Sabine Zelger

(Wien)

Habsburgs Despotie und die Hochkultur des Asservierens
Zum Aufheben und Liegenlassen österreichischer Bürokratieliteratur

[Habsburg Despotism and the High Culture of “Asservieren”
On Preserving and Shelving Austrian Bureaucratic Literature
]

abstract. The Austro-Hungarian bureaucracy is often remembered for its practices of delay (or, to use a term emphasized in The Man without Qualities, for its practices of «Asser­vieren»). This is the case in the reception of literary texts as sources and as culture, in the marginalization of «new objectivity» texts, in the production of autobiographical texts, and in the aesthetics of contradiction. This article examines the grave consequences for the understanding of domination.

Habsburgs Bürokratie, die ein wesentlicher Bestandteil der k.u.k Monar­chie war, ist Kernstück österreichischer Erinnerungskultur und wird in Tex­ten und Praktiken immer wieder erneuert. Gehäuft treten diese Aktualisie­rungen dann auf, wenn die kollektive Identität erschüttert ist, die Gegen­wart als Herausforderung erlebt wird und die jüngere Vergangenheit ver­drängt werden will: Dies gilt in Österreich insbesondere für die Nachkriegs­zeiten, in denen die Habsburgbürokratie in einem reichhaltigen und mäch­tigen Fundus an Erzählungen immer wieder von neuem reproduziert wurde. Eine wichtige Rolle nehmen hier die Literatur im engen Sinn des Wortes, vor allem aber auch ihre LeserInnen ein.

Mich interessiert nun, wie diese Habsburgverwaltung als Herrschafts­form – das ist der Aspekt, den ich vor allem betrachten möchte – erinnert und was dabei beiseite gewischt wird: Projekte der Moderne, Neuerungen der jungen Demokratien, gesellschaftliche Aufbrüche. Meine Frage ist, in­wiefern sich die Art der Bürokratieerzählungen und Bürokratieerinnerun­gen als distinguierte Formen der Aufhebung[1] fassen lassen, als Hochkultu-ren des Asservierens. Als Terminus technicus habe ich das “Asservieren” von Robert Musil entlehnt, der den Ministerialrat Folgendes ausführen lässt:

Diese Zauberformel Ass., die in den kakanischen Ämtern in Gebrauch war, hieß «Asserviert», auf deutsch soviel wie «Zu späterer Entschei­dung aufgehoben», und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts ver­loren gehen läßt und nichts übereilt. Asserviert wurde zum Beispiel die Bitte des kleinen Beamten um eine außergewöhnliche Wöchnerin­nenbeihilfe so lange, bis das Kind erwachsen und selbständig erwerbs­tätig war, aus keinem anderen Grunde als dem, daß die Materie bis dahin vielleicht gesetzlich geregelt sein konnte und das Herz der Vor­gesetzten vorher die Bitte nicht abschlagen wollte [...] und grundsätz­lich wurde alles, was zum erstenmal an ein Amt herantrat, solange as­serviert, bis ihm ein ähnlicher Fall voranging. Aber es wäre ganz falsch, sich über diese Gewohnheit der Ämter lustig zu machen, denn außer­halb der Büros wird noch viel mehr asserviert. [...] Dabei geht in den Ämtern doch wenigstens einiges verloren, in der Welt aber nichts.[2]

Einige Aspekte des Asservierens, auf die ich in meinem Beitrag eingehen werde, sind im literarischen Zitat schon angesprochen:

• die Routine, mit der die Tätigkeit des Asservierens gehandhabt wird – verdeutlicht in der Formel;

• der Hang zum Pleonasmus in der Formulierung «zur späteren Ent­scheidung aufgehoben»

• die positive Wertung des Asservierens, sichtbar in den Worten Vor­bild, Umsicht etc.

• die Rechtfertigungsstruktur und Verteidigungshaltung gegenüber Kri­tik, die jedoch nicht ernst zu nehmen ist

• die Temporeduktion, die sich als Stillstellung entpuppt

• die Dichotomie zwischen Amt als Innen und Welt als Außen – oder anders das Auseinanderklaffen der Verwaltung und des Verwalteten

• die ironische Sichtweise, die sich in Wörtern wie «Zauberformel» und «Umsicht», in der Litotes «nichts übereilt» sowie am Zugeständ­nis offenbart, dass die Methode für die verwalteten Menschen völlig ungeeignet, ja katastrophal ist

Im kakanischen Asservieren sind damit auch jene drei Formen der He­gelschen Aufhebung realisiert, die dem Begriff «aufheben» innewohnen: der Aufhebung im Sinn des Erhöhens (die positive Wertung dieser Tätigkeit), des Konservierens (in der Formalisierung und der Aufbewahrung für spä­ter) und der Auflösung (zum einen in der Ironie, zum anderen in der Still­stellung).

Ich möchte nun skizzieren, wie sich diese Weisen des Asservierens in der Erinnerungskultur der posthabsburgischen Zeit nachweisen lassen – in den Texten und in den Lesarten – und werde dazu nach den Bedeutungs­ebenen des «Aufhebens», aber auch des Liegenlassens vorgehen.

1a. Aufheben als Erhöhen

Aufheben in seiner ersten Bedeutung wird als Handlung verstanden, bei der etwas, was am Boden liegt, in die Höhe gehoben wird. Damit kann das Aufgehobene besser gesehen und inspiziert werden. Mit der festgelegten Perspektive ist auch eine Wertung verbunden, zumal die Richtung nach oben in unserer Kultur mit Aufwertung verbunden ist[3].

Bürokratische Verwaltung zum bevorzugten literarischen Sujet zu ma­chen, kann erstaunen, da hier etwas Formales, Sachliches, Unspektakuläres aufgewertet wird. Dies erscheint als ungewöhnliche Kombination[4] und wird auch aus komparatistischer Sicht als Besonderheit angesehen[5]. Noch mehr jedoch verblüfft die Aufwertung dieses Sujets, wie es für die Habsburglite­ratur ausgemacht wurde: von LiteraturwissenschafterInnen, allen voran Claudio Magris, der die verklärende Macht unter dem Begriff des «Habs­burgmythos» diskutierte[6], von Funktionsträgern, wie dem Juristen Manfried Welan, der die literarische als «nostalgische, illusionistische Sicht» charakte­risierte[7] und von HistorikerInnen, wie Waltraud Heindl, die den literarisch und filmisch produzierten «Typus des “Beamten-Helden”» nach wie vor als prägend für unseren Blick auf die Habsburgbürokratie ansieht[8].

Die Aufwertung der k.-u.-k.-Bürokratie durch Literatur wird aber nicht nur gesehen oder herausgelesen, sondern durch Literaturverständnis und Textauswahl in der Rezeption auch praktiziert.

