Cristina Fossaluzza

(Venezia)

Snobismus als geistige Macht
Arthur Schnitzlers Zeitkritik
und die Debatte um den “Kulturkrieg”

[Snobbery as Intellectual Power. Arthur Schnitzler’s Critique of his Time
and the Cultural Debates about World War I
]

abstract. After the publication of Thackeray’s The Books of Snobs (1848) the concept of “snob” became popular in German-speaking countries with the meaning of dandy and aesthete. In his diaries, letters, and posthumous notes, Arthur Schnitzler refers very criti­cally to snobbery as the “illness of the time”. This article argues that his critique does not merely address the radical aesthetical attitudes of his contemporaries (among them, e.g. Hofmannsthal). The purpose of Schnitzler’s critique is rather to denunciate the ideological implications of these attitudes – especially with regard to positions taken by many intellec­tuals in the debate about World War I.

Präludium

Im Jahr 1926, in einer Zeit, die für die Republik Österreich auf der poli­tischen sowie wirtschaftlichen Ebene immer prekärer wird und auf das «Krisenjahr 1927»[1] zugeht, widmet sich Franz Werfel einem dann unveröf­fentlicht gebliebenen Buchprojekt, das den bezeichnenden Titel Die Krisis der Ideale hätte tragen sollen und zu dem noch Notizen des Autors bestehen. 1928 erscheint im Jahrbuch des Paul Zsolnay Verlags lediglich ein Auszug daraus, in dem sich Werfel mit dem «Snobismus» auseinandersetzt – einem Begriff, durch den er die intellektuelle Atmosphäre seiner Zeit bezeichnen möchte und den er bereits im Titel als eine «geistige Weltmacht» verurteilt[2]. Diesen Begriff, der nach dem Erscheinen von William Thackerays The Book of Snobs (1848) auch im deutschsprachigen Raum als «Dandytum», «Ästhe­tentum», «Philistertum» populär wurde, hatten mehrere Autoren bereits vor Werfel literarisch aufgegriffen – man denke etwa an Schopenhauer, Stern­heim, Carl Einstein sowie an die Brüder Mann[3]. Für Werfel ist der Snobis­mus ein Zeichen der kulturellen und gesellschaftlichen Dekadenz, ein Phä­nomen, das «seine höchste Blüte dann [erreicht], wenn die Stabilität der Ide­ale zu wanken beginnt» und das «zur Zeit der Revolutionen, der sich auflö­senden Klassenordnung» kulminiert (SgW, 269). Somit bringt Werfel den vorherrschenden Snobismus mit einer ethischen, aber zugleich politischen Dekadenz seiner Zeit in Zusammenhang. Hierbei rekurriert er auf die in­terpretatorischen Kategorien einer «nachnietzscheanische[n] Psychologie», die den «Willen zur Macht», als den «geheimnisvolle[n] Motor unserer see­lischen Bewegung» versteht, mehr noch: als den «Beherrscher unseres Le­bens bis in die Tiefe des Schlafes und der Krankheit hinab» (SgW, 262). Gerade dieser Machtwille, der den Menschen immerwährend dazu bringt, nach Geltung zu streben, findet allerdings für Werfel im «Snobismus» seiner Zeit eine seiner unglücklichsten, krankhaften Varianten. Tatsächlich ver­steht Werfel unter «Snobismus» den in der “dekadenten” Gesellschaft der Zwanziger Jahre «krank gewordene[n] Wille[n] zur Geltung» (SgW, 265), d.h. einen allgemeinen pathologischen Machtwahn, der sich in einer ver­breiteten hochstaplerischen und zugleich “verkünstelten” Haltung seiner Zeitgenossen äußert. Besonders das ausgeprägt Theatralische, ja Manie­rierte an den Snobs seiner Zeit möchte Werfel in seinem Aufsatz unterstrei­chen, indem er sie prägnant «Komödiant[en] irgendeiner Hundertprozen­tigkeit» (SgW, 268) nennt. Wenn unübersehbar ist, dass das erwähnte Ver­ständnis des Snobs als «Décadent», «Dandy» und «Ästheten» in dieser Auf­fassung mitschwingt, so klingt in Werfels Ausführungen auch einiges mehr an. Nicht zufällig bezieht er sich gleich zu Beginn seines Aufsatzes nach­drücklich auf die zeitgleiche Diagnose Arthur Schnitzlers[4]: «Snobismus ist, nach Schnitzlers Worten, in jedem Menschen als potentieller Krankheitsherd zu finden, wie etwa die Tuberkolose. In jeglicher Psyche sind die Infektions­träger vorhanden und warten nur der Gelegenheit, virulent zu werden» (SgW, 262)[5]. Bereits für Schnitzler ist der Snobismus ein Keim, der die geis­tige Atmosphäre der Zeit infizieren, ja ein Symptom der Krise und der De­kadenz, das sich in der ganzen Gesellschaft verbreiten kann. Es lohnt sich, Schnitzlers Diagnose im Folgenden zu vertiefen, denn näher betrachtet er­weist sich diese als eine intensive und breit gefächerte Auseinandersetzung mit den kulturellen Debatten seiner Zeit. Der Snobismus fängt für ihn nicht erst in den Zwanziger Jahren an, sondern geht auf die Jahrhundertwende zurück, um dann besonders in den politisch heiklen Kriegsjahren immer stärker zu werden. Dabei erkennt Schnitzler im Phänomen des Snobismus nicht nur einen allgemeinen intellektuellen Hang zu Theatralik und Ästhe­tizismus, sondern er geht auch auf dessen stark ideologische Implikationen ein – Implikationen, die sich in der literarischen und publizistischen Debatte um den “Kulturkrieg”[6] immer bemerkbarer machen. Schon vor Werfel ist der Snobismus somit für Schnitzler eine Frage des dekadenten Ästhetizis­mus aber zugleich eine Frage, die auch die “geistige Macht” und die politi­sche Wirkung der Intellektuellen in Krisenzeiten betrifft. Und besonders deutlich geht seine tiefgreifende Zeitdiagnose, der wir uns nun in zwei Schritten zuwenden möchten, aus seiner exemplarischen Kritik an Hugo von Hofmannsthal hervor.

1. Geist

Schnitzler ist in unserm heutigen Schrifttum gewiß der einzige Vertreter der Latinität. Unter diesem Wort verstehe ich im Gegensatz zu allem Ausladenden, Verzweigten, Romanti­schen, Erziehungsromanhaften die Kunst der klaren geschmeidigen Linie.

