Micaela Latini

(Cassino)

Die letzten Bilder der Menschheit
Günther Anders und die deutschsprachige Literatur

[The Last Pictures of Mankind. Günther Anders and the German-language Literatures]

abstract. The aim of this paper is to explore the literary investigations of Günther Anders within the horizon of his philosophical thinking. Starting from Anders’s thesis about the «humanity without world», the paper analyzes Anders’s interesting remarks about Brecht’s literary theory and theatrical works, the poetry of Rilke, the literature of Döblin, and espe­cially the masterpieces of Kafka. Relying upon the analysis of these authors, and thanks to an interdisciplinary viewpoint, the importance of the method of literary reference becomes crucial to an understanding of Anders’s concept of «humanity without world» and of the apocalyptic image of a «world without humanity».

1. Menschen ohne Landschaft

Wie bereits richtig beobachtet wurde, ist das Werk Günther Anders’, auch quantitativ betrachtet, in gleichem Maße der Literatur wie der Philo­sophie zuzuordnen[1]. Jedoch liegen gerade diese Unterscheidungen dem Selbstverständnis von Anders fern. In einem polemischen Erguss, 1945 ge­schrieben und an Thomas Mann adressiert, offenbart Anders seine Feind­seligkeit gegenüber der strengen akademischen Trennung verschiedener Fachgebiete, in denen Philosophie, Politik und Literatur wie getrennte und unabhängige Bereiche behandelt werden: «Meine Fabeln nannte man poe­tisch, meine Gedichte philosophisch, meine philosophischen Arbeiten po­litisch und meine politeia fabulös. So warte ich auf einen jener günstigen Au­genblicke, in denen sich die Wichtigkeit solcher Klassifikationen neutrali­siert»[2].

Das Werk Anders’ sträubt sich gegen eine reduzierende Klassifikation: Anders war Essayist und Dichter, Polemiker und Erzähler, Literaturkritiker und Musikphilosoph, Tagebuchschreiber und vor allen Dingen kritischer Zeitzeuge. Es genügt an das Thema der «Weltfremdheit des Menschen» zu denken, das der Autor auf verschiedene Weise behandelt hat. Denken wir also an das Motiv der Unheimlichkeit, des «Nicht-zu-Hause-Seins», das den roten Faden von Anders’ Reflexionen bildete. Eben dies ist der Kern jener negativen (philosophisch-literarischen) Anthropologie, die Anders bereits im Rahmen einer 1929 gehaltenen Konferenz mit dem Titel Die Weltfremd­heit des Menschen angedeutet hatte, in dem er das Bild eines Weltverlustes gezeichnet hatte. In diesem Entwurf der «Figuren ohne Welt» vereint An­ders die entfremdeten Persönlichkeiten von Bertolt Brecht, von Alfred Döblin, von Rainer Maria Rilke und auch von Franz Kafka. Immer radikaler wird bei diesen Autoren die Passivität, das «Ausagiert werden», das «Erlebt sein», die Chiffre der menschlichen Bedingtheit.

2. Erstes Bild: Bertolt Brecht oder der Mensch «ohne Stabilität»

Im Folgenden soll Anders’ Verarbeitung seiner Brechtlektüre betrachtet werden, des Autors, mit dem er über ein halbes Jahrhundert in ständigem Dialog stand und der für ihn auch ein literarisches Vorbild war[3]. Brechts Demaskierung und Kriminalisierung der bürgerlichen Welt scheinen in sei­nem Bemühen, der akademischen Welt den Rücken zu kehren, stark mitge­wirkt zu haben. Bereits 1930 widmete Anders Brecht eine Radiokonferenz mit dem Titel Brecht als Denker[4]. Sie leitete einen langen Austausch der bei­den Intellektuellen während der Zeit des Kalifornischen Exils ein, der in Bert Brecht. Gespräche und Erinnerungen (Tagebuch 1941) von Anders festgehal-ten wurde[5]. Auf diesen Seiten unterstreicht Anders, wie viel weniger bedeut­sam das geschriebene Wort für Brecht ist als das gesprochene Wort, das dem Gesang der Sirenen gleicht, den schmeichlerischen Stimmen der Me­dien im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. So sind Brechts Fi­guren «vom langen Arm» der Industrie geprägt, von der Kommerzialisie­rung der Medien herabgewürdigt – sie sind der Konsumgesellschaft fest eingeschrieben. Darüber hinaus ist das Werk Brechts für Anders mit einer experimentellen Dramaturgie vergleichbar, mit einem Versuchslabor, in dem ein kommunikativer Rahmen erprobt wird, sowie mit körperlicher Er­tüchtigung[6]. So schreibt Anders mit den Worten seines Gespräches mit Brecht: «In der Literatur haben Sie nur deshalb experimentiert, weil Sie da­rauf aus waren, mit Hilfe literarischer Werke nützliche Experimente auf­bauen zu können»[7].

