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Studia austriaca XXV

 

Christoph Ransmayr • Arthur Schnitzler • Peter Handke
Elisabeth von Österreich • Günther Anders
Fritz von Herzmanovksy-Orlando • Joseph Roth
Rudolf Brunngraber • Robert Neumann • Andreas Thom
Gustav von Festenberg

 

 

 

 

 

Editor-in-chief: Fausto Cercignani

Co-Editor: Marco Castellari

Editorial Board

Achim Aurnhammer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Alberto Destro (Università degli Studi di Bologna)
Konstanze Fliedl (Universität Wien)
Hubert Lengauer (Universität Klagenfurt)
David S. Luft (Oregon State University)
Patrizia C. McBride (Cornell University)
Marie-Thérèse Mourey (Université Paris-Sorbonne)
Marisa Siguan (Universitat de Barcelona)
Ronald Speirs (University of Birmingham)

 

 

 

 

 

 

 

 


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Studia austriaca
An international journal devoted to the study
of Austrian culture and literature
Published annually in the spring
Hosted by Università degli Studi di Milano under OJS
ISSN 2385-2925

Vol. XXV

Year 2017

Editor-in-chief: Fausto Cercignani

Co-Editor: Marco Castellari

Editorial Board:

Achim Aurnhammer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Alberto Destro (Università degli Studi di Bologna)
Konstanze Fliedl (Universität Wien)
Hubert Lengauer (Universität Klagenfurt)
David S. Luft (Oregon State University)
Patrizia C. McBride (Cornell University)
Marie-Thérèse Mourey (Université Paris-Sorbonne)
Marisa Siguan (Universitat de Barcelona)
Ronald Speirs (University of Birmingham)

 

Founded in 1992

Published in print between 1992 and 2011 (vols. I-XIX)

On line since 2012 under http://riviste.unimi.it

Online volumes are licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Unported License.

 

 

 

 

 

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Studia austriaca
Vol. XXV – Year 2017

Table of Contents

Gabriele Eichmanns Maier – Leerstellen, weiße Flecken und blassrote Zeichen im Schnee. Von Sinnverlust und Sinnfindung im mythischen Land der Kham-Nomaden in Christoph Ransmayrs Roman «Der fliegende Berg»

[Blank Spots, White Flecks and Pale Red Signs in the Snow. Of Meaning Lost and Found in the Mythical Land of the Kham Nomads in Christoph Ransmayr’s Novel «The Flying Mountain»]

Cristina Fossaluzza – Snobismus als geistige Macht. Arthur Schnitzlers Zeitkritik und die Debatte um den “Kulturkrieg”

[Snobbery as Intellectual Power. Arthur Schnitzler’s Critique of his Time and the Cultural Debates about World War I]

Gernot Waldner Wie man’s nimmt. Zum Zusammenhang von Rassentheorien und Humor in den Schriften von Fritz von Herzmanovksy-Orlando

[How you look at it. The relations between grotesque humour and racial theories in the writings of Fritz von Herzmanovsky-Orlando]

Sabine ZelgerHabsburgs Despotie und die Hochkultur des Asservie­rens. Zum Aufheben und Liegenlassen österreichischer Bürokratie­literatur

[Habsburg Despotism and the High Culture of “Asservieren”. On Preserving and Shelving Austrian Bureaucratic Literature]

Clemens GötzeTitania und ihr Meister. Epigonale Inszenierung und Habsburgischer Mythos in Elisabeth von Österreichs Lyrik

[Titania and her Master. Epigonous Self-Presentation and Habsburg Myth in the Poetry of Elisabeth of Austria]

Micaela LatiniDie letzten Bilder der Menschheit. Günther Anders und die deutschsprachige Literatur

[The Last Pictures of Mankind. Günther Anders and the German-language Literatures]

Vanessa Hannesschläger u. Wolfgang Ulrich DresslerPoetische Brücken über sprachliche Lücken. Kompositabildung und Gapping in Peter Handkes «Bildverlust» und «Kali» analysiert mit corpuslinguistischen Methoden

[Poetic Bridges over Language Gaps. Compound Creation and Gapping in Peter Handke’s «Crossing the Sierra de Gredos» and «Kali» Analyzed with Corpus Linguistics Methods]

Call for Papers

 

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Gabriele Eichmanns Maier

(Pittsburgh)

Leerstellen, weiße Flecken und blassrote Zeichen im Schnee
Von Sinnverlust und Sinnfindung im mythischen Land der
Kham-Nomaden in Christoph Ransmayrs Roman «Der fliegende Berg»

[Blank Spots, White Flecks and Pale Red Signs in the Snow. Of Meaning Lost and Found in the Mythical Land of the Kham Nomads in Christoph Ransmayr’s Novel «The Flying Mountain»]

abstract. In his novel Der fliegende Berg, Christoph Ransmayr plays with seemingly contradictory myths that surround the Himalayan mountain Phur-Ri, a mountain that is not marked on any maps and symbolizes a void, a figment of the imagination that serves as a foil for unfulfilled longings and desires. Using Roland Barthes and Mircea Eliade as its theoretical framework, this article analyzes the function of myths in Ransmayr’s novel and explores whether his use of myth can fill the void with meaning – or whether the void remains a vacuum that repells rather than allows for any form of signification.

Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg handelt, wie so viele Werke des Autors, von dem Reisen in weit entfernte Gebiete, von dem Er­kunden einer der vermeintlich letzten weißen Flecken der Erde. Ransmayr erzählt von dem Aufbruch der irischen Brüder Liam und Padraic zu einem Berg mit Namen Phur-Ri im osttibetischen Himalaya, dessen Existenz nur durch eine Schwarzweißfotographie belegt ist – auf Landkarten ist er nicht verzeichnet. Ausgerüstet mit den neuesten Errungenschaften der Technik, die es den Brüdern ermöglichen, in unbekannte Regionen vorzudringen und diese bis in die höchsten Höhen zu durchwandern, begeben sich Liam und Pad auf eine Expedition, die sich dezidiert von klassischen Reisen unter­scheidet. Denn es gilt eine Örtlichkeit zu erforschen, die sich durch ihre mutmaßliche Nicht-Existenz auszeichnet, durch eine Leerstelle, die dem Bereich des Mythischen zuzurechnen ist und stellvertretend für Wünsche und Sehnsüchte der Brüder steht, die durch das Erklimmen des Berges er­füllt werden sollen. Der Berg Phur-Ri stellt somit den letzten weißen Fleck der bekannten Welt dar, in den sich die Brüder als erste Europäer einzu­schreiben und ihn sich so zu unterwerfen gedenken.

Es sind die Mittel der modernsten Technik, sei es ein wetterfestes Kup­pelzelt, Thermo-Schlafsack, Höhenmesser und Eispickel, die den Brüdern das Überleben in Eis und Schnee ermöglichen; weiterhin verhelfen neueste Computerprogramme sowie ein durch das Internet erschaffenes, ausgefeil­tes Kommunikationsnetzwerk den Brüdern zu einem Eintritt in das nach außen hermetisch abgeschlossene Land Kham. Dass der Glaube an Tech­nik und die daraus resultierende Unbesiegbarkeit des Menschen jedoch nichts weiter als eine Illusion sind, stellt der Roman deutlich heraus. Es lässt sich im Laufe der Reise beobachten, wie der für die Brüder tief im Rationa­len verankerte Fortschrittsglaube immer mehr in den Hintergrund gerät, sich mit der mythischen Vorstellungswelt der Kham Nomaden vermischt und durch diese teilweise überlagert wird. Der Mythos der Aufklärung, wie ihn schon Theodor Adorno kritisierte, tritt hinter der archaischen Lebens­philosophie der Bergnomaden zurück, der Ransmayr weitaus mehr Wahr­haftigkeit zuzuschreiben scheint als den dem Fortschritt verfallenen und somit korrumpierten Zivilisationsmenschen.

Ransmayr spielt in seinem Roman mit scheinbar unverrückbaren Grundsätzen der vernunftgesteuerten Welt, die jedoch bei näherem Be­trachten der Kategorie moderner Mythen zuzurechnen sind, wie sie Mircea Eliade in seinem Werk Le sacré et le profane (1965) herausarbeitet und in Ver­bindung mit einer archaischen Vorstellungswelt setzt. Dieser Artikel möchte Ransmayrs Spiel mit Mythen näher beleuchten und deren Funktion im Roman analysieren. Dabei soll mit Hilfe von Eliades religionswissen­schaftlichen Mythenstudien, aber auch unter Bezugnahme auf Roland Barthes Mythologies (1957) und L’Empire des signes (1965) geklärt werden, ob die genannten Leerstellen durch die jeweiligen Mythen im Laufe des Ro­mans gefüllt werden können oder ob diese in ihrer Leere verbleiben. Sind die vorhandenen Mythen sinnstiftend oder müssen sie vielmehr als eine reine Verkettung von Zeichen angesehen werden, die sich letztendlich im Nichts verlieren, wodurch der Wunsch nach dem erfolgreichen Füllen der Leerstellen selbst zum Mythos gerät?