Franz Werfel: Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag (1922)

Nach ihrer Bekanntschaft um 1890 im Café Griensteidl haben Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal im Laufe ihres Lebens in Wien quasi ununterbrochen Kontakt zueinander. Trotz dieser Kontinuität hat sich die Forschung nie umfassend mit der Beziehung zwischen Schnitzler und Hofmannsthal auseinander gesetzt und meistens auf das Fazit be-schränkt, dass es sich dabei um ein spannungsvolles und nicht restlos auf­zuschlüsselndes Verhältnis gehandelt habe, das von gegenseitiger Bewun­derung sowie aber auch von Krisenmomenten und Kritik charakterisiert worden sei[7]. Diese pointierte Zusammenfassung stimmt zweifellos. Den­noch kann Schnitzlers Kritik an Hofmannsthal, näher betrachtet, nicht nur einiges Licht in ihre Beziehung bringen, sondern auch eine repräsentative Facette der weltanschaulichen Debatten der Zeit besser beleuchten. Es geht hier also nicht primär darum, auf das persönliche, freundschaftliche Ver­hältnis beider Autoren einzugehen, sondern hauptsächlich darum, Schnitz­lers Kritik an der Psychologie des Dichters Hofmannsthal darzulegen.

Wenn Hofmannsthal kaum zu Schnitzler Stellung genommen hat, so hat sich auch Schnitzler nie öffentlich zu Hofmannsthal geäußert. Indes doku­mentieren die Tagebücher und die von Schnitzler selbst exzerpierte Charak­teristik aus den Tagebüchern[8] sowohl ihre gegenseitige Entfremdung als auch Schnitzlers scharfe Kritik am Freund. Diese Kritik entwickelt sich nach 1900 von einer rein psychologischen zu einer “literarischen” und nimmt besonders ab 1908 nach Hofmannsthals ambivalenter Reaktion auf Schnitz­lers Roman Der Weg ins Freie immer deutlichere Konturen an.

Ein kursorischer Einblick in Schnitzlers Tagebuchnotizen von der Jahr­hundertwende bis in die Zwanziger Jahre hinein vermag sowohl die Bissig­keit als auch die Regelmäßigkeit seiner Äußerungen deutlich zu machen – kritischer Äußerungen, die bezeichnenderweise immer wieder auf Hof­mannsthals “Snobismus” abzielen. Schon in der ersten Zeit ihrer Bekannt­schaft berichtet Schnitzler im Tagebuch über das “Problematische” an Hof­mannsthal, über seine «Allüren und Marotten», seine «Hinneigung zu ge­wissen Äußerlichkeiten, aristokr[atische] Lebensweise und Anschauungen» (Tb 1893-1902, 29.7.1896, 206) und nicht zuletzt über seine «leicht snobis­tische Neigung» (Tb 1893-1902, 20.8.1898, 291). Wegen dieser Charakter-merkmale, die bereits zu diesem Zeitpunkt gerade im “Snobismus” einen gemeinsamen Nenner finden, nennt Schnitzler den Freund einen «Virtuo­sen der Beiläufigkeit»[9], der den Dingen im Bericht und Gespräch nicht die Wichtigkeit gebe, die sie tatsächlich für ihn haben. Hofmannsthal wolle da­mit einen Eindruck von sich selbst hinterlassen, wie er ihn sich womöglich wünscht, ohne allerdings den Tatsachen ganz zu entsprechen (vgl. Tb 1893-1902, 2.11.1900, 340). Bald darauf erweitert sich Schnitzlers Kritik an der Psychologie des Menschen Hofmannsthal und wird ausdrücklich zu einer Kritik an der Psychologie des Dichters, dem in der Beziehung zu seinen lite­rarischen Werken einmal mehr Snobismus und Virtuosität vorgeworfen wer­den. Nicht zufällig notiert Schnitzler am 11. Februar 1904 zu Hofmannst­hals Elektra im Tagebuch: «Schlechte Vorstellung. – Empfand heute stark: Kunststück höchsten Ranges – Das Kunstwerk will doch die Seele des Dichters, – von der spürt ich nichts» (Tb 1903-1908, 61). Hofmannsthals Elektra sei deswegen kein «Kunstwerk», weil diesem Theater- und Kunst­stück (so ästhetisch vollkommen es auch sein mag) eine notwendige Eigen­schaft fehle, und zwar der “Herzensanteil” des Dichters oder, um Schnitz­lers spätere Worte zu benutzen: die «innere Notwendigkeit» (vgl. z.B. Tb 1909-1912, 16.2.1910, 127). Schnitzlers Kritik wiederholt sich in den späteren Jahren mit Regelmäßigkeit, und auch in Bezug auf andere Werke Hofmanns­thals, denen es an “Herzensanteil” und «innerer Notwendigkeit» fehle[10]. Was es aber mit dieser «inneren Notwendigkeit» auf sich hat, präzisiert Schnitzler in den Tagebüchern, indem er zwar das große Talent des Freundes aner­kennt, in dessen Werken er aber zugleich einmal mehr eine Tendenz zur Affektiertheit, ja zur Künstelei entdeckt[11]. So lautet die Tagebuchaufzeich­nung vom 13. Mai 1910: «[...] bei Cristinas Heimreise von Hugo. Sein großes Talent auch hierin nicht zu verkennen; als ganzes etwas mühselig und af­fectirt» (Tb 1909-1912, 148). Noch deutlichere Worte schreibt Schnitzler drei Jahre später in Bezug auf die Generalprobe von Hofmannsthals Jeder­mann: «Erste Hälfte fesselt mich wieder sehr – dann kam Langeweile, ja Wi­derwille. [...] Theater ist doch irgendwie eine ernste Sache; und Verlogenheit in der Kunst eine schlimme» (Tb 1913-1916, 18.12.1913, 84). In den zuge­spitzten Formeln «Tendenz zur Affektiertheit», «Verlogenheit in der Kunst» lässt sich Schnitzlers Kritik resümieren. Es wird zu zeigen sein, dass es sich dabei in erster Linie allerdings nicht um ein moralisches Urteil, sondern vor allem um eine tiefgreifende Kritik am Künstler sowie an dessen Rolle in der Gesellschaft handelt – eine ästhetische und zugleich intellektuelle Kritik also, die ab der Kriegszeit immer stärker zum Ausdruck kommt. Bezeich­nenderweise ist in Schnitzlers Tagebüchern auch in Bezug auf Hofmannst­hals Wende zur Politik während des Ersten Weltkriegs von dessen «proble­matische[r] Stellung» und «politische[n] Allüren» (Tb. 1913-1916, 26.11.1915, 241) die Rede. Gerade 1915, im zweiten Kriegsjahr also, schreibt Schnitzler eine Notiz, in der er seine Ansicht genau auf den Punkt bringt:

Seltsames Menschenexemplar. Höchste Intellectualität – die doch ir­gendwie, das Sachliche, jede echte Beziehung zu irgend einem Men­schen, zu einer That, zu einem Ding fehlt, ins leere geht. Höchster Kunstverstand – und absolut kein Urtheil. (Tb 1913-1916, 26.11.1915, 241)

Man darf annehmen, dass Hofmannsthals politische «Allüren» (wie seine literarischen) für Schnitzler besonders in einem Mangel an Weltbezug, in einer Weltentfremdung gründen. Von der Kriegszeit an fällt auch der aus­drückliche Begriff «Snobismus» bei Schnitzler in Bezug auf Hofmannsthals Dichtung noch öfter. Einer scharfen Kritik werden auch Hofmannsthals spätere Werke unterzogen: Den Text zur Oper von Richard Strauss Die Frau ohne Schatten empfinde Schnitzler als «gekünstelt, von falscher Tiefe und Humanität» (Tb 1917-1919, 8.10.1919, 295), die gleichnamige Erzäh­lung von Hofmannsthal habe zwar im einzelnen hohe Qualitäten, als ganzes sei sie aber wahrhaft unleidlich durch «eine Art von ethischem Parvenue­thum, Manierismus, Künstelei, innere Kälte» (Tb 1917-1919, 26.10.1919, 302); in Der Schwierige komme die Lebenskrankheit Hofmannsthals, der Sno­bismus, zu heftigstem literarischem Ausbruch (Tb 1920-1922, 30.7.1920, 75), und selbst Der Turm sei eine Überflüssigkeit auf sehr hohem Niveau (Tb 1923-1926, 30.10.1925, 285). Am 15. Januar 1922 notiert Schnitzler so­gar, dass er kaum noch etwas von Hofmannsthal ohne inneren Widerstand lesen könne, und kommentiert: «Das Niveau immer zu spüren – und zu­gleich eine Überheblichkeit, Affectation, Snobismus, die mir immer uner­träglicher werden» (Tb. 1920-1922, 269). Wieder motiviert Schnitzler seine Kritik psychologisch, wenn er am 11. Februar 1922 schreibt, dass das Prob­lematische an Hofmannsthals Wesen in einem inneren Konflikt liege. Die­ser Konflikt spiegele sich einerseits in Hofmannsthals “komödiantischer” intellektueller Haltung wider, andererseits in seinen künstlerischen Arbei­ten, die ja äußerlich vollkommen, doch am Ende manieriert, ja «zu stark ausgedrückt» seien:

[...] seine außerordentliche geistige Erscheinung; – seine künstleri­schen Arbeiten (wie Welttheater) nicht aus innern Notwendigkeiten, sondern fast immer aus äußerlichen Gründen begonnen; mit zweck­trüben Elementen durchsetzt (zu stark ausgedrückt). Er selbst fühlt den innern Conflict, daher sowohl seine «Ohnmachten» und allerlei hysterische Krankheitssachen, denen auch das Komödiantische nicht fehlt [...]. Ein hoher Geist und eine trübe Seele. (Tb 1920-1922, 279)

Beim Lesen dieser Kommentare mag Schnitzlers Kritik ungerechtfertigt und übertrieben erscheinen. Sie mag als Ergebnis einer persönlichen Ab­neigung interpretiert werden. Wenn man aber zunächst einmal vom schar­fen und direkten Ton dieser Tagebucheintragungen absieht und Schnitzlers Äußerungen als Ausdruck seiner ästhetischen Position betrachtet, so muss man hier eine Scheidung der Geister erblicken, die weit über das Persönli­che hinausgeht. Denn, wie man rekonstruieren kann, geht Hofmannsthals und Schnitzlers wechselseitige Entfremdung nicht aus einer persönlichen Meinungsverschiedenheit, sondern aus zwei gegensätzlichen Kunstauffas­sungen hervor, die aus unterschiedlichen ästhetischen sowie erkenntnistheo­retischen Prämissen ihren Lauf nehmen und die besonders in der Kriegszeit in unterschiedliche kulturelle Visionen münden.