Und weiter:

Modell der Situation, die Sie vor sich sehen, ist das physikalische Prak­tikum. An die Stelle der Studenten treten die Zuschauer; an die der Professoren die Kommentatoren. Im naturwissenschaftlichen Expe­riment setzten wir Stücke der Welt auf eine Weise ein, in der diese sich “von sich aus” nicht kombinieren; was im Experiment von sich geht, ist stets ein Begriff, ein von uns gemachtes Arrangement, eine von uns kontrollierte physische Veränderung.[8]

Wandelbarkeit, Instabilität und Unvollständigkeit: dies sind die Koordi­naten, denen Brechts Menschheit verschrieben ist. Jedoch ist es wiederum die Wandelbarkeit, in der Anders auch die Grenze der Vision Brechts er­kennt. Das Werk Brechts (das Anders als «prophetisch» definiert)[9] lässt tat­sächlich, im Unterschied zu Kafka, der Vernunft des Menschen wieder eine hervorgehobene Bedeutung zukommen. Dieses Vertrauen in das mensch­liche Urteilsvermögen und den menschlichen Wandel ist kaum mit Anders’ These der Weltfremdheit des Menschen vereinbar. Laut Anders bezichtigt sich der Dramaturg Brecht selbst als gestrig, indem er (im Einklang mit Max Scheler) die These der «Verändertheit des Menschen» aufstellt, eben weil wir verändert sind[10]. Die Aussicht auf eine Verändertheit zeigt tatsächlich eine gewisse Hoffnung auf die Zukunft und hierin ist Brecht für Anders vergleichbar mit Ernst Bloch, dem Philosophen der Utopie[11]. Es gibt keinen Zweifel: Da er nicht dazu bereit war, auf das Vertrauen in die Zukunft zu verzichten, gehört Brecht, wie auch Bloch, «zu den tragischen Figuren einer endgültig vergangenen Vergangenheit»[12].

3. Zweites Bild: Alfred Döblin oder «der arbeitslose Mensch»

Laut Anders ist Alfred Döblin der Autor, der der apokalyptischen Aus­sicht auf eine Verdunklung der Welt am nächsten kommt. In seinem Werk zeichnet sich klar und eindrücklich die eschatologische Menschheit ohne Welt ab. Im Unterschied zu Brechts Figuren sind die Protagonisten Döblins durch Passivität und Stagnation charakterisiert und folglich durch die Un­möglichkeit, wirklich zu leben und zu handeln. Das einzige Handeln, das ihnen gestattet wird, besteht darin, mühsam einem Zugehörigkeitsgefühl nachzueilen, oder besser, den Versuch zu unternehmen, auf die Welt zu kommen, der aber für sie immer mit dem Weltverlust einhergeht. Anders’ Text Der verwüstete Mensch (1931), in dem die Aufmerksamkeit auf Döblins Roman (oder Antiroman) Berlin Alexanderplatz (1929) gerichtet wird[13], of­fenbart sich in all seiner dramatischen Aktualität, indem er sich mit dem Thema der Arbeitslosigkeit und ihrer Auswirkungen auf die persönliche Identität auseinandersetzt. Auf diesen Seiten – die ursprünglich in der Fest­schrift zum achtzigsten Geburtstag von György Lukács publiziert wurden[14]stellt Anders Döblins Modell des Menschen ohne Welt dar, das Modell des Ar­beitslosen, der von seinem Werk enteignet ist, und der an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Döblins Figuren gehören für Anders zu der Ka­tegorie der Weltlosen in einem «verstärkten Sinne». Das bedeutet, dass die «verrückte» Welt des Arbeiters ihnen absolut fremd ist. Sie sind in die menschliche Ausschussware der kapitalistischen Überflussgesellschaft ein­zuordnen[15].

