als eben immer schneller fortzuhasten, egal wohin. Hauptsache, nur nicht stehen zu bleiben. Dass der Mensch immer hinter etwas herlaufen muss, ist das eiserne Gesetz des Ortes und der Zeit. Kurzatmig, rastlos, von dem Bedürfnis besessen, immer und immer wieder sich dem Neuen und dann dem noch Neueren zuzuwenden, verkörpert Norbert einen Drang, der für den industriellen Kapitalismus beispielhaft ist. Seine sportlich-abenteuerliche Auffassung des Lebens, in der es gilt, an irgendeinem Spiel teilzunehmen, solange es Spaß macht, ist für eine Lebensweise typisch, in die es viel Spaß und wenig Freude gibt. Denn Spaß beansprucht bekannterweise viel weniger Zeit und vor allem viel weniger Hingabe als Freude.

Daher ist Norbert auch eine Allegorie für die Kultur der Oberflächigkeit, die für das westliche 20. Jahrhundert (und für die westliche Gegenwart) so typisch ist. Er passt ausgezeichnet zum Geist einer Stadt wie São Paulo, deren Stolz es einmal war, als «fastest growing city in the world» zu gelten. Norbert wird mit seiner quasi religiösen Hingabe zur Technik, die für die bundesrepublikanische Nationalkultur charakteristisch ist, sozusagen zum spiritus familiaris, zum familiären Geist der in Brasilien etablierten deutschen Unternehmen.

Gerade diese Religion, oder dieser Götzendienst der Technik und der Schnelligkeit, übte auf die Militärregierung Brasiliens eine ungeheure, beinahe unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Es ist kaum zu verleugnen, dass in der Blütezeit der Militärdiktatur in den 1970er-Jahren die brasilianische Kultur von einem Fetischismus der Technik befallen worden ist, dessen Kultusgegenstände zum Beispiel Automobile und Flugzeuge waren, die in ihren Tempeln – Autobahnen, Viadukten, Brücken, Tunneln, Flughäfen usw. – als Devotionalien von einer Bevölkerung, die nach Fortschritt durstete, angebetet wurden.

Es war die Zeit der großen Flughafenterrassen, von denen aus man die die fliegenden Riesen beim Landen und beim Starten beobachten konnte, sowie der großen Automobilsalons, die im Kulturleben São Paulos immer eine sehr bedeutende Rolle spielten.

Die Faszination der Technik erreichte schon den Grad einer nationalen Manie, sodass es der Traum jedes Sohnes einer besseren Familie war, zum Ingenieur ausgebildet zu werden.

Von einer Zukunft geblendet, die nie erreicht werden kann, da sie immer Zukunft bleiben muss, gleicht das São Paulo der Militärdiktatur einer Insel der Lotophagen, deren paradiesischer Optimismus vom Vergessen abhängt.

* * *

Die brasilianische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht als eine rein koloniale begreifen. Wirtschaftlich und politisch entspricht sie nicht allen Voraussetzungen, die für kolonialen Machtverhältnisse charakteristisch sind. Allerdings sind die sozialen Ungleichheiten im Lande ein Erbe der portugiesischen Kolonialzeit und der Sklaverei, die de facto nie abgeschafft worden ist.

Gemeinsame Interessen verbinden die einheimische herrschende Schicht und die Vertreter des internationalen Großkapitals, sodass die herrschende Schicht einerseits aus den Vertretern großer kapitalistischer Wirtschaftsmächte, andererseits aus der einheimischen weißen élite besteht.

Dass diese weiße élite nie imstande gewesen ist, eine eigene Kultur zu entwickeln, sondern immer wieder ausländische Modelle nachgeahmt hat – zuerst französische und dann nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend nordamerikanische –, hängt mit der Tatsache zusammen, dass die brasilianischen Weißen schon zur Kolonialzeit nie die Absicht hatten, ihre europäische Vergangenheit und Herkunft hinter sich zu lassen, sondern sie ganz im Gegenteil als Zeichen und Beweis ihrer Überlegenheit den Schwarzen und den Einheimischen gegenüber pflegten.

Den brasilianischen Republikanern des 19. Jahrhunderts galt die Französische Republik als Vorbild. Als sich São Paulo Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Kaffeeboom und dann durch die Industrialisierung zum wichtigsten Wirtschaftspol Brasiliens entwickelte, wurde das Stadtzentrum nach Pariser Vorbildern aufgebaut. Die französische Sprache und die französische Kultur galten als die besten und schönsten auf der Welt, daher bemühten sich auch die Mitglieder der élite der Paulistas, die französischen Vorbilder nachzuahmen.

