Gernot Waldner

(Cambridge, MA)

Wie man’s nimmt
Zum Zusammenhang von Rassentheorien und Humor
in den Schriften von Fritz von Herzmanovksy-Orlando

[How you look at it. The relations between grotesque humour and racial theories
in the writings of Fritz von Herzmanovsky-Orlando
]

abstract. This article discusses the relationship between grotesque humor and racial theo­ries in the works of Fritz von Herzmanovsky-Orlando. The humor of his literary works comprises deviant characters and slips of the tongue, exposing a penchant for physiological and philological deviations. In his esoteric writings, ariosophic legends and etymological acumen serve to reconstruct inhabitants and languages of a fallen age. The author’s humor is thus based on political beliefs of the 1920’s, rendering him, his people and language greater than they could actually be.

Ja, ja; nein, nein.

(Matthäus 5:37)

Einleitung

Zu Lebzeiten erschienen nur zwei Bücher von Fritz von Herzmanovsky-Orlando, die kleine Novelle Der Kommandant von Kalymnos im Selbstverlag in Venedig und Der Gaulschreck im Rosennetz bei Artur Wolf in Wien, letzterer verkaufte sich nicht und wurde nach kurzer Zeit unter einem anderen Titel verramscht. Die beiden Texte erschienen Ende der 1920er Jahre, in dem Jahrzehnt, in das bis auf wenige Ausnahmen die gesamte künstlerische Pro­duktivität von Herzmanovsky-Orlando fällt. Hunderte von Zeichnungen entstanden, drei Romane, sowie zahlreiche Fragmente, Ballette, Pantomi­men und Dramen[1]. FHO war finanziell nicht auf den literarischen Erfolg angewiesen. Aus einer kulturkonservativen Familie des Wiener Beamten­bürgertums stammend lebte Fritz von Herzmanovsky-Orlando seit 1914 krankheitsbedingt in Meran, dem heutigen Südtirol. Ein vermutlich be­freundeter Arzt stellte ihm ein Attest aus, seinen Beruf des Architekten nie­derzulegen, und von nun an «den wärmsten Ort der Donaumonarchie» zum Wohnsitz zu wählen. Angeblich war das Meran, welches Herzmanovsky-Orlando bereits durch familiäre Reisen während seiner Kindheit kannte. Er verbrachte in Südtirol mehr als zwei Drittel seines Lebens und lebte von Mieterträgen, die zwei Zinshäuser in Wien und ein Grundstück in der Leipziger Innenstadt abwarfen. Seine Versuche, Manuskripte zu publizie­ren, wurden häufig mit der Begründung abgelehnt, dass er darin alles ins Lächerliche ziehe und ihm der nötige, einem Roman angemessene Ernst fehle[2]. Auch Überlegungen, welche die Zumutbarkeit an ein bestimmtes re­gionales Publikum betrafen, waren relevant. So äußerte ein deutscher Lek­tor «Zweifel daran [...], ob die entzückenden österreichischen Ironien in Deutschland und namentlich in Norddeutschland immer verstanden wer­den»[3]. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Name Fritz von Herzmanovsky-Orlando zumindest in Österreich, wo 1945 eine geringere gesellschaftliche Zäsur darstellt, zu einigem Ansehen. Friedrich Torberg freundet sich mit dem inzwischen über 70-jährigen Autor an und initiiert eine vierbändige Ausgabe der Werke, die zwischen 1958 und 1963 erschien. Die Verbindung mit Torberg hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass auch FHO als einer der Nachkriegsautoren gesehen wurde, die sich nostalgisch verkauzt auf der Suche nach kultureller Tradition den Themen und Figuren der untergegangenen Donaumonarchie widmen. Diese kulturelle Kontinu­ität, welche die NS-Zeit und den Austrofaschismus literarisch überbrückte, bildet die Patina der ersten Edition der Texte von Herzmanovsky-Orlando. So zutreffend dieser Befund für die populäre Rezeption nach 1945 auch sein mag, diese Arbeit vertritt dagegen die These, dass die nostalgische Di­mension der Texte weniger mit der untergegangen Donaumonarchie als mit ariosophischen Rassentheorien zusammenhängt. Letztere bilden den Groß­teil des archivierten Nachlasses, auch wenn ihnen in der Sekundärliteratur sowie in der erhältlichen Edition kaum oder wenig Raum gegeben wurde. Die letzte, auf Initiative des Brenner-Archivs Innsbruck unter der Leitung von Walter Methlagl und Wendelin Schmidt-Dengler erschienene Ausgabe sämtlicher Werke enthält neben zahlreichen unveröffentlichten literari­schen Texten auch Herzmanovsky-Orlandos Briefwechsel mit Alfred Ku­bin, Walter Benjamin, Jörg Lanz von Liebenfels und den Rittern des Neu­templer-Ordens. [4] Der esoterische Nachlass wurde jedoch aus editorischen und ökonomischen Gründen ausgelassen und im Archiv entweder den je­weiligen literarischen Werken zugeordnet oder unter Schlagwörtern wie «Mystik» lose gruppiert[5]. Der Neuausgabe sämtlicher Werke muss man zu Gute halten, dass sie die esoterische Forschung erstmals thematisiert und als Teil der Biographie des Autors darstellt. Was bisher allerdings noch nicht geschah, ist die Verbindung zwischen den literarischen und den esoteri­schen Schriften zu diskutieren. Vor dem Hintergrund des öffentlichen Stel­lenwerts sowie der bisherigen Rezeption nimmt sich damit das Unterfangen dieser Arbeit wie ein Mittelweg aus, dem es weder darum geht den Autor politisch pauschal zu diskreditieren noch die Werke rein ästhetisch zu be­handeln, als wären sie gleichsam in einem luftleeren Raum entstanden.

Fritz von Herzmanovsky-Orlando wurde also, nachdem ihm zu Lebzei­ten die Beamtenlaufbahn versagt geblieben war, nach 1945 literarisch in den Dienst der Monarchie genommen. Diese nostalgische Lesart konnte aber nur so Geltung beanspruchen, bis die langjährige und von den 1920er bis in die 1950er Jahre bestehende Verbundenheit mit dem Rassentheoretiker Jörg Lanz von Liebenfels sowie die Mitgliedschaft Herzmanovsky-Orlan­dos in der NSDAP bekannt wurden. Hatte sich davor in Wien innerhalb kurzer Zeit für einen absurden bis grotesken Sachverhalt das Adjektiv «herzmanovskysch» eingebürgert, so wollte diese kurrente Münze nun nicht mehr ihren Besitzer wechseln. Die Thematisierung des Schriftstellerlebens während der NS-Zeit vertrug sich mit der nostalgischen Kontinuität nicht, und ein einzelner Schriftsteller besaß nicht die identitätsstiftende Funktion, wie sie der Österreichtourismus später entwickeln sollte.

Einer der Leiter der zehnbändigen Ausgabe, Wendelin Schmidt-Deng­ler, hat die Poetik Herzmanovsky-Orlandos ausgehend von einem Frag­ment, Et in styria Dionysos, so charakterisiert, dass es in seinen Werken um die Relation zwischen Österreich und einem vergangenen Griechenland gehe[6]. Das überrascht zunächst, da viele der grotesken Texte nicht im Ge-ringsten von Griechenland handeln, sondern trotz provinzieller Vielfalt ir­gendwie österreichisch bleiben. Sowohl «Österreich» als «Griechenland» er­scheinen, wie man sehen wird, als zu vage Komplexe, wenn man die Ver­bindung zwischen literarischen und esoterischen Schriften beschreiben will.

Literarische Reste

Ein gewisser Herr Jaromir Sbitek aus Časlau, ein bekannter preisge­krönter Linguist, schrieb vor Jahren folgenden Brief über seine Reise­eindrücke einer Fahrt nach Wien an seinen Bruder Zdenko in Časlau.[7]

Der Inhalt des nachfolgenden Briefes ist schnell vorweggenommen. Nach der Ankunft mit der Nordbahn und den Empfang durch «Landsleute» fährt Jaromir Sbitek durch die Ringstraße zum Hotel Imperial, wo er zufällig Zeuge eines großen Empfangs wird. Im Hotel bewundert er die luxuriöse Einrichtung und versucht auf abendlichen Empfängen mit Adeligen in Kontakt zu kommen, zeigt sich beeindruckt von der Erscheinung der Gäste und hört ein Konzert. Am nächsten Morgen fährt er nach Schönbrunn, be­sichtigt das kaiserliche Anwesen, um anschließend im Prater zu Mittag zu essen, ein weiteres Schloss zu besichtigen und Abends in die Oper zu gehen, wo er einer Sängerin Blumen schenkt und mit ihr eine Affäre beginnt. Ent­sprechend euphorisiert beendet Jaromir Sbitek den Brief an seinen Bruder mit den Worten: «Ich glaube, Du wirst bald unerwartete Dinge von mir hören. Für heute bin ich Dein beneidenswerter Bruder»[8].