Aus Anders’ Sicht stellt sich das Werk Berlin Alexanderplatz als ein Par­cours der Zerstörung heraus. Es ist der Roman des Weltverlustes, des Schwindels, ausgelöst durch die Dinge und Ereignisse, die den Menschen enteignen, die ihn zur großstädtischen Einsamkeit verdammen. Für den Protagonisten des Romans, den ehemaligen Sträfling Franz Biberkopf, ist der Ort der Weltlosigkeit nicht das Gefängnis (Tegel), sondern die Metro­pole Berlin der 1920er Jahre, oder auch die überfüllte Wüste des Berliner Alexanderplatzes. Wie man bei Anders liest, war «Tegel […] noch eine Welt»[16], während sich Biberkopf jetzt, gerade aus dem Gefängnis entlassen, in einer Nicht-Welt bewegt. Die Stadt Berlin anerkennt ihn nicht, antwortet ihm nicht, nimmt ihn nicht auf, sondern lässt ihn links liegen[17]. Mit anderen Worten ist für Anders der Antiheld Döblins nicht auf der Höhe der Welt und gleichzeitig in zu hohem Maße dennoch auf der Welt; er ist nicht auf der Welt, und geht auch nicht durch die Wüste, sondern die Wüste ist in ihn eingedrungen und hat ihn verwüstet. Biberkopf hat sich selbst überlebt und es ist ihm somit gelungen, das Gefängnis von Tegel zu verlassen, nicht aber in sein Leben zurückzukehren. Deshalb ist er dazu verdammt, entwur­zelt zu sein und sich dennoch nach Wurzeln zu sehnen. Um wieder auf der Welt zu sein, musste er in die Vergangenheit zurückkehren und von vorne anfangen, nämlich: bei seinem Leben vor dem Gefängnis. Jedoch bedeutet das Zurückblicken in die Welt von gestern für Biberkopf – wie für jeden Exilanten –, mit der Unmöglichkeit, nach Hause zurückzukehren, abzu­rechnen. Es ist nicht nur der Raum, der ihn abweist, sondern auch die Zeit: «Da seine Vergangenheit keine kontinuierliche Bahn darstellt, kann er sich nicht erinnern, kann er keine Bahn des Berichtes der Bahn des Lebens pa­rallel führen; was er de facto nicht hat formen können, kann er auch nach­träglich nicht formulieren»[18].

Hinter der Figur des Biberkopf gibt es nichts: der Mensch ist verlassen, ohne Erfahrung, seiner eigenen Existenz beraubt; und eben dies beobachtet Anders in Bezug auf Döblin: «Dieses Leben ist nichts als die dauernde Ge­legenheit, ihm zu zeigen, dass es nicht seines ist»[19]. Wie in einer Abfolge eskalierender Erdrutsche rutscht und stürzt auch Biberkopf von einer Zeit in die nächste und setzt sich in mehreren Zeiten gleichzeitig fest. Das Leben schreitet für ihn «als Subjektlosen» voran, in einer unpersönlichen Form, als «man», was dann das schreckliche Siegel der Existenz im 20. Jahrhundert ist.

In Einklang mit Benjamins Positionen[20] kritisiert auch Anders das Ende des Romans, das eine Art Erlösung für die Hauptfigur profiliert. Unter die­sem Gesichtspunkt wird nach Anders der Roman Berlin Alexanderplatz eine Variante der Definition der äußersten, schwindelnden, letzten, vorgescho­bensten Stufe des alten bürgerlichen Bildungsromans[21].

4. Drittes Bild: Rainer Maria Rilke oder «der obdachlose Mensch»

In denselben Horizont, aber mit stärkerer Vertiefung bezüglich dem Thema der existenziellen Entwurzelung, kann die Dichtung Rainer Maria Rilkes gestellt werden, dem Günther Anders (damals Stern) 1929 mit der damaligen Ehefrau Hannah Arendt eine interessante, 1930 in der «Neue Schweizer Rundschau» veröffentlichte Interpretation widmete[22].