Der fliegende Berg oder Phur-Ri, wie ihn die Nomaden nennen, ist keine gewöhnliche Naturerscheinung; vielmehr muss er zunächst als vermeintli­ches Fantasieprodukt angesehen werden, da seine Existenz als fraglich gilt. Den einzigen Anhaltspunkt seiner mutmaßlichen Existenz bildet eine «Schwarzweißfotographie / aus dem vergangenen Jahrhundert» (DFB 38)[1], die einen unbekannten Berggipfel des Transhimalayas zeigt. Geschossen von einem chinesischen Bomberpiloten wird besagter Gipfel von diesem auf eine Höhe von neuntausend Meter und somit den Mount Everest über­steigend geschätzt und als «höchste Säule / der revolutionären Welt» (DFB 39) bezeichnet. Über hundert Jahre später dient diese Fotographie Liam als Projektionsfläche für seine persönlichen Sehnsüchte und Wünsche, obwohl Liam selbstverständlich «wußte ..., / dass sich Bildlegenden wie jene, / die zu der eisig strahlenden Fotografie / auf einem Schirm gehörten, / immer wieder als Irrtum, Fehlmessung, Scherz / oder bloße Lüge erwiesen hatten» (DFB 41). Sein Entschluss, den fliegenden Berg zu besteigen und dadurch für sich zu erobern, ist gefasst, wovon ihn auch das Fehlen jeglicher wis­senschaftlicher Daten nicht abhalten kann. Der ominöse Charakter des Ber­ges wird bereits zu diesem Zeitpunkt von Erzähler Pad klar herausgestri­chen, wenn er bemerkt, dass Liam ein ähnliches Schicksal wie jenes des chinesischen Piloten ereilen wird: Wie der Pilot samt Flugzeug der Unbarm­herzigkeit eines gewaltigen Schneesturmes erliegt, wird auch Liam Opfer der widrigen Wetterverhältnisse und verschwindet unauffindbar in den Eis­massen des Transhimalayas: «Keine Spuren. Keine Reste» (DFB 40)[2].

Die vollkommene Abwesenheit von Informationen und Daten den flie­genden Berg betreffend muss als Voraussetzung für die Faszination insbe­sondere von Liam gesehen werden. Neben seiner Eigenschaft als womög­lich höchster Berg der Welt symbolisiert Phur-Ri den sprichwörtlich letzten weißen Fleck auf der Landkarte, der, an keinem Ort verzeichnet, als unbe­schriebenes Blatt auf die Einschreibung der beiden Brüder oder – noch zu­gespitzter ausgedrückt – auf seine erstmalige Wirklichkeitswerdung wartet. Wie schon Josef Mazzini in Ransmayrs früherem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (2001) aufbricht, um die Wirklichkeit der eigenen Fan­tasie anzupassen[3] und folglich «die erzählte Geschichte die Fakten macht und nicht, wie ehedem angenommen, die Fakten die Geschichte erzählen»[4] (Kunne 312), begeben sich auch Liam und Pad auf eine Expedition mit der Absicht, einen nicht verzeichneten Berg in die Welt zu bringen und damit eine Leerstelle zu füllen, die nur für die Brüder als solche wahrgenommen wird. Die Leerstelle des Berges bildet das mythische Zentrum der Erzäh­lung, um das der Roman kreist, und das Liam, der Analogie eines schwarzen Loches[5] folgend, letztendlich unbarmherzig zerstört.

Wie Roland Barthes in seinem Werk Mythologies ausführt, handelt es sich bei einem Mythos um «un système sémiologique second» (187), das auf der The­orie von Ferdinand de Saussure basiert. Ausgehend von de Saussures Di­chotomie des Signifikanten und des Signifikaten, welche untrennbar mitei­nander verbunden sind und zusammen das bedeutungstragende Zeichen formen, sieht Barthes in dem entstandenen Zeichen einen erneuten Signifi­kanten, der letztendlich zu einem weiteren Zeichen führt, das den eigentli­chen Mythos bezeichnet: «Le troisième terme est la corrélation des deux premiers: dans le système de la langue, c’est le signe; mais il n’est pas possible de reprendre ce mot sans ambiguïté, puisque, dans le mythe (et c’est là sa particularité principale), le signifiant est déjà formé des signes de la langue. J’appellerai le troisième terme du mythe, la signification» (189). Auf den Berg Phu-Ri übertragen gerät das Zeichen Berg auf der denotativen Ebene zum Bezeichnenden auf sekundärer Ebene, so dass wir es mit einem grundle­genden Bedeutungswandel des Berges zu tun haben, der nun nicht mehr in seiner Eigenschaft als Berg verbleibt, sondern losgelöst von seiner geogra­fischen Lage zum Wendepunkt der brüderlichen Geschichte wird.

Der Berg Phur-Ri ist nicht nur in seiner geografischen Verortung prob­lematisch; auch eine veränderte Wahrnehmung des Zeitflusses lässt sich während der Reise der Brüder konstatieren. Der Weg in die Ferne, in die Höhen des Himalayas, führt direkt in die Vergangenheit, zurück in die Hei­mat Irlands und letztendlich zu den Ursprüngen des eigenen Selbst, «tiefer in unsere eigene Geschichte» (DFB 44): «Waren denn nicht alle unsere Wege / und von allem Anfang an Rückwege gewesen?: / zurück aus der Dünung auf festes Land; / aus den Funkenschwärmen und dem Gesumme / der Programmindustrie in den Wind von Horse Island» (DFB 88). Rück­wege sind es folglich, die die Reise auszeichnen und die in der narrativen Struktur des Textes durch das wiederholte Einbrechen von Kindheitserin­nerungen deutlich hervortreten. Der Leser erfährt von der gescheiterten Ehe der Eltern, dem dramatischen Wegzug der Mutter, dem komplizierten Verhältnis der Brüder zu ihrem Vater und den vielen gemeinsamen Wan­derungen in den irischen Cahas Mountains. Die Erinnerung ist stets prä­sent, wird zum festen Bestandteil der unternommenen Reise, wobei Ver­gangenes und Gegenwärtiges mitunter überlappen und zur Erschaffung von immer neuen Varianten des Erlebten beitragen. Es hat den Anschein, als ob der Erzähler den Fluss der Zeit zu unterbrechen, aus diesem heraus­zutreten und sich damit in eine zyklische Zeitstruktur einzuschreiben ver­sucht, die dem linearen, vorwärts gerichteten Zeitfluss diametral gegenüber­steht.

Mircea Eliade unterscheidet in seinen zahlreichen Studien der Religions­wissenschaft immer wieder zwischen zwei entgegengesetzten Zeitwahrneh­mungen: der heiligen und der profanen Zeit. Die profane Zeit zeichne sich durch ihre vorwärts gerichtete Linearität aus, die speziell unser modernes Leben charakterisiere und immer Neues und Unvorhersehbares mit sich bringe. Auch historische Zeit genannt, so bewege sich die Zeit unerbittlich einer ungewissen Zukunft entgegen, wobei eine Rückkehr zu den Mythen unserer Vorfahren unerwünscht oder gar unmöglich sei. Im Gegensatz zur profanen Zeit sei die heilige Zeit durch ihren zyklischen Charakter gekenn­zeichnet, die das Leben als einen statischen Kreislauf begreife: «indéfini­ment récupérable, indéfiniment répétable. D’un certain point de vue, on pourrait dire de lui qu’il ne “coule” pas, qu’il ne constitue pas une “durée” irréversible. ... il ne change ni ne s’épuise» (SP 63-64)[6]. Für «des sociétés archaïques» (MER 11)[7] wiederholten sich die Dinge «à l’infini, et, en réalité, il ne se passe rien de neuf sous le soleil» (MER 134) wie Eliade in Le mythe de l’éternel retour weiter ausführt. «Mais cette répétition a un sens ... elle seule con­fère une réalité aux événements» (MER 134-35). So würden denn nicht nur sämtliche religiöse Rituale und Festivals in heiliger Zeit ausgeübt, um so zu einer «abolition du temps» (MER 100) zu gelangen, sondern auch jede all­tägliche Handlung wie das Fischen und der Landbau habe an dem Heiligen seinen Anteil, denn jede Handlung, die von Bedeutung sei, müsse als Ritual angesehen werden.

Auf der Ebene des Romans kann die von den Brüdern unternommene Reise als ein Zurücklassen der historischen Zeit und ein Eintreten in den zyklischen Zeitlauf gesehen werden, der die Brüder den eigenen sowie den zeitlich weit entfernt liegenden mythischen Ursprüngen aussetzt. Verdeut­lich wird dies einmal durch die Konfrontation mit der veränderten Weltan­schauung der Nomaden, auf welche in Kürze noch näher eingegangen wer­den soll, aber auch durch das Überlappen von Gegenwart und Vergangen­heit, die plötzlich zu einer Entität zu verschmelzen scheinen: «Wir sahen die Schattenrisse des Transhimalaya / als die Scherenschnitte vertrauter Bergketten, / erinnerten uns an den Tarnfarben tragenden Vater / und ki­cherten wieder über ihn / wie in Zeltnächten, in denen wir Kinder gewesen waren, / Soldaten eines Schläfers, unbesiegbar, unsterblich» (DFB 115). Die Gegenwart scheint untrennbar mit der Vergangenheit verbunden; verschie­dene Zeitebenen überlagern sich, bilden eine zyklische Struktur, die immer wieder erneut vergessen geglaubte Kindheitserinnerungen zu Tage fördert. Sich zu erinnern gerät zu einem mythischen Ritual, das dem Fluss der Zeit Einhalt gebietet und das vergessen Geglaubte in einer Endlosschleife wie­der und wieder hervorbringt.