Wenn Schnitzler Hofmannsthal, trotz seiner Bewunderung, als Snob empfindet, so scheint dies darauf zurückzuführen zu sein, dass seine eigene Kunstauffassung mit Hofmannsthals Ästhetik nicht konform geht. Diese Divergenz mag einen ihrer Gründe darin haben, dass Schnitzler ein Dichter ist, der sich auf dem Feld der Medizin, und genauer in der Zweiten Wiener Medizinischen Schule, ausgebildet und entwickelt hat[12]. Diese war eine wis­senschaftlich bahnbrechende Schule, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade in Abgrenzung von der früheren medizinischen Tradi­tion und von deren Beziehungen zur romantischen Naturphilosophie durch eine neue empirische Orientierung durchgesetzt hat[13]. Nicht zufällig stand Schnitzler auch den “lebensphilosophischen” Tendenzen der Zeit, dem seit der Jahrhundertwende verbreiteten, wissenschaftsfeindlichen Kult des Na­türlichen und Gesunden eher skeptisch gegenüber[14]. Doch nicht durch die optimistischen Trends der naturwissenschaftlichen Methoden der Zeit, sondern vor allem durch den in der Wiener Medizinischen Schule vertrete­nen “therapeutischen Skeptizismus” wurde er beeinflusst[15] – einen Skepti­zismus, der sich bei ihm nicht nur medizinisch, sondern auch ästhetisch und psychologisch in eine ausgeprägte antidogmatische und “realistische” Ein­stellung sowie in einen Vorbehalt gegen die romantische Natur- und Le­bensphilosophie auswirkte. In diesem doppelten Sinne kann auch Schnitz­lers Kritik an Hofmannsthal als Ausdruck einer skeptischen Grundhaltung interpretiert werden, die ihn dazu bringt, an Hofmannsthals ausgesprochen symbolischer bzw. allegorischer Ästhetik einen Mangel an Weltbezug und eine Tendenz zur Ästhetisierung, zum Manierismus und zum Snobismus wahrzunehmen. Man kann daher vermuten, dass Hofmannsthals Kunstwel­ten Schnitzler nicht zuletzt deswegen fremd sind, weil sich diese Welten von einer Tradition speisen, die u.a. auf die romantische Lebensphilosophie zu­rückgreift[16] und die – im Ästhetischen wie im “Sozialen” – grundsätzlich eine Apotheose des “Subjektiven” gegen das “Objektive”, der Poesie gegen die Vernunft propagiert. Nicht nur zu den einseitig rationalen und optimis­tischen Methoden der Naturwissenschaften seiner Zeit, sondern umgekehrt auch zu dieser eher subjektorientierten, auf die Romantik rekurrierenden, lebensphilosophisch angehauchten ästhetischen Tradition geht Schnitzler auf Distanz[17]. Von einer Medizin kommend, die sich als empirisch, skep­tisch und weitgehend antiromantisch versteht, ist er in der Ästhetik auf der Suche nach einer Vermittlung zwischen erkennendem Subjekt und zu er­kennendem Objekt bedacht, was schließlich auch auf eine grundlegende Reflexion über das Verhältnis von (dichterischem) Ich und Welt impliziert. Davon ausgehend, kann Schnitzlers Kritik an Hofmannsthal in einer brei­teren Perspektive als Ausdruck einer tiefgehenden Skepsis gegenüber einer seit der Jahrhundertwende und bis in die Zwanziger Jahre hinein auch all­gemein unter den Intellektuellen verbreiteten neoromantischen Ästhetik in­terpretiert werden – sowie gegenüber ihren rigoros kultur- und zivilisations­kritischen Implikationen[18]. Dass es sich dabei allerdings nicht nur um eine Frage der Ästhetik und des “Geistes”, sondern zugleich ausdrücklich auch der (Kultur)Politik und der “geistigen Macht” handelt, wird klar, wenn man sich mit Schnitzlers Auseinandersetzung mit der intellektuellen Debatte um den Ersten Weltkrieg sowie mit seiner Kritik an Hofmannsthal in dieser Zeit eingehender befasst.

2. Macht

Schnitzler arbeitet mit den antipathetischen, ametaphysischen, unparteiischen Mitteln seiner Generation, dennoch empfinde ich ihn vor allem als Ethiker.

Franz Werfel: Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag (1922)

Denn von Synthese aufsteigend zu Synthese, mit wahrhaft religiöser Verantwortung bela­den, nichts auslassend, nirgends zur Seite schlüpfend, nichts überspringend – muß ein so angespanntes Trachten, woanders der Genius der Nation es nicht im Stiche läßt, zu diesem Höchsten gelangen: daß der Geist Leben wird und Leben Geist, mit anderen Worten: zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation.

Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927)

Schnitzlers Auseinandersetzung mit dem Snobismus kann nicht auf die isolierte Kritik am Dichter Hofmannsthal reduziert werden – sie impliziert vielmehr eine weitgehende Diagnose der geistigen Atmosphäre der Zeit, wie sich am Beispiel von Schnitzlers außerordentlich kritischer Stellung in der Debatte um den Ersten Weltkrieg besonders deutlich machen lässt.

Es mag auf den ersten Blick bezweifelt werden, dass Schnitzlers Position im Weltkrieg tatsächlich so zeitkritisch sei. Denn Schnitzler, der zu der Ge­neration gehört, die nie an die Front kam, gehört auch zu denen, die sich zum Krieg nicht öffentlich äußern wollten. Ist das aber tatsächlich als Gleichgültigkeit gegenüber der Weltgeschichte und der Kriegsereignisse zu interpretieren? Ist das ein Zeichen seiner décadence und der überholten An-sichten eines Menschen des 19. Jahrhunderts, wie seine Zeitgenossen ihm vorwarfen?[19] Oder stellt sein Schweigen, wie Walter Müller-Seidel geschrie­ben hat, wirklich einen Ausdruck der Diskrepanz zwischen dichterischer Anschauung und politischer Realität als konsequentes Zeichen der literari­schen Moderne dar?[20]

Wie Nachlass, Tagebücher und Briefe dokumentieren, hat sich Schnitz­ler so intensiv und so kontinuierlich mit dem Krieg beschäftigt, dass der Vorwurf der Teilnahmslosigkeit schlichtweg als nicht gerechtfertigt er­scheint. Dafür spricht auch, dass er bereits einen Monat nach Kriegsaus­bruch, am 8. September 1914, beginnt, seine nachgelassenen Aufzeichnun­gen Und einmal wird der Friede wiederkommen niederzuschreiben. Mit diesen Aufzeichnungen, die neben kleineren nachgelassenen Beiträgen seine größte Notizsammlung zum Thema “Krieg und Frieden” darstellen, wird er sich bis zum Ende des Krieges beschäftigen – in derselben Zeit also, in der Thomas Mann seine Betrachtungen eines Unpolitischen verfasst. Auch der Versuch, Schnitzlers Schweigen nur mit der Tradition des Unpolitischen und mit seiner Zugehörigkeit zur literarischen Moderne erklären zu wollen, greift zu kurz, denn kaum ein Repräsentant der literarischen Moderne hat so deutlich gegen den Krieg Stellung genommen und sich so unmissver­ständlich gegen die Tendenzen der Zeit gewendet[21]. Schnitzlers antikriege­rische Position, die sich in den Tagebüchern, Briefen und Aphorismen bis in die Zeit vor dem Krieg zurückverfolgen lässt, setzt sich dem kriegsver­herrlichenden Zeitgeist diametral entgegen[22].