Aufwerten durch Literaturverständnis als wissenschaftliche Quelle und Kulturgut

Die Aufwertung der k.u.k. Bürokratie kann auf einen Realitätsanspruch zurückgeführt werden, der vor allem aus interdisziplinärer Perspektive an die Literatur herangetragen wird. Die zentrale Frage, die von verschiedenen Wissenschaften zu literarischen Bürokratiefiktionen gestellt wird, ist auf li­teraturtheoretischem Terrain zu verorten: Was gibt Literatur von der Reali­tät preis, wenn die Quellenlage der Verwaltungstexte mangelhaft[9], die The­orie bewundernd bzw. einseitig[10] ist? Kann sie Wirklichkeit evozieren? Und wie verlässlich ist ihre Abbildungskraft? Der Verwaltungswissenschaftler und Ex-Sektionschef Raoul Kneucker erhebt in seinem Text «Literarische Lesarten zu Verwaltung und Bürokratie» die Literatur in den Rang einer Quelle, die sich nur graduell von anderen unterscheide. Dies sei im Bereich der Verwaltungsgeschichte mittlerweile akzeptiert:

Waltraud Heindl erstaunte die österreichische Fachwelt, als sie im Jahre 1991 in ihrem ersten bürokratiegeschichtlichen Werk Franz Kafka wie einen Fachkollegen behandelte; es gab dann kein Stirnrun­zeln mehr, als sie in ihrem zweiten Band 2013 die «großen» und «nicht so großen» Literaten der Habsburger Monarchie [...] offensichtlich wie Quellen heranzog. Ich hege übrigens keinen Zweifel, dass die Fach­kollegen und Fachkolleginnen immer schon mit gewissem Gusto, und ohne große methodologische Skrupel, Franz Kafka, Robert Musil u.a. zitierten, wenn sie die traditionelle Verwaltung der Habsburger Mo­narchie vor allem Nichtösterreichern erläuterten.[11]

In den politischen und sozialwissenschaftlichen Fächern waren die Wi­derstände gegen die Verwendung von fiktionaler Literatur laut Kneucker noch größer: «zu persönlich, zu phantasievoll, zu impressionistisch, zu “al fresco”, so lauteten stets die Vorwürfe oder Einwendungen oder Warnun­gen»[12]. Die vehemente Kritik basiert auf einem Verständnis von Literatur als Realitätsdarstellung, das sich mit der Spiegelmetapher fassen lässt. Auch die Historikerin Waltraud Heindl greift darauf zurück, betont allerdings den Bruch durch den Spiegel und fordert, wie für andere Materialien auch, Quel­lenkritik[13]. Das Dilemma eines derartigen Verständnisses liegt darin, dass Literatur und ihre Fiktionen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren und Überzeichnungen oder Polyvalenzen zum genuinen Arsenal des litera­rischen Schreibens gehören. Jedenfalls zeigt sich, dass die Quellenkritik da­von beeinflusst scheint, ob die Literatur die in der Wissenschaft gängigen Blicke teilt oder kontrastiert. Im positiven Fall kommt es zu einer Bestäti­gung: So finde der Verwaltungsforscher im «Mann ohne Eigenschaften» «eine atemberaubend gültige Beschreibung der prototypischen Habsburger Monarchie nach Struktur, Gestalt und System»[14]. Bei Abweichungen von der wissenschaftlich erforschten «Realität» müssen hingegen Korrekturen angebracht werden. So sieht Kneucker in der russischen Literatur eher Überhöhungen als realistische Darstellungen, und also kein Quellenmate­rial, auf das man sich, wie etwa bei Musil oder Kafka, verlassen könne. Ei­nen Schritt weiter geht die Historikerin Waltraud Heindl. Sie wird zum Sprachrohr der karikierten Beamten, fragt nach den möglichen Reaktionen der Monarchiebeamten auf die mitunter sehr kritischen Befunde der Litera­tur[15] und formuliert:

Ein Beamter hätte die spöttischen literarischen Beschreibungen seiner Welt durch die Schriftsteller wohl kaum verstanden. Die Bürokraten lebten mit einer Selbstverständlichkeit in diesem abgeschotteten Ap­parat. Und es war gerade diese Selbstverständlichkeit, die die Literaten in Erstaunen versetzte.[16]

Verschont von diesem Dilemma – und damit komme ich zu einem ganz anderen Zugang zu Literatur – sind WissenschafterInnen, die an ein bür­gerliches Selbstverständnis andocken und die Literatur als hohes nationales Kulturgut ansehen. Dabei handelt es sich um jene Art von Aufwertung, wie sie in geistesgeschichtlichen Ansätzen und der nationalen Literaturge­schichtsschreibung und häufig auch im schulischen Literaturunterricht prak­tiziert wird. Ein sehr schönes Beispiel liefert der lange in den USA tätige Literaturwissenschaftler Joseph Strelka, der die österreichische Seele und Kultur als «menschenbrüderliche Humanitas und All-Liebe» bewarb[17], wel­che von der Beamtenliteratur und Beamtenkultur wesentlich mitgeprägt sei:

Es sind die kulturmorphologischen Prägekräfte jener dienstaristokra­tischen Lebenshaltung, die in rund einem halben Jahrtausend das We­sen und den Stil der österreichischen Dichtung bestimmten. Denn es waren die Dienstaristokraten, welche in Stellvertretung der Hocharis­tokratie die tatsächlich leitende Schicht des Staatsgebildes darstellten und es ist immer die führende Schicht eines Gesellschaftskörpers, wel­che die Geistigkeit der gesamten Gesellschaft bestimmt.[18]

Die Verve, mit der hier Patriotismus betrieben wird, erklärt sich aus der identitätsstiftenden Rolle der k-u.-k Literatur für die österreichische Nation bzw. für das österreichische Bürgertum nach 1918 bzw. 1945 – ein verspä­tetes und langanhaltendes Projekt mit Unterbrechungen, das umso schärfer zur Sprache gebracht wird. Während es bevorzugt mit deutschsprachiger Literatur (wenn auch aus dem ganzen Reich – auf Kafka und Roth verzich­tet man ungern) unterfüttert wird, geht Strelka noch einen Schritt weiter und sammelt in seinem Band Beiträge zu verschiedensprachigen literari­schen Texten der gesamten Habsburgmonarchie. Die Übertitelung all die­ser Artikel ist allerdings unmissverständlich: «österreichische Literatur». Was die Stellvertreterfunktion der literarischen Ermächtigung und die da­mit verknüpften Hoffnungen betrifft, zeigen sich Analogien zur Rolle der Literatur und Ästhetik für das deutsche Bürgertum des 18. Jahrhunderts: Politische Ohnmacht und ungünstige Lebensverhältnisse zwangen, so Terry Eagleton, zur symbolischen Befriedigung in einem anderen Feld. Die Ästhetik lässt die in der Geschäftswelt ausgeschlossenen Dimensionen, wie die sozialen Bindungen, inkludieren und wirkt zudem wie ein «Traum der Versöhnung»[19].