Dem Inhalt nach klingt dieser Brief wie eine Sammlung von Postkarten aus Wien. Bevor aber die Form des Schreibens selbst in den Blick genom­men werden kann, ist noch etwas zum einleitenden Absatz zu sagen. Jaro­mir Sbitek kommt aus Časlau und sendet den Brief dorthin zurück, an sei­nen Bruder. Die Struktur dieser Botschaft lässt also den Herkunftsort des Senders und den Empfangsort des Briefes zusammenfallen. Um es leicht bösartig zu pointieren: selbst in Časlau wird über Wien geredet; was das mit Wien zu tun hat, wird man in Časlau bestimmt wissen. Allein in der Anlage dieses Schreibens kommt damit ein Motiv zu tragen, welches sich durch zahlreiche Texte Herzmanovsky-Orlandos zieht. Seine Darstellungen ver­weigern eine zentrale Perspektive auf repräsentative Dinge, seien es Institu­tionen, Symbole, Personen oder Hauptstädte. Die Perspektive ist stets eine abseitige, wie im Falle Herzmanovsky-Orlandos so auch beim Linguisten Sbitek.

Das Wort «Sbitek» bezieht sich im Tschechischen auf einen Rest, Über­rest oder Rückstand. Sbitek ist das, was übrig bleibt und suggeriert im Abs­trakten ein Ganzes, das einmal war und von dem sich nichts bis auf einen Sbitek erhalten hat[9]. Mehr lässt sich über den Reisenden, der aus der Pro­vinz in die Residenzstadt kommt neben seinem Beruf des Linguisten nicht sagen. Um das Programm dieser Wissenschaft genauer in Erfahrung zu bringen, lassen wir den Linguisten selbst zu Wort kommen. Jaromir Sbitek kommt in Wien an:

Lieber Bruder!
Soeben kam ich mittels eines Kompreßzuges der Mordbahn hier in Wien an. Schon am Bahnhof erwartete mich eine Deportation unserer Landsleute – lauter konfinierte Gesichter –, die mich in das Kartel Impertinal – ein Haus ersten Ranges – eskamontierte. [...] Vor dem Kartel angelangt, wurde ich Zeuge eines histerischen Monumentes. Ein fremder Souterrain – wie ich später erfuhr, war es der Endivie von Egypten – war mit großer Suada angekommen und wurde nach Ver­lassen der vierspännigen Eremitage von gouillotierten Lackeln mit brennenden Skandalabern umringt und in das festlich illustrierte Ridi­cul des prunkvollen Fremdenballastes evakuiert.
[10]

Wie die inhaltliche Zusammenfassung erwiesen hat, ist dieser Absatz schon an sich ein kleiner Affront gegen eine Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, sprachliche Bedeutungen zu klären. Denn uneigentliches Sprechen, Vagheiten, Ambivalenzen, Nebenbedeutungen und Hintersin­nigkeiten stören die Vermittlung von dem, was Jaromir Sbitek erlebt hat, kaum. Nichtsdestotrotz machen seine dem Bildungseifer geschuldeten Un­deutlichkeiten durchwegs deutlich, dass sozusagen ein Sbitek zwischen dem Text und dem Erlebten steht. Demnach ist der Name des Protagonisten hier ein Programm: kein Wort geht zur Gänze auf. Aber was macht der Rest, den Sbitek von sich gibt, hier genau?

«[M]ittels eines Kompreßzuges der Mordbahn» kommt Jaromir Sbitek in Wien an. Die Nordbahn von Wien nach Brno wurde 1839 eröffnet, an der ersten Fahrt nahmen 1200 Reisende teil und die Strecke von 144 Kilome­tern wurde in viereinhalb Stunden zurückgelegt. Bereits auf der Rückfahrt kam es zum ersten Zugunglück, dem noch weitere folgen sollten, so dass in der Bevölkerung von der Mordbahn Kaiser Ferdinands gesprochen wurde. Im Oktober desselben Jahres, erwies sich der Zug samt aller Passagiere als zu schwer für die Lokomotive, die Auslastung der Strecke war maximal. Wenn «Expresszug» also die offizielle Bezeichnung gewesen sein sollte, so entbehrt das nicht einer gewissen Ironie, wohingegen das dosensardinische Fahrgefühl im Neologismus «Kompresszug» besser getroffen wird. Beide vermeintlichen Fehler sind also keine simplen Kalauer, sondern charakteri­sieren Defizite des Eisenbahnwesens[11]. Das auf das Hotel Imperial am Kärntner Ring anspielende «Kartel Impertinal» weist in eine ähnliche Rich­tung, indem an der Zusammenkunft der Adeligen jene Form von sozialer Abschottung angesprochen wird, der das Hotel dient. Beim zweiten ver­wechselten Wort wird der ebenso unfreiwillige wie pejorative Standpunkt deutlich, wenn das Hotel Imperial mit Impertinenz verbunden wird. Diese Bewegung von den diversen Repräsentationen und den Spitzen der Gesell­schaft in verschiedene niedere Bereiche setzt sich fort. Aus dem Souverän wird ein Kellergeschoss, aus Khedive eine Salatsorte, aus dem Vestibül eine Lächerlichkeit, aus einem historischen Augenblick ein überemotionalisier­tes Denkmal. Die vorgesehenen Worte werden von dieser Bewegung nach unten erfasst und durch die ähnlich klingende Stellvertreter abgewertet. In diesen Ähnlichkeiten liegt auch die Prägnanz des Verfahrens, minimale Ab­weichungen erzeugen die größten Effekte[12]. In dieser semantischen Ab­wärtsbewegung von hoher Erwartung zu niederer Buchstäblichkeit liegt die Komik eines ersten Verfahrens, in dem die materielle Seite des einzelnen Wortes in komischer Verbindung zur erkennbar intendierten Bedeutung steht[13]. Diese Differenz von ambitionierter Intention und misslingender Aussage hat nun mehrere Dimensionen. Das Ziel, mit dem sie realisiert werden, ist in der Prosa stets eine Art von Komik im Sinne Jean Pauls, also das Ausstellen einer Diskrepanz zwischen Absicht und Erfüllung, wie es emblematisch im ersten Textabschnitt vorkam[14].

Die zweite Dimension knüpft an das Verhältnis an, das zwischen Jaromir Sbitek und Wien besteht, da in ihr die Diskrepanz zwischen institutionali­sierter Schriftlichkeit und dialektaler Mündlichkeit verhandelt wird. In den meisten österreichischen Dialekten wird nicht zwischen stimmlosen und stimmhaften labiodentalen oder alveolaren Plosiven unterschieden, einfa­cher gesagt, [p] wird wie [b] ausgesprochen und [t] wie [d]. Daher rührt der bis heute gepflegte Sarkasmus gegenüber der «teutschen Tugent». Im Fall dieses Textes heißt das aber, dass in Österreich die Fremdenpaläste im ge­sprochenen Singular immer schon ein Ballast sind, und der im Text durch­klingende Chauvinismus auch aus der Indifferenz besagter Plosive resul­tiert. Der Fremdenpalast wird im Text von FHO daher nur so geschrieben, wie er immer schon ausgesprochen wurde. Ein anderes Beispiel liefert der in den Texten häufig vorkommende böhmische Akzent, der sich prominent durch eine andere Artikulation gerundeter Vokale auszeichnet, dadurch dass [ü] als [i] ausgesprochen wird. Frau Watzka, ebenso aus Časlau, ver­sucht sich an eine der vier Himmelsrichtungen zu erinnern. «[W]ie heißt mer’s, wo die Wirschtel aufspringen? Richtig, im Sieden». Dieses zweite Verfahren macht also die Unterscheidung, die im ersten zwischen Intention und Realisierung gemacht wurde, intrikater. Denn während beim ersten Verfahren die Fälle einfach als Versprecher abgetan werden könnten, ste­hen beim letzteren die Homophone, wie «Sieden» und «Fremdenballast» systematisch zwischen der dialektalen Ebene der Sprecher und dem offizi­ellen Regelwerk der Orthographie. Das zweite Verfahren geht also über die Ebene der einzelnen Sprechakte hinaus und verweist auf die Diskrepanz zwischen standardisierter und gesprochener Sprache. In dieser Form von Komik schaffen es die dialektalen Individuen nicht, der Standardsprache gerecht zu werden. Ihre Untererfüllung ist systematisch.

Kehren wir jedoch nach den beiden Formen der Komik, die sich auf den Achsen von Intention und Realisierung bzw. Standard und Dialekt bewe­gen, noch einmal zu Jaromir Sbitek zurück. Zu Beginn seiner Fahrt referiert Jaromir Sbitek die Geschichte der Stadtmauer von Wien.

In vergangener Zeit haben entmenschte Feinde massenhaft auf diese Circumcision geschossen. Dazu hat auch der bekannte, geradezu dämo­nische Dreikäsehoch Napolium gehört, dessen wohlverdientes Ende dann auch ein Kragenmeps – verzeihe! – ein Magenkrebs geworden ist.[15]

Der Relativsatz, der das Ende von «Napolium» beschließt, enthält – un­erwarteter Weise – eine parenthetische Correctio. Dieses sich auf «Kragen­meps» beziehende «[V]erzeihe!» bricht mit dem bisherigen Stil des Textes. Die Pointe dieser Aposiopese besteht natürlich darin, dass der preisge­krönte Linguist hier zum ersten Mal einen seiner zahlreichen Fehler be­merkt. Die Correctio ist hier ein metatextueller Witz, der im durchgängig fehlerhaften Sprechen seinen Effekt aus der Selbsterkenntnis eines einzigen Fehlers zieht. Die Perfidität dieses Metawitzes besteht aber darin, dass nun selbst das Unlustige lustig wird. Im Gegensatz zu den beiden vorangegan­genen Analysen, kann hier nicht mehr von einem Verfahren gesprochen werden, sondern eher von einem Verdikt: jede Erkenntnis einer falschen Aussage besitzt alleine schon deshalb eine Diskrepanz, weil die sprechende Person ein zur Persona geronnener Fehler ist. Die Selbsterkenntnis wird dann komisch, wenn sie vor dem Hintergrund eines systematischen Man­gels zur reinen Geste wird.