Warum hat Schnitzler aber öffentlich geschwiegen? Ein Brief vom 22. De­zember 1914 an seine Schwägerin Elisabeth Steinrück kann einiges Licht in diese Frage bringen. Hier weist Schnitzler den Vorwurf der Gleichgültigkeit gegenüber der Weltgeschichte und dem Krieg entschieden zurück[23]: Er sei kein Abseitssteher, sondern ein «mit beiden Beinen in dieser Zeit Stehen­der». Als Dichter verstehe er sich außerdem als Seismograph der Zeit, wes­wegen eine Ahnung der Atmosphäre der Kriegszeit schon in fast allen sei­nen Werken vor dem Krieg zu spüren sei. Deswegen sei seine Entschei­dung, sich zum Kriegsgeschehen nicht publizistisch zu betätigen, überhaupt nicht als «Abwendung», als «Einpuppung» zu verstehen, sondern als be­wusste Absicht, sich an den Debatten über den Krieg nicht zu beteiligen[24]. Neben der Zensur nennt Schnitzler in diesem Brief einen zweiten Grund für seinen Widerwillen, bei der öffentlichen Debatte mitzuwirken: die in Zeitungen und Feuilletons vorherrschende Meinung zum Krieg – eine Mei­nung, die sich in den verbreiteten Gedanken zu “Heldentum” und “Vater­land” äußere und die er gar nicht teile. Schnitzlers Misstrauen ist daher auf seine Wahrnehmung der geistigen Atmosphäre der Zeit zurückzuführen – einer Atmosphäre, die nur engagierte Publizistik, kriegsverherrlichende Li­teratur und starke Werte bejahe. Über die “zeitgenössische Stimmung” schreibt er bereits am 18. November 1914 im Tagebuch eindeutige Worte:

Wir spüren plötzlich die Stimmung der Zeitgenossen – ohne sie zu theilen, ohne sie gutzuheißen – ja mit Aerger. Das A- (nicht Un-) Mo­ralische würde auf um so verbissnern Widerstand stoßen, je höher das künstlerische Niveau des Werks. [...] Zweifellos kommt eine Epoche des Philistertums, der Banalität – wohl auch der Heuchelei. Man spürt es – rätselhaft klar. – (Tb 1913-1916, 151)

In einer solchen Atmosphäre wird auch Schnitzler selbst immer wieder für dekadent, unzeitgemäß und überholt erklärt. Die öffentliche Meinung ist Schnitzler allerdings nicht nur aus dem Grund zuwider, dass er sich miss­verstanden fühlt, sondern vor allem deswegen, weil Kritiker, Publizisten und Journalisten in seinen Augen auch den Weltkrieg ausnutzen, um aus neuen Parolen wie “Heldentum” und “Vaterland” Ansehen und Profit zu schlagen.

Schnitzlers oben erwähnte Aussage ist keine gelegentliche Äußerung. Sie geht auf eine tiefgreifende Zeitdiagnose zurück, die in den Aphorismen und Betrachtungen, in den Tagebüchern und im Nachlass immer wieder Aus­druck findet. Um 1916 präzisiert er in den Paralipomena zu den Diagram-men Der Geist im Wort und Der Geist in der Tat seine Kritik und beschreibt die geistige Atmosphäre der Zeit als eine von Feuilletonisten, Politikern und Literaten dominierte «Atmosphäre der Unsachlichkeit, der Unwahrhaf­tigkeit und des Snobismus» (AuB, 348).

Aus Schnitzlers Kritik an Hofmannsthal kennen wir schon seine Auffas­sung des “Snobismus” als ästhetisierten und affektierten Bezug zur Wirk­lichkeit. Im Snobismus erkennt Schnitzler allerdings nicht nur eine Weltent­fremdung des Dichters Hofmannsthal, sondern vielmehr die «Krankheit der Zeit»[25] und geradezu «eine der Wurzeln dieses Krieges»[26], wie er 1917 im Tagebuch notiert. Somit ist Schnitzlers Kritik am Snobismus nicht nur eine psychologische und auf Hofmannsthal beschränkte, sondern auch eine ausdrücklich zeitkritische, wie im Übrigen auch folgende Äußerung aus sei­ner nachgelassenen Friedensschrift über die intellektuelle Atmosphäre die­ser Zeit deutlich macht:

Nicht das Erschütterndste, aber das Betrübendste vielleicht ist dies­mal, daß die Intellektuellen, von denen wir gehofft haben, sie würden es uns doch möglich machen, ihnen über den Abgrund dieses Völker­krieges die Hand zu reichen, beinahe völlig versagen, daß sie die Tat­sachen nicht sehen wollen oder auch nicht sehen können. (AuB, 193)

In ihrem Snobismus oder in ihrem prekären, dabei blass ästhetisierten Bezug zur Realität versagten die Intellektuellen, indem sie «die Tatsachen nicht sehen wollen oder können». Sie seien durch die ungeheuren «Lügen, die schon vor Beginn des Krieges eingesetzt haben», irregeführt und ver­wirrt (vgl. AuB, 193). Diese “Lügen” sind in Schnitzlers Augen auf zwei Dogmen zurückzuführen, die unbedingt zu bekämpfen seien: einerseits das Dogma des läuternden Einflusses des Krieges und andererseits das Dogma der Schicksalsnotwendigkeit des Krieges. Gegen die erste Gesinnung argu­mentiert Schnitzler im Januar 1915 in seiner Friedensschrift wie folgt:

Viele Feuilletonisten finden, daß die Menschheit nach diesem Kriege irgendwie gereinigt und geläutert sein werde.

Die Gründe für diese Annahme sind unklar: keiner der Kriege, die bisher in der Welt geführt worden sind, hat diese Folge gezeitigt. [...]

Wer werden die Geläuterten sein? Die ein Bein verloren haben oder ein Auge? Oder die Eltern, die ein Kind, die Frauen, die ihren Mann verloren haben? Oder die Leute, die zu Grunde gingen? Oder die Leute, die durch Armeelieferungen Millionen verdient haben? Oder die Diplomaten, die den Krieg angezettelt haben? Oder die Monar­chen, die siegreichen oder die geschlagenen? Oder die Feuilletonisten, die daheim geblieben sind?

Diejenigen, die geläutert sein werden – ich wage es zu vermuten – sind es schon vorher gewesen. (AuB, 199)

Einmal mehr spricht hier der Mediziner und Diagnostiker, dessen nüch­terner Blick das Kriegsgeschehen unmöglich idealisieren oder ästhetisieren kann. Hier spricht aber auch der Skeptiker, der Dogmen ablehnen muss und der keine absoluten Werte setzen kann. So auch gegen das Dogma der Schicksalsnotwendigkeit des Krieges:

[Unsinn ist] auch der Satz, daß der Krieg eine Notwendigkeit sei und man sich daher nicht gegen ihn auflehnen dürfe. Auch Pest und Cho­lera sind Notwendigkeiten. Erst daß wir uns gegen angebliche Not­wendigkeiten auflehnen, macht uns ja zu Menschen. Und jedenfalls ist auch das Sichzurwehrsetzen Notwendigkeit. Glauben wir nicht an den freien Willen, so ist die Welt ja Unsinn [...]. (AuB, 205f.)