Durch die Veränderung der Zeitwahrnehmung erfährt auch die geogra­phische Verortung einen Wandel. Nicht nur verschiedene Zeiten, sondern ebenfalls Örtlichkeiten nähern sich einander an und werden deckungs­gleich: So wie «[g]leich neben den überwächteten Graten / des Landes Kham ... die Berge Irlands [lagen]» (DFB 68), so «lag wohl der Fuß des fliegenden Berges / nicht in Tibet, nicht im Land der Khampas, / sondern am Meer, / dort, wo die schwarzen Felswände Horse Islands / von drei­hundertfünzig Millionen Jahren / aus der Brandung gestiegen waren» (DFB 44). Die Fremde ist nur Projektionsfläche für das Eigene, das immer wieder seinen Weg in das Land Kham findet und sich mit diesem vermischt.

Auch dem fliegenden Berg, der sich nun als erfahrbare Naturgegeben­heit den Brüdern in seinen gigantischen Ausmaßen präsentiert, haftet wei­terhin eine der Rationalität enthobene, mythische Komponente an. «Wo sonst als am Ende von Rückwegen / sollte sich denn entscheiden, ob uns ein Aufbruch ins Leben, ins Glück geführt hatte / oder ins Verschwinden, in unseren Tod?» (DFB 88) fragt Erzähler Pad und macht deutlich, dass es sich bei der brüderlichen Expedition um weitaus mehr als nur um die «Til­gung einer Leerstelle auf [Liams] Karten» (DFB 90) handelt. Das Füllen eines geografisch nicht verortbaren weißen Flecken stellt sich auf sekundä­rer Ebene der Barthschen Mythentheorie als alles entscheidender Wende­punkt im Leben der Brüder heraus, der über Gedeih oder Verderb entschei­det. Die erfolgreiche Gipfelerklimmung gerät zur Voraussetzung für eine Rückkehr in die irische Heimat, der, wie angedeutet durch den obigen Aus­spruch, gleichzeitig auch die Möglichkeit eines positiv konnotierten Neube­ginns innewohnt.

Das Besteigen des Berges erweist sich als problematisches Unterfangen, da es mit der archaischen Vorstellungswelt der nomadischen Bevölkerung kollidiert. Für die Nomaden sind Berge Manifestationen des Göttlichen, Symbole der zyklischen Zeitstruktur[8], die, um mit Eliades Worten zu spre­chen, als «Axis mundi ... la Terre au Ciel» (SP 39) verbinden und dadurch das «Centre du Monde» (SP 39) markieren. Eine Gipfelerklimmung wird als an­maßende Herausforderung der dort residierenden Göttern gesehen, als eine Verletzung der vorherrschenden kosmischen Ordnung, «denn der Taumel höher und höher / und über diese grellweißen, verbotenen Höhen hinaus / führte einen, der selber kein Gott war, / bloß in die Schwärze, in die Leere, / hinaus in die Nacht» (DFB 128). Daher könne, den Nomaden zu­folge, nicht mit einem gelungenen Füllen besagter Leerstelle gerechnet wer­den. Wahrscheinlicher sei ein unglücklicher Ausgang der Unternehmung, nämlich das eigene Verschwinden in besagter Leere, eine Auslöschung der eigenen Person. Die Möglichkeit einer erfolgreichen Einnahme des Zent­rums wird in Zweifel gezogen und damit auch der von Pad erhoffte «Auf­bruch ins Leben» in den Bereich des Fraglichen gerückt.

Den düsteren Prognosen der Nomaden treten die Brüder, und speziell Liam, mit ihren ganz eigenen Mitteln entgegen: mit dem Glauben an mo­dernste Technik. Höhenmesser und Thermoschlafsäcke, Computerpro­gramme und Hochgeschwindigkeitstransmissionen spielen in Der fliegende Berg eine wichtige Rolle und ziehen sich wie ein roter Faden durch den Ro­man. Wie Erzähler Pad herausstellt, ermöglicht Technik es dem Menschen, sich über seine begrenzten Fähigkeiten hinwegzusetzen und dem eigenen Dasein einen gottgleichen Status zu verleihen. So sieht sich Liam als Herr­scher über die Natur, wenn er auf seinem Rechner Landschaften auferste­hen und untergehen lassen und sich so über alle Grenzen hinwegsetzen kann:

Allein in seinen virtuellen Animationen / genoß mein Bruder die Un­begrenztheit von Herrschaft – / wenn er etwa Höhenschichtlinien und / Schwärmen von Gipfelvermessungspunkten befahl, / sich aus der Zweidimensionalität / zu schattenwerfenden Gebirgen oder um-brandeten Kontinentalsockeln zu erheben; wenn er Ozeane aus ihren tiefsten Becken abfluten ließ, / und die trockenfallenden Gräben / und Schichten des Grundes in den Farben / einer prähistorischen Verwerfung sichtbar zu machen. / Selbst die Zukunft der höchsten Gebirgsketten / konnte er als in Äonen abrollende Wellen zeigen. (DFB 81)

Liam agiert als Schöpfer der Welt, der hervorbringen und zerstören kann, wie es ihm beliebt. Liam basiert seine Expeditionsvorbereitungen auf Vernunft, auf das Rationale, einem wesentlichen Merkmal der profanen Zeit, in der kein Raum für das Überirdische besteht. «Modern secularization has to be seen from one angle as the rejection of higher times and the posi­ting of time as purely profane» (98) konstatiert Charles Taylor in Modern Social Imaginaries (2004) und stellt weiterhin klar heraus: «There is, of course, a close connection between disenchantment and the confining of all action to profane time. The same factors that eventually dispel and empty the world of spirits and forces – worshipful living of ordinary life, mechanistic science, the disciplined reconstruction of social life – also confine us more and more to secular time. They empty and marginalize higher time» (186). Mit dem Prozess des «disenchantment» trete auch der Glaube an Vernunft und Rationalität immer stärker in den Vordergrund, welcher primär zur Er­klärung weltlicher Geschehnisse diene. Die Gesellschaft werde nun durch rationale Entscheidungen gelenkt; laut Taylor würden «rational views ... that should guide government» (89) gefördert und die Wissenschaft verhelfe dem Menschen zu mehr und mehr Macht über die bisher unberechenbare Natur.

Eine Schwerpunktsetzung auf Vernunft und Rationalität sei dennoch keineswegs ein Zeichen dafür, dass der moderne Mensch dem Mythos ganz und gar entkommen sei. Auch die moderne Welt «conserve» laut Eliade «encore un certain comportement mythique» (MRM 18)[9]. «Car, au niveau de l’expérience individuelle, le mythe n’a jamais complètement disparu: il se fait sentir dans les rêves, les fantaisies et les nostalgies de l’homme modern» (MRM 23) sowie in Form von «le spectacle» (MRM 32), worunter Compu­ter und Internet zu subsumieren wären. Mit seinen Computerprogrammen tritt Liam ein in eine Welt, die ihm zunächst Macht sowohl über die Natur verleiht als auch über die Erfüllung der eigenen Wünsche und Sehnsüchte. Ein Versagen der Kham-Expedition scheint somit ausgeschlossen.

Wie bereits in früheren Romanen Ransmayrs findet auch in Der fliegende Berg ein explizites Hinterfragen von Technik und Fortschrittsglauben statt. «Tibet war trotz Hunderter im Orbit kreisender Augen / und Ohren, Ka­meralinsen, Signalsender, Satelliten / so stumm und geheimnisvoll / wie in einer längst begrabenen Zeit» (DFB 78/79) bemerkt Erzähler Pad und ver­neint damit schlichtweg die scheinbar unbegrenzten technischen Möglich­keiten der globalen Datenbeschaffung. Tibet lässt sich nicht durchdringen so wenig wie es Liam gelingt, den fliegenden Berg auf seinen Koordinaten­netzen erscheinen zu lassen. Wenn Milka Car von dem «Mythos von der unbegrenzten Macht des Menschen über die Natur» spricht, und eine «Um­wertung des Mythos von der unbegrenzten Naturbeherrschung durch den Menschen» (269) für Die Schrecken des Eises und der Finsternis konstatiert, trifft dies in fast identischer Weise auf Der fliegende Berg zu. Auch Markus Oliver Spitz sieht in Ransmayr einen «criticism of reason, of progress, and of civi­lisation feature throughout» und den Mythos als den «counterpart of reason in order to deconstruct alleged certainties of modernity» (n. pag.). Liams Fortschrittsglaube wird ihm letztendlich zum Verhängnis durch sein Ver­halten «so anmaßend / wie das wolkenbekränzte Hochhaus von Babel» (DFB 81), wobei Pad hier ganz bewusst den alttestamentarischen Mythos von Babel mit der vermeintlichen Grenzenlosigkeit der Technik als moder­nen Mythos vergleicht.