Die Schlüsselworte, welche das Ehepaar Arendt-Stern in Rilkes Texten ausfindig machen, sind die Verzweiflung, die Verlassenheit, die Fremdheit Gottes gegenüber der menschlichen Welt oder sein Umgang nur durch Bo­ten, die Fremdheit des Menschen gegenüber seiner menschlichen Erde, der Welt, der Zeit. Und weiter, als Varianten: das sich zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht Befinden, die Unsicherheit der menschlichen Existenz und zuletzt, aber nicht als Letztes, die Tatsache, dass die Dinge den Menschen überleben. Gemeinsam mit Kafka kann der Dichter Rilke laut Anders als letzter Überlebender der «Welt von Gestern» betrachtet wer­den, als tragischer Zeuge ihres Verfalls. Seine ist eine Dichtung des inexis­tenten, verweigerten häuslichen Feuers, des Menschen ohne Zuhause, der weder Stützpunkte noch Bezugskoordinaten hat. Die letzten drei Gedichte der Duineser Elegien bestätigen für Arendt und Stern erneut die Weltlichkeit des Menschen und des menschlichen Auftrags. Bei Rilke werden die Men­schen Dinge oder namenlose Wesen und erreichen so ihr endgültiges Menschsein. Aber die Dinge haben mit dem Auftrag zu tun, da sie aufgrund ihrer Vergänglichkeit Rettung brauchen (Dinggedichte). Die Dinge retten heißt in diesem Sinne, sowohl für Anders als auch für Arendt, sie zu nen­nen, sie vor der Auflösung zu bewahren. Ausschlaggebend ist die Tatsache, dass – wie die beiden Philosophen betonen – sich die Dinge gegenüber dem Menschen eines existentiellen Vorteiles rühmen können, insofern sie dau­erhafter als der Mensch sind, ihn überleben: «als die Dinge für Rilke einen Existenzvorrang vor dem Menschen haben; sie sind relativ dauernder als der Mensch, der in seiner äußersten Flüchtigkeit der Welt eigentlich nicht mehr zugehört, der die Dinge “bestehen” in ihrem relativen Bestand, und der von ihnen nur geduldet ist»[23]. Dieser hat nämlich nicht nur aufgehört, das Zentrum des Universums zu sein, sondern ist extrem flüchtig gewor­den: er gehört nicht mehr zur Welt, sondern er sieht sich als von den Dingen gerade noch geduldet. Solche Verlassenheit ist auch an der Wurzel des We­sens, das sich zu einem Aufgehen und einem Untergehen herabgesetzt hat, da nirgendwo irgendein Verbleiben vorgesehen ist. Die Menschheit ist bei Rilke verdammt dazu, nach vorne und zurückzuschlenkern, ohne einen Ru­hepunkt zu finden. Das ewig verweigerte Zuhause wird für Rilke eine ne­gative, ontologische Wirklichkeit, und daher eine absolute Notwendigkeit. Dieselben Themen greift Anders in einer am 13. März 1943 in der «Vigo­vino Gallerie» in Brentwood (Kalifornien) gehaltenen Rede mit dem Titel Homeless Sculpture (Obdachlose Skulptur) wieder auf. In einem interessanten Abschnitt des Textes steht:

House and garden are forfeited. Rilke wants to rescue them; he wishes to reinstate them in their «due» place; to reinstate by cutting off their ties which connect them, as he puts it, with the «frightful spider web of the world» and which deprive them of their identity (Haus und Garten sind verloren. Rilke will sie wiedergewinnen; er möchte sie wiedereinsetzen an dem Platz, der ihnen «gebührt»; wiedereinsetzen, indem er die Fäden durchschneidet, die sie mit dem – wie er es aus­drückt – «fürchterlichen Spinnennetz der Welt» verknüpfen und ihrer Identität berauben).[24]

Die Dinge zu erlösen heißt für Anders, sie aus dem System unserer Be­dürfnisse herauszuziehen, sie von der Welt des Gebrauchs unabhängig zu machen, um sie im Reich des Schönen zu befreien. In demselben Kontext konzentriert Anders seine Aufmerksamkeit auf das Konzept der «Obdach­losigkeit» bei Rilke. Diese Kategorie der Unmöglichkeit, sich niederzulas­sen, die Rilke schon als göttliche Eigenschaft festgestellt hat, spielt für An­ders eine wichtige soziale Rolle. Aus diesem Grund bietet Rilke nun Anders eine Gelegenheit dazu, über den Verlust für die kleinbürgerliche Gesell­schaft der sozialen und politischen Bezugswelt nachzudenken, und folglich über die Entfremdung des Menschen von der Welt als geschichtlich-soziale Kategorie im Bezug auf den Prozess der der kapitalistischen Gesellschaft eigenen Verdinglichung. In Rilkes Interpretation der Skulptur von Rodin spielt dieses Thema eine überaus wichtige Rolle: Rodin hat mit seiner Home­less Sculpture die Situation des modernen Menschen und seinen verzweifelten Versuch, diesen Zustand zu überwinden, vorweggenommen[25].