In Schnitzlers Augen sei dieses «Dogma» auch deswegen nicht berech­tigt, weil der Krieg nicht in der menschlichen Natur begründet sei, sondern im Wesen der Staatenbildung und in dem Verhältnis der einzelnen Staaten zueinander (vgl. AuB, 222f.). Schnitzlers Argumente setzen sich einer äs­thetisierenden und zugleich dogmatischen Tendenz der Zeit diametral ent­gegen und bringen die Diskussion von der sehr verbreiteten “metaphysi­schen” Ebene von Schicksal, Kausalität und Determinismus, die im Krieg einen höheren Sinn finden will, auf eine zu postulierende “ethische” Ebene von freiem Willen, Verantwortung und Recht hin. Von der Feststellung aus, dass «nicht die Menschen, sondern die Organisationen [zu bessern sind]», ist für Schnitzler eine eventuelle Bewegung gegen den Krieg einzuleiten (vgl. AuB, 214f.): Es handele sich darum, die staatlichen Organisationen umzugestalten. Auf diesem Weg solle die Existenz von Menschen unmög­lich gemacht werden, denen der Krieg einen Vorteil bringen kann und de­nen zugleich die Macht gegeben ist, ihn zu entfesseln (vgl. AuB, 208).

Wenn Schnitzler beklagt, dass die Intellektuellen in ihrer snobistischen Haltung im Weltkrieg versagt haben, so ist es vor allem deswegen, weil sie dem Kriegsgeschehen mit antirationalistischen und metaphysischen Kate­gorien gegenüberstehen. Sie seien «im Gebrauch ihrer logischen Fähigkeit durch ihr National- und Zugehörigkeitsgefühl erheblich gestört» (AuB, 193). Die mehrheitlichen antirationalistischen, idealistischen und nationa­listischen Tendenzen der Zeit teilt Schnitzler nicht. Er hält sie für “Snobis­mus”, einen damit weit über dessen ursprünglichen Sinn hinausgehenden Begriff, der in seinen Augen (wie er in einer nachgelassenen Aufzeichnung aus dem Jahr 1915 schreibt) das «mächtigst[e] Element moderner sozialer Entwicklung und Gliederung» bildet (AuB, 233). Als Skeptiker glaubt er, einen solchen Snobismus ablehnen zu müssen, welcher «der politischen At­mosphäre des Konservatismus, der philosophischen des Glaubens und des Optimismus bedarf [...]» (AuB, 233).

Wie ebenfalls aus dem Nachlass hervorgeht, bezieht Schnitzler wie kaum ein anderer Schriftsteller von Anfang an gegen den Krieg Stellung. Genauso eindeutig wendet er sich gegen den “Kulturkrieg” sowie gegen die in der Publizistik seiner Zeit vorherrschende geistige Atmosphäre des Konserva­tismus, Dogmatismus und Antirationalismus. In dieser Atmosphäre, die den Krieg für ihre Zwecke instrumentalisiert, mit der er nicht mittrommeln will und von der er sich als Dichter völlig missverstanden fühlt, glaubt Schnitzler keine andere Möglichkeit zu haben, als sich vorübergehend von der Öffentlichkeit zurückzuziehen – eine Entscheidung, die sicher proble­matisch erscheinen kann, die aber die Prägnanz seiner Kritik nicht beein­trächtigt.

Vor dem Hintergrund von Schnitzlers Zeitkritik bleibt zuletzt zu hinter­fragen, wo Hofmannsthal in diesem beschriebenen geistigen Panorama zu verorten sei. An dieser Stelle kann Hofmannsthals Position in den Kriegs­jahren nur skizziert werden, indem auf die Frage fokussiert wird, inwiefern er für Schnitzler in Bezug auf den Weltkrieg als Repräsentant der Atmo­sphäre des “Snobismus” zuzurechnen sei. Dabei wird hauptsächlich auf Hofmannsthals Aufsatz Antwort auf eine Umfrage des “Svenska Dagbladet” (1915) Bezug genommen.

Wie aus diesem Aufsatz sowie allgemein aus seiner Kriegspublizistik her­vorgeht[27], sieht der Dichter im Weltkrieg keine im traditionellen Sinne po­litische, sondern vor allem eine geistige Mission, eine Chance zu einer Aufer­stehung der Kultur, die sich insbesondere in der “europäischen Idee” kon­kretisiert. Die geistige, “europäische” Integration, die der Krieg in Hof­mannsthals Augen herbeiführen soll, hat nichts mit dem aufklärerischen Universalismus zu tun, sondern ist organisch bedingt und geht auf den ro­mantischen Europa-Begriff zurück[28]. Damit ist eine organische Einheit gemeint, die nach dem «glücklich überstandenen Kriegsgewitter»[29] durch den schöpferischen Geist der deutschen Kultur zusammengehalten wird. Ge­nau in diesem Sinne schreibt Hofmannsthal in seiner Antwort: «Für uns – noch mehr als für die andern – hat dieser Krieg auch eine geistige Bedeu­tung, die mit nicht minderer Kraft uns anfasst, als die von allen erkannte furchtbare materielle Wucht des Geschehens»[30]. Der Krieg sei somit als Wendepunkt, als Auslöser einer erwünschten geistigen Umwälzung und als Voraussetzung für ein neues Europa zu verstehen, das aus der Asche des zivilisierten und als flügellahm empfundenen “alten” Europa geboren wer­den soll.