Die brasilianische Gesellschaft ist ein Konstrukt, in dem zwei verschiedene Formen der Herrschaft koexistieren, da die brasilianische Gesellschaft weder als reine Kolonialgesellschaft noch als eine Gesellschaft, deren Asymmetrien ausschließlich ihren inneren Widersprüchen entspringen, verstanden werden kann. Daher bestehen zwischen den Vertretern des internationalen Großkapitals und den Mitgliedern der brasilianischen élite gemeinsame Interessen, die ebenfalls von Menasse hervorgehoben werden.

Die Handlung von Sinnliche Gewissheit spielt sich innerhalb der deutschsprachigen Welt São Paulos zu Beginn der 1980er-Jahre ab. São Paulo ist schon seit langem die größte deutsche Industriestadt außerhalb Deutschlands.

Seit den 1960er-Jahren ist São Paulo keine Stadt mehr, um deren Zentrum sich nach europäischen Vorbildern, und nach Wienerischen Vorbildern erst recht, immer weiter entferntere Peripherien ausbreiten, sondern eher ein Konglomerat verschiedener Städte, die ihre eigenen Zentren haben, und die praktisch in vollkommener Unabhängigkeit voneinander, oft praktisch ohne Berührungspunkte, existieren. Auch im Gegensatz zu Wien haben diese verschiedenen «Städte» keine Vergangenheit. Jeroen Dewulf behauptet, dass São Paulo als Gegenbild von Wien «eine Stadt [ist], in der das Alte keine Zukunft hat und die Zukunft auf keine Geschichte Rücksicht nimmt» (Dewulf 2002: 565).

Der Ort von Menasses Erzählung besteht eigentlich aus einem scheinbar nur zufälligerweise in die Geographie der Stadt inskribierten Dreieck, an dessen Spitzen sich erstens die nebeneinanderliegenden Bezirke von Brooklyn, Alto da Boa Vista und Granja Julieta, zweitens die Universitätsstadt, und drittens der Bezirk Jardins befinden. Diese physische Umgebung ist aber für eine Erzählung, die sich vorzugsweise innerhalb von Häusern, Restaurants, Bars und Hotels abspielt, unbedeutend. Obwohl sich diese intérieurs in der Stadt São Paulo befinden, sind sie eigentlich von der Stadt abgetrennt, denn innerhalb ihrer Gitter und Mauern werden deutsch-österreichische klein- oder großbürgerliche Kulturformen weiter gepflegt, die in keinerlei Beziehung zu ihrer Umgebung stehen, wie es für eine Kolonialgesellschaft charakteristisch ist. Auch die öffentlichen Lokale, wie etwa die Bar Esperança, die in der Handlung eine wichtige Rolle spielt, bewahren von ihrer Umgebung immer eine gewisse Distanz. Die Kundschaft dieser Lokale besteht zum größten Teil aus Vertretern einer Gruppe, deren Beziehung zu São Paulo rein zufälliger Natur ist: ausgewanderte Deutsche und Österreicher, die sich aus verschiedenen Gründen in São Paulo ansässig gemacht haben. Aus diesen intérieurs werden São Paulo und Brasilien überhaupt immer nur als fremde Welten betrachtet, zu denen diese Ausländer keinesfalls gehören, und auch nicht gehören möchten. Nicht nur, dass sie sich in São Paulo fremd fühlen, sondern sie scheinen stets stolz auf ihre ausländische Herkunft zu sein. Denn die Brasilianer und ihre Sitten, die kaum als Kultur anerkannt werden, werden im Grunde genommen verachtet, wie es sich bei einer Beziehungsart gehört, die von kolonialer Mentalität bestimmt wird.

Die Figuren in Robert Menasses Roman entsprechen in ihrer quasi hermetischen Isoliertheit der Situation der europäischen Kolonisatoren oder Neokolonisatoren in jedem beliebigen Land der dritten Welt. Ihre Beziehung zur Umgebung, in der sie sich befinden, ist rein objektiv: Die Realität der Einheimischen bleibt ihnen fremd und interessiert sie nur insofern als sie sich eignet, ihre Geschäftspläne in Erfüllung zu bringen.

Neben der Kritik des brasilianischen Fortschrittmodells spielt die Schilderung der deutschsprachigen Kolonie São Paulos eine wichtige Rolle in Sinnliche Gewissheit. Diese deutschsprachige Kolonie bildet ein deutschsprachiges Europa en miniature in São Paulo: eine regelrechte Kolonialsiedlung, die von ihrer Umgebung mittels Stacheldrahtgitter und Mauern getrennt und von privaten Sicherheitskräften und Hunden überwacht wird, sodass sich der Brasilianer immer jenseits sichtbarer Grenzen befindet.

