Gabriele Eichmanns Maier

(Pittsburgh)

Leerstellen, weiße Flecken und blassrote Zeichen im Schnee
Von Sinnverlust und Sinnfindung im mythischen Land der
Kham-Nomaden in Christoph Ransmayrs Roman «Der fliegende Berg»

[Blank Spots, White Flecks and Pale Red Signs in the Snow. Of Meaning Lost and Found in the Mythical Land of the Kham Nomads in Christoph Ransmayr’s Novel «The Flying Mountain»]

abstract. In his novel Der fliegende Berg, Christoph Ransmayr plays with seemingly contradictory myths that surround the Himalayan mountain Phur-Ri, a mountain that is not marked on any maps and symbolizes a void, a figment of the imagination that serves as a foil for unfulfilled longings and desires. Using Roland Barthes and Mircea Eliade as its theoretical framework, this article analyzes the function of myths in Ransmayr’s novel and explores whether his use of myth can fill the void with meaning – or whether the void remains a vacuum that repells rather than allows for any form of signification.

Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg handelt, wie so viele Werke des Autors, von dem Reisen in weit entfernte Gebiete, von dem Er­kunden einer der vermeintlich letzten weißen Flecken der Erde. Ransmayr erzählt von dem Aufbruch der irischen Brüder Liam und Padraic zu einem Berg mit Namen Phur-Ri im osttibetischen Himalaya, dessen Existenz nur durch eine Schwarzweißfotographie belegt ist – auf Landkarten ist er nicht verzeichnet. Ausgerüstet mit den neuesten Errungenschaften der Technik, die es den Brüdern ermöglichen, in unbekannte Regionen vorzudringen und diese bis in die höchsten Höhen zu durchwandern, begeben sich Liam und Pad auf eine Expedition, die sich dezidiert von klassischen Reisen unter­scheidet. Denn es gilt eine Örtlichkeit zu erforschen, die sich durch ihre mutmaßliche Nicht-Existenz auszeichnet, durch eine Leerstelle, die dem Bereich des Mythischen zuzurechnen ist und stellvertretend für Wünsche und Sehnsüchte der Brüder steht, die durch das Erklimmen des Berges er­füllt werden sollen. Der Berg Phur-Ri stellt somit den letzten weißen Fleck der bekannten Welt dar, in den sich die Brüder als erste Europäer einzu­schreiben und ihn sich so zu unterwerfen gedenken.

Es sind die Mittel der modernsten Technik, sei es ein wetterfestes Kup­pelzelt, Thermo-Schlafsack, Höhenmesser und Eispickel, die den Brüdern das Überleben in Eis und Schnee ermöglichen; weiterhin verhelfen neueste Computerprogramme sowie ein durch das Internet erschaffenes, ausgefeil­tes Kommunikationsnetzwerk den Brüdern zu einem Eintritt in das nach außen hermetisch abgeschlossene Land Kham. Dass der Glaube an Tech­nik und die daraus resultierende Unbesiegbarkeit des Menschen jedoch nichts weiter als eine Illusion sind, stellt der Roman deutlich heraus. Es lässt sich im Laufe der Reise beobachten, wie der für die Brüder tief im Rationa­len verankerte Fortschrittsglaube immer mehr in den Hintergrund gerät, sich mit der mythischen Vorstellungswelt der Kham Nomaden vermischt und durch diese teilweise überlagert wird. Der Mythos der Aufklärung, wie ihn schon Theodor Adorno kritisierte, tritt hinter der archaischen Lebens­philosophie der Bergnomaden zurück, der Ransmayr weitaus mehr Wahr­haftigkeit zuzuschreiben scheint als den dem Fortschritt verfallenen und somit korrumpierten Zivilisationsmenschen.

Ransmayr spielt in seinem Roman mit scheinbar unverrückbaren Grundsätzen der vernunftgesteuerten Welt, die jedoch bei näherem Be­trachten der Kategorie moderner Mythen zuzurechnen sind, wie sie Mircea Eliade in seinem Werk Le sacré et le profane (1965) herausarbeitet und in Ver­bindung mit einer archaischen Vorstellungswelt setzt. Dieser Artikel möchte Ransmayrs Spiel mit Mythen näher beleuchten und deren Funktion im Roman analysieren. Dabei soll mit Hilfe von Eliades religionswissen­schaftlichen Mythenstudien, aber auch unter Bezugnahme auf Roland Barthes Mythologies (1957) und L’Empire des signes (1965) geklärt werden, ob die genannten Leerstellen durch die jeweiligen Mythen im Laufe des Ro­mans gefüllt werden können oder ob diese in ihrer Leere verbleiben. Sind die vorhandenen Mythen sinnstiftend oder müssen sie vielmehr als eine reine Verkettung von Zeichen angesehen werden, die sich letztendlich im Nichts verlieren, wodurch der Wunsch nach dem erfolgreichen Füllen der Leerstellen selbst zum Mythos gerät?

Der fliegende Berg oder Phur-Ri, wie ihn die Nomaden nennen, ist keine gewöhnliche Naturerscheinung; vielmehr muss er zunächst als vermeintli­ches Fantasieprodukt angesehen werden, da seine Existenz als fraglich gilt. Den einzigen Anhaltspunkt seiner mutmaßlichen Existenz bildet eine «Schwarzweißfotographie / aus dem vergangenen Jahrhundert» (DFB 38)[1], die einen unbekannten Berggipfel des Transhimalayas zeigt. Geschossen von einem chinesischen Bomberpiloten wird besagter Gipfel von diesem auf eine Höhe von neuntausend Meter und somit den Mount Everest über­steigend geschätzt und als «höchste Säule / der revolutionären Welt» (DFB 39) bezeichnet. Über hundert Jahre später dient diese Fotographie Liam als Projektionsfläche für seine persönlichen Sehnsüchte und Wünsche, obwohl Liam selbstverständlich «wußte ..., / dass sich Bildlegenden wie jene, / die zu der eisig strahlenden Fotografie / auf einem Schirm gehörten, / immer wieder als Irrtum, Fehlmessung, Scherz / oder bloße Lüge erwiesen hatten» (DFB 41). Sein Entschluss, den fliegenden Berg zu besteigen und dadurch für sich zu erobern, ist gefasst, wovon ihn auch das Fehlen jeglicher wis­senschaftlicher Daten nicht abhalten kann. Der ominöse Charakter des Ber­ges wird bereits zu diesem Zeitpunkt von Erzähler Pad klar herausgestri­chen, wenn er bemerkt, dass Liam ein ähnliches Schicksal wie jenes des chinesischen Piloten ereilen wird: Wie der Pilot samt Flugzeug der Unbarm­herzigkeit eines gewaltigen Schneesturmes erliegt, wird auch Liam Opfer der widrigen Wetterverhältnisse und verschwindet unauffindbar in den Eis­massen des Transhimalayas: «Keine Spuren. Keine Reste» (DFB 40)[2].