Das Vertrauen auf moderne Technik findet sein Äquivalent in den my­thischen Vorstellungen der Nomaden. Während Liam die Welt in mathe­matischen Zahlenreihen und Zeichensystemen wahrnimmt, die ihm erlau­ben, das vermeintlich wahre Wesen der Dinge zu erfassen, bedarf auch für die Nomaden die visuell erfahrbare Welt einer gesonderten Interpretation. «[E]ine Nebelkrähe» mag dem unkundigen Betrachter «bloß als kluger Vo­gel erscheinen», obwohl sie «zugleich» als «ein Bote des Himmels» aufge­fasst werden müsse, «ebenso wie das über einen Grat ins Tal einfallende / Morgenlicht zugleich den Sonnenstand und / den Lidschlag eines Gottes anzeigen könne». «Was bedeute eine Gestalt denn schon?» (DFB 198). Nicht nur Liam, sondern auch die Nomaden besitzen die Fähigkeit, «la vérité ab­solue» (Eliade, SP 85) zu erkennen und damit die Welt in ihrer Gänze zu begreifen. Liam allerdings spricht den Nomaden diese Fähigkeit kategorisch ab. Für ihn zählen nur verifizierbare Fakten, die ihm ausschließlich zur Er­klärung der Welt – und vor allem zum Verständnis der Begebenheiten in Kham – dienen. «Bist du nicht überrascht, dass sich der Schnee, / die Eis­wand, dass sich jeder Höhenmeter / dieser verfluchten Route deinem Pro­gramm widersetzt?, / dass alles ganz anders läuft als geplant?» (DFB 97) bemerkt Erzähler Pad sarkastisch und deutet auf die Diskrepanz zwischen der scheinbar grenzenlosen Macht des Computers im heimatlichen Irland und der sich nun langsam offenbarenden Wirklichkeit des Landes Kham hin. Immer öfter lässt Ransmayr die Koordinaten der bekannten Welt der Brüder versagen, die Natur als mythische Gewalt erscheinen, bis sich diese auf dem Gipfel des Phur-Ri den Brüdern aufs heftigste widersetzt und in all ihrer Unbarmherzigkeit auf diese hinabrast.

Rational gesehen braut sich über der Bergspitze des Phur-Ris ein fatales Unwetter zusammen, welches meteorologisch in all seinen Stadien erklärbar ist. Die Beschreibung jedoch, welche Erzähler Pad seinem Leser liefert, be­schwört eine apokalyptische Vision herauf, die erneut deutliche Anklänge an den alttestamentarischen Turmbau zu Babel aufweist: als falle die Faust eines Gottes in unbändigem Zorn auf die beiden sich sicher am Ziel wäh­nenden Bergsteiger nieder und schleudere mit ungebremster Gewalt «Arka­den, Gesimse, Stützpfeiler, Streben, / Dämonen, segnende Heilige, Was­serspeier, / alles in den Farben verwitterten Steins / und alles auf uns herab» (DFB 63). Der eben noch so blaue Himmel verfinstert sich, wird schwarz und undurchdringlich so dass «wir nicht mehr [wussten], ob wir hinab- oder aufblickten / zu sterngleichen flimmernden Lichtquellen, / versprengten Sonnen, weil dort oben, ganz oben, / Höhe und Tiefe eins / und ununter­scheidbar wurden» (DFB 61). Die Wahrnehmung räumlicher Dimensionen gerät zur Unmöglichkeit, da sich Gegensätze verbinden, so dass Wirklich­keit und Wahnvorstellung nicht mehr klar abgrenzbar sind. Ein «plötzlich aufklaffende[s] Vakuum» (DFB 63) tritt an die Stelle der bekannten Welt, in welchem Raum und Zeit in die Bedeutungslosigkeit kollabieren, «Zahlen / und dann auch die Sterne verblaßten / und schließlich erloschen» (DFB 10). Die Warnungen der Nomaden bestätigen sich, scheinen in ihrer Legen­denhaftigkeit eine Wahrheit zu verkörpern, die am Ende vom Erzähler als zutreffend anerkannt wird. Die Gipfelbesteigung endet in einer katastro­phalen Begegnung mit den dämonischen Gewalten des Himalayas, aus der nur ein Bruder lebend seinen Rückweg findet. Sie steht symbolisch für das Betreten jener Leerstelle, die sich außerhalb der rationalen Welt befindet und demzufolge das Erreichen der Bergspitze transzendiert, ohne jedoch letztendlich sinnstiftend zu wirken.

Die von Pad gestellte Frage nach einem «Aufbruch / ins Leben ... oder ins Verschwinden, in unseren Tod» (DFB 88) findet ihre Antwort in Liams spurlosem Verschwinden in einer Schneelawine. Die Ankunft am vermeint­lichen Ziel aller Wünsche offenbart sich als Vakuum, als ein Tritt ins Leere an einem Ort, von welchem «kein Weg mehr in die Höhe, / sondern jeder Weg nur in den Abgrund» führt (DFB 62). Das scheinbar sinnstiftende Zei­chen des Berges enthüllt sich den Brüdern auf der sekundären Ebene als leer und nichtig, ohne erkennbaren Ziel- oder Endpunkt. Wie Roland Barthes in L’Empire des signes (1965) im Zusammenhang mit japanischen Gerichten beschreibt, ist «la substance comestible ... sans coeur précieux ... aucun plat japonais n’est pourvu d’un centre ... tout y est ornement d’un autre ornement ... la nourriture n’est jamais qu’une collection de fragments, dont aucun n’apparaît privilégié par un ordre d’ingestion» (367). Auch hier wird Bedeutung verneint. Es lässt sich keine Hierarchie erkennen, die einem ja­panischen Gericht eine besondere Signifikanz zugestehen würde; was ver­bleibt sind Fragmente. Das vermeintliche Zentrum wird durch eine Kette von Zeichen ersetzt, welche sich in einem endlosen Bezug aufeinander ver­lieren. Ein finaler Endpunkt existiert nicht und somit auch keine Sinnhaf­tigkeit. Der Gipfel verbleibt in seiner Leere, sowohl in seiner Eigenschaft als Gipfel als auch als Sehnsuchtsobjekt, das sich dem Zugriff der Brüder entzieht.

Trotz Liams Verschwindens, welches das Betreten der Leerstelle mit sich bringt, muss die durch den Tod des Bruders entstandene Leerstelle als Mög­lichkeit einer Neubewertung der eigenen Geschichte gesehen werden. Da­bei kann ein weiteres Mal auf jenen Ausspruch Pads zurückgegriffen wer­den, der einen Aufbruch in das Leben und in das Glück als eine Eventualität in Aussicht stellt. Die Signifikanz der entstandenen Leerstelle wird insbe­sondere im letzten Kapitel immer wieder hervorgehoben: so treiben die Blütenblätter «hinaus in die Leere» (DFB 350), der Erzähler durchmisst «stundenlang, immer wieder ... die leeren Weiden» (DFB 351) schreitet «die leeren Räume» (DFB 355) seines Erbes ab. Auch das Haus auf Horse Island ist leergeräumt, Liams technische Geräte verpackt, sein Vieh verkauft und aufs Festland gebracht. Die Leerstelle scheint willkommen, muss nicht durch «Rechner, ... Bildschirme, ... Bücher, / ... Meßinstrumente und Aus­rüstungsgegenstände / für ein Leben am Meer und im Hochgebirge» (DFB 357), wie es bei Liam obsessiv der Fall war, gefüllt werden, sondern ver­bleibt in einem Zustand der Offenheit, welcher schmerzt, jedoch ebenfalls die Möglichkeit eines Neubeginns bereithält: «ich habe dieses Haus niemals wärmer, / lebendiger empfunden als in jener Stunde, / in der es endlich leergeräumt, leer!, ... war» (DFB 100). Der Tod des Bruders führt zu einer Beschäftigung des Erzählers mit den vorgefallenen Geschehnissen im Land Kham und darüber hinaus mit der eigenen Vergangenheit im heimatlichen Irland. Es entsteht der Versuch, auf narratologischer Ebene der eigenen Geschichte jene Sinnhaftigkeit zu verleihen, die den Brüdern auf dem Gip­fel des fliegenden Berges verweigert wurde.