Die literarischen Texte lassen sich tentativ durch drei Merkmale charak­terisieren. Sie entfalten ihr Komik entlang einer Diskrepanz (1) zwischen Intention und Realisierung einerseits und Dialekten und Standardsprache andererseits. Diese Diskrepanz lässt sich als eine fallende Bewegung (2) be­schreiben, in der etwas höher Codiertes wie eine Absicht oder ein sprachli­ches Regelsystem durch die faktische Aussprache oder dialektale Realisie­rung desavouiert werden. Gleichzeitig ist diese fallende Bewegung durch eine gewisse Ausweglosigkeit (3) gekennzeichnet. Die bestehende Sprache sowie deren Sprecher sind zu einem Grad korrumpiert, dass die Erkennt­nisse dessen, was eine korrekte Aussage wäre, nur noch den Charakter einer vergeblichen Geste besitzen und daher selbst verlacht werden müssen. Die­ser Rest, wie er von der Persona Sbitek programmatisch vertreten wird, liegt systematisch zwischen Intention und Realisierung, zwischen zeitlosem Sprachsystem und dialektaler Realisierung, zwischen dem tschechischen Wort und seiner deutschsprachigen Bedeutung. Er blockiert diese Bezie­hungen auf der Ebene der Persona. Es gilt nun aber zu klären woher die in einer grotesken Aktualität kulminierende Abwärtsbewegung rührt und in welcher Beziehung Linguisten wie Sbitek und die Erzähler von Fritz von Herzmanovsky-Orlando dazu stehen.

Fritz von Herzmanovsky-Orlando nahm erst im Laufe der 1920er Jahre diesen Namen an. Er stellte einen Antrag auf Namensänderung, da seine Mutter, laut einer Urkunde aus dem Jahr 1715, aus Nordgriechenland stammte. Sie war eine Orlando, während sein Vater, wie der Autor im Jar­gon der Zeit feststellt, ein «reiner Tscheche» war, ein Herzmanovsky. Im Eigennamen des Autors selbst findet sich also eine Diskrepanz zwischen dem auf einen Antiken Ursprung verweisenden Teil der Mutter und jenem tschechischen des Vaters, mit dem der Autor geboren wurde. Sucht man aber im Nachlass von Fritz von Herzmanovsky-Orlando nach Hinweisen, wie dieser sich verstand, so findet sich dort vieles jedoch kein einheitlicher Name. Das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Aktualität, wie es auch im Nachnamen angelegt zu sein scheint, ist also komplexer als eine Relation zwischen Griechenland und Österreich. Hier ein kleiner Auszug aus dem Namensregister eines Autors:

– Friedrich Ritter von Herzmanovsky-Orlando, Mitglied des Bundes-   denkmalamtes, Meran
– Frédéric de Herzmanovsky, Architect, Membre de la Commission des      Monuments, Vienne
– Architekt Fritz Ritter von Herzmanovsky
– Herr Doktor von Herzmanowsky-Orlando, Villa Franzisca MERAN,      Italien.
– Baron Friedrich Orlando
– Don Frederico de Orlando
– Ingenieur Friedrich von Herzmanovsky.[16]

Die meisten dieser Namen können geographisch situiert werden, weil die Attribute der einzelnen Visitenkarten jeweils bestimmte Regionen nahe legen. Die im Nachlass hinterlegte Identität von FHO breitet sich demnach wie auf einer Karte aus, vom südlichen Don Frederico in Richtung Westen, zu Frédéric de Herzmanovsky, und in den Norden, wo der in Frakturschrift gehaltene Ritter Fritz haust. Die Eigennamen des Autors zerstreuen sich gewissermaßen europäisch und in dieser weiten Gegenwart, in welcher FHO sein Leben veranschlagte, wird der Sbitek zum Prinzip. Der Orlando selbst kann als italienische Form des französischen «Roland» gesehen wer­den, welches wiederum vom Fränkischen «Hrodland», dem bekannten Land, herrührt. Man findet so Reste adeliger und institutioneller Titel, bei­der Nachnamen und verschiedener Vornamen eines Autors ohne sie mit einem bestimmten Prinzip identifizieren zu können. Obwohl dieser Topik im Zeichen der Unbestimmtheit nun neben der linguistischen auch eine räumliche Dimension zugestanden werden muss, ist noch nicht klar gewor­den wie Raum und Sprache zusammenhängen und, vor allem, worauf die Reste der voneinander abweichenden Gegenwart in der Vergangenheit ver­weisen. Einen guten Hinweis darauf, wie Geographie zum Ausgangspunkt esoterischer Forschung wurde, gibt eine der umfangreichsten esoterischen Schriften im Nachlass von FHO. Das in sorgfältiger Handschrift geschrie­bene, hundertzweiundvierzig Seiten umfassende Niederösterreichische Ortslexi­kon. Es gliedert die Namen von Marktgemeinden auf und listet sämtliche Städte und Dörfer dieses Wien umrahmenden Bundeslandes auf[17]. Die Na­men aller Dörfer von Niederrösterreich werden in diesem Buch in ihre Sil­ben zerlegt. Die Heuristik der Forschung, und diese Forschung ist nie mehr als heuristisch, besagt, dass einzelne Namenteile mit althochdeutschen oder lateinischen Prä- und Suffixen korrespondieren. Von diesen werden wiede­rum Lexeme abgeschieden, die dann Dingen wie legendenhaften Feen, ei­nem «Nein-Ort», verschiedenen Quellen, Hügeln, Wallfahrts- und Gnaden­orten, Lichterscheinungen und radioaktiven Erscheinungen zugeordnet werden. Ab und zu steht einfach «verborgen» oder ein Fragezeichen neben einem Dorf. Aus semiotischer Perspektive wird so ein ganzer Teppich von Potentialen vager Bedeutungen über Niederösterreich ausgebreitet. Dass die Orte sinnhaft etwas zu entbergen hätten, wird nie bezweifelt. Das ist die Prämisse dieses Buches. Aber dass eine Rekonstruktion gelingen oder gar erzwungen werden könnte, ist nicht die Bestimmung dieses Lexikons. Diese Form von philologischer Arbeit geschieht hier entlang einer diachronen Achse: blickt man von der Gegenwart in die Vergangenheit, so standen die einzelnen Orte einmal für mehr als das, wofür sie zur Zeit FHOs stehen. Wechselt man die Perspektive und sieht von der Vergangenheit in die Zeit­genossenschaft, so sind, ohne einem Bewohner oder einer Bewohnerin zu nahe treten zu wollen, die Orte inzwischen weniger als das, wofür sie einmal standen. Einem vergangenen Mehr korreliert ein gegenwärtiges Weniger, aber beide Perspektiven gehen nicht in einander auf, auch wenn sie sich am gleichen geographischen Punkt entzünden. Es verbleibt stets ein Sbitek, ein Rest, dem man sich philologisch widmen kann. Das Mehr einerseits und das Weniger andererseits etablieren also eine Unschärfe mit zwei Orientie­rungen: Jedes Dorf ist mehr als nur ein Dorf und gleichzeitig nur mehr ein Dorf.

Das Lexikon verbindet damit zwei sich scheinbar widersprechende Di­mensionen: es hat einen totalen Anspruch ohne absolut zu sein. Total ist es, da es sämtliche Orte, Flüsse, Hügel und Städte in Beschlag nimmt und etymologisch ihre Vergangenheit aus- und andeutet. Absolut ist es aber nicht, da es für keine einzige Herleitung eine abschließende Ausdeutung beansprucht. Etymologien werden stets nur angerissen, ausprobiert und großteils in ihrer rätselhaften Mehrdeutigkeit belassen. Das Namenslexikon bildet damit eine in die Vergangenheit gewandte Totalität, ohne eine Form von prinzipieller Allgemeinheit zu beanspruchen. Und das ist zunächst äs­thetisch konsequent, denn eine Theorie für Dürnbach, Lomitzberg, Müh­ling und Lingheim würde einer Komik anheimfallen, wie die Geste, mit der man, nach einer Formulierung von Musil, etwas Großes bedeutsam auf et­was Kleines legt. Obwohl die Namen ihrer Objekte zum Belächeln einla­den, steckt selbst nichts Komisches in ihnen. Die Komik wird erst manifest, wenn sie als Reste einer großen Vergangenheit behandelt werden, einer Ver­gangenheit, deren ursprüngliche Funktion oder deren zu Grunde liegende Bedeutung nicht klar werden kann. Berücksichtigt man die Unterscheidung zwischen total und absolut, so wird auch die Trivialität des Vorwurfs, dass FHO ein Nazi gewesen sei, deutlich: ausgehend von einem prinzipiellen Rassismus könnte man weder die ariosophischen noch die literarischen Texte erklären, da historische Spezifik dieser Komik sowie dieses Rassismus erst im Zusammenhang beider verständlich wird.