Die vollkommene Abwesenheit von Informationen und Daten den flie­genden Berg betreffend muss als Voraussetzung für die Faszination insbe­sondere von Liam gesehen werden. Neben seiner Eigenschaft als womög­lich höchster Berg der Welt symbolisiert Phur-Ri den sprichwörtlich letzten weißen Fleck auf der Landkarte, der, an keinem Ort verzeichnet, als unbe­schriebenes Blatt auf die Einschreibung der beiden Brüder oder – noch zu­gespitzter ausgedrückt – auf seine erstmalige Wirklichkeitswerdung wartet. Wie schon Josef Mazzini in Ransmayrs früherem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (2001) aufbricht, um die Wirklichkeit der eigenen Fan­tasie anzupassen[3] und folglich «die erzählte Geschichte die Fakten macht und nicht, wie ehedem angenommen, die Fakten die Geschichte erzählen»[4] (Kunne 312), begeben sich auch Liam und Pad auf eine Expedition mit der Absicht, einen nicht verzeichneten Berg in die Welt zu bringen und damit eine Leerstelle zu füllen, die nur für die Brüder als solche wahrgenommen wird. Die Leerstelle des Berges bildet das mythische Zentrum der Erzäh­lung, um das der Roman kreist, und das Liam, der Analogie eines schwarzen Loches[5] folgend, letztendlich unbarmherzig zerstört.

Wie Roland Barthes in seinem Werk Mythologies ausführt, handelt es sich bei einem Mythos um «un système sémiologique second» (187), das auf der The­orie von Ferdinand de Saussure basiert. Ausgehend von de Saussures Di­chotomie des Signifikanten und des Signifikaten, welche untrennbar mitei­nander verbunden sind und zusammen das bedeutungstragende Zeichen formen, sieht Barthes in dem entstandenen Zeichen einen erneuten Signifi­kanten, der letztendlich zu einem weiteren Zeichen führt, das den eigentli­chen Mythos bezeichnet: «Le troisième terme est la corrélation des deux premiers: dans le système de la langue, c’est le signe; mais il n’est pas possible de reprendre ce mot sans ambiguïté, puisque, dans le mythe (et c’est là sa particularité principale), le signifiant est déjà formé des signes de la langue. J’appellerai le troisième terme du mythe, la signification» (189). Auf den Berg Phu-Ri übertragen gerät das Zeichen Berg auf der denotativen Ebene zum Bezeichnenden auf sekundärer Ebene, so dass wir es mit einem grundle­genden Bedeutungswandel des Berges zu tun haben, der nun nicht mehr in seiner Eigenschaft als Berg verbleibt, sondern losgelöst von seiner geogra­fischen Lage zum Wendepunkt der brüderlichen Geschichte wird.

Der Berg Phur-Ri ist nicht nur in seiner geografischen Verortung prob­lematisch; auch eine veränderte Wahrnehmung des Zeitflusses lässt sich während der Reise der Brüder konstatieren. Der Weg in die Ferne, in die Höhen des Himalayas, führt direkt in die Vergangenheit, zurück in die Hei­mat Irlands und letztendlich zu den Ursprüngen des eigenen Selbst, «tiefer in unsere eigene Geschichte» (DFB 44): «Waren denn nicht alle unsere Wege / und von allem Anfang an Rückwege gewesen?: / zurück aus der Dünung auf festes Land; / aus den Funkenschwärmen und dem Gesumme / der Programmindustrie in den Wind von Horse Island» (DFB 88). Rück­wege sind es folglich, die die Reise auszeichnen und die in der narrativen Struktur des Textes durch das wiederholte Einbrechen von Kindheitserin­nerungen deutlich hervortreten. Der Leser erfährt von der gescheiterten Ehe der Eltern, dem dramatischen Wegzug der Mutter, dem komplizierten Verhältnis der Brüder zu ihrem Vater und den vielen gemeinsamen Wan­derungen in den irischen Cahas Mountains. Die Erinnerung ist stets prä­sent, wird zum festen Bestandteil der unternommenen Reise, wobei Ver­gangenes und Gegenwärtiges mitunter überlappen und zur Erschaffung von immer neuen Varianten des Erlebten beitragen. Es hat den Anschein, als ob der Erzähler den Fluss der Zeit zu unterbrechen, aus diesem heraus­zutreten und sich damit in eine zyklische Zeitstruktur einzuschreiben ver­sucht, die dem linearen, vorwärts gerichteten Zeitfluss diametral gegenüber­steht.