Wie bereits deutlich herausgestellt, durchziehen Leerstellen den Roman und sind insbesondere in der Erzählstruktur des Romans zu finden. Auffal-lend ist gleich zu Beginn, dass der Erzähler Pad seine Geschichte dem Leser nicht chronologisch mitteilt, sondern verschiedene Ebenen der Vergangen-heit mit der Gegenwart mischt. Somit vermag die Erzählung die vorgefalle­nen Ereignisse nur bedingt zu erklären, da durch das konstante Überlappen von verschiedenen Zeitebenen der Erinnerung sich auf der sekundären Sprachebene neue Signifikationen ergeben, neue Lesarten, die nicht selten mehr verwirren als erklären. Durch ausgesparte Details treten neue Leer­stellen an die Oberfläche, so dass sich der Leser genötigt sieht, diese durch das Verbinden der unterschiedlichen Erzählstränge notdürftig zu schließen. Wie das sprichwörtliche Rhizome von Deleuze und Guattari scheinen Er­zählungen und Erinnerungen miteinander verbunden, die dennoch am Ende nicht den gewünschten Überblick gewähren, da sich der Leser als Teil dieses Netzwerkes versteht, das ihn gefangen hält und ihm nur bedingt die Zusammenhänge der fragmentarischen Erzählungen von Pad verdeutlicht.

Die fragmentarische Erzählweise Pads ist strategisch gewählt, um eine Reihe von unterschiedlichen Geschichtsversionen zu ermöglichen. Ge­nauso wie Pad die von seiner Reise gemachten Fotos auf dem Fußboden des bereits leergeräumten Hauses auf Horse Island ausbreitet, um «diese Leere mit Fotos zu bedecken, / die ich in Reihen nebeneinander legte / wie eine Patience, ein Kartenspiel» so soll auch durch die verfasste Erzählung das Geschehene beleuchtet und neu bewertet werden. Und genauso wie Pad die zweiundsiebzig Bilder immer «neu und noch einmal neu gruppierte, / wie in der Hoffnung, Bild für Bild / würde sich dadurch aus der Erinne­rung, / aus der Zweidimensionalität erheben und protestieren / gegen die unumkehrbare Richtung der Zeit» (DFB 313-14), so werden auch die ver­schiedenen Stufen der Vergangenheit und der Gegenwart immer neu arran­giert und miteinander verbunden. Diese Verbindungen erzeugen neue Les­arten, erschaffen alternative Realitäten, die als gleichwertig nebeneinander stehen und die Hoffnung in sich bergen, erneut die Wirklichkeit aus der Fan­tasie heraus zu erschaffen, wie es schon mit der verhängnisvollen Schwarz­weißfotographie des fliegenden Berges der Fall war. Folglich sind die ent­stehenden Geschichten in konstanter Bewegung begriffen, widersetzen sich einer rigiden Festlegung und erschaffen dort Neues, wo ihnen Raum zuge­standen wird.

Die Worte, die diese Geschichten entstehen lassen, sind machtvoll und stellen einen Versuch dar, sich dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Zeit zu widersetzen; sie zwingen den Erzähler schon während seines Abstiegs des Phur-Ris «mit tobenden Fingerkuppen in den Schnee, unlesbare, blaß­rote Zeichen» (DFB 100) zu schreiben, um gegen den Tod des Bruders an­zuschreiben. Denn Worte, so die Nomadin Nyema, hätten die Macht, den Tod zu überwinden und einen Menschen zurück ins Leben zu bringen, so wie, laut Pad, «mein Bruder mich im Windschatten / meiner letzten Zu-flucht wohl aus dem Tod / ins Leben zurückerzählte, / indem er mit seiner Litanei von Namen / eine gemeinsame Erinnerung beschwor, / so unaus­löschlich, / daß sie die Vergangenheit in Gegenwart verwandeln / und mich selbst aus einer Ferne zurückrufen konnte, / in der ich schon verschwunden war» (DFB 18). Nun ist es Pad selbst, der in vergleichbarer Manier den ver­schollenen Bruder ins Leben zurückzuerzählen versucht, indem er das Er­lebte dem Papier anvertraut. Bereits in Ransmayrs Kurzgeschichte «Fateh­pur Oder die Siegesstadt» aus dem Erzählband Der Weg nach Surabaya (1999) ist es der Erzähler, der die Zerstörung der Zeit durch seine Worte aufhalten möchte. Dabei sei die Schrift von entscheidender Bedeutung, denn diese müsse, Nyema zufolge, als eines der größten Geschenke an die Menschheit gesehen werden. Sie vermöge die Tragik der unvermeidlichen Sterblichkeit eines jeden von uns zu lindern, indem sie es ermögliche, trotz des eigenen Ablebens eine gewisse Präsenz unter den Zurückgebliebenen zu bewahren. Einem göttlichen Wesen gleich könne sich der Mensch nun «nicht nur über Meere und Gipfel, / sondern über die Zeit selbst ... erheben / und aufflie­gen wie der Phur-Ri» (DFB 212). So sieht Eliade darüber hinaus in dem Akt des Lesens eine Überwindung der Zeit und damit der Sterblichkeit, wenn er bemerkt, dass «la lecture procure à l’homme moderne une “sortie du Temps” comparable à celle effectuée par les mythes» (SP 174). Durch die Erzählung unternimmt Pad den Versuch sich durch die fragmentarische Struktur seiner Erzählung dem vorwärts gerichteten Mandat der profanen Zeit zu entziehen und sich erneut in die sich wiederholende Zeitstruktur der Nomaden einzuschreiben und dadurch den vorgefallenen Ereignissen zu trotzen[10].

Das Einschreiben mit Worten in eine zyklische Zeitstruktur findet sein Äquivalent im letzten Kapitel mit dem bezeichnenden Titel «Schritte», in dem es um ein rückwärtsgerichtetes Vorwärtsschreiten geht. So wie das Überlagern von verschiedenen Zeitebenen ein Rückbesinnen auf eine ver­gangene Zeit impliziert, findet hier durch ein Überlagern von entgegensetz­ten Vektoren ein Fortschreiten statt, welches sich jedoch in einer Rückkehr manifestiert. Die von Pad unternommenen Schritte führen ihn zurück zu den Nomaden, zurück in eine Welt der zyklischen Zeitauffassung, die dar­über hinaus durch ihre nomadische Lebensweise, sprich durch ihre Beto­nung der körperlichen Fortbewegung gekennzeichnet ist. Es ist Pad der Fußgänger, der in Form des langsamen Vorwärtsschreitens die irische Hei­mat erneut mit der nomadischen Lebensweise verknüpft, diese imitiert und sich dadurch in diese einschreibt. Bar jedweder technischer Hilfsmittel tritt Pad metaphorisch seine zweite Reise in das Land Kham an und besinnt sich damit auf seine eigenen Vorfahren, die im Akt des Gehens ihr primäres Fortbewegungsmittel sahen, wie es Ransmayr bereits in Die Schrecken des Ei­ses und der Finsternis herausstellt: «Vergessen wir nicht, ... dass wir, physiog­nomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind» (9)[11]. Der vermeintliche Neubeginn kehrt sich, so scheint es, um in eine vermeintliche Rückbesin­nung, in eine erneute Rückkehr zu Vergangenem, welches sich in Gegen­wart verwandelt.

Das Ende trägt zweifelsohne märchenhafte Züge, scheint die Lebens­weise der Nomaden als «Heilsmodell für zivilisationsmüde Europäer» zu verklären, wie Sabine Frost ironisch bemerkt (175). Ransmayr scheint eine klare Wertung zugunsten einer archaisch-mythischen Weltsicht zu formu­lieren, wenn er seinen Erzähler am Ende in die Abgeschiedenheit der Welt des Himalayas zurückkehren lässt. Jedoch geht Ransmayr, wie bereits deut­lich gezeigt wurde, über die schlichte Dichotomie von fortschrittlicher ver­sus traditioneller Lebensweise hinaus: Es handelt sich keinesfalls um ein entweder-oder, sondern um ein sowohl-als auch: Scheinbare Gegensätze lösen sich auf, überlappen und formen Synthesen. Festgeschriebene Wahr­heiten werden hinterfragt und nach eingehender Prüfung als nichtig ver­worfen. So erfährt der aufmerksame Leser zu seiner Verwunderung am Ende des Romans, dass Liam, im Gegensatz zu Pads bisherigen Ausfüh­rungen, mitnichten der Technik uneingeschränkte Überlegenheit über die menschliche Natur zugestand; vielmehr sind es gerade die nach außen so primitiv wirkenden menschlichen Schritte, welchen Liam eine weitaus grö­ßere Bewunderung entgegenbringt als all seinen hochentwickelten Compu­terprogrammen: «Schritte. / Wie primitiv wirkten die binären Abläufe / in Liams Computern gegen das Drama / eines einzigen Schritts ..., / Steinzeit­technologie, sagte Liam, Steinzeit!, / wenn er seine Programme / in den Tagen unserer Vorbereitung / auf die Atemnot in den Meereshöhen Tibets / mit den Mysterien des Organismus verglich» (DFB 354). Und so wie Liams Glaube an Technik einer differenzierteren Betrachtung bedarf, so lassen sich auch andere vermeintlich unverrückbare Gegensatzpaare hinterfragen: Tod und Leben, Vergangenes und Gegenwärtiges, Mythos und Vernunft, vorwärts und rückwärts gehen eine Verbindung ein, um in ihrer Gegensätz­lichkeit Neues zu erschaffen.