Bevor die Frage nach den Göttern, die diese Welt einst schufen, gestellt wird, kehren wir noch kurz in die Welt der 1920er Jahre und ihren Zeitge­nossen zurück. Biographisch befinden wir uns hier an jener Stelle, an der sich Carmen und Fritz von Herzmanovsky-Orlando großteils in der öster­reichischen Provinz aufhielten, also dort, wo nicht nur die alte Staatsform sondern auch das Wiener Gesellschaftsleben, die Vereine und Institutionen der Donaumonarchie wegfielen. Sozial waren sie auf seltene Besuche, Briefe und Bildungsgut angewiesen, um in der Provinz nicht zu vereinsa­men. Trotz des Erkenntniswertes eines Kreuzworträtsels bietet sich im Na­menslexikon eine symbolische Möglichkeit an, der Provinz mehr an Bedeu­tung abzugewinnen. Mit dem Anlegen von Deutungsvarianten werden die Dörfer im gleichen Zug verklärt und in Beschlag genommen, sie werden sozusagen als Vergangene überhöht, um der provinziellen Gegenwart ein freundliches Abbild abzugewinnen. Und mit diesem etymologischen Wur­zelschlagen gewannen die beiden Entwurzelten mit philologischen Mitteln eine relativ idiosynkratische Form von symbolischer Souveränität über ihr Umfeld[18]. Relativ waren diese Idiosynkrasien, da Fritz und Carmen von Herzmanovsky-Orlando dabei nur bedingt auf sich selbst gestellt waren. Ein sprechender Beleg sowohl für die Isolation als auch für den Versuch sie zu überwinden ist der folgende Brief an Jörg Lanz von Liebenfels:

Verehrter Meister!
Schon seit langem hatte ich den Wunsch, in eine Verbindung mit Ihnen, Meister, zu kommen. Heute nahe ich Ihnen als Unbekannter mit diesem Briefe, wohl bewusst, welch schwaches Medium der Weg des Papieres ist.
[...]
Ich habe mich in die absolute Stille Merans zurückgezogen wo ich [mich] an der Seite meiner Gattin [...] der Kunst widmete. [...]
Ich bitte mich nicht mißzuverstehen: Nie würde ich einem geistigen Führer der Menschheit mit grobstofflichen Angelegenheiten kom­men; aber die Art und Weise, wie meine Sammlungen hauptsächlich entstanden sind, bringt mich auf den Gedanken, daß ich ein Hüter und Bewahrer dieser Kunstschätze bin. Heute halten wir es an der Zeit Mittel zum geistigen Kampf zu schaffen; [...] und ich würde vielleicht ein verwendbarer Mitkämpfer gegen die Macht der Finsternis werden.

So idiosynkratisch das Namenslexikon auch anmutete, der eben zitierte Brief stellt die Forschung in ein anderes Licht. FHO erscheint in diesem Brief auch als Privatier, der seine finanziellen Mittel für höhere Ziele wie den Kampf «gegen die Macht der Finsternis» zu investieren überlegt. Au­ßerdem ist es ihm ein Anliegen vermittels seiner ariosophischen Interessen in einer größeren Gemeinschaft obskur Tätiger zu partizipieren, im Neu­templer-Orden. Wollte man im Neutempler-Orden nur eine Gemeinschaft von an Esoterik und Rassentheorien Interessierten sehen, so würde das aber die unternehmerische Seite dieses Bundes verklären. So macht etwa ein Blick auf eine Liste von Ordensbrüdern, welche FHO nach seiner Auf­nahme von Lanz von Liebenfels erhielt, deutlich, dass die gut situierte Mit­tel- und Oberschicht der Donaumonarchie den Großteil der Mitglieder bil­dete. Diplomingenieure, Oberlehrer, Juristen, Streckenleiter der Bundes­bahn, Hauptschuldirektoren, Physikprofessoren, Bürgermeister und Unbe­kannte mit einer Ferienadresse auf Rügen[19] – eine Liste, die auf keinen Fall dafür spricht, diese ritterliche Verbindung als gesellschaftlich abseitig abzu­tun. Der Neutempler-Orden wurde 1907 von Jörg Lanz von Liebenfels ge­gründet und war seitdem eine Anlaufstelle für «Mitkämpfer[n]», welche an­tisemitische und ökonomische Aspekte ihres Lebens feilboten, um in den Orden aufgenommen zu werden. Die Dichotomie zwischen dem Abseiti­gen und dem Finanziellen war also innerhalb dieser Institution bereits etab­liert, als sich FHO bei ihr vorstellig machte. Seit 1905 erschien die Zeit­schrift Ostara, die als Organ des Ordens gesehen werden kann, und zu ihren Lesern gehörte neben FHOs lebenslangem Freund, Alfred Kubin, der FHO auch auf Liebenfels brachte, Adolf Hitler. Vor allem letzterer brachte Lanz von Liebenfels, neben Guido von List, innerhalb der Forschung für kurze Zeit den Ruf ein, eine bestimmende Figur innerhalb der Rassentheorien des Nationalsozialismus gewesen zu sein[20]. Inzwischen ist diese Position wider­legt worden[21], doch trug die kurzfristige Prominenz von Lanz von Lieben­fels wesentlich dazu bei, dass FHOs Verbindung zu ihm öffentliche Auf­merksamkeit erregte: Hitlers Ideengeber und Herzmanovsky-Orlandos Freund. Das populäre Label der Rezeption FHOs wechselte mit dieser Ein­sicht, vom kauzigen Monarchisten wurde er zum Faschisten erklärt. Inzwi­schen wird aber, wie gesagt, die Signifikanz des Ordens für die nationalso­zialistische Ideologie als peripher eingeschätzt, da die dort ventilierten An­sätze zu esoterisch und eklektizistisch waren, um den propagandistischen Zwecken des NS-Regime zu dienen. Die ariosophischen Rassentheorien basierten auf humanistischer Bildung und letzteres machte Jörg Lanz von Liebenfels zwar zu einem Exzentriker unter den Ideologen aber ästhetisch und intellektuell nur für eine gebildete Elite attraktiv[22].

Im Rahmen des Neutempler-Ordens wurde auch die Narrative entwi­ckelt, die den Glauben an eine arische Rasse stützten. Die Ordensbrüdern argumentierten aber nie über die Details der historischen Herschreibung arischer Ursprünge, es wurde, auf dieser Ebene des Ordens, allgemein vo­rausgesetzt, dass man Rassist oder Antisemit sei. In vielen Briefwechseln ist eher der ironische Umgang mit ariosophischem Wissen vorherrschend. So wechselt etwa ein an FHO schreibender Ordensbruder, nachdem er einen Absatz lang die mögliche Bedeutung der Sterne zu erklären versuchte, schlicht mit «Aber die Moleküle rasen ...» das Thema, um endlich auf Zins­häuser zu sprechen zu kommen. Ähnlich ironische mitunter sogar sarkasti­sche Bemerkungen gegenüber Jörg Lanz von Liebenfels lassen sich auch in Briefen Herzmanovsky-Orlandos finden. Der gedankliche Austausch über die Rassenlehren verbleibt hier stets im Modus der Affirmation. Man wi­derspricht sich weder direkt noch indirekt. Man ist sich sozusagen grund­sätzlich über das Vorhandensein einer überlegenen arischen Rasse einig, wobei die Details noch geklärt werden könnten ohne geklärt werden zu müssen. Die bestehende Sekundärliteratur über den Neutempler-Orden be­legt diesen Befund indirekt, indem sie durchwegs biographisch orientiert ist. Innerhalb des Ordens waren sich die Eliten des Landes auch nach dem Ende der Monarchie noch einig, Teil eines Adels zu sein, wobei die Stamm­bäume nun selbst geschrieben werden konnten.

Eklektisch gehen griechische und keltische Mythologie ineinander über, lateinische und althochdeutsche Etymologien stören einander nicht und an­dere esoterische Publikationen, die auf die Technisierung der Welt reagie­ren, werden ebenso integriert[23]. Was folgt dann aus dieser Forschung wenn sich thetisch nichts über sie aussagen lässt? Es hilft, sie zwei anderen geis­teswissenschaftlichen Gebieten gegenüber zu stellen. Um das zu tun, müs­sen zwei Typen von Vagheit unterschieden werden[24]. Einerseits eine onto­logische Vagheit, die besagt, dass die Dinge, die existieren (können), immer gemischt sind, das heißt, nie ganz durch einen Begriff erfasst werden. Und andererseits eine phänomenale Vagheit, die besagt, dass die Realität zwar nicht den Begriffen entsprechend verläuft, aber man doch mit letzteren ar­beiten muss, um das Verständnis von Realität zu erhöhen. Die ontologische Vagheit trifft Aussagen über die Welt, die phänomenale Vagheit versucht begrifflich mit dem Vorhandensein von Vagheit umzugehen. Viele Histori­kerinnen würden letzteres vertreten, während Philosophen ersteres disku­tieren. FHO ist nun in der seltsamen Lage, zwar an eine bestimmte ontolo­gische Reinheit zu glauben, an eine arische Rasse, an ein ursprüngliches Griechenland, an einen wie auch immer jedoch bestimmt gearteten Urzu­stand, ohne aber diesen Verdacht begrifflich nachzuweisen oder, wie wir noch sehen werden, auch nur nachweisen zu wollen. Und aus dieser Posi­tion resultiert auch die zuweilen dogmatische Ambivalenz, die seine Werke auszeichnet. Alles hat mehr zu bedeuten als es den Anschein hat, aber es kann nicht genau gesagt werden, inwiefern es mehr bedeutet. Ausgehend von ariosophischen Lehren, die zahlreiche ursprüngliche Zustände zu pos­tulieren erlauben, erscheint die zeitgenössische Welt als eine Ansammlung von Resten eines vormaligen Reiches. Diese Ambivalenz hat daher auch eine bittere Seite, wo sie nämlich die ontologische Reinheit betrifft. Und in vereinzelten Schriften finden sich explizitere Versionen dessen, was endgül­tig untergegangen ist. Wo sich das Lexikon der Ortsnamen langsam, sozu­sagen Buchstaben um Buchstaben, dem Vergangenen näherte, sind hier, in einem Aufsatz von Carmen Herzmanovsky-Orlando, die Narrative so klar wie ihre Indizien vage.