Mircea Eliade unterscheidet in seinen zahlreichen Studien der Religions­wissenschaft immer wieder zwischen zwei entgegengesetzten Zeitwahrneh­mungen: der heiligen und der profanen Zeit. Die profane Zeit zeichne sich durch ihre vorwärts gerichtete Linearität aus, die speziell unser modernes Leben charakterisiere und immer Neues und Unvorhersehbares mit sich bringe. Auch historische Zeit genannt, so bewege sich die Zeit unerbittlich einer ungewissen Zukunft entgegen, wobei eine Rückkehr zu den Mythen unserer Vorfahren unerwünscht oder gar unmöglich sei. Im Gegensatz zur profanen Zeit sei die heilige Zeit durch ihren zyklischen Charakter gekenn­zeichnet, die das Leben als einen statischen Kreislauf begreife: «indéfini­ment récupérable, indéfiniment répétable. D’un certain point de vue, on pourrait dire de lui qu’il ne “coule” pas, qu’il ne constitue pas une “durée” irréversible. ... il ne change ni ne s’épuise» (SP 63-64)[6]. Für «des sociétés archaïques» (MER 11)[7] wiederholten sich die Dinge «à l’infini, et, en réalité, il ne se passe rien de neuf sous le soleil» (MER 134) wie Eliade in Le mythe de l’éternel retour weiter ausführt. «Mais cette répétition a un sens ... elle seule con­fère une réalité aux événements» (MER 134-35). So würden denn nicht nur sämtliche religiöse Rituale und Festivals in heiliger Zeit ausgeübt, um so zu einer «abolition du temps» (MER 100) zu gelangen, sondern auch jede all­tägliche Handlung wie das Fischen und der Landbau habe an dem Heiligen seinen Anteil, denn jede Handlung, die von Bedeutung sei, müsse als Ritual angesehen werden.

Auf der Ebene des Romans kann die von den Brüdern unternommene Reise als ein Zurücklassen der historischen Zeit und ein Eintreten in den zyklischen Zeitlauf gesehen werden, der die Brüder den eigenen sowie den zeitlich weit entfernt liegenden mythischen Ursprüngen aussetzt. Verdeut­lich wird dies einmal durch die Konfrontation mit der veränderten Weltan­schauung der Nomaden, auf welche in Kürze noch näher eingegangen wer­den soll, aber auch durch das Überlappen von Gegenwart und Vergangen­heit, die plötzlich zu einer Entität zu verschmelzen scheinen: «Wir sahen die Schattenrisse des Transhimalaya / als die Scherenschnitte vertrauter Bergketten, / erinnerten uns an den Tarnfarben tragenden Vater / und ki­cherten wieder über ihn / wie in Zeltnächten, in denen wir Kinder gewesen waren, / Soldaten eines Schläfers, unbesiegbar, unsterblich» (DFB 115). Die Gegenwart scheint untrennbar mit der Vergangenheit verbunden; verschie­dene Zeitebenen überlagern sich, bilden eine zyklische Struktur, die immer wieder erneut vergessen geglaubte Kindheitserinnerungen zu Tage fördert. Sich zu erinnern gerät zu einem mythischen Ritual, das dem Fluss der Zeit Einhalt gebietet und das vergessen Geglaubte in einer Endlosschleife wie­der und wieder hervorbringt.

Durch die Veränderung der Zeitwahrnehmung erfährt auch die geogra­phische Verortung einen Wandel. Nicht nur verschiedene Zeiten, sondern ebenfalls Örtlichkeiten nähern sich einander an und werden deckungs­gleich: So wie «[g]leich neben den überwächteten Graten / des Landes Kham ... die Berge Irlands [lagen]» (DFB 68), so «lag wohl der Fuß des fliegenden Berges / nicht in Tibet, nicht im Land der Khampas, / sondern am Meer, / dort, wo die schwarzen Felswände Horse Islands / von drei­hundertfünzig Millionen Jahren / aus der Brandung gestiegen waren» (DFB 44). Die Fremde ist nur Projektionsfläche für das Eigene, das immer wieder seinen Weg in das Land Kham findet und sich mit diesem vermischt.

Auch dem fliegenden Berg, der sich nun als erfahrbare Naturgegeben­heit den Brüdern in seinen gigantischen Ausmaßen präsentiert, haftet wei­terhin eine der Rationalität enthobene, mythische Komponente an. «Wo sonst als am Ende von Rückwegen / sollte sich denn entscheiden, ob uns ein Aufbruch ins Leben, ins Glück geführt hatte / oder ins Verschwinden, in unseren Tod?» (DFB 88) fragt Erzähler Pad und macht deutlich, dass es sich bei der brüderlichen Expedition um weitaus mehr als nur um die «Til­gung einer Leerstelle auf [Liams] Karten» (DFB 90) handelt. Das Füllen eines geografisch nicht verortbaren weißen Flecken stellt sich auf sekundä­rer Ebene der Barthschen Mythentheorie als alles entscheidender Wende­punkt im Leben der Brüder heraus, der über Gedeih oder Verderb entschei­det. Die erfolgreiche Gipfelerklimmung gerät zur Voraussetzung für eine Rückkehr in die irische Heimat, der, wie angedeutet durch den obigen Aus­spruch, gleichzeitig auch die Möglichkeit eines positiv konnotierten Neube­ginns innewohnt.

Das Besteigen des Berges erweist sich als problematisches Unterfangen, da es mit der archaischen Vorstellungswelt der nomadischen Bevölkerung kollidiert. Für die Nomaden sind Berge Manifestationen des Göttlichen, Symbole der zyklischen Zeitstruktur[8], die, um mit Eliades Worten zu spre­chen, als «Axis mundi ... la Terre au Ciel» (SP 39) verbinden und dadurch das «Centre du Monde» (SP 39) markieren. Eine Gipfelerklimmung wird als an­maßende Herausforderung der dort residierenden Göttern gesehen, als eine Verletzung der vorherrschenden kosmischen Ordnung, «denn der Taumel höher und höher / und über diese grellweißen, verbotenen Höhen hinaus / führte einen, der selber kein Gott war, / bloß in die Schwärze, in die Leere, / hinaus in die Nacht» (DFB 128). Daher könne, den Nomaden zu­folge, nicht mit einem gelungenen Füllen besagter Leerstelle gerechnet wer­den. Wahrscheinlicher sei ein unglücklicher Ausgang der Unternehmung, nämlich das eigene Verschwinden in besagter Leere, eine Auslöschung der eigenen Person. Die Möglichkeit einer erfolgreichen Einnahme des Zent­rums wird in Zweifel gezogen und damit auch der von Pad erhoffte «Auf­bruch ins Leben» in den Bereich des Fraglichen gerückt.