Der Mythos der nomadischen Lebensweise fungiert letztlich als Basis für die Erschaffung einer eigenen Mythenbildung; er gerät erneut zum Sig­nifikanten für Pads persönliche Mythenfindung, die nicht zwangsläufig mit derjenigen der Nomaden konform geht. Ob es sich bei der erneuten Reise um einen weiteren Mythos handelt, der sich am Ende ebenfalls als Verket­tung von leeren Zeichen erweist, bleibt dahingestellt. Es lässt sich jedoch hoffen, dass wir es dieses Mal bei Ransmayr mit keiner Wiederholung von apokalyptischen Untergängen zu tun haben, wie es Heike Knoll für Die letzte Welt (1988) und Morbus Kitahara (1995) postuliert[12] und wie wir es auch in Strahlender Untergang (1982) vorfinden. Die Zeichen stehen gut, dass der Un­tergang von Liam in Der fliegende Berg keine weitere Wiederholung durch eine abrupte Zerstörung von Erzähler Pads Leben findet. Eine konkrete Ant­wort bleibt Ransmayr dem Leser dennoch schuldig; die einzige Gewissheit, die er verrät, ist Pads fester Entschluss zum Aufbruch, der ihn mit den Worten «Ich werde mich auf den Weg machen. Ich gehe» (DFB 352) auf einen weiteren Rückweg führt.

Bibliographie

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–– L’Empire des signes. Oeuvres complètes. Tome 3: Livres, Textes, Entretiens, 1968-1971. Paris: Éditions du Seuil, 2002.

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Cook, Lynne. «“Black Holes” in the Novels of Christoph Ransmayr: An Astro­nomical Interpretation of Images of Alternative Worlds in his Work». Aus­tria in Literature. Hg. Donald G. Daviau. Ariadne Press: Riverside, 1997. 193-211.

Eliade, Mircea. Le myte de l’éternel retour. Paris: Gallimard, 1949.

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Frost, Sabine. Whiteout. Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800. Bielefeld: transcript, 2011.

Knoll, Heike. «Untergänge und kein Ende: Zur Apokalyptik in Christoph Rans­mayrs Die letzte Welt und Morbus Kitahara». Literatur für Leser 20.4 (1997): 214-23.

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–– Strahlender Untergang. Wien: Brandstätter, 1982.

Spitz, Markus Oliver. «“Die Zukunft auch der belebtesten Landschaft heißt Wüste”». Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15 (2005). 27. März 2016 < http:// www.inst.at/trans/15Nr/05_16/spitz15.htm>.

Taylor, Charles. Modern Social Imaginaries. Durham and London: Duke UP, 2004.



[1] Zitate, die in Klammern die Siglen DFB aufweisen, beziehen sich allesamt auf folgen­des Werk: Christoph Ransmayr. Der fliegende Berg. Frankfurt a.M.: Fischer, 2007.

[2] In diesem Zusammenhang kann auch an Josef Mazzini, dem Protagonisten aus Rans­mayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis, erinnert werden, der ebenfalls in den Weiten der Arktis spurlos verschwindet.

[3] Wie Josef Mazzini postuliert, «[s]o habe er den Vorteil, die Wahrheit seiner Erfindun­gen durch geschichtliche Nachforschungen überprüfen zu können. Es sei ein Spiel mit der Wirklichkeit. Er gehe aber davon aus, dass, was immer er phantasiere, irgendwann schon einmal stattgefunden haben müsse» (21).

[4] Andrea Kunne bezieht sich in ihrem Artikel «Heimat und Holocaust. Aspekte öster­reichischer Identität aus postmoderner Sicht. Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kita­hara» auf Hayden White, Michel Foucault und im weiteren Sinne auch auf Jaques Derrida.

[5] Lynne Cook spricht in ihrem Artikel «“Black Holes” in the Novels of Christoph Ransmayr» ebenfalls von schwarzen Löchern, die zur Interpretation von Ransmayrs Werken hinzugezogen werden können: «Ransmayr’s novels (paradoxically) hold at their symbolic centers notions of absence, disappearance, lack or emptiness. ... the apparent emptiness of a “black hole” is actually the site of the densest matter in the system, com­pelling the strongest attraction. ... Ironically, the absent Subject compels an intensity of focus» (194).

[6] Zitate, die in Klammern die Siglen SP aufweisen, beziehen sich allesamt auf folgendes Werk: Mircea Eliade. Le sacré et le profane. Paris: Gallimard, 1965.

[7] Zitate, die in Klammern die Siglen MER aufweisen, beziehen sich allesamt auf fol­gendes Werk: Mircea Eliade. Le mythe de l’éternel retour. Paris: Gallimard, 1949.

[8] Die zyklische Zeitstruktur wird von der Nomadin Nyema in Bezug auf Phur-Ri fol­gendermaßen dargestellt: «daß nichts, nichts!, / und sei es noch so mächtig, so schwer ... für immer bleiben durfte, / sondern daß alles davonmußte, / verfliegen!, irgendwann auf und davon, / daß dann aber auch das Verschwundene / nicht für immer verschwunden blieb, / sondern nach dem Stillstand und Neubeginn / selbst der allerfernsten Zeit und, / wenn auch verwandelt, / zersprungen zu tausend neuen Formen und Gestalten, / wieder­kehrte» (DFB 155-56).

[9] Zitate, die in Klammern die Siglen MRM aufweisen, beziehen sich allesamt auf fol­gendes Werk: Mircea Eliade. Mythes, rêves et mystères. Paris: Gallimard, 1957.

[10] Damit setzt Pad auf narrativer Ebene fort, was unzählige Male auf inhaltlicher Ebene seine Erwähnung findet: die sprachliche Wiederholung heiliger Mantras, sei es in Form einzelner Wörter oder ganzer Gebete, welche durch Mensch oder Natur erfolgt. Durch diese konstante Wiederholung wird ein nie endendes Preisen einer höheren Gottheit si­chergestellt und der heilige Mythos des jeweiligen Glaubenssystems ohne Unterlass in die Welt hinaus getragen.

[11] Trotz unserer beschleunigten Lebensstile sind wir dennoch durch Langsamkeit ge­kennzeichnet, weswegen Markus Oliver Spitz in seinem Artikel «“Die Zukunft auch der belebtesten Landschaft heißt Wüste”» einen «Kontrast von Geschwindigkeit und Langsam­keit [als] ein zentrales Motiv des Romans» (n. pag.) sehen will, wobei es sich um Die Schrecken des Eises und der Finsternis handelt. Hierbei kann die Dichotomie zwischen Geschwindigkeit und Langsamkeit als Spiegelbild des Kontrasts von Technik und Fortschrittglaube und traditioneller Lebensweise in Der fliegende Berg gesehen werden.

[12] So führt Knoll aus: «Untergang stellt bei Ransmayr nicht Zäsur dar, sondern Zu­stand; ein Verfall von Zivilisationen, der sich als ein allmählicher, nicht enden wollender Prozess vollzieht. ... Er bezeichnet noch lange nicht das Ende, sondern enthält (zumindest zunächst) auch Zukunft; eine Zukunft allerdings, die sich nur als seine Fortsetzung erweist» (220).

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Cristina Fossaluzza

(Venezia)

Snobismus als geistige Macht
Arthur Schnitzlers Zeitkritik
und die Debatte um den “Kulturkrieg”

[Snobbery as Intellectual Power. Arthur Schnitzler’s Critique of his Time
and the Cultural Debates about World War I
]

abstract. After the publication of Thackeray’s The Books of Snobs (1848) the concept of “snob” became popular in German-speaking countries with the meaning of dandy and aesthete. In his diaries, letters, and posthumous notes, Arthur Schnitzler refers very criti­cally to snobbery as the “illness of the time”. This article argues that his critique does not merely address the radical aesthetical attitudes of his contemporaries (among them, e.g. Hofmannsthal). The purpose of Schnitzler’s critique is rather to denunciate the ideological implications of these attitudes – especially with regard to positions taken by many intellec­tuals in the debate about World War I.