Auch im Nachkriegsösterreich von 1918 und 1945 finden sich für die alten Herrschaftseliten ungünstige Bedingungen vor: nach dem 1. Weltkrieg durch die Verkleinerung des Reiches, durch die demokratischen Entwick­lungen und aufkommende ArbeiterInnenbewegungen, die Despotie und Totalitarismus ablösten; und nach dem 2. Weltkrieg durch die Mitverant­wortung für Kriegsverbrechen und Holocaust und dem heftigen Drang zu vergessen. Mit Rückgriff auf bürokratische Fiktionen, die gleichermaßen auf österreichische wie klassenspezifische Identität abstellten, konnte die Herrschaft und der Zusammenhang symbolisch aufrechterhalten werden.

1b. Was wird liegengelassen?

Ganz anders sieht die Frage nach der Aufwertung der k. u. k. Bürokratie aus, wenn man nicht dem Konzept der Spiegelung oder des Kulturgutes, sondern einem diskursiven Verständnis von Literatur folgt. Hier kommt ein erweiterter Literaturbegriff zum Tragen, der verschiedenste Texte, primäre und sekundäre, integriert und davon ausgeht, dass sie Wirklichkeit entwer­fen und in sie eingreifen können. Dadurch werden Texthierarchien und etablierte Textkorpora fragwürdig und der Blick auch auf das gelenkt, was bislang als minderwertig und uninteressant vernachlässigt wurde. In diesem Sinn ändert sich die Frage und richtet sich nicht nach dem, was aufgehoben, sondern was liegen gelassen wird.

Im Zusammenhang mit der Habsburgbürokratie werden bestimmte Ro­mane bevorzugt ausgewertet, während widersprüchlichere Texte (wie etwa diverse Romane von Joseph Roth oder auch Werke von Fritz von Herzma­novsky-Orlando), aber auch Bücher anderer Autoren und Autorinnen kaum Betrachtung finden. Auch jenseits dieses Augenmerks litt die Rezeption der österreichischen Literatur unter dem «Habsburgmythos», weil Texte oder Stilrichtungen, auf die diese Bezeichnung nicht passte, im Abseits landeten. Erst spät wurden Österreichs neusachliche LiteratInnen entdeckt oder Österreichs Avantgarden anerkannt, weil neusachlich und avantgardistisch so gar nicht als Etikett der österreichischen Literatur taugte[20].

Für unseren Zusammenhang relevant ist hier, dass Österreichs Literatur auch jenseits Kakaniens über aufschlussreiche Bürokratiefiktionen verfügt – wenn diese auch lange Zeit nicht und oft auch heute noch wenig Beach­tung finden. Freilich steht in diesen Texten nicht der hohe Beamte im ab­geschotteten Apparat im Mittelpunkt, sondern das Schriftstück, der Behör­dengänger, die Verwaltung des Elends und der Sozialstaat. Die Perspektive ist verkehrt und Figuren anderer Klassen und auch des anderen Geschlechts avancieren zu Protagonisten. Die bevorzugte Zeit der Handlungen ist die Gegenwart[21], aber viele Geschichten reichen in die Monarchie zurück[22]. Dort kommen, soweit ich dies sehe, Bürokratie und große Politik oft in ihren ökonomischen Auswirkungen vor, was sich mit dem Krieg bzw. der Mobilisierung schlagartig ändert[23]. Die Romane zeigen damit, wie weit ent­fernt (und ignoriert oder verschont) Handwerker, kleine Handelstreibende, Angestellte und Hausfrauen von der habsburgischen Bürokratie waren bis der Krieg ausbrach und die Bürokratisierung ihren absoluten Höhepunkt erreichte. Wie gewaltvoll und unverstanden dieses politische Ereignis erlebt wird, demonstriert Andreas Thom im Roman «Vorlenz, der Urlauber auf Lebenszeit, und Brigitte mit dem schweren Herzen» wie folgt: «Krieg wurde, plötzlich, über Nacht fast stand die ganze Erde rundherum in Flam­men. Das Böse brach wie eine Krankheit aus, schlimmer als die Pest und ärger als der Tod, denn es war Mord»[24]. Durch die naive Sicht der Klein­bürger, die große Teile des Romans durchgehalten ist, wird mit dem Pathos gebrochen und die Naturalisierung der kriegerischen Ereignisse subvertiert. Die Klimax lautet: Naturereignis/Flammen, Böses, Krankheit/ Pest, Tod und endet im bewussten Akt des Tötens, im Mord. So wird der Absolut­heitsanspruch der Anordnungen karikiert, bei Kriegsausbruch ebenso wie auf dem Feld. Über Fragen der Verantwortung und der politischen Hand­lungsfähigkeit werden Budgetentscheidungen und strafrechtliche Konse­quenzen thematisiert.

Die Italiener schossen wie verrückt und legten ihr ganzes Geld in Bomben und Granaten an. «Wenn man so denkt», überkam es Vor­lenz, «was dafür alles geschaffen werden könnte, daß es keine Not mehr geben würde, keine Kranken ohne Spitäler, keine Hungrigen ohne Speisehäuser und keine Durstigen ohne Freibier ...» Er schwelgte besonders im letzten Teil dieser Überlegung. Aber Soldaten dürfen nun einmal nicht denken. Das ist gegen die Dienstordnung und kann im Krieg sogar bestraft werden, denn ein Soldat ist bloß die notwen­dige Ergänzung des Gewehrs, und das wird mit Kugeln und nicht mit Gedanken geladen.[25]

Während die großen Akteure und Bürokraten in den meisten neusachli­chen Texten hinter den Ereignissen und Anordnungen verborgen bleiben, realisiert Robert Brunngraber im Roman «Karl und das XX. Jahrhundert» einen Kunstgriff, um Entscheidungsträger und Untertanen zu verknüpfen: Wie Krieg von ökonomischen und politischen Akteuren an den einfachen Figuren vorbei vorbereitet und gemacht wurde, beschreibt der Autor, in­dem er Weltgeschichte gespickt mit zahlreichen Daten und Fakten parallel zur persönlichen Geschichte des Protagonisten aufrollt.