Den düsteren Prognosen der Nomaden treten die Brüder, und speziell Liam, mit ihren ganz eigenen Mitteln entgegen: mit dem Glauben an mo­dernste Technik. Höhenmesser und Thermoschlafsäcke, Computerpro­gramme und Hochgeschwindigkeitstransmissionen spielen in Der fliegende Berg eine wichtige Rolle und ziehen sich wie ein roter Faden durch den Ro­man. Wie Erzähler Pad herausstellt, ermöglicht Technik es dem Menschen, sich über seine begrenzten Fähigkeiten hinwegzusetzen und dem eigenen Dasein einen gottgleichen Status zu verleihen. So sieht sich Liam als Herr­scher über die Natur, wenn er auf seinem Rechner Landschaften auferste­hen und untergehen lassen und sich so über alle Grenzen hinwegsetzen kann:

Allein in seinen virtuellen Animationen / genoß mein Bruder die Un­begrenztheit von Herrschaft – / wenn er etwa Höhenschichtlinien und / Schwärmen von Gipfelvermessungspunkten befahl, / sich aus der Zweidimensionalität / zu schattenwerfenden Gebirgen oder um-brandeten Kontinentalsockeln zu erheben; wenn er Ozeane aus ihren tiefsten Becken abfluten ließ, / und die trockenfallenden Gräben / und Schichten des Grundes in den Farben / einer prähistorischen Verwerfung sichtbar zu machen. / Selbst die Zukunft der höchsten Gebirgsketten / konnte er als in Äonen abrollende Wellen zeigen. (DFB 81)

Liam agiert als Schöpfer der Welt, der hervorbringen und zerstören kann, wie es ihm beliebt. Liam basiert seine Expeditionsvorbereitungen auf Vernunft, auf das Rationale, einem wesentlichen Merkmal der profanen Zeit, in der kein Raum für das Überirdische besteht. «Modern secularization has to be seen from one angle as the rejection of higher times and the posi­ting of time as purely profane» (98) konstatiert Charles Taylor in Modern Social Imaginaries (2004) und stellt weiterhin klar heraus: «There is, of course, a close connection between disenchantment and the confining of all action to profane time. The same factors that eventually dispel and empty the world of spirits and forces – worshipful living of ordinary life, mechanistic science, the disciplined reconstruction of social life – also confine us more and more to secular time. They empty and marginalize higher time» (186). Mit dem Prozess des «disenchantment» trete auch der Glaube an Vernunft und Rationalität immer stärker in den Vordergrund, welcher primär zur Er­klärung weltlicher Geschehnisse diene. Die Gesellschaft werde nun durch rationale Entscheidungen gelenkt; laut Taylor würden «rational views ... that should guide government» (89) gefördert und die Wissenschaft verhelfe dem Menschen zu mehr und mehr Macht über die bisher unberechenbare Natur.

Eine Schwerpunktsetzung auf Vernunft und Rationalität sei dennoch keineswegs ein Zeichen dafür, dass der moderne Mensch dem Mythos ganz und gar entkommen sei. Auch die moderne Welt «conserve» laut Eliade «encore un certain comportement mythique» (MRM 18)[9]. «Car, au niveau de l’expérience individuelle, le mythe n’a jamais complètement disparu: il se fait sentir dans les rêves, les fantaisies et les nostalgies de l’homme modern» (MRM 23) sowie in Form von «le spectacle» (MRM 32), worunter Compu­ter und Internet zu subsumieren wären. Mit seinen Computerprogrammen tritt Liam ein in eine Welt, die ihm zunächst Macht sowohl über die Natur verleiht als auch über die Erfüllung der eigenen Wünsche und Sehnsüchte. Ein Versagen der Kham-Expedition scheint somit ausgeschlossen.

Wie bereits in früheren Romanen Ransmayrs findet auch in Der fliegende Berg ein explizites Hinterfragen von Technik und Fortschrittsglauben statt. «Tibet war trotz Hunderter im Orbit kreisender Augen / und Ohren, Ka­meralinsen, Signalsender, Satelliten / so stumm und geheimnisvoll / wie in einer längst begrabenen Zeit» (DFB 78/79) bemerkt Erzähler Pad und ver­neint damit schlichtweg die scheinbar unbegrenzten technischen Möglich­keiten der globalen Datenbeschaffung. Tibet lässt sich nicht durchdringen so wenig wie es Liam gelingt, den fliegenden Berg auf seinen Koordinaten­netzen erscheinen zu lassen. Wenn Milka Car von dem «Mythos von der unbegrenzten Macht des Menschen über die Natur» spricht, und eine «Um­wertung des Mythos von der unbegrenzten Naturbeherrschung durch den Menschen» (269) für Die Schrecken des Eises und der Finsternis konstatiert, trifft dies in fast identischer Weise auf Der fliegende Berg zu. Auch Markus Oliver Spitz sieht in Ransmayr einen «criticism of reason, of progress, and of civi­lisation feature throughout» und den Mythos als den «counterpart of reason in order to deconstruct alleged certainties of modernity» (n. pag.). Liams Fortschrittsglaube wird ihm letztendlich zum Verhängnis durch sein Ver­halten «so anmaßend / wie das wolkenbekränzte Hochhaus von Babel» (DFB 81), wobei Pad hier ganz bewusst den alttestamentarischen Mythos von Babel mit der vermeintlichen Grenzenlosigkeit der Technik als moder­nen Mythos vergleicht.