Die nebeneinander liegenden Stadtvierteln von Brooklyn, Alto da Boa Vista und Granja Julieta im südlichen Teil der Stadt, in die die deutschsprachige Kolonie angesiedelt war, behielten in den 1980er-Jahren noch einen vorstädtischen Charakter. Mit großen Villen, großen Gärten und vielen leerstehenden Grundstücken, auf die man Eukalyptusbäume gepflanzt hatte, welche die Luft mit ihrem Duft reiner riechen ließen, als sie war, war das eine Gegend mit einem besonderen Charme. Man lebte dort in der Nähe von der Natur. Auf den ungepflasterten, unbeleuchteten Straßen konnte man viele Vögel, aber auch Spinnen, Schlangen und verschiedene Arten von wilden Säugetieren sehen. Es war eine eigenartige Mischung zwischen eleganter Vorstadt, die am Beispiel respektabler bürgerlichen Gartensiedlungen in Europa aufgebaut worden war, und europäischer Kolonialsiedlung mitten in der tropischen Natur, die an Afrika oder an Asien denken ließ.

Der Charakter dieser Gegend war der eines Zwischenortes, der sich weder hier noch dort befand, und daher auch dem Geist ihrer Bewohner entsprach. Wie in einem Auffanglager wurden dort die Trümmer verschie­dener verlorengegangener, deutschsprachiger Welten gesammelt. Es handelte sich also um eine Ersatzheimat, um einen Ort in der Fremde, der gleichzeitig heimlich und unheimlich war, aus dem man nach Europa blicken konnte, nach einem drüben, wie die Ausgewanderten euphemistisch sagten, dessen Schönheit oft mit dem Grad der Entfernung wuchs.

In dieser Gegend fanden nicht nur berüchtigte Kriegsverbrecher wie Franz Wagner und Josef Mengele Unterkunft, sondern auch hunderte oder sogar tausende von anderen, die ungestört ihr Leben unter dem Schutz der Anonymität fortführen konnten.

Dessen ungeachtet, wohnten direkt neben ihnen deutsch-jüdische und andere vor dem Nationalsozialismus Geflüchtete.

Was innerhalb dieser sehr eigenartigen deutschen Kolonie geschah, war unter anderem die schnelle Verwandlung von Flüchtlingen, egal ob vor dem Nationalsozialismus oder vor den Entnazifizierungsprozessen, in Kolonisatoren besonderer Art, die sich mit einem Europa identifizierten, das sich allerdings nicht jenseits des Atlantiks, sondern jenseits einer Zeitengrenze befand. Gleichzeitig blieben ihnen Brasilien und die Brasilianer manchmal sympathisch, manchmal lustig oder komisch oder sogar lächerlich, aber immer fremd, sehr fremd.

Dass diese Fremdheit von Verachtung keineswegs frei ist, versteht sich von selbst, denn die Verachtung ist das Grundprinzip der kolonialistischen Mentalität.

Die Erfahrung der Macht über andere Menschen ist seit der Kolonialzeit ein wichtiger Aspekt der Zugehörigkeit zur herrschenden Schicht in Brasilien. Gilberto Freyre schreibt in Casa Grande e Senzala:

[…] sobre o filho de família escravocrata no Brasil agiam influências sociais – a sua condição de senhor cercado de escravos e animais dóceis – induzindo-o à bestialidade e ao sadismo. Este, mesmo des­sexualizado depois, não raro guardava em varias manifestações da vida ou da atividade social do indivíduo, aquele «sexual undertone», que segundo Pfister, «is never lacking to wellmarked sadistic pleasure». Transformava-se o sadismo do menino e do adolescente no gosto de mandar dar surra, de mandar arrancar dente de negro ladrão de cana, de mandar brigar na sua presença capoeiras, galos e canários – tantas vezes manifestado pelo senhor de engenho quando homem feito; no gosto de mando violento ou perverso que explodia nele ou no filho bacharel quando no exercício de posição elevada, política ou de admi­nistração pública; ou no simples e puro gosto de mando, característico de todo o brasileiro nascido ou criado em casa-grande de engenho. […] (Freyre, 1943: 171)

In einer Gesellschaft, die als Sklavengesellschaft gegründet wurde, gehören solche Tugenden wie Nüchternheit, Respekt vor Anderen, soziales Bewusstsein und Gerechtigkeit kaum zum Repertoire einer sozialen Schicht, die schon immer auf die Unterwürfigkeit des größten Teils der Bevölkerung zählen konnte.

Ohne einen gewissen Grad von Sadismus sind die Beziehungen zwischen den Herrschern und den Beherrschten in Brasilien kaum denkbar. Obwohl die Zeit, in der das Foltern von Sklaven zur Ausbildung der Kinder der brasilianischen élite gehörte, längst vorbei ist, lernen die Kinder sehr rasch die Unterschiede zwischen den Ausgesperrten und den Verschanzten zu erkennen, sodass die Zugehörigkeit zur einen oder zur anderen Gruppe sofort für jeden erkennbar wird.