5. Viertes Bild: Franz Kafka oder der «sinnlose Mensch»

Zeigte sich bei Döblin die Entfremdung als «Nicht-Dazu-Gehören» und wird mit Rilke das Motiv des «Nicht-zu-Hause-Seins» poetisiert, ver­stärkt sich dieses Problem bei Kafka zu einem metaphysischen Verbot, der menschliche Zustand gestaltet sich als ein «Nicht-Erlaubt-Sein» auf der Welt[26]. Im Rahmen der Konferenz von 1934 Theologie ohne Gott stellt Anders wie im Spiegel seine eigenen Emigrationsbedingungen den von Kafka be­schriebenen Situationen gegenüber: Fremdsein in der Welt. Kafkas Schloss-Motiv würde hierbei den Ort darstellen, von dem die europäischen Juden vertrieben wurden, die ohne jedes Dokument nichts mehr sind (sans-papier). Bei seiner ersten Lektüre der Werke Kafkas identifizierte sich der damalige Günther Stern, ein kurz zuvor in Paris gelandeter Emigrant und politischer Flüchtling, mit dem Anti-Helden des Schlosses. Wie dem Landvermesser K. gelingt es auch ihm trotz etlicher Versuche nicht, sich in die Welt einzu­gliedern, Teil des Ganzen zu sein, dafür zu sorgen, akzeptiert zu werden. Er bleibt ein Weltloser[27]. Und so ist «sein ganzes Leben eine dauernde Geburt, ein nicht endendes “Zur-Welt-kommen”»[28]. Die Existenz von Kafkas An­tihelden wird ein Warten vor der Tür des Lebens sein. Deshalb bleiben seine Geschichten stets unvollendet und alles auf dieser Welt offenbart sich wie Dinge der anderen Welt. Ebenso wie Learsi (die Hauptfigur von Anders’ Erzählung) sich bemüht, als Ausländer im Hotel «Zur Freiheit» in Topilien akzeptiert zu werden[29], so muss auch K. in Das Schloss feststellen, dass es unmöglich ist, wirklich dazuzugehören. Anders schreibt:

Wer zu «kommen» hat, ist wiederum er, der Fremdliche [sic]: denn er hat anzukommen, er dazuzukommen, Kafkas Hauptwerk «Das Schloss» ist Hauptzeugnis dieser These […]. Zahlreiche Kafkasche Fabeln und sein Roman «Amerika» beginnen mit Ankunftssituationen, die sich von der aufgeführten im Schloss grundsätzlich nicht unterschieden, und alle hören als vergebliche Ankunftsbemühungen auf.[30]

Bei Kafka ist die Verwüstung deshalb vollkommen, da seine Figuren selbst ihren Namen verloren haben, ihre eigene Identität, und folglich auf eine Initiale, K., reduziert sind. Sie haben ihren Ursprung und folglich ihre Bestimmung verloren, sie sind in der Vergessenheit versunken, sind in sol­chem Maße von ihr verschüttet, dass sie sogar das Vergessen vergessen ha­ben. Dieser K., der dazu verdammt ist, an allen Orten ein Fremder zu blei­ben, hat das Land, aus dem er stammt, vergessen, oder er deutet es, besser gesagt, als ein namenloses Anderswo an. Er ist «von hier», die Vergangen­heit «von dort». Wie es der Untertitel von Anders’ Werk Diesseits als Jenseits jedoch ausdrückt[31], ist das Jenseits für ihn zu dieser Welt geworden, weil das Diesseits zu einer transzendenten Realität geworden ist. Für Anders ist der Ursprung in Kafka ein Anderswo, da das Leben selbst ein Anderswo ist. Anders betont, dass die grundsätzliche Topographie Kafkas jene des Innen/Außen ist. Emblematisch in diesem Sinne ist die Randnotiz, die er der Erzählung Eine kaiserliche Botschaft (1917) hinzufügt, in der der Weg des Boten durch die Unmöglichkeit des Menschen, auf den Sinn, auf das eigene Zuhause zuzusteuern, charakterisiert wird[32]. Während in Brechts Theater­stück Leben des Galilei die Botschaft der Wissenschaft dazu bestimmt war, früher oder später einen Zuhörer zu erreichen, wenn auch über Umwege, kommt die Botschaft bei Döblin zwar an, jedoch ist der Inhalt verdorben (da die logisch-kausalen Zusammenhänge der Sprache weggefallen sind). In Anders’ Kafka-Interpretation ist die Hoffnung auf die geringste Kommu­nikation von Anbeginn unmöglich: Die Wahrheit kann nicht gefunden wer­den (man muss sie aber suchen)[33]. Die Botschaft des sterbenden Kaisers ist dazu verdammt, niemals anzukommen, sie ist dazu verurteilt, sich in den Mäandern des «Zwischenraums» zu verlieren, zwischen den zahlreichen Höfen, Gängen, Häusern, Türen. Tatsächlich existiert bei Kafka die Di­mension der Zeit nicht. Die Abwesenheit von Zeit bringt mit sich die Un­möglichkeit der Vorstellung (Bestimmung) von Begriffen, wie zum Beispiel Entwürfen und Hoffnungen: Die Zeit des Menschen bei Kafka ist für An­ders Zeit des Überlebens. Das Gleiche gilt für den Begriff des Raums bei Kafka: ein Zwischenreich, ein Niemandsland zwischen zwei Welten, an dem die Botschaft des Kaisers haftet. So bekräftigen die wiederholten Ver­suche des Landvermessers K. (der eigentlich den Raum vermessen sollte), in das Schloss einzudringen, das ewige Exil. Kafkas Welt entlarvt sich als ein negatives Gefängnis, wie man in Anders Kafka pro und contra lesen kann: «Denn Kafka fühlt sich nicht eingesperrt, sondern ausgesperrt. Er will nicht ausbrechen, sondern einbrechen – nämlich in die Welt»[34]. Die Welt und deren pars pro toto, das Schloss, ist das absolute, unermessliche und nicht steiger­bare Mächtige. Dies ist die Situation, in die er das moderne Individuum stellt, ein Dividuum, das sich mit der Unmöglichkeit, dazuzugehören, ausein­andersetzen muss, und folglich mit der Unmöglichkeit zu sein. Daher die verzweifelte Bitte desjenigen, der nicht ist (und folglich nicht dazugehört), von der Welt akzeptiert zu werden. Anders kommentiert in der Einleitung zu Kafka. Pro und contra (jetzt in Mensch ohne Welt): «Und schliesslich erkannte ich in den Lebensversuchungen K’.s natürlich die uns Juden vertraute Be­mühung, dazuzugehören und akzeptiert zu werden»[35].