Gerade gegen den Geist von Rationalität, Modernisierung und Zivilisa­tion plädiert Hofmannsthal im zitierten Aufsatz für geistige anstatt amtliche Formen der Autorität, für ein Wiedererwachen des religiösen Geistes, sowie für einen “hohen” Begriff des Volkes gegen den Begriff der Masse. Wenn sich Hofmannsthal auch nicht in die nationalistischen Muster der Zeit ein­passt, so argumentiert er dennoch in seiner Kriegspublizistik mit den in der Debatte um den “Kulturkrieg” überwiegenden lebensphilosophischen, zi­vilisationskritischen und metaphysischen Kategorien, denen Schnitzler sehr skeptisch gegenübersteht. Nicht zuletzt hierin scheint der Grund zu liegen, weswegen Schnitzler, von seiner Zeitkritik ausgehend, im Tagebuch von Hofmannsthals «Feudalismus»[31] und «Snobismus»[32], von seinen «politi­schen Allüren» und seiner «problematischen Stellung»[33] in den Kriegsjahren berichtet. In Hofmannsthals Engagement für einen neuen europäischen «Organismus, durchströmt von der inneren Religion zu sich selbst»[34] er­blickt der Mediziner Schnitzler ein Symptom des in seinen Augen allgemein erkrankten Geistes seiner Zeit. Von seiner Skepsis gegenüber jeder Ideali­sierung ausgehend, kritisiert Schnitzler Hofmannsthals Position, weil er da-rin die Gefahr einer Ästhetisierung der Geschichte, ja eine ästhetische Ver­einnahmung des Kriegsgeschehens wahrnimmt[35].

Man mag Schnitzlers Hofmannsthal-Kritik berechtigt finden oder nicht: Hofmannsthal hat seine Positionen der Kriegsjahre später ja selbst revidiert sowie seine kulturellen Visionen weiterentwickelt. Bezeichnend bleibt aber Schnitzlers Zeitkritik in den Kriegsjahren, insbesondere angesichts der all­gemeinen (publizistischen) Begeisterung der Zeitgenossen. Besonders ab diesen Jahren erblickt Schnitzler im Snobismus nicht nur eine gestörte, äs­thetisierte Beziehung der Intellektuellen zur Wirklichkeit, vielmehr glaubt er darin, das «mächtigst[e] Element moderner sozialer Entwicklung und Gliederung» (AuB, 233) zu erkennen, wie er in der erwähnten nachgelasse­nen Notiz aus dem Jahr 1915 schreibt. Soziale Entwicklung und Gliede­rung, Gemeinsinn und Kohäsion können in Schnitzlers Augen schwer auf dem Weg einer radikalen Ästhetisierung aller Ebenen der Existenz, und so­mit auch von Politik und Geschichte, erreicht werden. Aus dieser Perspek­tive erweist sich seine Kritik auch als der Versuch, die Rolle der Intellektu­ellen und nicht zuletzt die fragile Beziehung zwischen Ästhetik, Ethik und Politik in Zeiten der Krise und des Umbruchs zu hinterfragen und neu zu bedenken. Und unter diesem Gesichtspunkt hat Schnitzlers Diagnose bis heute nichts an Brisanz eingebüßt.

Siglenverzeichnis

AuB   Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke: Aphorismen und Betrachtungen, hrsg. von Robert O. Weiss, Fischer, Frankfurt a.M. 1967;

Tb     Arthur Schnitzler Tagebuch, unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hrsg. von der Kommission für litera­rische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaf­ten (Obmann: Werner Welzig), Verlag Österreichische Akademie der Wis­senschaften, Wien 1981-2000, 12 Bände;

SW    Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hrsg. von Anne Bohnenkamp (seit 2004), Heinz Otto Burger (bis 1977), Rudolf Hirsch (bis 1996), Clemens Köttel­wesch (1980-1988), Detlev Lüders (bis 1980), Mathias Mayer (seit 1996), Christoph Perels (seit 1989), Edward Reichel (seit 1993), Heinz Rölleke (seit 1974), Martin Stern (bis 1974), Ernst Zinn (bis 1990). S. Fischer, Frankfurt a. M., seit 1975.



[1] Vgl. Erich Zöllner: Geschichte Osterreichs: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, R. Olden­bourg Verlag, München 1979, S. 502ff.

[2] Franz Werfel: «Der Snobismus als geistige Weltmacht», in: ders.: Zwischen oben und unten: Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge, hrsg. von Adolf D. Klarmann, Lan­gen Müller, München 19802, S. 260-278. Von nun an abgekürzt mit der Sigle SgW.

[3] Vgl. dazu einführend: Alexander Košenina: «Snob; Snobismus», in: Historisches Wör­terbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 9, Schwabe, Basel 1995, S. 992f. Vgl. neuerdings auch folgenden Sammelband, der einen Überblick über bedeutende Bearbei­tungen des Themas “Snobismus” (besonders im 20. Jahrhundert) bietet: Péripéties du sno­bisme, hrsg von Jacqueline Bel und Till R. Kuhnle, in: Germanica 49 (2011), Volltext verfüg­bar unter: http://germanica.revues. org/1360 (zuletzt abgerufen am 31.3.2016). Darin (S. 69-82) befasst sich der Beitrag von Michel Reffet gerade mit dem Snobismus in Franz Werfels Werk: «Franz Werfel. Le snobisme, père de tous les maux».

[4] Eines Dichters, den Werfel übrigens auch allgemein als “Ethiker” sehr schätzt. Vgl. etwa den Aufsatz «Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag» (1922) und die Gedenkrede «Arthur Schnitzler» (1932), in: Zwischen oben und unten, a.a.O, S. 434-440.

[5] Die von Werfel zitierten Worte schreibt Schnitzler fast buchstabengetreu in seinem 1927 erschienenen Buch der Sprüche und der Bedenken unter der Rubrik «Tageswirren, Gang der Zeiten», vgl. AuB, 88.

[6] Vgl. ausführlich zu dieser Debatte: Barbara Beßlich: Wege in den “Kulturkrieg”. Zivilisa­tionskritik in Deutschland 1890-1914, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, S. 1-16.

[7] Vgl. Giuseppe Farese: «“in den Wurzeln verbunden”: Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal: eine wunderbare, einzigartige Freundschaft», in: Konstanze Fliedl (Hrsg.): Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert, Picus Verlag, Wien 2003, S. 290-304. Für einen Überblick über Schnitzler und Hofmannsthal sowie über den Stand der Forschung, vgl. außerdem den Beitrag von Dominik Orth: «Hugo von Hofmannsthal», in: Schnitzler Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, S. 19-21. Allgemein be­trachtet bleibt der bekannteste Aufsatz zu Schnitzler und Hofmannsthal im fin de siècle: Carl E. Schorske: «Die Seele und die Politik. Schnitzler und Hofmannsthal», in: ders.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Fischer, Frankfurt a.M. 1982, S. 3-21.