Das Vertrauen auf moderne Technik findet sein Äquivalent in den my­thischen Vorstellungen der Nomaden. Während Liam die Welt in mathe­matischen Zahlenreihen und Zeichensystemen wahrnimmt, die ihm erlau­ben, das vermeintlich wahre Wesen der Dinge zu erfassen, bedarf auch für die Nomaden die visuell erfahrbare Welt einer gesonderten Interpretation. «[E]ine Nebelkrähe» mag dem unkundigen Betrachter «bloß als kluger Vo­gel erscheinen», obwohl sie «zugleich» als «ein Bote des Himmels» aufge­fasst werden müsse, «ebenso wie das über einen Grat ins Tal einfallende / Morgenlicht zugleich den Sonnenstand und / den Lidschlag eines Gottes anzeigen könne». «Was bedeute eine Gestalt denn schon?» (DFB 198). Nicht nur Liam, sondern auch die Nomaden besitzen die Fähigkeit, «la vérité ab­solue» (Eliade, SP 85) zu erkennen und damit die Welt in ihrer Gänze zu begreifen. Liam allerdings spricht den Nomaden diese Fähigkeit kategorisch ab. Für ihn zählen nur verifizierbare Fakten, die ihm ausschließlich zur Er­klärung der Welt – und vor allem zum Verständnis der Begebenheiten in Kham – dienen. «Bist du nicht überrascht, dass sich der Schnee, / die Eis­wand, dass sich jeder Höhenmeter / dieser verfluchten Route deinem Pro­gramm widersetzt?, / dass alles ganz anders läuft als geplant?» (DFB 97) bemerkt Erzähler Pad sarkastisch und deutet auf die Diskrepanz zwischen der scheinbar grenzenlosen Macht des Computers im heimatlichen Irland und der sich nun langsam offenbarenden Wirklichkeit des Landes Kham hin. Immer öfter lässt Ransmayr die Koordinaten der bekannten Welt der Brüder versagen, die Natur als mythische Gewalt erscheinen, bis sich diese auf dem Gipfel des Phur-Ri den Brüdern aufs heftigste widersetzt und in all ihrer Unbarmherzigkeit auf diese hinabrast.

Rational gesehen braut sich über der Bergspitze des Phur-Ris ein fatales Unwetter zusammen, welches meteorologisch in all seinen Stadien erklärbar ist. Die Beschreibung jedoch, welche Erzähler Pad seinem Leser liefert, be­schwört eine apokalyptische Vision herauf, die erneut deutliche Anklänge an den alttestamentarischen Turmbau zu Babel aufweist: als falle die Faust eines Gottes in unbändigem Zorn auf die beiden sich sicher am Ziel wäh­nenden Bergsteiger nieder und schleudere mit ungebremster Gewalt «Arka­den, Gesimse, Stützpfeiler, Streben, / Dämonen, segnende Heilige, Was­serspeier, / alles in den Farben verwitterten Steins / und alles auf uns herab» (DFB 63). Der eben noch so blaue Himmel verfinstert sich, wird schwarz und undurchdringlich so dass «wir nicht mehr [wussten], ob wir hinab- oder aufblickten / zu sterngleichen flimmernden Lichtquellen, / versprengten Sonnen, weil dort oben, ganz oben, / Höhe und Tiefe eins / und ununter­scheidbar wurden» (DFB 61). Die Wahrnehmung räumlicher Dimensionen gerät zur Unmöglichkeit, da sich Gegensätze verbinden, so dass Wirklich­keit und Wahnvorstellung nicht mehr klar abgrenzbar sind. Ein «plötzlich aufklaffende[s] Vakuum» (DFB 63) tritt an die Stelle der bekannten Welt, in welchem Raum und Zeit in die Bedeutungslosigkeit kollabieren, «Zahlen / und dann auch die Sterne verblaßten / und schließlich erloschen» (DFB 10). Die Warnungen der Nomaden bestätigen sich, scheinen in ihrer Legen­denhaftigkeit eine Wahrheit zu verkörpern, die am Ende vom Erzähler als zutreffend anerkannt wird. Die Gipfelbesteigung endet in einer katastro­phalen Begegnung mit den dämonischen Gewalten des Himalayas, aus der nur ein Bruder lebend seinen Rückweg findet. Sie steht symbolisch für das Betreten jener Leerstelle, die sich außerhalb der rationalen Welt befindet und demzufolge das Erreichen der Bergspitze transzendiert, ohne jedoch letztendlich sinnstiftend zu wirken.

Die von Pad gestellte Frage nach einem «Aufbruch / ins Leben ... oder ins Verschwinden, in unseren Tod» (DFB 88) findet ihre Antwort in Liams spurlosem Verschwinden in einer Schneelawine. Die Ankunft am vermeint­lichen Ziel aller Wünsche offenbart sich als Vakuum, als ein Tritt ins Leere an einem Ort, von welchem «kein Weg mehr in die Höhe, / sondern jeder Weg nur in den Abgrund» führt (DFB 62). Das scheinbar sinnstiftende Zei­chen des Berges enthüllt sich den Brüdern auf der sekundären Ebene als leer und nichtig, ohne erkennbaren Ziel- oder Endpunkt. Wie Roland Barthes in L’Empire des signes (1965) im Zusammenhang mit japanischen Gerichten beschreibt, ist «la substance comestible ... sans coeur précieux ... aucun plat japonais n’est pourvu d’un centre ... tout y est ornement d’un autre ornement ... la nourriture n’est jamais qu’une collection de fragments, dont aucun n’apparaît privilégié par un ordre d’ingestion» (367). Auch hier wird Bedeutung verneint. Es lässt sich keine Hierarchie erkennen, die einem ja­panischen Gericht eine besondere Signifikanz zugestehen würde; was ver­bleibt sind Fragmente. Das vermeintliche Zentrum wird durch eine Kette von Zeichen ersetzt, welche sich in einem endlosen Bezug aufeinander ver­lieren. Ein finaler Endpunkt existiert nicht und somit auch keine Sinnhaf­tigkeit. Der Gipfel verbleibt in seiner Leere, sowohl in seiner Eigenschaft als Gipfel als auch als Sehnsuchtsobjekt, das sich dem Zugriff der Brüder entzieht.