Rußland berief Iswolski zum Außenminister, der der konsequenteste Feind der Österreichisch-ungarischen Monarchie war, und Conrad von Hötzendorf, der österreichische Generalstabschef, fordert in ei­ner Denkschrift an seinen Kaiser einen Präventivkrieg gegen Italien. Die deutschen Waffenwerke in Karlsruhe ließen durch eine französi­sche Waffenfabrik Aufsätze [...] über die Güte und die große Zahl an Maschinengewehren, über die das französische Heer verfügte, lancie­ren, mit welchen Zeitungsartikeln in der Hand dann ein deutscher Ab­geordneter, der von der Rüstungsindustrie bestellt war, vom Reichstag eine Verbesserung auch der deutschen Heeresbewaffnung verlangte und einstimmig zugesprochen erhielt. In diesen Tagen legte der vier­zehnjährige Karl Lakner seine Aufnahmeprüfung am Lehrerseminar ab. [Es] sagte der examinierende Professor, als Karl mit dem «Gott erhalte» an eine bestimmte Stelle gelangt war: Schluß. Immer der glei­che Fehler, das ganze Volk singt seine Hymne falsch; es heißt nicht: Ewig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint, son­dern ve-ereint. Da ist ein Vorschlag von Haydn geschrieben.[26]

Wie der Staat während des 1. Weltkrieges die Geschicke der Protagonis­ten übernimmt, zeigt sich nicht nur in Schlachtromanen[27], sondern auch in Schilderungen des Hinterlands oder am eindringlichsten in der Erzählver­weigerung: So unterbricht Robert Neumann in seinem Roman «Sintflut» die Chronologie der Erzählung und lässt die 4 Jahre schlicht und einfach weg[28]. In der Nachkriegszeit geht es hinsichtlich bürokratischer Ordnung insbe­sondere um die sozialstaatliche Verwaltung des weiterhin starken Staates. Diese Institutionen fungieren als Rettungsanker und Schutzgebiete, spätes­tens nach der Wirtschaftskrise und den drastischen Kürzungen werden sie jedoch als völlig unzureichend kritisiert[29]. Ab 1945 richtet sich die literari­sche Bürokratiekritik insbesondere gegen Formalismen, Totalitarismen und die Kolonisierung des Individuums. Ironie und Satire bleiben wichtige Mit­tel der Auseinandersetzung, schlagen aber immer wieder in Sarkasmus um[30].

Auch wenn nach 1918 und nach 1945 tatsächlich einige Autoren an die Bürokratie der Habsburger Monarchie anschlossen – satirisch wie Jörg Mauthe[31] oder grotesk wie Fritz von Herzmanovsky-Orlando[32] finden sich genügend Bürokratiefiktionen, die in der demokratischen Republik oder dem NS-Staat angesiedelt sind. Viele dieser Texte der Zwischen- und Nach­kriegszeit wurden jedoch lange Zeit vernachlässigt und eben nicht aufgeho­ben. Sie eignen sich auch schwerlich für ein Asservieren, das der Hochkul­tur verpflichtet ist. Statt zum Aufwerten der Bürokratie zu taugen, sind sie vielmehr kritische Interventionen und als solche nicht gerade willkommen beim Establishment, das nach den Weltkriegen an die «Kulturträger» der monarchischen Bürokratie andockt.

2 Aufheben als Konservieren/Aufbewahren

Bei der zweiten Bedeutung von «Aufheben» steht die zeitliche Dimen­sion im Mittelpunkt und meint eine Pause unbestimmter Dauer, während­dessen das Aufbewahrte stillgestellt ist. Konservieren heißt nicht wegwer­fen, aber auch nicht gebrauchen. In diesem Sinn ist Aufheben notwendig nachträglichen Charakters, das Aufgehobene verfügt über eine Geschichte, enthält aber auch die Idee von Zukunft als potentielle Wiederverwendung. Es impliziert eine Wartehaltung und negiert für die Gegenwart mit der Ak­tivierungs- auch die Handlungs- und Änderungsmöglichkeiten.

Neben dieser zeitlichen Dimension hat die Tätigkeit des Aufbewahrens auch eine räumliche Ordnungsfunktion, den Akt der Konservierung, die Arbeit am Konservieren und man könnte jetzt über die Genese der Texte sprechen, die Bearbeitungen durch AutorInnen oder der HerausgeberIn­nen, wie das Zurechtschleifen widerborstiger oder problematischer Texte. Man denke nur an Torbergs Bearbeitungen der Prosa Herzmanovsky-Or­landos, denen sogar der Name der Tarockei zum Opfer fiel, um in das un­verfängliche kakanische Tarockanien transformiert zu werden.

Statt Fragen der Textgenese zu betrachten, werde ich hier jedoch auto­biographische Texte in den Mittelpunkt stellen, für die die Funktion des Aufbewahrens, das Aufheben «zu späterer Verwendung» zentral ist. Offen­sichtlich waren es zahlreiche Beamte, die in den letzten 60, 70 Jahren der Monarchie ihre Lebenserinnerungen zu Papier brachten. Waltraud Heindl wurde insbesondere in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts fündig und er­gänzt ihre historischen Untersuchungen durch die Betrachtungen dieser Materialien, da es das

skurrile Moment [gibt], dass Beamte zwar beschriebene Papiere wie Sand am Meer produzieren, dass aber die meisten zur Bildung ihrer Geschichte kaum taugen. Sie sagen über die Staatsdiener selbst, ihre Bedeutung in der einen oder anderen Angelegenheit, ihre Meinungen, nur wenig aus.[33]

Wie für die Schriftstücke, so die Historikerin, gelte dies leider auch für die Memoiren der Beamten, die standardisiert Etappen des Lebens wieder­geben, selten die eigentliche Amtsarbeit fokussieren, immer die Grenzen dessen, was sich geziemt, respektieren und darüber hinaus Schweigen be­wahren[34]. Die Chronik und das Schickliche strukturieren denn auch die Er­innerungen von tschechischen k.-u.-k. Beamten, die Pavla Vošahlíková her­ausbrachte[35], eröffnen aber gerade hierdurch Blicke auf die wirksame Züch­tigung der Disziplinarmacht. Die Erzählungen von Anekdoten muten bis­weilen genau deshalb komisch an, weil sie das Leben als Routinen erzählen und minimale Alltagsunterbrechungen erzählerisch aufwerten. Auch die Er­innerungslücken und die dokumentierte Ereignislosigkeit zeugen vom rechtschaffenen Bemühen, dem Leben für die Memoiren doch noch etwas abzutrotzen.

Mein Dienst in den Jahren 1909 bis 1913 war wahrscheinlich gänzlich normal, ohne alle Aufregungen, denn mir fällt auf, daß mir trotz in­tensiven Nachdenkens aus dieser ganzen Zeit, bis auf zwei fast bedeu-tungslose Begebenheiten, nichts im Gedächtnis hängen geblieben ist, was der Erwähnung wert wäre.[36]

Im Prinzip ähneln diese Memoiren den als Romanen präsentierten Er­innerungen diverser österreichischer Beamter wie Büchern von Gustav von Festenberg[37] oder Friedrich Kleinwächter[38]. So erscheinen die Texte als der historischen Zeit seltsam enthoben, die Zäsuren von 1914, 1918, 1934 und 1938 sind verwischt. Allerdings finden sich auch Unterschiede. Statt auf die Lücke zu verweisen, in der nichts Erzählrelevantes geschieht, wird gerade darauf ein besonderes Augenmerk gelegt. So scheinen sich Beamtenro­mane, anders als die Autobiographien, die ein ganzes Beamtenleben zu fas­sen versuchen, auf kleinteilige Zeitabschnitte wie Vormittage oder Stunden zu konzentrieren und schildern im handlungsarmen Plot eine Fülle an Überlegungen, Ängsten und Träumen. Solche Handlungspausen betreffen interessanterweise insbesondere bürokratische Belange[39]. Je mehr sich die Erzählung nämlich räumlich und zeitlich der konkreten Amtsarbeit annä­hert, entzieht sie sich ihr sofort wieder und verschwindet gleichsam in ei­nem Kokon vertrauter Naturbilder und Gedankenspiele. Hervorragend nachvollziehen lässt sich dieser Prozess des Einhegens und Stillstellens in Gustav von Festenbergs «Ein Tag wie alle», in dem das Amtszimmer einen Rückzugsort von existentieller Bedeutung darstellt:

Freilich, dieses Zimmer, dieses Büro ist nicht zu vergleichen mit sei­nem lieben Zimmer zu Hause. Denn dieser übergroße Schreibtisch mit den schwarzen und roten Gesetzesbüchern, dieser braune weiche Schrank und die kahle Garnitur aus gebogenem Holz, sie liegen wie Steine umher, sie lassen sich nicht verwandeln, sie sind nicht einzube­ziehen. Sie werden immer tote Stellen bleiben ohne Resonanz, gelbe Flecken in dem Auge des Raumes. Aber Franz hat sich ihnen gegen­über geholfen, ähnlich wie die Bienen sich helfen gegenüber einem Fremdkörper in ihrem Stock. Sie überkleiden ihn ganz mit Wachs, so daß er ein Teil ihres Reiches, Wesen von ihrem Wesen wird.[40]

Dieses Zitat entstammt einem Roman, der im Paratext als Handlungsort «eine österreichische Kleinstadt» ausweist und als zeitliche Verortung «vor 1930» angibt. Eine solcherart offene Zeitangabe rekurriert in diesem derart präzisen Roman, der nur den Ablauf eines einzigen Tages eines mittleren Beamten beschreibt, auf einen sehr dehnbaren Zeitraum. Ganz anders als Bloom in James Joyce Ulysses verwischt auch die Grenze zwischen dem Konservieren des Autors und dem Konservieren des Protagonisten.

Neben der Tendenz zur Enthistorisierung der Erinnerung finden sich in der fiktionalen und nicht fiktionalen Beamtenbiographie auch zahlreiche Beispiele für das Engagement gegen jede Veränderung. So wirbt die partei­ische Erzählinstanz dafür, alles, was einem Stillleben gefährlich werden könnte, fernzuhalten oder zu minimieren. Nur ab und zu blitzt Gefahr auf, die sich meist aber auf neue Regelungen bezieht und das Tempo beschleu­nigt[41], auf junge Ungestüme, die die kleinteiligen Subordinationsgesten ig­norieren[42] oder auf unerwartete Zusammenkünfte mit Kollegen oder Par­teien in den Gängen der Ämter[43]. Die Abwehrstrategien sind für gewöhn­lich erfolgreich. Insofern stellt sich die Habsburgbürokratie hier als in Wachs gekleidete und stets wieder in Wachs zu kleidende überzeitliche Form dar, die nach draußen und gegenüber Veränderungen durch Konser­vierung immun gemacht wird.

3. Aufheben im Sinne von Auflösen

Die dritte Bedeutung von Aufheben wird als Nichtig-Machen bezeich­net und meint beispielsweise das Auflösen bestehender Regelungen und Gesetze. Diese Bedeutung ist auch durch die philosophische Frage von In­teresse, ob und wie die Widersprüche in einer Synthese aufgehoben werden können, praktisch werden müssen oder bestehen bleiben. Die Wider­sprüchlichkeit der Bürokratie zeigt sich insbesondere, wenn verschiedene Bürokratiediskurse verglichen werden: Während in den Rechts- und Sozial­wissenschaften, wie auch in der Theorie, Bürokratie vor allem mit Moderne und Fortschrittlichkeit einhergeht[44], werden mit demselben Begriff von phi­losophischen Positionen aus, vor allem aber in der Alltagssprache, Unzu­länglichkeiten und Rückschrittlichkeit kritisiert. Gegenüber stehen sich Transparenz und Intransparenz, Korrektheit und Fehler, Schnelligkeit und Langsamkeit, Ordnung und Unordnung, demokratische und totalitäre, frei­heitssichernde und kolonialistische Formen[45]. Welche Spezifik wird nun der habsburgischen Bürokratieherrschaft zugeschrieben?

Im kollektiven Gedächtnis des heutigen Österreichs, wie es sich aus ver­schiedenen Äußerungen und Texten konstituiert, scheinen Despotie und Kolonialismus keine zentralen Bezeichnungen für die Habsburgherrschaft zu sein. Demgegenüber zählte Hannah Arendt neben dem zaristischen Russland auch die österreichische Monarchie zu den legitimen «despoti­schen Bürokratien» und schrieb:

[G]erade diese Legitimität half besser als alles Geheimhalten und Sichaufspielen den grundsätzlichen Opportunismus verbergen, der hinter der Willkür aller bürokratischen Regime liegt. Die Vorteile bü­rokratischer Herrschaft für große Reiche mit heterogener Bevölke­rung, die man unterdrücken muß, will man sie überhaupt zusammen­halten, liegen auf der Hand.[46]

Für die Gegenseite stellt sich die Situation etwas anders dar, weil Ent­scheidungen nicht verstanden werden können und zu zahllosen Auslegun­gen und Spekulationen führen[47]. Das sei zusammen mit einer Aura des Ge­heimnisvollen kennzeichnend für die vorrevolutionäre russische Literatur[48]. Die Frage ist nun, wie die österreichische Literatur derartige Mechanismen zur Sprache gebracht hat. Hat sie sie aufgelöst? Hat sie das fortschrittliche oder das rückschrittliche Moment betont? Den aufklärerischen oder den kolonialen Aspekt? Ich möchte hier zum Abschluss Texte kanonisierter Au­toren anführen, die diese Fragen und ihre unauflösbare Dialektik ausdiffe­renziert und auf verschiedenen Ebenen literarisch verwirklicht haben.