In seiner Einleitung bekennt sich Anders nicht nur zu seiner Bewunde­rung für und seiner theoretischen Schuld gegenüber Kafka, sondern belegt ihn auch mit harter Kritik, die das im Untertitel seiner Studie enthaltene «contra» rechtfertigt. In Einklang mit den Positionen von Lukács polemi­siert Anders selbst gegen die Verinnerlichung des Scheiterns bei Kafka. In der Beharrlichkeit zu widerstehen, die typisch für Kafka ist, wird die Ver­zweiflung in Apologie des Verzichts auf die Welt umgewandelt. Die Ver­zweiflung, die Anders Kafka vorwirft, spielt in seiner Welt keine Rolle[36].

Anders lädt allenfalls dazu ein, Kafka im Negativen zu lesen und als Mahnung für die Zukunft anzusehen. So kann man auf der letzten Seite der Studie lesen: «Die von ihm durchgeführte Zeichnung der Welt, wie sie nicht sein sollte; der Attitüden, die unsre nicht sein dürfen – als Warnungstafeln in unseren Seelen aufgestellt, werden von Nutzen sein»[37].

Laut Anders hat es keinen Sinn, Kafka zu verbrennen, es ist hingegen notwendig, ihn «bis zum Tode verstehen» zu lernen. Dieses Motiv gliedert sich gänzlich in den Rahmen der Abwesenheit von Schönheit in Kafkas Werk ein[38]. Für Kafka versteinert die Schönheit, die eng mit der Macht ver­bunden ist, und vor allem ist die Schönheit nicht mehr von dieser Welt, in der man mit einer notwendigerweise deformierten Form zu tun hat[39]. Mit anderen Worten hegt Anders keine Zweifel über den ästhetischen Wert von Kafkas Werk, sondern eher über dessen moralische Überzeugungskraft[40].

Mit einer Art Prophezeiung betreffend das tragische Aufeinanderfolgen der geschichtlichen Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Kafka verstanden, dass innerhalb kurzer Zeit die Kunst das Reich des Schönen hätte verlassen müssen und sich der schrecklichen Welt des Schicksals, des menschlichen Leidens hätte zuwenden müssen. Sein Brief spielt auf diese Dynamiken des Schreckens an, verneint die Zeit als Hoff­nungsfaktor, aber – daher die Kritik von Anders – er wendet dieses Be­wusstsein nicht an. Wegen dieser übertriebenen Vorsicht verdammt Kafka seine Figuren dazu, in einer Zwischenreich-, einer Grenzzone zu verblei­ben, ausgeschlossen sowohl von der «Welt von Gestern» als auch von der «Welt von Heute».

Wenn also von Anders ein endgültiges Urteil über Kafka ausgespro­chen wird, kann es folgendermaßen zusammengefasst werden: Das Werk Kafkas muss als eine Botschaft an denjenigen angesehen wer­den, der sein Werk als künstlerisch zu perfekt abgeurteilt hat. Fast 50 Jahre danach hat die Mahnung, die aus Kafkas Werk spricht, ihre Empfänger erreicht, Flaschenpost, angetrieben vom Fluss der Ge­schichte, gestrandet auf der Dürre der Barbarei und endlich gelandet auf der «Welt ohne Menschen». Doch hier befinden wir uns bereits in einem anderen Szenario, dem der Landschaft ohne Figuren (vgl. Sa­muel Beckett, und vielleicht heutzutage auch Mc Carthy mit The Road, Die Strasse, 2006). Aber dieses Szenario der «Welt ohne Menschen» entlarvt sich auch als Szenario der «Welt ohne Kunst», d.h. eine Welt, in der die Kunst keine Rolle mehr spielt.[41]