Trotz Liams Verschwindens, welches das Betreten der Leerstelle mit sich bringt, muss die durch den Tod des Bruders entstandene Leerstelle als Mög­lichkeit einer Neubewertung der eigenen Geschichte gesehen werden. Da­bei kann ein weiteres Mal auf jenen Ausspruch Pads zurückgegriffen wer­den, der einen Aufbruch in das Leben und in das Glück als eine Eventualität in Aussicht stellt. Die Signifikanz der entstandenen Leerstelle wird insbe­sondere im letzten Kapitel immer wieder hervorgehoben: so treiben die Blütenblätter «hinaus in die Leere» (DFB 350), der Erzähler durchmisst «stundenlang, immer wieder ... die leeren Weiden» (DFB 351) schreitet «die leeren Räume» (DFB 355) seines Erbes ab. Auch das Haus auf Horse Island ist leergeräumt, Liams technische Geräte verpackt, sein Vieh verkauft und aufs Festland gebracht. Die Leerstelle scheint willkommen, muss nicht durch «Rechner, ... Bildschirme, ... Bücher, / ... Meßinstrumente und Aus­rüstungsgegenstände / für ein Leben am Meer und im Hochgebirge» (DFB 357), wie es bei Liam obsessiv der Fall war, gefüllt werden, sondern ver­bleibt in einem Zustand der Offenheit, welcher schmerzt, jedoch ebenfalls die Möglichkeit eines Neubeginns bereithält: «ich habe dieses Haus niemals wärmer, / lebendiger empfunden als in jener Stunde, / in der es endlich leergeräumt, leer!, ... war» (DFB 100). Der Tod des Bruders führt zu einer Beschäftigung des Erzählers mit den vorgefallenen Geschehnissen im Land Kham und darüber hinaus mit der eigenen Vergangenheit im heimatlichen Irland. Es entsteht der Versuch, auf narratologischer Ebene der eigenen Geschichte jene Sinnhaftigkeit zu verleihen, die den Brüdern auf dem Gip­fel des fliegenden Berges verweigert wurde.

Wie bereits deutlich herausgestellt, durchziehen Leerstellen den Roman und sind insbesondere in der Erzählstruktur des Romans zu finden. Auffal-lend ist gleich zu Beginn, dass der Erzähler Pad seine Geschichte dem Leser nicht chronologisch mitteilt, sondern verschiedene Ebenen der Vergangen-heit mit der Gegenwart mischt. Somit vermag die Erzählung die vorgefalle­nen Ereignisse nur bedingt zu erklären, da durch das konstante Überlappen von verschiedenen Zeitebenen der Erinnerung sich auf der sekundären Sprachebene neue Signifikationen ergeben, neue Lesarten, die nicht selten mehr verwirren als erklären. Durch ausgesparte Details treten neue Leer­stellen an die Oberfläche, so dass sich der Leser genötigt sieht, diese durch das Verbinden der unterschiedlichen Erzählstränge notdürftig zu schließen. Wie das sprichwörtliche Rhizome von Deleuze und Guattari scheinen Er­zählungen und Erinnerungen miteinander verbunden, die dennoch am Ende nicht den gewünschten Überblick gewähren, da sich der Leser als Teil dieses Netzwerkes versteht, das ihn gefangen hält und ihm nur bedingt die Zusammenhänge der fragmentarischen Erzählungen von Pad verdeutlicht.

Die fragmentarische Erzählweise Pads ist strategisch gewählt, um eine Reihe von unterschiedlichen Geschichtsversionen zu ermöglichen. Ge­nauso wie Pad die von seiner Reise gemachten Fotos auf dem Fußboden des bereits leergeräumten Hauses auf Horse Island ausbreitet, um «diese Leere mit Fotos zu bedecken, / die ich in Reihen nebeneinander legte / wie eine Patience, ein Kartenspiel» so soll auch durch die verfasste Erzählung das Geschehene beleuchtet und neu bewertet werden. Und genauso wie Pad die zweiundsiebzig Bilder immer «neu und noch einmal neu gruppierte, / wie in der Hoffnung, Bild für Bild / würde sich dadurch aus der Erinne­rung, / aus der Zweidimensionalität erheben und protestieren / gegen die unumkehrbare Richtung der Zeit» (DFB 313-14), so werden auch die ver­schiedenen Stufen der Vergangenheit und der Gegenwart immer neu arran­giert und miteinander verbunden. Diese Verbindungen erzeugen neue Les­arten, erschaffen alternative Realitäten, die als gleichwertig nebeneinander stehen und die Hoffnung in sich bergen, erneut die Wirklichkeit aus der Fan­tasie heraus zu erschaffen, wie es schon mit der verhängnisvollen Schwarz­weißfotographie des fliegenden Berges der Fall war. Folglich sind die ent­stehenden Geschichten in konstanter Bewegung begriffen, widersetzen sich einer rigiden Festlegung und erschaffen dort Neues, wo ihnen Raum zuge­standen wird.