So hat Joseph Roth in seinen Büchern die Widersprüchlichkeit und Un­durchschaubarkeit des k.u.k Regimes detailliert vorgeführt. Am besten zei­gen sich diese Phänomene beim Übertritt in die neue demokratische Ord­nung[49] oder an den Rändern der Monarchie, wie in Roths spätem Roman «Das falsche Gewicht». Die Maßnahmen sind vielfältig und der Kolonial­herr allerorten spürbar:

Eines Tages kümmert sich der Staat um dieses und morgen um jenes. Er kümmert sich sogar um die Geflügelware der Frau Czaczkes; um die Gewichte des Balaban; um die schulpflichtigen Kinder Nissen Piczeniks; um die Impfungen kümmert sich der Staat, um die Steuern, um die Trauungen und um die Scheidungen, um die Testamente und Hinterlassenschaften, um die Schmuggelei und um die Goldfälscher. Warum sollte er sich nicht um die Grenzschenke Jadlowkers küm­mern, in der alle Deserteure zusammenlaufen?[50]

Wie in dieser Aufzählung deutlich gemacht wird, fokussiert das bürokra­tische Ansinnen der österreichischen Monarchie auf Machterhalt und Geld und impliziert säkulare, aufklärerische Anliegen, die von der Bezirkshaupt­mannschaft durchzusetzen sind. Aus Sicht der Bürokratieforschung waren diese Verwaltungsstrukturen bewunderungswürdig und die Monarchie wurde darum, so Kneucker, sogar beneidet[51]. In Roths Zlotogrod ist von dieser Attraktivität nichts zu spüren. Auch die positive Bedeutung des Verbs «kümmern», das etwas von sozialer Nähe und Wohlwollen enthält, wird in den Passagen, in denen die Perspektive der Bevölkerung dominiert, entschieden zurückgewiesen und konterkariert. Verständlich ist dies bei den Kontrollen der Maße, die die Bevölkerung wie Seuchen fürchtet. Aber auch Informationen der monarchischen Behörden werden missbilligt und miss­verstanden, was bisweilen die Lage noch verschlimmert. So halten die Zlo­togroder daran fest, dass es sich beim roten Regen keineswegs um Wüsten­sand, sondern um ein schlimmes Zeichen handelt, «und sie starben noch schneller und jäher als vorher»[52]. Vor allem aber zeigen sich die Wider­sprüchlichkeiten der Aufklärung im besetzten Galizien in der Gesundheits­politik.

Mit Entsetzen hörten die Einwohner des Bezirks das Eis krachen, kaum eine Woche nach Weihnachten. Laut einer alten Sage, die in der Gegend umging, bedeutet dieses Krachen des Eises ein großes Un­glück für den kommenden Sommer. [...] Nun, sie hatten recht. Die alte Sage hatte recht. [...] Schnell starben die Menschen dahin, kaum waren sie drei Tage krank gewesen. Die Ärzte sagten, es sei die Cholera, aber die Leute in der Gegend behaupteten, es wäre die Pest. Es ist aber auch gleichgültig, was für eine Krankheit es war. Jedenfalls starben die Leute.[53]

Neben der Informationspolitik scheitert die Behörde auch bei ihren ge­sundheitspolitischen Maßnahmen: Die in den Bezirk geschickten Ärzte und Medikamente werden nicht angenommen, genauso wenig kommen die Evakuierungsmaßnahmen im intendierten Sinn an:

Es gab viele, die sagten, Ärzte und Medikamente würden höchstens schaden und die Verordnungen der Statthalterei seien noch schlimmer als die Pest. Das beste Mittel, sich das Leben zu bewahren – so sagten sie –, sei der Alkohol. [...] Die Leute starben wie die Fliegen. [...] Was nützten die Ärzte und die Medikamente, die man von der Statthalterei geschickt hatte? Eines Tages kam von der Militärbehörde der Befehl, das Regiment der Fünfundreißiger möge unverzüglich den Bezirk Zlo­togrod räumen, und jetzt entstand ein noch größerer Schrecken. Bis jetzt hatten die armen Leute geglaubt, der Tod sei gleichsam nur zu­fällig durch ihre Häuser und Hütten gegangen. Nun aber, da man die Garnison verlegte, war es auch von Staats wegen beschlossen und be­siegelt, daß die «Pest», wie sie es nannten, eine andauernde Angelegen­heit war.[54]

Interessanterweise affizieren Gewalt und Mängel bei der Bürokratisie­rung auch die Erzählweise und kippen manche Bilder, verdrehen Superla­tive, werden unzuverlässig. So wird etwa kritisiert, dass die moderne Medi­zin nichts nützt, obwohl (oder weil?) sie abgelehnt wurde. Ebenso wird die Seuche als Naturgewalt gesehen, die dann aber doch unter staatlicher Ob­hut zu stehen scheint. Und undurchsichtig bleibt, ob nun mit Pest die Cho­lera oder die Staatsmacht bezeichnet wird. So kommt selbst die aufkläreri­sche k.u.k. Gesundheitspolitik als unerklärliche und machtvolle Katastro­phe an, als welche nach Arendt despotische Ver/Ordnungen für gewöhn­lich erlebt werden[55].

Ebenfalls bemerkenswert sind die zahllosen Belege für die widersprüch­liche Un/Ordnung der Habsburgmonarchie bei Herzmanovsky-Orlando, der im «Maskenspiel der Genien» mystische und esoterische, mythologische und moderne Versatzstücke ineinander montiert: bei traditionalen Herr­schaftsauftritten des Kanzlers und seinen Organen[56], weil ein Akt von Mot­ten zerfressen wird[57] oder weil man mit der «Registrierung der Akten um zwanzig bis dreißig Jahre im Rückstand war»[58]. Besonders krass sind die Erlässe des Kanzlers, die von den Beamten exekutiert werden müssen, egal ob er versehentlich Insassen eines Irrenhauses begnadigt[59] oder skurrile Projekte ins Leben ruft:

«Denken Sie [...], die vergangene Woche hat der Sküs wieder eine na­tionale Industrie aus dem Boden gestampft. Es wird die größte der Welt werden!» «Ja, wo ist denn der Platz dafür in dem kleinen Land», warf Pizzicolli ganz richtig ein. «Er wird das Meer zuschütten lassen; im Mai oder Juni. Die Häfen werden verlegt und zwar ins Hochge­birge! Dort ist ja sonst nichts los und alles Staatseigentum. Es soll, behauptet man im Arbeitsministerium, ganz gut gehen, ... mittels schiefer Ebenen oder so ... alles, damit in die unwirtlichen Hochtäler ein bißchen Leben kommt. Verstehen Sie jetzt, was es heißt: Pater patriae zu sein und alle Vorteile wahrhaft gerecht zu verteilen ... [...]»[60]