Die Kinder Satans, die Brüder des Schattens, haben sorgsam, wo sie konnten, die Schriften der Armanen – unermessliches Geistesgut – vernichtet und mit Feuer, Schwert und Hunger die Helfer der Mensch­heit ausgerottet. Wäre das nicht gewesen, wäre heute die Welt ein Pa­radies voll der Herrlichkeiten, ein Garten Gottes, in dem jeder Mensch wie ein Fürst leben könnte, frei von Krankheit und Sorgen, in üppiger Pracht, umstrahlt von Schönheit.
Und jetzt? Die Menschheit ein Haufen trostloser Sklaven, sich in ganz unnützer Plage um ein Nichts herumackernd, krank und durch Miss­zucht bis zur Karikatur herabgewürdigt. Wer führt uns? Grösstenteils verkrachte Kaffeehausexistenzen, Hochstapler, die wenn sie nicht ar­riviert wären, im Zuchthaus geendet hätten. Das Weltbild ist auch da­nach. Alles ein Irrsinn ohnegleichen und dabei das Paradies auf Erden so einfach, mit wenigen Federstrichen, zu schaffen.
[25]

Unmittelbar nachdem die Kinder Satans das Paradies vernichteten, geht der Absatz zu den historischen Konsequenzen über und bedient sich ästhe­tischer Kategorien, um die Folgen zu beschreiben. Gegenwärtige Existen­zen seien «bis zur Karikatur herabgewürdigt». Unter diesem Gesichtspunkt erhalten die Grotesken Herzmanovsky-Orlandos erstmals eine realistische Note. Geht man nämlich davon aus, dass die Welt sowohl physiologisch als auch kulturell eine Abweichung von einem Ideal ist, so können Karikatur und Groteske nicht mehr als Verzerrungen der Realität vorgestellt werden. Die Realität selbst ist aufgrund einer ursprünglichen Devianz eine verzerrte.

Die weniger bittere Seite dieser Ursprungslegende kommt in einer Zeichnung Fritz von Herzmanovsky-Orlandos zum Ausdruck. In einer ge­zeichneten Version der Ursprungslegende wird eine Verführung in Szene gesetzt, in der zwei diabolisch behörnte Affen mit einer leicht unförmigen Frau abgebildet werden. Während der linke Affe am koketten Blickwechsel partizipiert, ist der rechte in einer Geste selbstvergessener Körperpflege ab­gewandt. Die pathetische Paraphrase dieses Bildes findet sich in einem Brief von Jörg Lanz von Liebenfels an FHO:

Unsere Weiber waren es ja, die diesen Gorillas sich hingaben u. so deren Brut den Weg in die Höhe freigaben. Und unsere Väter? Sie haben ebenso gesündigt, haben von den «sauren Trauben gegessen», so dass unsere Zähne dann faul u. stumpf geworden sind!

Zunächst scheint diese Legende, abgesehen von Plot und Protagonisten, in ein ähnliches Schema zu fallen wie das zuvor zitierte: Mit der Verführung der arischen Frauen durch affenartige Wesen wird eine groteske Verbin­dung zwischen zwei Arten von Primaten etabliert, die im Weiteren den Ver­lauf der Welt zum Verfall macht. Frei nach Werner Schwab kann die Tragik dieses Nadir so wiedergegeben werden: Weil wir in die Welt gevögelt wur­den, können wir nicht mehr fliegen. Die offensichtlich die gleiche Szene ein­fangende Zeichnung (vgl. Abbildung) wirkt aber weniger pathetisch und mi­sogyn als Lanz von Liebenfels’ Paraphrase. In der wechselseitigen Faszina­tion dieses Blickes lässt sich mehr ein flirtendes Versprechen erkennen, nach dem sich folgende Generationen zumindest einen Witz leisten werden können, der auch das genetische Sein erleichtern wird: «Du bist ein Affe, mein Sohn». «Und du bist mein Vater, Vater».

 Arnulf Meifert: Forscher im Zwischenreich.
Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando.
Herausgegeben von Manfred Kopriva. Wien: 2012. S. 52.

Allgemeiner gesprochen ist der historische Sinn, der sich hier Bahn bricht, innerhalb der Genealogie ein Spezialfall des komischen Sinns. Mit ihm kann Hohes aus niederen Quellen abgeleitet werden, sei es der «Endivie von Egypten» oder das «Kartell Impertinal»[26]. Obwohl er also stets in Span­nung zu einer arischen Vorwelt steht, ist es dieser Sinn für Komik, der FHOs Faszination für sämtliche Varianten von Dialekten, örtliche Abson­derlichkeiten und weitere Formen von Devianz anregte und schärfte[27]. Wie aus den beiden Ursprungslegenden klar wurde, umfasst der Verfall sowohl die kulturelle («unermessliches Geistesgut») als auch die physiologische Ebene («sich hingaben»). Und er ist auf der Achse zwischen Intention und Aussage ebenso zu finden wie auf jener zwischen Standardsprache und Di­alekt. Kehrt man mit den eben angedeuteten Prämissen zu den literarischen Texten zurück, so eröffnet sich auch ein neuer Rahmen von Selbstbezüg­lichkeit in ihnen. Die Ausweglosigkeit, wie sie die correctio von Sbitek an­deutete, gilt auch für die Forschung selbst. Die Forschung löst keine Gene­alogien auf, sie bestätigt und bereichert letztlich nur die Erfahrung eines devianten Stammbaumes.

Max Pallenberg war während der 1920er Jahre einer der bekanntesten Burgschauspieler, besonders sein sprachlicher Variantenreichtum zeichnete ihn aus. Im Roman Scoglio Pomo tritt er plötzlich vor Adeligen auf und gibt das Folgende zum Besten:

O fürchterliches Durchhaus! O mille Bombardement! ich bitte um Vergiftung! ich verganz Gas ... Nein, nein, nein ... O fürstliche Durch­laucht! o mille pardon! ich bitte um Vergebung! ich vergaß ganz! jetzt ist’s richtig! wie fehl ich gung als ich gang ... falsch! a, was, läuten mer a bissel: gong, gang, geng, gung ... ging! Richtig, ging heißt das dumme Wort! bitte: Ging! ist das nicht zu blöd? also, als ich ... ging ... einher um anzuschäulein, was sie haben.[28]

Die Apostrophe an den Adel weist hier zwei Parallelen zu den arioso­phischen Forschungen auf. Die ersten drei Interjektionen eröffnen die se­mantischen Felder von Krieg und Intrige, artikulieren also gegenüber dem Adel einen ähnlichen Vorwurf wie er im Text von CHO gegenüber den «Kindern Satans» geäußert wurde. Auch die Nähe der correctio zu «vergaß ganz», deutet an, dass sich in diesen unfreiwilligen Versprechern auch ein bestimmtes Ressentiment ausspricht. Ähnlich wie beim an anderer Stelle im Roman auftretenden Hofstotterlehrer Tatterer von Tattertal – «Dadada ... mals!» – stehen die deiktischen Elemente («jetzt», «da») in einer einfordern­den Spannung zur Vergangenheit («vergaß», «damals»). Zweitens gestaltet sich das anschließende Ringen um den richtigen Ausdruck zumindest stre­ckenweise, sozusagen «a bissel», systematisch. Tentativ wird das durch Kunst- und Sprachgeschichte systematisierte Wissen verwendet, um einer Antwort auf die Spur zu kommen. Im Text selbst lässt diese Systematik den sich Versprechenden ironisch erscheinen, da es, abgesehen von einer fernen Allusion an den Gang der Geschichte, schlicht darum geht, eine präteritale Verbform zu finden. Nimmt man jedoch parallel zum Text die Verfahren aus dem Namenslexikon von Niederösterreich in den Blick, so wird zwi­schen dem Autor und der Persona «Pallenberg» ein Erzähler deutlich, der mit beiden Verfahren in Verbindung steht. Die Reputation eines forschen­den Idioten wurde hier ziemlich bewusst in Kauf genommen, und zwar auf eine Art, in der Selbstreflexion nicht per se zu einem intellektuellen Eigen­wert wird.