Die Worte, die diese Geschichten entstehen lassen, sind machtvoll und stellen einen Versuch dar, sich dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Zeit zu widersetzen; sie zwingen den Erzähler schon während seines Abstiegs des Phur-Ris «mit tobenden Fingerkuppen in den Schnee, unlesbare, blaß­rote Zeichen» (DFB 100) zu schreiben, um gegen den Tod des Bruders an­zuschreiben. Denn Worte, so die Nomadin Nyema, hätten die Macht, den Tod zu überwinden und einen Menschen zurück ins Leben zu bringen, so wie, laut Pad, «mein Bruder mich im Windschatten / meiner letzten Zu-flucht wohl aus dem Tod / ins Leben zurückerzählte, / indem er mit seiner Litanei von Namen / eine gemeinsame Erinnerung beschwor, / so unaus­löschlich, / daß sie die Vergangenheit in Gegenwart verwandeln / und mich selbst aus einer Ferne zurückrufen konnte, / in der ich schon verschwunden war» (DFB 18). Nun ist es Pad selbst, der in vergleichbarer Manier den ver­schollenen Bruder ins Leben zurückzuerzählen versucht, indem er das Er­lebte dem Papier anvertraut. Bereits in Ransmayrs Kurzgeschichte «Fateh­pur Oder die Siegesstadt» aus dem Erzählband Der Weg nach Surabaya (1999) ist es der Erzähler, der die Zerstörung der Zeit durch seine Worte aufhalten möchte. Dabei sei die Schrift von entscheidender Bedeutung, denn diese müsse, Nyema zufolge, als eines der größten Geschenke an die Menschheit gesehen werden. Sie vermöge die Tragik der unvermeidlichen Sterblichkeit eines jeden von uns zu lindern, indem sie es ermögliche, trotz des eigenen Ablebens eine gewisse Präsenz unter den Zurückgebliebenen zu bewahren. Einem göttlichen Wesen gleich könne sich der Mensch nun «nicht nur über Meere und Gipfel, / sondern über die Zeit selbst ... erheben / und aufflie­gen wie der Phur-Ri» (DFB 212). So sieht Eliade darüber hinaus in dem Akt des Lesens eine Überwindung der Zeit und damit der Sterblichkeit, wenn er bemerkt, dass «la lecture procure à l’homme moderne une “sortie du Temps” comparable à celle effectuée par les mythes» (SP 174). Durch die Erzählung unternimmt Pad den Versuch sich durch die fragmentarische Struktur seiner Erzählung dem vorwärts gerichteten Mandat der profanen Zeit zu entziehen und sich erneut in die sich wiederholende Zeitstruktur der Nomaden einzuschreiben und dadurch den vorgefallenen Ereignissen zu trotzen[10].

Das Einschreiben mit Worten in eine zyklische Zeitstruktur findet sein Äquivalent im letzten Kapitel mit dem bezeichnenden Titel «Schritte», in dem es um ein rückwärtsgerichtetes Vorwärtsschreiten geht. So wie das Überlagern von verschiedenen Zeitebenen ein Rückbesinnen auf eine ver­gangene Zeit impliziert, findet hier durch ein Überlagern von entgegensetz­ten Vektoren ein Fortschreiten statt, welches sich jedoch in einer Rückkehr manifestiert. Die von Pad unternommenen Schritte führen ihn zurück zu den Nomaden, zurück in eine Welt der zyklischen Zeitauffassung, die dar­über hinaus durch ihre nomadische Lebensweise, sprich durch ihre Beto­nung der körperlichen Fortbewegung gekennzeichnet ist. Es ist Pad der Fußgänger, der in Form des langsamen Vorwärtsschreitens die irische Hei­mat erneut mit der nomadischen Lebensweise verknüpft, diese imitiert und sich dadurch in diese einschreibt. Bar jedweder technischer Hilfsmittel tritt Pad metaphorisch seine zweite Reise in das Land Kham an und besinnt sich damit auf seine eigenen Vorfahren, die im Akt des Gehens ihr primäres Fortbewegungsmittel sahen, wie es Ransmayr bereits in Die Schrecken des Ei­ses und der Finsternis herausstellt: «Vergessen wir nicht, ... dass wir, physiog­nomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind» (9)[11]. Der vermeintliche Neubeginn kehrt sich, so scheint es, um in eine vermeintliche Rückbesin­nung, in eine erneute Rückkehr zu Vergangenem, welches sich in Gegen­wart verwandelt.

Das Ende trägt zweifelsohne märchenhafte Züge, scheint die Lebens­weise der Nomaden als «Heilsmodell für zivilisationsmüde Europäer» zu verklären, wie Sabine Frost ironisch bemerkt (175). Ransmayr scheint eine klare Wertung zugunsten einer archaisch-mythischen Weltsicht zu formu­lieren, wenn er seinen Erzähler am Ende in die Abgeschiedenheit der Welt des Himalayas zurückkehren lässt. Jedoch geht Ransmayr, wie bereits deut­lich gezeigt wurde, über die schlichte Dichotomie von fortschrittlicher ver­sus traditioneller Lebensweise hinaus: Es handelt sich keinesfalls um ein entweder-oder, sondern um ein sowohl-als auch: Scheinbare Gegensätze lösen sich auf, überlappen und formen Synthesen. Festgeschriebene Wahr­heiten werden hinterfragt und nach eingehender Prüfung als nichtig ver­worfen. So erfährt der aufmerksame Leser zu seiner Verwunderung am Ende des Romans, dass Liam, im Gegensatz zu Pads bisherigen Ausfüh­rungen, mitnichten der Technik uneingeschränkte Überlegenheit über die menschliche Natur zugestand; vielmehr sind es gerade die nach außen so primitiv wirkenden menschlichen Schritte, welchen Liam eine weitaus grö­ßere Bewunderung entgegenbringt als all seinen hochentwickelten Compu­terprogrammen: «Schritte. / Wie primitiv wirkten die binären Abläufe / in Liams Computern gegen das Drama / eines einzigen Schritts ..., / Steinzeit­technologie, sagte Liam, Steinzeit!, / wenn er seine Programme / in den Tagen unserer Vorbereitung / auf die Atemnot in den Meereshöhen Tibets / mit den Mysterien des Organismus verglich» (DFB 354). Und so wie Liams Glaube an Technik einer differenzierteren Betrachtung bedarf, so lassen sich auch andere vermeintlich unverrückbare Gegensatzpaare hinterfragen: Tod und Leben, Vergangenes und Gegenwärtiges, Mythos und Vernunft, vorwärts und rückwärts gehen eine Verbindung ein, um in ihrer Gegensätz­lichkeit Neues zu erschaffen.