Das Modell des brasilianischen Großbürgertums ist eine Adaptation archaischer Strukturen zum zeitgenössischen Stand der Technik: Brasilien bleibt ein Land, in dem die eigentliche Staatsbürgerschaft kein allgemein anerkanntes Recht ist, sondern einer Gruppe von Privilegierten, zu der natürlich die Vertreter des internationalen Großkapitalismus gehören, vorbehalten bleibt. Der Überfluss an ungebildeten, billigen Arbeitskräften weist mit der Fülle der ehemaligen Sklavenmärkte unübersehbare Ähnlichkeiten auf. Unter neuen Formen verkleidet, bestehen die archaischen Strukturen fort, ebenso wie der unüberbrückbare, erbliche Abgrund, der Herrscher von Beherrschten trennt.

Der sündhafte Charakter der brasilianischen Gesellschaft und die Schwere dieser Sünde spiegelt sich in der Zahl der uniformierten, bewaffneten privaten Sicherheitskräfte wider, die in den Straßen jedes besseren Stadtviertels zu sehen sind, sowie in der Menge der gepanzerten, importierten Luxusautomobile, die in den Straßen des Landes in Mengen verkehren, wie es sie sonst nirgendwo in der Welt gibt.

Unter der Maske der Herzlichkeit und des Mitleids steckt oft der Klassenhass: den Armen werden Eigenschaften wie Stupidität, Trägheit und Fatalismus zugeschrieben, die auch als Rechtfertigung für ihr Elend funktionieren. Dieser Aspekt der brasilianischen Gesellschaftsordnung wird von Menasse anhand von D. Ilse, die Vermieterin des möblierten Zimmers im Bezirk Granja Julieta, in dem Roman Gilanian wohnt, hervorgehoben:

Der Brasilianer kann bei Blumen nicht vorbeigehen, ohne sie auszureissen. Hundert Meter weiter wirft er sie weg. Der Brasilianer glaubt, das wächst alles einfach so, von selbst. Er denkt gar nicht daran, daß diese Blumen das Ergebnis von Arbeit, von Pflege sind, weil man sich freuen will, wenn man aus dem Fenster schaut und die Blumen sieht. – Der Brasilianer wird dieses nie verstehen, jenes nie begreifen, nein, das begreift er nicht, der Brasilianer. (Menasse, 1988: 145)

Der Kolonisierte wird vom Kolonisator immer nur anhand seiner negativen Eigenschaften betrachtet und beschrieben. Gerade diese negativen Eigenschaften sind es, die seine untertänige soziale Situation in den Augen der Kolonisatoren rechtfertigen. Albert Memmi schreibt:

Le colonisateur participe d’un monde supérieur, dont il ne peut que recueillir automatiquement les privilèges. (Memmi, 1985: 38)

Für Aimé Césaire ist die Beziehung zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten mit der Reifikation identisch:

Between colonizer and colonized there is room only for forced labor, intimidation, pressure, the police, taxation, theft, rape, […] arrogance, self complacency, swinishness, brainless elites, degraded masses. (Cé­saire, 2000: 42)

The colonizer, who in order to ease his conscience gets into the habit of seeing the other man as an animal, accustoms himself to treating him like an animal, and tends objectively to transform himself into an animal. (Césaire, 2000: 41)

Eine Kolonialgesellschaft besteht einerseits aus einer großen Gruppe von Menschen, deren Menschlichkeit in Frage gestellt wird, andererseits aus einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich selbst als eine Art Mensch­heitsadel begreifen. Die schreiende soziale Ungerechtigkeit einer solchen Gesellschaft wird dadurch gerechtfertigt, dass sie vermeintliche Eigenschaften der Mitglieder der entgegengesetzten Schichten widerspiegelt. Natürlich spielt in den Beziehungen zwischen diesen Gruppen der Begriff der Barbarei eine zentrale Rolle und dient auch, wie es für koloniale Kontexte typisch ist, als Rechtfertigung für Gewalttätigkeit, Ungerechtigkeit, Ausbeutung usw. Die Brasilianer, insbesondere wenn sie nicht zur weißen élite gehören, werden von D. Ilse und Ihresgleichen als Barbaren dargestellt, die nicht zivilisierbar sind, weil sie einfach nicht im Stande sind, überhaupt irgendetwas «zu begreifen».

Die Überzeugung von der Allgemeingültigkeit der eigenen Begriffe, Ideen und Weltanschauungen ist nicht von einer gewissen Art Narzissmus zu trennen, der seinerseits mit dem gesamten Kolonialunternehmen zusammenhängt: Nur wer fest davon überzeugt ist, dass die eigenen Konzepte allen anderen überlegen sind und diese obsolet machen, kann sich trauen, Kulturen und Lebensformen erbarmungslos zu kritisieren und sogar zu zerstören.