Dass es eine Verbindung zwischen esoterischen und literarischen Schrif­ten gibt, impliziert aber nicht, dass die Schriften als Parabel für das Leben verstanden werden. Mir geht es nur darum, Parallelen zwischen esoteri­schen und literarischen Schriften aufzuzeigen, die belegen, dass letzte nicht ohne erstere und erstere nicht ohne letztere verstanden werden können. Bisher habe ich argumentiert, dass die Komik von «Der konfuse Brief» be­gründende Diskrepanz zwischen Intention und Aussage sowie jene zwi­schen Dialekt und Orthographie mit den esoterischen Forschungen zusam­menhängt, da sie auf zwei identischen Prämissen beruhen. Erstens sind die diskutierten Charaktere physiologisch deviant, da ihre Genealogie die Ver­fallsgeschichte eines arischen oder zumindest vorzeitigen Geschlechts ist. Zweitens ist ihre Sprache depraviert, da sie nicht mehr in der Lage sind, die verlorene Welt philologisch zu rekonstruieren. Mit letzterem ist gemeint, dass die Charaktere zwar um ihr eigenes Defizit wissen, dass ihre Anstren­gung, die Reinheit des Ursprungs zu rekonstruieren, jedoch eine tragikomi­sche ist, denn selbst ihre philologische Forschung ist von Sprachfehlern un­unterscheidbar. Die tragische Seite der Gegenwart besteht darin, in sich auch nur einen Fehler zu sehen, wie in sämtlichen anderen Teilen der Ge­genwart. In den literarischen Werken FHOs hat aber die komische Seite gesiegt. Sie sind Ansammlungen von devianten Charakteren, bei denen nur in geglückten Streichen oder Versprechern wie «Bombardment» sich die Verdikte über die Welt andeuten, wie sie in den esoterischen Schriften kul­tiviert wurden. Aber die Verbindungen zur Ariosophie gehen über die bei­den Achsen von Vergangenheit und Zukunft beziehungsweise Tragik und Komik hinaus. Die Verbindungen betreffen auch die narrative Form der literarischen Texte.

Während der Edition der ersten Ausgabe von FHOs Werken soll sich Friedrich Torberg darüber mokiert haben, dass den meisten der Texte ein klarer Plot fehle, auch nach Spannungsbögen und Peripetien suche man vergeblich. Wie sich nach der Neu-Edition der Texte überprüfen lässt, ist diese Einschätzung, abgesehen von «Der Gaulschreck im Rosennetz», ziemlich zutreffend, egal wie man ästhetisch zu ihr stehen mag. Torbergs Beobachtung steht aber in Kontrast zum Klappentext von Scoglio Pomo, ein Roman, der in seiner neuesten Auflage damit beworben wird, dass es in ihm nichts gebe, «was es nicht gibt». Die von Torberg konstatierte Monotonie findet sich zunächst in den erzählerischen Übergängen. Die im ersten Satz eines Absatzes stehenden Worte nehmen sich nämlich auf den ersten knapp hundert Seiten von Scoglio Pomo so aus:

Nicht weit vom, [z]u dieser Zeit geschah es, [a]n einem Nebentisch, um dieselbe Zeit, [i]m selben Moment, [s]iehst Du den alten Herrn dort, [n]icht weit davon, [u]nweit, [u]nd weiter, noch weiter oben, [a]ber schau, was dort vor sich geht!, [s]chau, dort, [h]ier mischte sich unerwartet, [z]u all dem, [m]itten in diesem, [m]an hörte.[29]

Übergänge erfolgen also über eine wiederholte Ablenkung des Erzählers. Der Genitiv kann als subjectivus oder objectivus verstanden werden: ent­weder Geschehnisse kommen akustisch oder visuell ins Blickfeld oder sie drängen sich dem Ereignishorizont gewissermaßen auf. Der Erzähler ist dabei auf gleicher Höhe mit seinem Stoff: er lenkt seinen Blick einerseits weiter und wird andererseits vom nächsten Ereignis abgelenkt. Neben die­sem erzählerischen Gleichgewicht zwischen Abschweifung und Ablenkung fällt auf, dass die Texte größtenteils in der Gegenwart verbleiben, da viele Übergänge sinnlich motiviert sind. Dieses Element der Sinnlichkeit wird in den Texten geradezu programmatisch vertreten und der Erzähler behauptet es, indem er sich an jener Berufsgruppe abarbeitet, die seinen eigenen sprach- und kulturgeschichtlichen Bezügen am nächsten steht. Es ist eine von wenigen Stellen im Text, wo die Arbeit an einer Differenzierung expli­zit wird.

Die Rede ist von den Professoren. Sie sind der einzige Berufsstand der als solcher detailliert behandelt wird. In Scoglio Pomo haben sich mehrere Gelehrte auf einer Kurinsel versammelt und fiebern der Ankunft von Pro­fessor Harnapf, einer Koryphäe aus Berlin, entgegen. Wie seine professo­ralen Kollegen stellt Harnapf eine überzeichnete Variante von Gelehrten aus dem späten 19. Jahrhundert dar und gewinnt bereits während seiner Anreise verzerrte Gestalt. Da er wegen seiner Kurzsichtigkeit permanent ein Zeissglas vor Augen hat, fehlt ihm ein alltagstaugliches Verhältnis zu den Dingen. Noch bevor er seinen Fuß auf die Insel gesetzt hat, tritt er durch eine Lücke im Schiffsgeländer und landet in den Fluten. Da die for­schende Tätigkeit der Professoren vom Schlage Harnapfs vor allem darin besteht, Nomenklaturen zu überprüfen und mit positivistischem Eifer zu erweitern, kann der Sturz durch die Lücke als erster Seitenhieb auf die in-stitutionelle Methodik verstanden werden. Das Ziel der Professoren besteht nämlich darin eine lückenlose Nomenklatur zu erstellen, in die alles Empi­rische eingeordnet werden kann. Das Tragen des gelehrten Sehgerätes macht Harnapf, der immer auf der Suche nach nomenklatorischen Lücken ist, blind gegenüber tatsächlichen Löchern. Der Erzähler ist den Gelehrten hier überlegen, da er den Begriff der «Lücke» nicht nur als Beschreibung der Forschung sondern auch als Metapher verwenden kann. Eine licentia, die den Gelehrten die Profession verbietet. Im Fall des Falles von Harnapf wird der Verdacht des Spottes durch den Namen des Trägers bestärkt. Wo mit «Haar» eine feineres Ding neben dem weniger schmeichelnden «napf» steht, der als Gefäß für einiges herhalten kann. Berufliche Pedanterie und Fall in die Adria klingen also bereits im Namen an, doch nach seiner Ret­tung will der Getrocknete sofort mit der Arbeit beginnen, da ihm Scoglio Pomo «epochale Funde auf paläontologischem, ja mythologischem Ge­biete» verspricht. Professor Harnapf gilt als ausgewiesener Archäologe, «Kenner der altgriechischen Mysterien, der ägyptischen und altorientali­schen Kulte». Doch trotz der Einführung als übergelehrter Tölpel besteht insgesamt ein ambivalentes Verhältnis zwischen den Professoren und dem Erzähler. Denn neben den die lebenspraktischen Fähigkeiten des Gelehrten diskreditierenden Witzen finden sich auch anerkennende Worte. Harnapf, so wenig später, «ging nämlich von der ganz richtigen Voraussetzung aus, dass alle sogenannten Fabelwesen auf reale Existenzen zurückzuführen seien»[30]. Warum der Erzähler diese Annahme mit besonderer Betonung, «ganz», teilt, erfährt man im Roman nicht. Es ist aber schon an dieser Stelle zu sehen, dass sich mit der Figur Harnapfs auch ein Verhältnis zu den eso­terischen Schriften zu profilieren beginnt.

Die lakonische Kritik an den Professoren richtet sich gegen den Weg, der für die Gelehrten zurück in die Antike führt, dem Ziel könnte auch der Erzähler folgen. Nachdem es die Professoren endgültig auf die Insel ge­schafft haben, führt einer der Betreiber der Ferieninsel, Baron Zois (sein Name sei nicht zu verwechseln mit der griechischen Seitenlinie des Ge­schlechts), die Gelehrtengruppe über die Insel. Ihre Suche kommt rasch zu einem phantastischen Ende.

Vor ihnen stand nichts Geringeres als eine junge Nymphe!
«Wohl eine Hamadyade, Hemitheia Parthenomorfe ...? oder bloß He-mitheopaidion Hamadryadomorfe? vielleicht aber am Ende ein Kata­drymos Korasion ...? na, wir werden ja sehen!» So paralysierte für ei­nen Augenblick die Pedanterie des trockenen Gelehrten das Uner­hörte der Situation. [...] Harnapf, noch immer sprachlos, zitterte vor Erregung und setzte einen zweiten Zwicker über die Brille. Dabei ließ er den Regenschirm fallen, worauf sofort die holde Erscheinung ver­schwand, als ob sie sich im blumenduftenden, moosfeuchten Wald­hauch aufgelöst hätte.
[31]