Es ist die Reibung des traditionalen Herrschaftssystems mit dem fort­schrittlichen Projekt der Moderne, wie es für die bürokratische Herrschaft Habsburgs typisch ist, was hier zur Diskussion gestellt wird[61]. Statt eine Aura des Geheimnisvollen und der Tiefe zu produzieren, wie es nach Arendt die russische Literatur als Reaktion auf die bürokratische Herrschaft tut, legen viele Texte Herzmanovsky-Orlandos die Widersprüchlichkeit mit zahlrei­chen Übertreibungen offen. Dazu werden auch Zeiten und Klassen durch­einandergewirbelt. Ein besonders schönes Beispiel ist das Stück «Kaiser Jo­seph II. und die Bahnwärterstochter, eine dramatische Stimme aus Innerös­terreich»[62]. In diesem Drama geht es um die erste Eisenbahn, die im Öster­reich des 18. Jahrhunderts entlegene Gegenden im Gebirge verbindet. Diese fortschrittliche Erfindung versucht zwar Touristen und Ausländer fernzuhalten, ist jedoch allen Einheimischen zugänglich, wenngleich gestaf­felt nach einem mehrteiligen Klassensystem – in den untersten Klassen gibt es keine Wände oder keinen Boden. Als der Kaiser, inkognito unterwegs, dies erfährt, schlägt er «die Hände über dem Kopf zusammen: Auf was die Bahnfachleute alles kommen, wenn man sie laßt ... Er sinkt gebrochen auf die Bank nieder und ringt stumm die Hände. Das – hat – man – vom – Fortschritt»[63]. Dieser wird auch durch andere Elemente herausgefordert: So arbeiten bei der Bahn neben der kaum alphabetisierten Bahnwärterstochter auch Gnome und konzessionierte Eisenbahnzugsauskunftszeitenwahrsage­rinnen[64] mit. Am Ende des Stücks treten Pagen auf, die Joseph II. darüber informieren, dass die Eisenbahnerfindung vom englischen König schon ei­nem englischen Herrn versprochen ist. Also ordnet der österreichische Kai­ser kurzerhand an, dass «die Eisenbahn in Österreich in Vergessenheit zu geraten hat»[65] und überlässt es England, sie zu erfinden – bekanntlich hat sich die Geschichte daran gehalten. Dass vieles, was Herzmanovsky-Or­lando in seine Bücher einbaut, auf archivalischen Studien beruht und damit faktuale Bezüge aufweist, wird in der kritischen Ausgabe deutlich[66]. Das Ei­senbahnstück etwa fußt auf der Auswertung eines 6-bändigen Standard­werks zur Geschichte der Eisenbahnen der österreichisch-ungarischen Monarchie, wo u.a. eine verschollene Bahn (zwischen Prag und Pilsen) erwähnt wird[67]. Auch beruht die Idee des tarockanischen Kanzlers, Häfen ins Hochgebirge zu verlegen[68], auf Schifffahrtsplänen aus Tirol, über die sich der Autor in einem Brief an Friedrich Torberg äußert[69]. Klaralinda Ma, Mitarbeiterin an der Ausgabe Sämtlicher Werke Herzmanovsky-Orlandos, schreibt zu dieser kunstvollen Mischung der faktualen und fiktionalen Ebene:

Die Verunsicherungen, die der Autor mit dem Spiel zwischen Faktum und Fiktion auslöst, führen aber dazu, dass der Leser in den Geschich­ten die Geschichte genauer zu nehmen beginnt; er stellt verwirrt fest, dass sich oft genug Fakten als Fiktionen erweisen wie umgekehrt Fik­tionen als Fakten.[70]

So kehren wir am Ende ausgerechnet mit Herzmanovsky-Orlando zum Realitätsanspruch zurück.

Schlussbemerkung

Die Widersprüchlichkeit der bürokratischen Herrschaftsordnung wird in einfach gestrickten Autobiographien aufgehoben und im Modus des Kon­servierens zur Einheitlichkeit gezwungen. Andere Literatur setzt auf Unauf­hebbarkeit und Rätsel, die von Göttern und Zwergen und Beamten ausge­dacht sind, und entwirft detaillierte Blicke auf die Bürokratie als Projekt der Moderne. Nicht zuletzt finden sich aber auch kaum beforschte Texte aus der Zwischenkriegszeit, die statt am Wunderlichen und Geheimnisvollen der Amtsaura an den banalen Ungleichheiten der Gesellschaft interessiert sind. Dabei legen sie das Augenmerk auf Brüche zwischen den bürokrati­schen Ordnungen, vor allem aber auch auf Kontinuitäten. Gerade die dem Asservieren eingeschriebene Spannung zwischen erwartetem Wandel und erwarteter Konstanz löst sich nicht auf. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus Brunngrabers Roman schließen und eine Textstelle zur ka­kanisch verwischten Zäsur von 1918/1919 anführen, als der Protagonist ins soeben von der Habsburgherrschaft verlassene Österreich zurückkehrt:

Das Einzige, das für ihn aus der Welt vor dem Krieg herüberreichte, war der Revers. Jenes Dokument, mit dem ihn das Lehrerseminar ver­pflichtet hatte, mindestens sechs Jahre dem Lande Niederösterreich (einschließlich Wiens) seine Dienste zu widmen. Widrigenfalls er das Schulgeld von 1.500 Kronen noch nachträglich zu bezahlen hätte. Dieses Dekret war nun die Brücke in die Zukunft. Karl ging noch am Tage seiner Ankunft in das Gebäude des niederösterreichischen Lan­desausschusses. Dort erfuhr er jedoch, daß die Behörde, die er suchte, für ihn nicht mehr existierte. Man sagte ihm, Österreich sei nun ein Bundesstaat, Wien ein eigenes Land und die zuständige Stelle für ihn wäre der Stadtschulrat. Karl begab sich in den Stadtschulrat. Er ging langsam und etwas scheu, denn er war noch mitgenommen von der langen Spitalszeit. Auch verursachte ihm die neue Ordnung Unbeha­gen. Sie schien die Erwartung, daß er nun in sein eigenes Schicksal entlassen sei, umzustoßen.[71]



[1] Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler im Vorwort zu meiner Bürokratiestudie, der an­merkt, dass das Phänomen der Bürokratie in den literarischen Texten “im besten Sinn wie im bekannten Doppelsinn aufgehoben ist”. In: Sabine Zelger: Das ist alles viel komplizier­ter, Herr Sektionschef! Bürokratie – Literarische Reflexionen aus Österreich. (= Literatur und Leben 75) Wien u.a. 2009, S. VII.

[2] Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1988, S. 225f.

[3] Vgl.: George Lakoff / Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Ge­brauch von Sprachbildern. Heidelberg 2008, S. 22ff.

[4] Vgl. Kerstin Stüssel: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwi­schen früher Neuzeit und Gegenwart. (= Studien zur deutschen Literatur, 171) Tübingen 2004, S. 8.

[5] Vgl.: Zelger 2009, a.a.O.; Raoul Kneucker: Bürokratische Demokratie, demokratische Bürokratie. Ein Kommentar zu Struktur, Gestalt und System der Bürokratie in Europa. Manuskript. Erscheint 2017 bei Böhlau.

[6] Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966.

[7] Manfried Welan: Republik der Mandarine? Ein Beitrag zur Bürokratie- und Beamten­diskussion. In: Diskussionspapier. Institut für Wirtschaft, Politik und Recht. Nr. 57. Wien 1996, S. 9ff.

[8] Waltraud Heindl: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich. Bd. 2: 1848 bis 1914. (= Studien zu Politik und Verwaltung 107) Wien u.a.: 2013, S. 26.

[9] Vgl. Kneucker 2017 a.a.O.

[10] vgl. Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich. 1780 bis 1848 (= Studien zu Politik und Verwaltung, 36). Wien/Köln 2013. S. 360; Eva Kreisky: Bürokratie und Politik. Beiträge zur Verwaltungskultur in Österreich. Bd. 1. Habil. Wien 1986, S. 613.