Rassismus und Kolonisierung sind zwei sich ergänzende Aspekte des europäischen Imperialismus seit dem 16. Jahrhundert. Der Kolonisator betrachtet eine ganz verschiedene Zivilisation, Bräuche, die von den seinen ganz verschieden sind, Menschen, deren Reaktionen ihn oft überraschen. Die Unfähigkeit, etwas sehr Einfaches zu begreifen, nämlich, dass alles eine Vergangenheit und eine Ursache, sowie eine Zukunft und Folgen hat, rechtfertigt in den Augen D. Ilses die Tatsache, dass die Kolonisierten auch nie im Stande sein werden, ihre eigene Lage irgendwie zu bessern: Für sie lebt der Brasilianer nur im Präsens, er genießt das Hier und Jetzt, mit seinen Freuden und seinen Schmerzen, ohne irgendwelche Pläne für die Zukunft zu entwerfen und ohne sich irgendwelche Gedanken über die Vergangenheit zu machen, d. h. ohne die Fähigkeit, Abstraktionen jeder Art vorzunehmen. Für sie ist der Brasilianer wie ein Kind, ein böses, dummes Kind, also, ein Wesen, das von sinnlicher Gewissheit beherrscht wird.

In diesem Sinne findet hier eine Koinzidenz statt: Genauso wie Menasse die in Brasilien angesiedelte Bourgeoisie als blind und von der sinnlichen Gewissheit beherrscht abbildet, sieht D. Ilse «den Brasilianer».

* * *

Der ganze faustische Fortschritt Europas konnte nur aufgrund einer allgemeinen emotionalen Verarmung stattfinden, und die modernen Indu­striestaaten könnten ohne die systematische Unterdrückung der Emotionen ihrer Bürger gar nicht existieren. Die Aufopferung der Emotionen im Heiligtum der Arbeit, die Verdrängung der Gefühle und der Gelüste im Namen des Fortschritts und der Vernunft sind die Grundsätze der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Die bürgerlich-materialistische Lebensauffassung der europäischen Kolonisatoren, für die das Fassbare, das Konkrete und das Diesseitige von höchster Bedeutung sind, unterscheidet sich von dem lyrisch-träumerischen und sinnlichen Charakter, der im Roman den Brasilianern zugeschrieben wird.

Die Eigenschaft, die im kolonialen Diskurs die Kolonisatoren von den Kolonisierten unterscheidet, ist ihre Zielbewusstheit.

Die Kolonisatoren sind vermutlich im Stande, langfristige Zielen nachzugehen. Ihre faustisch-titanische Einstellung ist, was sie eigentlich zu Kolonisatoren macht. Sie sind die Strebsamen und Tüchtigen, während die Anderen in ihren Augen einfach faul seien. So schreibt Albert Memmi:

Le trait de paresse […] semble recueillir l’unanimité des colonisateurs. Le portrait mythique du colonisé comprendra donc une incroyable paresse. Celui du colonisateur, le goût vertueux de l’action. Aucun colonisé n’en est sauvé… (Memmi, 1988: 99)

Auch das physische Klima scheint dabei eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen, denn die tropische Hitze wird tatsächlich im Roman als verblödend dargestellt:

Der nächste Tag war so heiß, daß man beim Gehen im Asphalt Spuren zurückließ. Ich mochte das nicht gern. Vor dem Haus stand Maria mit dem Wasserschlauch und spritzte den Vorplatz. Sie trug Plastiksandalen, eine abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt, das so eng war, daß es auch in die Falten kroch, die ihr Büstenhalter ins Fleisch schnitt.

Den Schlauch hielt sie mit einer eigentümlichen vergnügten Monotonie mal dahin mal dorthin. Man hatte das Gefühl, daß das Wasser schon verdunstete, bevor es auf den Boden traf. Manchmal sah es aus, als würde Maria nur einen kleinen Regenbogen waschen, auf den sie mit ihrem Schlauch zielte. Das war eine schöne Kunst, die mich minutenlang interessierte. (Menasse, 1988: 16-17)

Trotz seiner europäischen Ausbildung lässt sich der Autor vom Spiel des Wassers eines Schlauches bezaubern. Die Zeit scheint plötzlich eine neue, unbekannte Qualität zu gewinnen, so als ob sie stehen geblieben wäre. Plötzlich werden die Strebsamkeit und Geschäftigkeit, die das Leben der Kolonisatoren beherrschen, beiseitegelassen und alles konzentriert sich auf die Hitze, auf Marias Freude mit dem Wasserschlauch, auf die unerwartete Schönheit eines Augenblickes.