Während die Exklamation samt Zeilenumbruch das gemeinsame Inte­resse zwischen Erzähler und Exkursion bestätigt, simulieren die anschlie­ßenden Partikel und Anakoluthe den bildungshungrigen Blick ins Buch. Die von Füllwörtern gezeichnete und syntaktisch holpernde Prosa der Gelehr­ten macht deutlich, dass am Ort, an dem die Nymphe erscheint, nur sie selbst fehl am Platz sind. «Wohl», «oder bloß», «vielleicht aber am Ende» – so wird die Banalität der akademischen Taufe ausgestellt und das im Futur stehende Verb «sehen» markiert die sarkastische Spitze, auf die es dem Er­zähler hier ankommt. Die Professoren zielen also auf einen definitiven Be­griff ab, auf ein begriffliches Ende in der Anstrengung die Empirie zu ord­nen. Woher die erzählerische Abneigung gegen das präpositionale Telos, gegen die, wie es der Erzähler nennt, «Pedanterie des trockenen Gelehrten» rührt, wird erst klar, wenn man beide Formen von Gelehrsamkeit, die der Professoren und die des Oeuvres von FHO einander gegenüber stellt. Die Nomenklatur der Professoren, so klischeehaft sie sich auch ausnimmt, zielt darauf ab eine intellektuelle Ordnung zu stiften, ihr Ziel, wie es in der zi­tierten Szene den Blick auf die Nymphe blockiert, eine vollständige No­menklatur zu entwickeln, deren Kategorien alle möglichen Phänomene der Welt aufnehmen könnte. Für FHO ist die intellektuelle, begriffliche und etymologische Arbeit an Phänomenen dagegen eine Bereicherung der eige­nen Erfahrung. Egal ob unscheinbare Dörfer, seltsame Charaktere, blöd­sinnige Versprecher oder andere zu Hauptsachen erklärte Abseitigkeiten, es geht in den Texten stets darum, die Phänomene für ein Staunen zugänglich zu machen. Zu Staunen heißt dabei sie im gleichen Zug zu ent-trivialisieren und als Phänomene definitorisch ungelöst zu lassen. Beiden Zugängen ist gemeinsam, dass sie intellektuell eine begriffliche Prägung der Realität ver­folgen. Während der den Institutionen unterstellte Zugang aber von der Vorstellung getragen ist, an einer von den forschenden Personen unabhän­gigen Taxonomie zu arbeiten, ist FHOs Interesse notorisch idiosynkratisch. Nicht nur in dem Sinn, dass es ihm selbst als Person auf Erfahrung von etwas ankäme, die Idiosynkrasie zeigt ihre anti-institutionelle Ausrichtung auch auf der narrativen Ebene.

Fritz von Herzmanovsky-Orlandos Prosa reflektiert sich selbst über den misslingenden Gebrauch historischer Linguistik. Im Zusammenhang einer esoterischen Gegenöffentlichkeit setzt sie sich formal auch von offiziellen Formen der Historiographie ab. Die literarischen Texte sind zum Großteil lose Ansammlungen von Anekdoten und mit dieser Form wenden sich die Texte gegen große Narrative, seien sie unpersönlich gestaltet oder von ein­zelnen souverän agierenden Figuren geprägt. In den anekdotischen Ab­schweifungen selbst muss also ein Gegenentwurf zu einer institutionellen Form von Wissensformierung gesehen werden, denn die Anekdoten kom­men in dem Moment ins Spiel, als die Thesen der institutionalisierten Ver­treter der Gelehrsamkeit anzitiert werden und geben den «ganz richtigen» Ausgangsthesen eine neue Form. Historiographisch steht FHO damit ne­ben Autoren wie Jacob Burckhardt oder Egon Friedell, bei welchen die Anekdote ebenso positiv besetzt ist und teilweise eine ähnliche Stoßrich­tung besitzt[32]. In der FHO besessenen Kulturgeschichte der Neuzeit Friedells ist die Anekdote das umfassende Mittel um große Angelegenheiten auf kleine Anlässe zurückzuführen, wobei es bei FHO nicht um die Formung neuer Geschichtsmodelle sondern nur um die Diskreditierung alter geht. Von Historikern wurde die Anekdote kritisiert, da sie keine unpersönlichen Per­spektiven auf Geschichte erlaubt, polemisch wurde argumentiert, dass die Anekdote die kleine Form sei, die selbst die größten historischen Ereignisse auf ein handliches Format reduziert, das es jedem erlaube, in historischen Prozessen nicht mehr als einen persönlichen Lapsus zu erkennen. Diese Kritik wäre auch bei FHO angebracht, hätte er die Profession des Histori­kers gewählt. Die reductio ad personam muss aber innerhalb der herzma­novskyschen Ontologie gesehen werden, wo das wirken personaler Mächte bereits am Beginn der Verfallsgeschichten steht. Obwohl die unpersönliche Fortschreibung dieser Legenden auf der Ebene nicht artenreiner Rassen si­tuiert werden kann, obwohl also nichts Gutes geschieht, da es die ursprüng­lichen Arier, Griechen und Byzantiner nicht mehr gibt, kann sich dieses Defizit doch nur personal äußern. Als Aussage, deren Intention physiolo­gisch ruiniert ist, oder als Dialekt, dessen sprachliches System sich auch nicht mehr rekonstruieren lässt. In den Ereignissen von FHO gibt es immer einen diabolischen oder missglückten Anfangspunkt, von dem aus die Zu­fälligkeit in Szene gesetzt wird. Was in der Terminologie von Versicherun-gen mit dem Begriff Act of God[33] Ereignisse bezeichnet, die den menschlich präventiven Rahmen verlassen und schlicht hingenommen werden müssen, entspricht in der diegetischen Welt von FHO den Akten der Teufel und Harlekins. Jedes einzelne Unglück ist beseelt in dieser pantheistischen Welt.

Da der Schwerpunkt der persönlich gefärbten Anekdote oft in der mündlichen Rede liegt, besitzt diese Form eine strukturelle Analogie sowohl mit Dialekten als auch mit geheimem Wissen: da sich das mündlich vermit­telte Neue dem schriftlich tradierten Rahmen nicht fügt, hat es das Potential ihn zu untergraben. Vor dem Hintergrund der offiziellen Geschichte ist die Anekdote demnach ein zentrales Mittel, um den pathetischen Rahmen herr­schender Geschichtsschreibung durch verborgene Fakten oder körperliche Details aufzubrechen. Oberhaupt der Kirche – aber die alten Knie? Als kri­tisch humoristische Arbeit kann sie sich nur gegen einzelne Personen rich­ten, buchstäblich gegen die Köpfe der Institutionen, indem die abstrakten Entitäten mit ihrer konkreten Körperlichkeit konfrontiert werden. Damit bleibt die Form der Anekdote doch der Tradition verpflichtet, die es im Gleichen Zug zu desavouieren versucht. Und darin besteht auch der Reiz dieser Form, das Inoffizielle des Offiziellen ist die Erotik der Anekdotik. Als Form eröffnet die Anekdote gerade jene strukturellen Lücken, in denen die Kontingenz des Privaten, des Körperlichen und Unwahrscheinlichen die Diktion souveräner Akten unterläuft[34].

In einem größeren Kontext betrachtet sind die Texte FHOs damit Teil der delegitimierenden Bewegung, wie sie Gesetze und Machthaber seit dem 19. Jahrhunderts erfasst[35]. Eine Konsequenz daraus ist, dass die gegenwär­tige Politik dämonisiert oder ridikülisiert wird und jeder Geist einer positi­ven, in die Zukunft gerichteten Utopie fehlt. Als in Scoglio Pomo ein närri­scher Greis auftritt, der nachts Herrenschuhe vor die Zimmer alleine ste­hender Damen stellt, soll dieser resozialisiert werden. Doch der Erzähler lehnt es hier ab, den Alten «[...] in ein Kadetteninstitut [zu GW] stecken, wo man durch eiserne Strenge für die paar Lebensjahre, die ihm vielleicht noch geschenkt seien, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft aus ihm machen könne»[36]. Hier wird deutlich, inwiefern die Zuflucht zum Scherz und zu fataler Ironie von politischer Ohnmacht handelt. Der Auf-bau einer ariosophischen Gegenwelt resultierte auch aus dem Verzagen an der wirklichen der 1920er Jahre. Wie in Die letzten Tage der Menschheit, als Gott am Ende bemerkt, er habe es nicht gewollt, kann ein ähnlicher Satz für diese Texte Geltung beanspruchen: nein, die Welt musste anders ge­dacht gewesen sein.

Konklusion

Am 4. Dezember 1921 schreibt Walter Benjamin an Fritz von Herzma­novsky-Orlando:

Sehr geehrter Herr,
während, dank der schönen Stunden, die meine Freunde, Erich und Lucie Gutkind, zu Anfang des Jahres mit Ihnen verlebten, Ihr Name mir schon seit längerem im erfreulichsten Gedächtnis ist, folgt dieser Brief an Sie wohl nur kurz der ersten Erwähnung meines Namens, die Ihnen Herr Gutkind wohl in seinem letzten Briefe gab. Nichtsdesto­weniger hoffe ich, daß Sie meine Bitte freundlich aufnehmen werden. [...]
Ihr sehr ergebener
                                                              Walter Benjamin[37]

Es ist nicht mehr zu klären, welchen der zahlreichen Namen Walter Ben­jamin im Gedächtnis hatte. Gerechterweise verweist das bei Metzler er­schienene Walter Benjamin Handbuch auf eine Person namens Doris von Herzmanovsky-Orlando. Walter Benjamin bat FHO, einen literarischen Beitrag für eine in Gründung befindliche Zeitschrift zu schreiben. Und ob­wohl er dieser Bitte nachkam und ein kürzeres Prosastück an Benjamin schickte, scheiterte das Projekt der Zeitschrift Angelus Novus aus wirtschaft­lichen Gründen. Trotz vieler programmatischer und inhaltlicher Divergen­zen, die zwischen beiden Schreibern auszumachen wären, verband sie das Anliegen, die vorherrschende Form bürgerlicher Literatur zu verändern. Benjamin betonte, «wie ungemein wertvoll mir radikale und sozusagen ex­zentrische Prosastücke wären, denn von einer epigonalen und klassizisti­schen Haltung will ich natürlich [...] nichts wissen». Innerhalb der Benjamin-Forschung ist von diesem Brief ähnlich selten die Rede wie von der esote­rischen Gegenöffentlichkeit, die beide Autoren verband und die mit der ge­nannten Zeitschrift erreicht werden sollte[38].