Der Mythos der nomadischen Lebensweise fungiert letztlich als Basis für die Erschaffung einer eigenen Mythenbildung; er gerät erneut zum Sig­nifikanten für Pads persönliche Mythenfindung, die nicht zwangsläufig mit derjenigen der Nomaden konform geht. Ob es sich bei der erneuten Reise um einen weiteren Mythos handelt, der sich am Ende ebenfalls als Verket­tung von leeren Zeichen erweist, bleibt dahingestellt. Es lässt sich jedoch hoffen, dass wir es dieses Mal bei Ransmayr mit keiner Wiederholung von apokalyptischen Untergängen zu tun haben, wie es Heike Knoll für Die letzte Welt (1988) und Morbus Kitahara (1995) postuliert[12] und wie wir es auch in Strahlender Untergang (1982) vorfinden. Die Zeichen stehen gut, dass der Un­tergang von Liam in Der fliegende Berg keine weitere Wiederholung durch eine abrupte Zerstörung von Erzähler Pads Leben findet. Eine konkrete Ant­wort bleibt Ransmayr dem Leser dennoch schuldig; die einzige Gewissheit, die er verrät, ist Pads fester Entschluss zum Aufbruch, der ihn mit den Worten «Ich werde mich auf den Weg machen. Ich gehe» (DFB 352) auf einen weiteren Rückweg führt.

Bibliographie

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–– Die letzte Welt. Nördlingen: Greno, 1988.

–– Strahlender Untergang. Wien: Brandstätter, 1982.

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Taylor, Charles. Modern Social Imaginaries. Durham and London: Duke UP, 2004.



[1] Zitate, die in Klammern die Siglen DFB aufweisen, beziehen sich allesamt auf folgen­des Werk: Christoph Ransmayr. Der fliegende Berg. Frankfurt a.M.: Fischer, 2007.

[2] In diesem Zusammenhang kann auch an Josef Mazzini, dem Protagonisten aus Rans­mayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis, erinnert werden, der ebenfalls in den Weiten der Arktis spurlos verschwindet.

[3] Wie Josef Mazzini postuliert, «[s]o habe er den Vorteil, die Wahrheit seiner Erfindun­gen durch geschichtliche Nachforschungen überprüfen zu können. Es sei ein Spiel mit der Wirklichkeit. Er gehe aber davon aus, dass, was immer er phantasiere, irgendwann schon einmal stattgefunden haben müsse» (21).

[4] Andrea Kunne bezieht sich in ihrem Artikel «Heimat und Holocaust. Aspekte öster­reichischer Identität aus postmoderner Sicht. Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kita­hara» auf Hayden White, Michel Foucault und im weiteren Sinne auch auf Jaques Derrida.

[5] Lynne Cook spricht in ihrem Artikel «“Black Holes” in the Novels of Christoph Ransmayr» ebenfalls von schwarzen Löchern, die zur Interpretation von Ransmayrs Werken hinzugezogen werden können: «Ransmayr’s novels (paradoxically) hold at their symbolic centers notions of absence, disappearance, lack or emptiness. ... the apparent emptiness of a “black hole” is actually the site of the densest matter in the system, com­pelling the strongest attraction. ... Ironically, the absent Subject compels an intensity of focus» (194).

[6] Zitate, die in Klammern die Siglen SP aufweisen, beziehen sich allesamt auf folgendes Werk: Mircea Eliade. Le sacré et le profane. Paris: Gallimard, 1965.

[7] Zitate, die in Klammern die Siglen MER aufweisen, beziehen sich allesamt auf fol­gendes Werk: Mircea Eliade. Le mythe de l’éternel retour. Paris: Gallimard, 1949.

[8] Die zyklische Zeitstruktur wird von der Nomadin Nyema in Bezug auf Phur-Ri fol­gendermaßen dargestellt: «daß nichts, nichts!, / und sei es noch so mächtig, so schwer ... für immer bleiben durfte, / sondern daß alles davonmußte, / verfliegen!, irgendwann auf und davon, / daß dann aber auch das Verschwundene / nicht für immer verschwunden blieb, / sondern nach dem Stillstand und Neubeginn / selbst der allerfernsten Zeit und, / wenn auch verwandelt, / zersprungen zu tausend neuen Formen und Gestalten, / wieder­kehrte» (DFB 155-56).

[9] Zitate, die in Klammern die Siglen MRM aufweisen, beziehen sich allesamt auf fol­gendes Werk: Mircea Eliade. Mythes, rêves et mystères. Paris: Gallimard, 1957.

[10] Damit setzt Pad auf narrativer Ebene fort, was unzählige Male auf inhaltlicher Ebene seine Erwähnung findet: die sprachliche Wiederholung heiliger Mantras, sei es in Form einzelner Wörter oder ganzer Gebete, welche durch Mensch oder Natur erfolgt. Durch diese konstante Wiederholung wird ein nie endendes Preisen einer höheren Gottheit si­chergestellt und der heilige Mythos des jeweiligen Glaubenssystems ohne Unterlass in die Welt hinaus getragen.

[11] Trotz unserer beschleunigten Lebensstile sind wir dennoch durch Langsamkeit ge­kennzeichnet, weswegen Markus Oliver Spitz in seinem Artikel «“Die Zukunft auch der belebtesten Landschaft heißt Wüste”» einen «Kontrast von Geschwindigkeit und Langsam­keit [als] ein zentrales Motiv des Romans» (n. pag.) sehen will, wobei es sich um Die Schrecken des Eises und der Finsternis handelt. Hierbei kann die Dichotomie zwischen Geschwindigkeit und Langsamkeit als Spiegelbild des Kontrasts von Technik und Fortschrittglaube und traditioneller Lebensweise in Der fliegende Berg gesehen werden.

[12] So führt Knoll aus: «Untergang stellt bei Ransmayr nicht Zäsur dar, sondern Zu­stand; ein Verfall von Zivilisationen, der sich als ein allmählicher, nicht enden wollender Prozess vollzieht. ... Er bezeichnet noch lange nicht das Ende, sondern enthält (zumindest zunächst) auch Zukunft; eine Zukunft allerdings, die sich nur als seine Fortsetzung erweist» (220).