[1] Vgl. Ludger Lütkehaus, «Antiquiertheit des Menschen. Antiquiertheit der Kunst?», in Profile, 7, 11 (2004), 242-261, hier 244, und Bernhard Fetz, «Attacke von zwei Seiten. Über Dichten und Philosophieren bei Günther Anders», ebd., 242-261. Auf Italienisch vgl. Pier Paolo Portinaro, Il principio disperazione. Tre studi su Günther Anders, Torino 2003, und meine Studie: «Il mondo dell’altro ieri. Le «Note per la letteratura» di Günther Anders», in Micaela Latini und Aldo Meccariello (Hrsg.), L’uomo e la (sua) fine. Studi su Günther Stern-Anders, Trieste 2014, 183-200.

[2] ÖLA (Österreichisches Literaturarchiv), 237/04.

[3] Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, «Anders. Mensch ohne Welt», in Literatur und Kri­tik, 201-202 (1986), 371, und Ders., «Günther Anders’ «Mariechen» oder: Wie man auf dem Kissen philosophiert» [Vortrag beim Anders-Symposium im Februar 1992 am Öster­reich-Institut in Paris], in Forum, 487-492 (1994), 30-34. Vgl. auch: Walter Delabar, «Fa­bula docet. Zu den erzählenden Texten von Günther Anders und zum Roman «Die mol­lusische Katakombe»», in Zeitschrift für Germanistik, 2 (1992), 300-319.

[4] Günther Anders, «Gespräche und Erinnerungen» in Ders., Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur, Nachdr. der 2. Aufl., München 1993, 135-153.

[5] Vgl. auch B. Fetz, «Prophet, Regisseur und Stimmenimitator. Der Tagebuchsschrei­ber Günther Anders», in Austriaca, 35 (1992), 64-77, hier 66-68 und Ders., «Writing Poetry Today: Günther Anders between Literature and Philosophy», in Günter Bischof, Jason Dawsey, B. Fetz, The Life and Work of Günther Anders, Innsbruck, Wien, Bozen 2014, 119-130.

[6] Vgl. Marco Castellari, «Theaterarbeit als Experiment: Bertolt Brecht», in Raul Calzoni und Massimo Salgaro (Hrsg.), Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment, Göttingen 2010, 145-158.

[7] G. Anders, «Gespräche», a.a.O., 138.

[8] Ebd., 137.

[9] Ebd., 158.

[10] Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, II, Nachdr. der 2. Aufl., München 1980, 9.

[11] Vgl. Burghart Schmidt, «Anders versus Bloch», in Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Günther Anders kontrovers, München 1992, 49-56.

[12] Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit, a.a.O., 9.

[13] Wie bekannt, hat Anders (damals Stern) 1935 auch den Text Der letzte Roman. Ge­brauchsanweisung für Döblins Buch «Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall» ge­schrieben.

[14] Ders., «Der verwüstete Mensch. Über Welt- und Sprachlosigkeit in Döblins Berlin Alexanderplatz», in Frank Benseler (Hrsg.), Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukacs, Berlin 1965, 420-442.

[15] Christian Dries, Günther Anders, Paderborn 2009, 55.

[16] G. Anders, «Der verwüstete Mensch. Über Welt- und Sprachlosigkeit in Döblins «Berlin Alexanderplatz»», in Ders., Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur, a.a.O., 3-30, hier 7.

[17] Vgl. W. Schmidt-Dengler, «Der verwüstete Mensch. Zu Günther Anders’ Essay über Döblins Roman «Berlin Alexanderplatz»», in Raimund Bahr (Hrsg.), Urlaub von Nichts. Dokumentation des gleichnamigen Symposiums zum 100. Geburtstag von Günther An­ders im Juni 2002 in Wien, Wien 2003, 122-132, hier 127; und Andreas Oberprantacher, «The Desertification of the World: Günther Anders on «Weltlosigkeit»», in G. Bischof, J. Dawsey, B. Fetz (Hrsg.), The Life and Work of Günther Anders, a.a.O., 93-103.

[18] G. Anders, «Der verwüstete Mensch», a.a.O., 13. Man kann hier viele Ähnlichkeiten mit dem autobiographischen Text Vita 1945 erkennen (in Ders., Die Dichter und das Den­ken, a.a.O., 231-236).

[19] G. Anders, «Der verwüstete Mensch», a.a.O., 13.

[20] Vgl. Walter Benjamin, «Krisis des Romans. Zu Döblins «Berlin Alexanderplatz»» in Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1982, Bd. III, 230-236.