Ich habe hier versucht die Komplexe von Gegenöffentlichkeit und Lite­ratur aufeinander zu beziehen. Es stellte sich dabei heraus, dass die nostal­gische Note, die den Werken FHOs nachgesagt wurde, nicht in die Donau­monarchie verweist, sondern in eine ariosophische Gegenwelt, in die Vor­stellung, dass alles anders gedacht war, als es ist[39]. Die Texte bedienen sich linguistischer Verfahren, um Komik zu erzeugen oder nach einem Ur­sprung zu suchen, und beiden Dimensionen ist gemeinsam, dass sich die versprechenden Forscher als Produkt einer ursprünglichen Devianz begrei­fen. Obwohl also die vielen Erzähler hinter dem Kürzel FHO verkommen und unveränderlich sind, fehlt den einzelnen Beobachtungen jede Form von allgemeiner Konsequenz. Es ist die Haltung eines ausbüchsenden Kunst­sammlers, die sich im detaillierten Beobachten von Abseitigem und im all­umfassenden Interesse, nicht nur an Niederösterreich, ausspricht. Unter den Freunden von FHO befanden sich sowohl Rassentheoretiker als auch jüdische Anwälte, ungarische Bauern neben südamerikanischen Dienst­mädchen und Walter Benjamin neben Jörg Lanz von Liebenfels. Die Zeiten waren so verkommen wie faszinierend. Und als lockerer Haufen von Anek­doten, samt der richtigen Mitgliedschaften, ließ sich in ihnen leben. Wenn es eine rhetorische Figur gibt, die diese Texte prägt, so ist es die kosmische Ironie. Diese Arbeit vertritt die These, dass der literarische Kosmos von FHO nicht ohne die rassentheoretische Kosmogonie verstanden werden kann, die dieser parallel zu seinen literarischen Werken schuf. Und in diesen ariosophischen Lehren besteht die historische Spezifik dieses Lachens.

In den 1930er Jahren schrieb FHO einen Brief an den Chefdramaturg von Kassel, einen Herrn Langenbeck, um eines seiner Stücke zu verkaufen. Neben den opportunen Bekundungen, von unarischen Theaterstücken nichts zu halten, führt FHO folgenden Grund auf, sein Oeuvre zu berücksichti­gen:

Vielleicht interessiert es auch im Reich vom Mutterstamm abgespreng­tes Schrifttum zu Wort kommen zu lassen.[40]

Der Verfasser des Briefes verstand sich als ein «Abgesprengter». Seine Losung könnte gelautet haben: Wie man’s nimmt.



[1] Friedrich Bohne, Fritz von Herzmanovsky-Orlando. Katalog der Ausstellung 16. April - 27. Mai 1961 im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover. (Nürnberg, Verlag Nürn­berger Presse, 1961). S. 15.

[2] Dieser Brief sowie einige weitere Materialien stammen aus dem Nachlass Fritz von Herzmanovsky-Orlandos im Brenner Archiv Innsbruck. Der Nachlass wurde in Kassetten und Mappen unterteilt und wird im Laufe der Arbeit auf folgende Weise adressiert: [Nach­lass FHO: Nummer der Kassette / Nummer [oder] Name der Mappe]. Im Fall dieses Brie­fes also: Nachlass FHO: 27 / 10 – 27 – 62.

[3] Nachlass FHO: 27 / 10 – 27 – 62.

[4] Fritz Herzmanovsky-Orlando, Sämtliche Werke in zehn Bänden: Texte, Briefe, Do­kumente (Salzburg: Residenz-1994, 1983).

[5] Ich verdanke diesen Hinweis Ursula Schneider.

[6] Vgl. dazu Bernhard Fetz, Klaralinda Ma, und Wendelin Schmidt-Dengler, Phantastik auf Abwegen: Fritz von Herzmanovsky-Orlando im Kontext: Essays, Bilder, Hommagen, Transfer (Vienna, Austria); 58 (Wien: Folio, 2004).

[7] Herzmanovsky-Orlando, Fritz von: Erzählungen, Pantomimen und Ballette. Heraus­gegeben und kommentiert von Klaralinda Ma-Kircher und Wendelin Schmidt-Dengler. Salzburg / Wien: 1991. S. 90ff. Im folgenden abgekürzt als EPB.

[8] EPB. S. 95.

[9] Vergleiche zur Figur des unreinen Ursprungs: Jacques Derrida, Grammatologie., Neuauflage. edition (Suhrkamp, 2000); Georg W. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruk­tion: Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie (München: Fink, 2002). S. 87ff.

[10] EPB. S. 90f.

[11] Richard Heinersdorff, Die K. u. K. privilegierten Eisenbahnen 1828-1918 der öster­reich-ungarischen Monarchie (Wien; München; Zürich: Molden, Mchn., 1984). S. 25ff.

[12] Zur Materialität des Zeichens vgl. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwer­kes: Mit der Einführung von Hans-Georg Gadamer und der ersten Fassung des Textes (1935), Klostermann RoteReihe (: Vittorio Klostermann, 2012). S. 50ff.

[13] Wir übernehmen die Form der Bewegung hier ansatzweise aus: Leopold Sacher-Ma­soch, Venus im Pelz, 1. Aufl., Insel Taschenbuch; 469 (Frankfurt am Main: Insel, 1980). S. 231ff.

[14] Jean Paul, Vorschule der Ästhetik: kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, Studienausg., 2. Aufl. (München: Hanser, 1974). S. 120ff.

[15] EPB. S. 90.

[16] Nachlass FHO: 46 / Visitenkarten. Und: Nachlass FHO: 27 / 10 – 27 – 33.

[17] Nachlass FHO: 33 – Mappe Mystik.

[18] Carrie Asman: Orte des Sammelns: Xanadu, Weimar. In: Sammler – Bibliophile – Ex­zentriker. Hg. v. Assmann u.a. (Literatur und Anthropologie Bd. 1). Tübingen: 1998. S. 211-226.

[19] Nachlass FHO: 28: Lanz-Liebenfels an FHO.

[20] Vor allem ein Buch trug nicht nur mit seinem Titel dazu bei: Wilfried Daim, Der Mann, der Hitler die Ideen gab: Jörg Lanz von Liebenfels, 3., erw. und verb. Aufl. (Wien: Ueberreuter, 1994).

[21] Brigitte Hamann, Hitler’s Vienna: A Dictator’s Apprenticeship (New York: Oxford University Press, 1999).

[22] Ausgezeichnet informiert hierzu: Maurice Olender, Race and Erudition (Cambridge, Mass: Harvard University Press, 2009). S. 34ff.

[23] Martin Bernal, Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization (New Brunswick, NJ: Rutgers University Press-2006, 1987). S. 485ff.

[24] Ich verdanke diesen Hinweis Christopher Wienkoop.

[25] Nachlass FHO: 33 – Mysterien.

[26] Klaus R. Scherpe, Elisabeth Wagner, und Humboldt-Universität zu Berlin, Konti­nent Kafka: Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1. Aufl. (Berlin: Vor­werk 8, 2006). S. 76.

[27] Ebd. S. 82.

[28] «[L]äuten mer a bissel» bedeutet «Leuten wir ein bißchen». Fritz Herzmanovsky-Or­lando, Scoglio Pomo, oder, Rout am Fliegenden Holländer: Roman (StPölten: Residenz, 2007). S. 121f. Im Folgenden als SP.

[29] SP: S. 13, 16, 21, 30, 32, 39, 41, 51, 51, 51, 51, 51, 54, 67, 79, 83, 84, 88, 91, 93, 96, 97, 97, 102, 109, 157.

[30] SP. S. 77.

[31] SP. S. 80.

[32] Jacob Burckhardt, Jacob Burckhardt Werke: kritische Gesamtausgabe (München: CHBeck: Basel, 2000); Egon Friedell, Kulturgeschichte der neuzeit; die krisis der europäi­schen seele von der schwarzen pest bis zum weltkrieg, (München, CHBeck-31, 1930).

[33] Diesen Hinweis verdanke ich Daniel Kashi.

[34] Volker Weber, Anekdote: die andere Geschichte: Erscheinungsformen der Anek­dote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Stauffenburg Col­loquium, Bd. 26 (Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1993).

[35] Kontinent Kafka, S. 84.

[36] SP. S. 86f.

[37] Fritz Herzmanovsky-Orlando, Sämtliche Werke in zehn Bänden: Texte, Briefe, Do­kumente (Salzburg: Residenz-1994, 1983 S. 213f.

[38] Burkhardt Lindner, Benjamin-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung (Stuttgart: Metzler, 2006). S. 305.

[39] Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Lite­ratur (Wien: PZsolnay, 2000).

[40] Nachlass FHO: 28 / FHO an Curt Langenbeck.