In der augenblicklichen Szene mit dem Wasserschlauch verschwindet jede Logik der Kausalität, jede Sorge um die Zukunft oder um die Vergangenheit. Alles konzentriert sich auf eine Gegenwart, die den Anschein hat, mit der Ewigkeit direkt verbunden zu sein. Dieser geistliche Zustand eines Glücks, das von nichts abzuhängen scheint, ist etwas, was im Europa der Romantiker umso mehr vergöttert wurde, als es aus dem täglichen Leben entschwand.

Der Einfluss des tropischen Klimas auf den Charakter der Brasilianer ist ein klassisches Thema der europäischen, deutschsprachigen Reiseliteratur, das von Karen Macknow Lisboa (2011) sehr konsequent analysiert worden ist.

In seinem 1899 veröffentlichten Buch Brasilien. Land und Leute in ethischer, politischer und volkswirtschaftlicher Beziehung und Entwicklung behauptet Moritz Lamberg, «dass es den brasilianischen Bauern lieber ist nichts zu tun, und das halbe Leben beim Pfeifenrauchen, Träumen, Jagen oder Fischen zu verschwenden». (Lisboa, 2011: 150). Ferner behauptet Lamberg:

A indolência, no entanto, perpassa todas as «classes». O grande re­sponsável è a natureza, que diminui as necessidades na luta pela existência. Por ser muito generosa, não obriga as pessoas a se empen­harem a trabalhar; o uso total das forças intelectuais e físicas não è necessário, de forma que elas vão perdendo o tônus e enfraquecendo por falta de uso. (Lisboa, 2011: 150)[1]

Dieses Muster findet sich bei verschiedenen deutschsprachigen Autoren, die behaupten, dass die wirtschaftlich Rückständigkeit Brasiliens der Faulheit und der Frivolität der Brasilianer zuzuschreiben seien.

Dass in den Tropen aufgrund des Klimas und der Großzügigkeit der Natur die menschlichen Kräfte schwinden, und dass sich der Brasilianer leicht beherrschen lässt, sind weitere Ideen, die sich bei vielen Autoren wiederholen.

O mercado de trabalho está na mão de estrangeiros […] os brasileiros carecem de disciplina para terminar seus projetos. (Lisboa, 2011: 153)[2]

So ist der Blick des Europäers auf die Brasilianer von dem Glauben an ihre moralische Überlegenheit bestimmt, die sich in einer rationalen Arbeitsweise und einer höheren Produktivität niederschlage.

Für Norbert Jacques, ebenfalls von Karen Macknow Lisboa zitiert,

Os brasileiros resguardam um Europäertum anterior à morte de Goethe. É o Europäertum de antes da industrialização […]. Ao perfil antimate­rialista do brasileiro acrescentar-se-ia outro fator, herdado pelos negros e os índios: a indolência. (Lisboa, 2011: 154-155)[3]

Auch in diesem Sinne schreibt Wolfgang Hoffmann-Harnisch, dass

O europeu não sabe mais simplesmente viver e se alegrar por estar vivo. Condições climáticas e ambientais forçaram-no a trabalhar ardua­mente durante o verão para sobreviver no inverno. Tratava-se de uma necessidade, transformada em virtude, da qual agora se glorificam. (Lisboa, 2011: 155)[4]

Auch Stefan Zweig wird von Karen Macknow Lisboa (2011: 157) zitiert, der über den Mangel an Strebsamkeit und Habgier der Brasilianer schreibt, und der ebenfalls die brasilianische Lässigkeit den Einflüssen des Klimas zuschreibt.

Der Geschmack, das Aroma und die kleinen Freuden der Gegenwart, die immer vor Augen sind, und die für den sinnlichen Brasilianer die größten aller Lebensschätze darstellen, stehen in direktem Gegensatz zu den großen Projekten der Europäer.

Die Europäer in Menasses Buch sind immer nur mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft beschäftigt. Den Brasilianern scheint hingegen die flüchtige, immer sich erneuernde Gegenwart zu interessieren, sodass sie mit einer Mischung von Misstrauen und Missverständnis die Projekte der ausländischen und der brasilianischen élite betrachten. Sie bewahren ihr Gegenwartssinn, der von Gefühl und Kontemplation abhängt.

Während die Europäer ihre Herrschaft auf Grund ihrer Zukunftsorientierung ausüben, d. h. auf Grund ihrer kapitalistischen Geschäftspläne, scheint für die meisten Brasilianer diese Perspektive vor der Allmacht der Gegenwart zu verschwinden. Die spielerische Art der Brasilianer, mit dem Leben umzugehen, scheint für den Europäer gleichzeitig bedrohlich und verführerisch zu sein:

Nur kurz. Ist etwas schön, dann verweile nicht! Denn es könnte sich als das herausstellen, was es wohl sein muß: als ein Trugbild. Es könnte etwas fordern, das angesichts der bunten Widersprüchlichkeit und reichen Zusammenhanglosigkeit der Welt absurd wäre, nämlich eine allgemeine und dauernde Geltung, es könnte dich beanspruchen und dadurch von anderem ausschließen, und plötzlich bist du ganz ein Teil. Die Falle könnte zuschnappen! Haste weiter! (Menasse, 1988: 20)

Die Rückkehr in die sinnliche Gewissheit bedeutet daher auch den Verlust eines auf Kausalität begründetes, zukunftsorientierten Zivilisationsmodells. Die Vernunft, die sich sozusagen außerhalb des Lebens befindet, die das Leben von einem äußerlichen Sichtpunkt betrachtet, ist im hegelianischen philosophischen System die Voraussetzung für die Emanzipation des Menschen aus der Sklaverei der sinnlichen Gewissheit oder, anders gesagt, der erste Schritt auf dem Weg zur menschlichen Freiheit. Die Unfähigkeit, diesen Schritt zu tun, bedeutet für Hegel eine Art von Verhaftung im Sinnlichen und in der Gegenwart, die in den Augen der europäischen Kolonisatoren mit der Stupidität der beherrschten Völker oder Schichten identisch ist, und die ebenfalls als kindlich empfunden wird, wobei kindlich hier keinesfalls positive Konnotationen hat.

Für Alfredo Bosi basiert die Kolonisation auf einer Form des kollektiven Bewusstseins, in dem der Begriff der Tüchtigkeit, auch im Sinne einer zukunftsorientierten Form des Handelns, eine zentrale Rolle spielt. (Bosi, 1992: 16). Diese Projektdimension wandelt die Gegenwart in potenzielle Zukunft um, und diese Zukunft ist durch Produktivität zu erreichen. Dass diese Zukunft notwendigerweise besser und schöner als die Gegenwart sein muss, ist die ungesagte, nie in Frage gestellte Voraussetzung des Glaubens an den Fortschritt.

Was D. Ilse über «den Brasilianer» sagt, rechtfertigt in ihren Augen die schreiende soziale Ungerechtigkeit der brasilianischen Gesellschaft. Dass die Kolonisatoren nach Brasilien kommen, weil in Brasilien die Arbeitskraft fast umsonst zu bekommen ist, und dass sie damit ein glänzendes Geschäft machen, wird gar nicht erwähnt, denn die Ziele, die als fortschrittlich gelten, gelten auch als selbstverständlich, und können Vieles rechtfertigen.

Solange man sich auf der richtigen Seite der Stacheldrahtgitter und elektrifizierten Mauern befindet, scheint alles – sogar die Sklaverei – erträglich und tragbar zu sein. Hauptsache, man kommt vorwärts, egal ob die anderen rückwärts, zugrunde oder himmelwärts gehen. So wird die Trennung zwischen Verschanzten und Ausgesperrten nicht nur erklärt, sondern auch gerechtfertigt.

D. Ilses Argumentation basiert auf einem Mangel an Lernfähigkeiten, aber ihr Diskurs stellt diesen Mangel als unverbesserlich dar, sodass «der Brasilianer» schon im Voraus verurteilt wird: «Der Brasilianer wird dieses nie verstehen, jenes nie begreifen, nein, das begreift er nicht, der Brasilianer». Obwohl es hier nicht um Rasse, sondern um Bildung geht, ist «der Brasilianer» von der «guten deutschen Bildung» aus Prinzip ausge­schlossen: Sie liegt für ihn jenseits der Schanzen, der elektrifizierten Mauern und der Stacheldrahtgitter, die ihn von den Kolonisatoren trennen.

Die Verschanzten sind diejenigen, die es verstehen, Pläne zu entwerfen, tüchtig zu arbeiten, Vorsicht und Nachsicht zu üben. Sie schauen in die Zukunft, verstehen es, sich zu organisieren, und nutzen ihre Zeit produktiv.

Daraus folgt, dass «der Brasilianer» in D. Ilses Diskurs immer ein Sklave der Umstände und der Sinnlichkeit nicht nur sein wird, sondern sein muss. D. Ilse verkörpert in diesem Sinne die prinzipielle, eingeborene Idee der Überlegenheit der Kolonisatoren:

Dona Ilse trat vor das Haus. Ihr mächtiger Körper steckte in einem sommerlichen, doch züchtigen Dirndl, das blonde Haar war wie immer zu einem Kranz geflochten, in ihrem weißen Gesicht hingen rund und rot die Wangen, tatsächlich wie Äpfel. Sie sah nach der Post. Die Deutsche Zeitung war gekommen. Warum ging Dona Ilse mit all ihrer Deutschtümelei nicht nach Deutschland zurück? Sie hatte immer jenes Lächeln, das man auf diesen Fotos in den Gesichtern der Mädchen sieht, denen der Führer die Wange streichelt. (Menasse, 1988: 17)

Große kapitalistische Unternehmen verlangen vor allen Dingen die Fähigkeit, vorsichtig zu planen, auf Basis technischer Kenntnisse strategisch zu handeln, und die Zeit zu bezwingen. Ohne diese Denkweise kann keine industrielle Gesellschaft existieren.