[11] Kneucker 2017 a.a.O.

[12] Ebd.

[13] Heindl: Mandarine 2013 a.a.O., S. 238.

[14] Kneucker 2017 a.a.O.

[15] Heindl: Mandarine 2013 a.a.O., S. 243.

[16] Ebd. S. 249.

[17] Joseph P. Strelka, (Hg): Die sozialgeschichtliche Entwicklung und die kulturmorpho­logische Funktion des Beamten in der österreichischen Literatur. In: ebd. (Hg.): Im Takte des Radetzkymarsches ...: der Beamte und der Offizier in der österreichischen Literatur (= New Yorker Beiträge zur Österreichischen Literaturgeschichte 1). Bern/Berlin u.a. 1994, S. 17-31, hier S. 28.

[18] Ebd., S. 27.

[19] Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart/Weimar 1994, S. 15ff.

[20] Vgl. Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, S. 7. Der Band lädt nicht nur zu einem anderen Blick auf die Literaturgeschichte ein, sondern vor allem auch zur Lektüre zahlrei­cher vergessener Bücher und erweist sich als wahre Fundgrube für weitere Studien.

[21] Vgl. Fritz Hochwälder: Donnerstag. Graz u.a.1995; Hugo Bettauer: Der Kampf um Wien. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd.1. Salzburg 1980; Veza Canetti: Die Gelbe Straße. München/Wien 1990 u.a.

[22] Oskar Maurus Fontana: Gefangene der Erde. Berlin 1928; Rudolf Brunngraber: Karl und das XX. Jahrhundert. (Revisited, Bd. 3) Wien 2010; Robert Neumann: Sintflut, Stutt­gart: Engelhorns Nachf. 1929 u.a.

[23] Vgl. Sabine Zelger: “Eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit”. Zur Ökonomie des Ersten Weltkriegs in Romanen rund um die Wirtschaftskrise von 1929. In: Sema Colpan, Amália Kerekes, Siegfried Mattl, Magdolna Orosz, Katalin Teller (Hg.): Kulturmanöver. Das k.u.k. Kriegspressequartier und die Mobilisierung von Wort und Bild. (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 18) Frankfurt/M. 2015, S. 305-315.

[24] Andreas Thom: Vorlenz der Urlauber auf Lebenszeit und Brigitte die Frau mit dem schweren Herzen. Berlin u.a.1930, S. 29.

[25] Ebd., S. 145.

[26] Brunngraber 2010 a.a.O., S. 60f.

[27] Vgl. Rudolf Geist: Der anonyme Krieg. Leipzig 1929.

[28] Neumann 1929 a.a.O.

[29] Vgl. Sabine Zelger: Verwaltung des Elends. Über die politische Widerständigkeit ös­terreichischer Literatur der 1920er Jahre. In: Primus Heinz Kucher / Julia Bertschik (Hg.): “baustelle kultur”. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918-1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 85-102.

[30] So etwa bei Konrad Bayer, Albert Drach, Heimrad Bäcker. Vgl. Zelger 2009.

[31] Vgl. Jörg Mauthe: Die große Hitze. Oder die Errettung Österreichs durch den Lega­tionsrat Dr. Tuzzi. Wien u.a. 1974.

[32] Vgl. Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Maskenspiel der Genien. Roman. In: ders.: Sämtl. Werke in 10 Bdn. Texte, Briefe, Dokumente. Hgg. v. Walter Methlagl / Wendelin Schmidt-Dengler. Salzburg/Wien 1989. Bd. 3.

[33] Heindl: Mandarine 2013 a.a.O., S. 25.

[34] Ebd. S. 25f.

[35] Pavla Vošahlíková (Hg.): Von Amts wegen. K.k. Beamte erzählen. Wien u.a. 1998.

[36] Jan Baše: o.T. In: ebda. S. 179-243, hier S. 217.

[37] Gustav von Festenberg: Ein Tag wie alle. Hamburg 1930.

[38] Friedrich F. G Kleinwächter: Bürokraten. Ein heiterer Roman aus dem alten Öster­reich. Wien 1948. Vgl. Zelger 2009 a.a.O., 256ff.

[39] Vgl. ebd. S. 279ff.

[40] Festenberg 1930 a.a.O., S. 58.

[41] Vgl. Baše 1998 a.a.O.

[42] Vgl. Kleinwächter 1948 a.a.O.

[43] Vgl. Festenberg 1930 a.a.O.

[44] Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziolo­gie. Tübingen 1990 oder Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt 1988.

[45] Vgl. Zelger 2009 a.a.O.

[46] Hannah Arendt: Bürokratie. Die Erbschaft des Despotismus. In: dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Zürich 2005, S. 515-529, hier S. 518.

[47] Ebd., S. 520.

[48] Ebd.

[49] Vgl. Roth: Die Rebellion 2005 a.a.O. oder ders.: Zipper und sein Vater. Köln 1956.

[50] Joseph Roth: Das falsche Gewicht. Köln 1990, S. 53.

[51] Vgl. Kneucker 2017 a.a.O.

[52] Roth 1990 a.a.O., S. 74.

[53] Ebd., S. 72.

[54] Ebd., S. 73f.

[55] Vgl. Arendt 2005 a.a.O.

[56] Herzmanovsky-Orlando 1989 a.a.O., S. 19, 31, 42 u.a.

[57] Ebd. S. 56.

[58] Ebd. S. 115.

[59] Ebd., S. 42.

[60] Ebd., S. 103.

[61] Vgl. im Detail Zelger 2009 a.a.O., S. 59ff.

[62] Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter. In: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Texte, Briefe, Dokumente. Bd. 6. Dramen. Salz­burg/Wien 1985, S. 73-147.

[63] Ebd., S. 102.

[64] Ebd., S. 87.

[65] Ebd., S. 142.

[66] Vgl. Sabine Zelger: Voraus&zurück. Singuläre Wegweiser aus der Monarchie von The­odor Hertzka und Fritz von Herzmanovsky-Orlando. In: Fenyves, Miklós / Kerekes, Amália / Kovács, Bálint / Orosz, Magdolna (Hg.): Habsburg bewegt. Topografien der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/ Oxford/ Wien: Peter Lang 2013 (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 17), S. 253-269.

[67] Herzmanovsky-Orlando 1985 a.a.O., S. 342.

[68] Herzmanovsky-Orlando 1989 a.a.O., S. 103.

[69] Ebd. Notiz S. 516.

[70] Ma, Klaralinda 2004: Clio enthüllt. Eine “andere” Geschichte. In: Bernhard Fetz / Klaralinda Ma / Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Phantastik auf Abwegen. Fritz von Herz­manovsky-Orlando im Kontext. Essays/Bilder/Hommagen. Wien/Bozen, S. 70-86, hier S. 74.

[71] Brunngraber 2010 a.a.O., S. 138.