[21] Vgl. Simonetta Sanna, Die Quadratur des Kreises. Stadt und Wahnsinn in «Berlin Alexanderplatz» von Alfred Döblin, Frankfurt a.M. 2000, 29, und Roland Links, Alfred Döblin, Berlin 1980, 113-138.

[22] Hannah Arendt, Günther Stern, «Rilkes Duineser Elegien», in Neue Schweizer Rundschau, Wissen und Leben, 23 (1930), 855-871. Wiederabgedruckt in Ulrich Fülleborn und Manfred Engel (Hrsg.), Materialien zu Rilkes «Duineser Elegien», Bd. 2, Frankfurt a.M. 1982, 45-65. Vgl. Gerald Stieg, «Günther Anders als Deuter der Duineser Elegien. Eine Miszelle», in Austriaca 35 (1992), 159-163.

[23] H. Arendt, Günther Stern, «Rilkes Duineser Elegien», a.a.O., 51.

[24] Günther Stern (Anders), «Homeless Sculpture», in Philosophy and Phenomenologi­cal Research, 5, 2, 293-307, hier 294. Deutsche Übers. von Werner Reimann in Ders., Ob­dachlose Skulptur. Über Rodin, München 1994, 11.

[25] Anders hat Rilkes Cornet (Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, 1899) einige interessante Bemerkungen gewidmet, die nicht veröffentlicht wurden, und die mit dem Titel «Rilke Material 1947 – Zur Poetik» im Günther-Anders-Archiv vorhanden sind. Im Mittelpunkt dieses Texts stehen das Motiv der Dike sowie das Thema der «Ästhetik des Tötens». Vgl. ÖLA, 237/W36, 32 und 38.

[26] W. Schmidt-Dengler: «Ein Modell der Kafka-Rezeption: Günther Anders», in Ders. (Unter Mitw. von Georg Kranner, Hrsg.), Was bleibt von Kafka? Positionsbestimmung. Kafka-Symposium, Wien 1983-1985, 185-197.

[27] Vgl. Monika Tokarzewska, «Johannes Urzidil, Günther Anders und Gustaw Herling-Grudzinski», in Steffen Höhne, Klaus Johann und Mirek Nemek (Hrsg.), Johannes Urzidil (1896-1970). Ein «hinternationaler» Schriftsteller zwischen Böhmen und New York, Köln, Weimar, Wien 2011, 395-414.

[28] G. Anders, «Kafka. Pro und Contra», in Ders., Mensch ohne Welt, a.a.O., 45-131, hier 57.

[29] G. Anders, «Learsi», in Ders., Erzählungen, Frankfurt a.M. 1978, 96-189.

[30] G. Anders, «Kafka. Pro und Contra», a.a.O., 57.

[31] Ebd., 47-72.

[32] Anders betont, wie sowohl Brecht als auch Kafka auf unterschiedlichen Wegen be­schlossen, eine nichtdichterische Sprache zu schaffen, die Alltagssprache von den falschen Flittern zu säubern, von denen sie übersät ist. Zu diesem Zweck wählte Kafka einen büro­kratischen, Brecht einen zynischen Ton (Vgl. G. Anders, Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung, Göttingen 1992, 15-16).

[33] Vgl. Johann Holzner, «Bemerkungen zu Kafka und Günther Anders», in Herbert Alt, Manfred Diersch, Sein und Schein – Traum und Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1994, 28-39.

[34] G. Anders, Kafka, Pro und contra, a.a.O., 70.

[35] G. Anders, Mensch ohne Welt, a.a.O., Einleitung, XXXII.

[36] Daher die Kritik, die Max Brod an Anders übt (vgl. M. Brod, Über Kafka, Frankfurt a.M. 1989, 375-387).

[37] Ebd., 122, sowie auch G. Anders, Kafka. Pro und contra, a.a.O., 101.

[38] Wie Anders in seiner Rezension mit dem Titel «Der «Tod des Vergil» und die Diag­nose seiner Krankheit» (1965) betont, wollte der lateinische Dichter in Brochs Roman die Äneis nicht verbrennen, weil sie zu unvollkommen war, sondern im Gegenteil, weil sie zu schön war.

[39] G. Anders, Kafka, a.a.O., 93. Vgl. dazu B. Fetz, Das unmögliche Ganze. Zur litera­rischen Kritik der Kultur, München 2009, 23-31, hier 25.

[40] Stephen D. Dowde, Kafka’s Castle and the Critical Imagination, Columbia 1995, insb. «Kafka in the Weimar Era», 18.

[41] Das Theater Becketts hat Anders in einem ausführlichen Buchteil mit dem Titel «Sein ohne Zeit» behandelt (G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., 213-231).