Zwei entgegengesetzte Verständnisse der Kolonisation, die sich gegen­seitig ergänzen, lassen sich in D. Ilses Geisteshaltung erkennen: einerseits, dass die Kolonisation eine Selbstverständlichkeit ist, die von der Tatsache ausgeht, dass eine höhere, bessere Kultur eine andere, niedrigere, unbedingt, aus sogenannten natürlichen Gründen, unterwerfen muss, und andererseits, dass diejenige Kultur, die unterworfen worden ist, durch die Unterwerfung eine Chance zur Besserung erhält.

Die Lust auf Herrschaft ist die eine Eigenschaft, die in jeder Form von Kolonisation vertreten ist. «Auf etwas aufpassen, die Bedeutung des [lateinischen Verbums] colo, heißt nicht nur pflegen, sondern auch herrschen». (Bosi, 1998: 12)

Die europäischen Begriffe des Autors scheinen nicht auszureichen, um die Komplexität von São Paulo zu erfassen: Der Ich-Erzähler staunt immer wieder über alles was er sieht und erlebt, lässt sich auch von dem gigantischen élan vital der Stadt mitnehmen und bleibt am Ende immer noch fremd.

Aber São Paulo ist ja eine Stadt der Fremden, der Einwanderer aus aller Herren Länder, wo jeder und gleichzeitig keiner beheimatet ist, und wo Begriffe wie Heimat und Fremde eigentlich keinen festen Sinn haben: eine Heimat, die immer fremd bleibt; eine Fremde, die immer heimlich ist*.

Bibliographie

Bosi, Alfredo. Dialética da colonização. São Paulo: Companhia das Letras, 1992.

Césaire, Aimé. Discourse on Colonialism. New York: Monthly Review Press, 2000.

Dewulf, Jeroen. «São Paulo im Werk von Robert Menasse». Revista da Faculdade de Letras – Línguas e Literaturas, XIX, 2002, p. 559-570

Freyre, Gilberto. Casa grande e senzala. Rio de Janeiro: José Olympio Editora, 1943.

Gollner, Helmut. «Von der Schönheit des Hassens: Hass und Hässlichkeit als Kulturwiderstand in der österreichischen Gegenwartsliteratur» <i> Pandaemonium Germanicum 24 no. 44 (2021): 219-245. Letzter Abruf: 19.10.2021 https://www.revistas.usp. br/pg/article/view/187702/173373

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. Köln: Anaconda, 2010.

Lévi-Strauss, Claude. Tristes tropiques. Paris: Plon, 1955.

Lisboa, Karen Macknow. Mundo novo, mesmo mundo – Viajantes de língua alemã no Brasil (1893-1942). São Paulo: Hucitec, 2011.

Memmi, Albert. Portrait du colonisé, portrait du colonisateur. Paris: Galimard, 1985.

Menasse, Robert. Sinnliche Gewißheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998.   



[1] Die Indolenz wird in allen sozialen Schichten bezeugt, und der Grund dafür ist die Großzügigkeit der Natur, die den Kampf ums Überleben leichter macht. Weil die Natur so großzügig ist, sind die Menschen nicht zur Arbeit gezwungen. Der Gebrauch aller physischen und intellektuellen Kräften ist nicht notwendig, sodass sie sich aus Mangel an Anstrengung am Ende vermindern. (Lisboa, 2011: 150).

[2] Der Arbeitsmarkt ist in den Händen der Ausländer […], es fehlt den Brasilianern die Disziplin, um ihre Projekte in Erfüllung zu bringen. (Lisboa, 2011: 153).

[3] Die Brasilianer bewahren ein Europäertum aus der Zeit vor Goethes Tod. Es ist ein Europäertum aus der Zeit vor der Industrialisierung […]. Die antimaterialistische Lebensauffassung der Brasilianer wäre auch durch die Trägheit, die ein Erbe der einheimischen Indianer ist, zu erklären. (Lisboa, 2011: 154-155).

[4] Der Europäer versteht nicht mehr zu leben und sich auf das Leben zu freuen. Klima- und Umweltzustände haben ihn gezwungen, im Sommer hart zu arbeiten, um den Winter überleben zu können. Es ging um eine Notwendigkeit, aus der eine Tugend gemacht wurde, und auf die der Europäer jetzt stolz ist. (Lisboa, 2011: 155).

* Der Autor dankt der Alexander von Humboldt Stiftung für die Unterstützung und Herrn Dr. Christian Ernst für die wichtigen Ratschläge.