[8] Arthur Schnitzler: Hugo von Hofmannsthal. «Charakteristik aus den Tagebüchern», hrsg. von Bernd Urban in Verbindung mit Werner Volke, Freiburg 1975 (= Hofmannsthal-For­schungen 3).

[9] Ebd., S. 25.

[10] So schreibt er zum Beispiel am 5. Februar 1906, dass er Hofmannsthals Oedipus kalt bewundere, weil in diesem Stück «so unglaublich viel, so starkes herausgebracht ist, mit einem so geringen Interesse am Gegenstand» (Tb 1903-1908, 183). Zu Schnitzlers Kritik an anderen Werken Hofmannsthals vgl. außerdem: Tb 1909-1912, 22.3.1909, 57 und 16.2. 1910, 127.

[11] Über die Spannung zwischen Talent und “Herzensanteil” in ihrer dichterischen Produk­tion reden Schnitzler und Hofmannsthal interessanterweise auch persönlich, wie Schnitzler am 12. Mai 1906 im Tagebuch notiert. Vgl. Tb 1903-1908, 201.

[12] Zu Schnitzlers Ringen um die Synthese zwischen Dichtung und Wissenschaft vgl. das «Vorwort» von Horst Thomé zu den Medizinischen Schriften, Fischer, Frankfurt a.M. 1991, S. 11-59.

[13] Zur Zweiten Wiener medizinischen Schule vgl. das Standardwerk von Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Hermann Böhlaus Nachf., Graz 1965.

[14] Horst Thomé: «Vorwort», S. 30. Zum Naturkult um 1900 vgl. auch Jost Hermand: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Fischer, Frankfurt a.M. 1991.

[15] Zum “therapeutischen Skeptizismus”, der den jungen Medizin-Studenten und spä­teren Dichter Schnitzler prägt, vgl.: Mark Luprecht: What People call Pessimism: Sigmund Freud, Arthur Schnitzler and Nineteenth Century Controversy at the University of Vienna Medical School, Ariadne Press, Riverside 1991. Zu Schnitzlers “medizinischer Weltanschauung” vgl. au­ßerdem Olga Schnitzler: Spiegelbild der Freundschaft, Residenz Verlag, Salzburg 1962, S. 52f.

[16] Zu Hofmannsthals Ästhetik und deren Beziehungen zur Lebensphilosophie im Frühwerk vgl. Gregor Streim: Das “Leben” in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal, Königshausen & Neumann, Würzburg 1996. Zur Lebensphilosophie in Hof­mannsthals Spätwerk vgl. Cristina Fossaluzza: Poesia e nuovo ordine. Romanticismo politico nel tardo Hofmannsthal, Cafoscarina, Venezia 2010.

[17] So scheint seine Kritik nicht nur einer unverbindlichen Literatur zu gelten (wie Horst Thomé in seinem erwähnten «Vorwort» zurecht hervorhebt, vgl. S. 55), sondern explizit auch einer radikal subjektivorientierten.

[18] Zur neoromantischen Renaissance (sowie zur Entstehung anderer “Neostile”) in der kulturkritischen Debatte der Jahre 1890-1914 vgl. etwa Barbara Beßlich: Wege in den “Kul­turkrieg”. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, a.a.O, S. 1-16, besonders S. 13.

[19] Vgl. Walter Müller-Seidel: «Literarische Moderne und Erster Weltkrieg. Arthur Schnitzler in dieser Zeit», in: Uwe Schneider / Andreas Schumann (Hrsg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, S. 13-37, bes. S. 26f.

[20] Ebd.

[21] Zur Debatte um den Ersten Weltkrieg vgl. etwa folgende Studien: Wolfgang J. Mo­mmsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, Oldenbourg, München 1996 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien; 34), Barbara Beßlich: Wege in den «Kulturkrieg». Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, a.a.O und Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Akademie-Verlag, Berlin 2001.

[22] Vgl. dazu auch Adrian Clive Roberts: Arthur Schnitzler and Politics, Ariadne Press, Riv­erside 1989 (= Studies in Austrian Literature, culture and thought).

[23] Vgl. Arthur Schnitzler: Briefe 1913-1931, hrsg. von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler, Fischer, Frankfurt a.M. 1984, S. 64-69.

[24] Vgl. Ebd., S. 66ff.

[25] Tb 1917-1919, 24.11.1917, S. 92.

[26] Ebd., 20.10.1917, S. 84.

[27] Für eine weiterführende Analyse von Hofmannsthals Kriegspublizistik vgl. Gregor Streim: «Deutscher Geist und europäische Kultur. Die “europäische Idee” in der Kriegs­publizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz», in: Germanisch-romanische Monatsschrift, hrsg. von Conrad Wiedemann, Winter, Heidelberg, Bd. 46 (1996), S. 174-197.

[28] Vgl. dazu auch Cristina Fossaluzza: «Phönix Europa? Krieg und Kultur in Rudolf Pann­witz’ und Hugo von Hofmannsthals europäischer Idee», in: Sascha Bru / Peter Nicholls (Hrsg.): Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent, de Gruyter, Berlin 2009, vol. 1, S. 113-125.

[29] Hofmannsthal, Hugo von: Aufbauen, nicht einreißen, in: SW XXXIV: Reden und Aufsätze 3 [1910–1919], hrsg. von Klaus E. Bohnenkamp, Katja Kaluga und Klaus-Dieter Krabiel, 2011, S. 135.

[30] Hofmannsthal, Hugo von: Antwort auf eine Umfrage des “Svenska Dagbladet”, in: SW XXXIV (Reden und Aufsätze 3), S. 159.

[31] Tb 1913-1916, 13. 11. 1914, 150.

[32] Tb 1917-1919, 26. 4. 1917, 39.

[33] Tb 1913-1916, 26. 11. 1915, 241.

[34] So etwa Hofmannsthals Formulierung im Aufsatz Die österreichische Idee, in: SW XXXIV (Reden und Aufsätze 3), S. 207.

[35] Zu einem «idealistische[n] Rückzug» Hofmannsthals «ins Künstlerisch-Ästhetische» in den Kriegsjahren vgl. auch Andreas Schumann: «“Macht mir aber viel Freude”. Hugo von Hofmannsthals Publizistik während des Ersten Weltkriegs», in: Uwe Schneider / An­dreas Schumann (Hrsg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, a.a.O, S. 137-151, hier S. 150.