Präludium

Im Jahr 1926, in einer Zeit, die für die Republik Österreich auf der poli­tischen sowie wirtschaftlichen Ebene immer prekärer wird und auf das «Krisenjahr 1927»[1] zugeht, widmet sich Franz Werfel einem dann unveröf­fentlicht gebliebenen Buchprojekt, das den bezeichnenden Titel Die Krisis der Ideale hätte tragen sollen und zu dem noch Notizen des Autors bestehen. 1928 erscheint im Jahrbuch des Paul Zsolnay Verlags lediglich ein Auszug daraus, in dem sich Werfel mit dem «Snobismus» auseinandersetzt – einem Begriff, durch den er die intellektuelle Atmosphäre seiner Zeit bezeichnen möchte und den er bereits im Titel als eine «geistige Weltmacht» verurteilt[2]. Diesen Begriff, der nach dem Erscheinen von William Thackerays The Book of Snobs (1848) auch im deutschsprachigen Raum als «Dandytum», «Ästhe­tentum», «Philistertum» populär wurde, hatten mehrere Autoren bereits vor Werfel literarisch aufgegriffen – man denke etwa an Schopenhauer, Stern­heim, Carl Einstein sowie an die Brüder Mann[3]. Für Werfel ist der Snobis­mus ein Zeichen der kulturellen und gesellschaftlichen Dekadenz, ein Phä­nomen, das «seine höchste Blüte dann [erreicht], wenn die Stabilität der Ide­ale zu wanken beginnt» und das «zur Zeit der Revolutionen, der sich auflö­senden Klassenordnung» kulminiert (SgW, 269). Somit bringt Werfel den vorherrschenden Snobismus mit einer ethischen, aber zugleich politischen Dekadenz seiner Zeit in Zusammenhang. Hierbei rekurriert er auf die in­terpretatorischen Kategorien einer «nachnietzscheanische[n] Psychologie», die den «Willen zur Macht», als den «geheimnisvolle[n] Motor unserer see­lischen Bewegung» versteht, mehr noch: als den «Beherrscher unseres Le­bens bis in die Tiefe des Schlafes und der Krankheit hinab» (SgW, 262). Gerade dieser Machtwille, der den Menschen immerwährend dazu bringt, nach Geltung zu streben, findet allerdings für Werfel im «Snobismus» seiner Zeit eine seiner unglücklichsten, krankhaften Varianten. Tatsächlich ver­steht Werfel unter «Snobismus» den in der “dekadenten” Gesellschaft der Zwanziger Jahre «krank gewordene[n] Wille[n] zur Geltung» (SgW, 265), d.h. einen allgemeinen pathologischen Machtwahn, der sich in einer ver­breiteten hochstaplerischen und zugleich “verkünstelten” Haltung seiner Zeitgenossen äußert. Besonders das ausgeprägt Theatralische, ja Manie­rierte an den Snobs seiner Zeit möchte Werfel in seinem Aufsatz unterstrei­chen, indem er sie prägnant «Komödiant[en] irgendeiner Hundertprozen­tigkeit» (SgW, 268) nennt. Wenn unübersehbar ist, dass das erwähnte Ver­ständnis des Snobs als «Décadent», «Dandy» und «Ästheten» in dieser Auf­fassung mitschwingt, so klingt in Werfels Ausführungen auch einiges mehr an. Nicht zufällig bezieht er sich gleich zu Beginn seines Aufsatzes nach­drücklich auf die zeitgleiche Diagnose Arthur Schnitzlers[4]: «Snobismus ist, nach Schnitzlers Worten, in jedem Menschen als potentieller Krankheitsherd zu finden, wie etwa die Tuberkolose. In jeglicher Psyche sind die Infektions­träger vorhanden und warten nur der Gelegenheit, virulent zu werden» (SgW, 262)[5]. Bereits für Schnitzler ist der Snobismus ein Keim, der die geis­tige Atmosphäre der Zeit infizieren, ja ein Symptom der Krise und der De­kadenz, das sich in der ganzen Gesellschaft verbreiten kann. Es lohnt sich, Schnitzlers Diagnose im Folgenden zu vertiefen, denn näher betrachtet er­weist sich diese als eine intensive und breit gefächerte Auseinandersetzung mit den kulturellen Debatten seiner Zeit. Der Snobismus fängt für ihn nicht erst in den Zwanziger Jahren an, sondern geht auf die Jahrhundertwende zurück, um dann besonders in den politisch heiklen Kriegsjahren immer stärker zu werden. Dabei erkennt Schnitzler im Phänomen des Snobismus nicht nur einen allgemeinen intellektuellen Hang zu Theatralik und Ästhe­tizismus, sondern er geht auch auf dessen stark ideologische Implikationen ein – Implikationen, die sich in der literarischen und publizistischen Debatte um den “Kulturkrieg”[6] immer bemerkbarer machen. Schon vor Werfel ist der Snobismus somit für Schnitzler eine Frage des dekadenten Ästhetizis­mus aber zugleich eine Frage, die auch die “geistige Macht” und die politi­sche Wirkung der Intellektuellen in Krisenzeiten betrifft. Und besonders deutlich geht seine tiefgreifende Zeitdiagnose, der wir uns nun in zwei Schritten zuwenden möchten, aus seiner exemplarischen Kritik an Hugo von Hofmannsthal hervor.

1. Geist

Schnitzler ist in unserm heutigen Schrifttum gewiß der einzige Vertreter der Latinität. Unter diesem Wort verstehe ich im Gegensatz zu allem Ausladenden, Verzweigten, Romanti­schen, Erziehungsromanhaften die Kunst der klaren geschmeidigen Linie.

Franz Werfel: Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag (1922)

Nach ihrer Bekanntschaft um 1890 im Café Griensteidl haben Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal im Laufe ihres Lebens in Wien quasi ununterbrochen Kontakt zueinander. Trotz dieser Kontinuität hat sich die Forschung nie umfassend mit der Beziehung zwischen Schnitzler und Hofmannsthal auseinander gesetzt und meistens auf das Fazit be-schränkt, dass es sich dabei um ein spannungsvolles und nicht restlos auf­zuschlüsselndes Verhältnis gehandelt habe, das von gegenseitiger Bewun­derung sowie aber auch von Krisenmomenten und Kritik charakterisiert worden sei[7]. Diese pointierte Zusammenfassung stimmt zweifellos. Den­noch kann Schnitzlers Kritik an Hofmannsthal, näher betrachtet, nicht nur einiges Licht in ihre Beziehung bringen, sondern auch eine repräsentative Facette der weltanschaulichen Debatten der Zeit besser beleuchten. Es geht hier also nicht primär darum, auf das persönliche, freundschaftliche Ver­hältnis beider Autoren einzugehen, sondern hauptsächlich darum, Schnitz­lers Kritik an der Psychologie des Dichters Hofmannsthal darzulegen.

Wenn Hofmannsthal kaum zu Schnitzler Stellung genommen hat, so hat sich auch Schnitzler nie öffentlich zu Hofmannsthal geäußert. Indes doku­mentieren die Tagebücher und die von Schnitzler selbst exzerpierte Charak­teristik aus den Tagebüchern[8] sowohl ihre gegenseitige Entfremdung als auch Schnitzlers scharfe Kritik am Freund. Diese Kritik entwickelt sich nach 1900 von einer rein psychologischen zu einer “literarischen” und nimmt besonders ab 1908 nach Hofmannsthals ambivalenter Reaktion auf Schnitz­lers Roman Der Weg ins Freie immer deutlichere Konturen an.

Ein kursorischer Einblick in Schnitzlers Tagebuchnotizen von der Jahr­hundertwende bis in die Zwanziger Jahre hinein vermag sowohl die Bissig­keit als auch die Regelmäßigkeit seiner Äußerungen deutlich zu machen – kritischer Äußerungen, die bezeichnenderweise immer wieder auf Hof­mannsthals “Snobismus” abzielen. Schon in der ersten Zeit ihrer Bekannt­schaft berichtet Schnitzler im Tagebuch über das “Problematische” an Hof­mannsthal, über seine «Allüren und Marotten», seine «Hinneigung zu ge­wissen Äußerlichkeiten, aristokr[atische] Lebensweise und Anschauungen» (Tb 1893-1902, 29.7.1896, 206) und nicht zuletzt über seine «leicht snobis­tische Neigung» (Tb 1893-1902, 20.8.1898, 291). Wegen dieser Charakter-merkmale, die bereits zu diesem Zeitpunkt gerade im “Snobismus” einen gemeinsamen Nenner finden, nennt Schnitzler den Freund einen «Virtuo­sen der Beiläufigkeit»[9], der den Dingen im Bericht und Gespräch nicht die Wichtigkeit gebe, die sie tatsächlich für ihn haben. Hofmannsthal wolle da­mit einen Eindruck von sich selbst hinterlassen, wie er ihn sich womöglich wünscht, ohne allerdings den Tatsachen ganz zu entsprechen (vgl. Tb 1893-1902, 2.11.1900, 340). Bald darauf erweitert sich Schnitzlers Kritik an der Psychologie des Menschen Hofmannsthal und wird ausdrücklich zu einer Kritik an der Psychologie des Dichters, dem in der Beziehung zu seinen lite­rarischen Werken einmal mehr Snobismus und Virtuosität vorgeworfen wer­den. Nicht zufällig notiert Schnitzler am 11. Februar 1904 zu Hofmannst­hals Elektra im Tagebuch: «Schlechte Vorstellung. – Empfand heute stark: Kunststück höchsten Ranges – Das Kunstwerk will doch die Seele des Dichters, – von der spürt ich nichts» (Tb 1903-1908, 61). Hofmannsthals Elektra sei deswegen kein «Kunstwerk», weil diesem Theater- und Kunst­stück (so ästhetisch vollkommen es auch sein mag) eine notwendige Eigen­schaft fehle, und zwar der “Herzensanteil” des Dichters oder, um Schnitz­lers spätere Worte zu benutzen: die «innere Notwendigkeit» (vgl. z.B. Tb 1909-1912, 16.2.1910, 127). Schnitzlers Kritik wiederholt sich in den späteren Jahren mit Regelmäßigkeit, und auch in Bezug auf andere Werke Hofmanns­thals, denen es an “Herzensanteil” und «innerer Notwendigkeit» fehle[10]. Was es aber mit dieser «inneren Notwendigkeit» auf sich hat, präzisiert Schnitzler in den Tagebüchern, indem er zwar das große Talent des Freundes aner­kennt, in dessen Werken er aber zugleich einmal mehr eine Tendenz zur Affektiertheit, ja zur Künstelei entdeckt[11]. So lautet die Tagebuchaufzeich­nung vom 13. Mai 1910: «[...] bei Cristinas Heimreise von Hugo. Sein großes Talent auch hierin nicht zu verkennen; als ganzes etwas mühselig und af­fectirt» (Tb 1909-1912, 148). Noch deutlichere Worte schreibt Schnitzler drei Jahre später in Bezug auf die Generalprobe von Hofmannsthals Jeder­mann: «Erste Hälfte fesselt mich wieder sehr – dann kam Langeweile, ja Wi­derwille. [...] Theater ist doch irgendwie eine ernste Sache; und Verlogenheit in der Kunst eine schlimme» (Tb 1913-1916, 18.12.1913, 84). In den zuge­spitzten Formeln «Tendenz zur Affektiertheit», «Verlogenheit in der Kunst» lässt sich Schnitzlers Kritik resümieren. Es wird zu zeigen sein, dass es sich dabei in erster Linie allerdings nicht um ein moralisches Urteil, sondern vor allem um eine tiefgreifende Kritik am Künstler sowie an dessen Rolle in der Gesellschaft handelt – eine ästhetische und zugleich intellektuelle Kritik also, die ab der Kriegszeit immer stärker zum Ausdruck kommt. Bezeich­nenderweise ist in Schnitzlers Tagebüchern auch in Bezug auf Hofmannst­hals Wende zur Politik während des Ersten Weltkriegs von dessen «proble­matische[r] Stellung» und «politische[n] Allüren» (Tb. 1913-1916, 26.11.1915, 241) die Rede. Gerade 1915, im zweiten Kriegsjahr also, schreibt Schnitzler eine Notiz, in der er seine Ansicht genau auf den Punkt bringt:

Seltsames Menschenexemplar. Höchste Intellectualität – die doch ir­gendwie, das Sachliche, jede echte Beziehung zu irgend einem Men­schen, zu einer That, zu einem Ding fehlt, ins leere geht. Höchster Kunstverstand – und absolut kein Urtheil. (Tb 1913-1916, 26.11.1915, 241)

Man darf annehmen, dass Hofmannsthals politische «Allüren» (wie seine literarischen) für Schnitzler besonders in einem Mangel an Weltbezug, in einer Weltentfremdung gründen. Von der Kriegszeit an fällt auch der aus­drückliche Begriff «Snobismus» bei Schnitzler in Bezug auf Hofmannsthals Dichtung noch öfter. Einer scharfen Kritik werden auch Hofmannsthals spätere Werke unterzogen: Den Text zur Oper von Richard Strauss Die Frau ohne Schatten empfinde Schnitzler als «gekünstelt, von falscher Tiefe und Humanität» (Tb 1917-1919, 8.10.1919, 295), die gleichnamige Erzäh­lung von Hofmannsthal habe zwar im einzelnen hohe Qualitäten, als ganzes sei sie aber wahrhaft unleidlich durch «eine Art von ethischem Parvenue­thum, Manierismus, Künstelei, innere Kälte» (Tb 1917-1919, 26.10.1919, 302); in Der Schwierige komme die Lebenskrankheit Hofmannsthals, der Sno­bismus, zu heftigstem literarischem Ausbruch (Tb 1920-1922, 30.7.1920, 75), und selbst Der Turm sei eine Überflüssigkeit auf sehr hohem Niveau (Tb 1923-1926, 30.10.1925, 285). Am 15. Januar 1922 notiert Schnitzler so­gar, dass er kaum noch etwas von Hofmannsthal ohne inneren Widerstand lesen könne, und kommentiert: «Das Niveau immer zu spüren – und zu­gleich eine Überheblichkeit, Affectation, Snobismus, die mir immer uner­träglicher werden» (Tb. 1920-1922, 269). Wieder motiviert Schnitzler seine Kritik psychologisch, wenn er am 11. Februar 1922 schreibt, dass das Prob­lematische an Hofmannsthals Wesen in einem inneren Konflikt liege. Die­ser Konflikt spiegele sich einerseits in Hofmannsthals “komödiantischer” intellektueller Haltung wider, andererseits in seinen künstlerischen Arbei­ten, die ja äußerlich vollkommen, doch am Ende manieriert, ja «zu stark ausgedrückt» seien:

[...] seine außerordentliche geistige Erscheinung; – seine künstleri­schen Arbeiten (wie Welttheater) nicht aus innern Notwendigkeiten, sondern fast immer aus äußerlichen Gründen begonnen; mit zweck­trüben Elementen durchsetzt (zu stark ausgedrückt). Er selbst fühlt den innern Conflict, daher sowohl seine «Ohnmachten» und allerlei hysterische Krankheitssachen, denen auch das Komödiantische nicht fehlt [...]. Ein hoher Geist und eine trübe Seele. (Tb 1920-1922, 279)

Beim Lesen dieser Kommentare mag Schnitzlers Kritik ungerechtfertigt und übertrieben erscheinen. Sie mag als Ergebnis einer persönlichen Ab­neigung interpretiert werden. Wenn man aber zunächst einmal vom schar­fen und direkten Ton dieser Tagebucheintragungen absieht und Schnitzlers Äußerungen als Ausdruck seiner ästhetischen Position betrachtet, so muss man hier eine Scheidung der Geister erblicken, die weit über das Persönli­che hinausgeht. Denn, wie man rekonstruieren kann, geht Hofmannsthals und Schnitzlers wechselseitige Entfremdung nicht aus einer persönlichen Meinungsverschiedenheit, sondern aus zwei gegensätzlichen Kunstauffas­sungen hervor, die aus unterschiedlichen ästhetischen sowie erkenntnistheo­retischen Prämissen ihren Lauf nehmen und die besonders in der Kriegszeit in unterschiedliche kulturelle Visionen münden.

Wenn Schnitzler Hofmannsthal, trotz seiner Bewunderung, als Snob empfindet, so scheint dies darauf zurückzuführen zu sein, dass seine eigene Kunstauffassung mit Hofmannsthals Ästhetik nicht konform geht. Diese Divergenz mag einen ihrer Gründe darin haben, dass Schnitzler ein Dichter ist, der sich auf dem Feld der Medizin, und genauer in der Zweiten Wiener Medizinischen Schule, ausgebildet und entwickelt hat[12]. Diese war eine wis­senschaftlich bahnbrechende Schule, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade in Abgrenzung von der früheren medizinischen Tradi­tion und von deren Beziehungen zur romantischen Naturphilosophie durch eine neue empirische Orientierung durchgesetzt hat[13]. Nicht zufällig stand Schnitzler auch den “lebensphilosophischen” Tendenzen der Zeit, dem seit der Jahrhundertwende verbreiteten, wissenschaftsfeindlichen Kult des Na­türlichen und Gesunden eher skeptisch gegenüber[14]. Doch nicht durch die optimistischen Trends der naturwissenschaftlichen Methoden der Zeit, sondern vor allem durch den in der Wiener Medizinischen Schule vertrete­nen “therapeutischen Skeptizismus” wurde er beeinflusst[15] – einen Skepti­zismus, der sich bei ihm nicht nur medizinisch, sondern auch ästhetisch und psychologisch in eine ausgeprägte antidogmatische und “realistische” Ein­stellung sowie in einen Vorbehalt gegen die romantische Natur- und Le­bensphilosophie auswirkte. In diesem doppelten Sinne kann auch Schnitz­lers Kritik an Hofmannsthal als Ausdruck einer skeptischen Grundhaltung interpretiert werden, die ihn dazu bringt, an Hofmannsthals ausgesprochen symbolischer bzw. allegorischer Ästhetik einen Mangel an Weltbezug und eine Tendenz zur Ästhetisierung, zum Manierismus und zum Snobismus wahrzunehmen. Man kann daher vermuten, dass Hofmannsthals Kunstwel­ten Schnitzler nicht zuletzt deswegen fremd sind, weil sich diese Welten von einer Tradition speisen, die u.a. auf die romantische Lebensphilosophie zu­rückgreift[16] und die – im Ästhetischen wie im “Sozialen” – grundsätzlich eine Apotheose des “Subjektiven” gegen das “Objektive”, der Poesie gegen die Vernunft propagiert. Nicht nur zu den einseitig rationalen und optimis­tischen Methoden der Naturwissenschaften seiner Zeit, sondern umgekehrt auch zu dieser eher subjektorientierten, auf die Romantik rekurrierenden, lebensphilosophisch angehauchten ästhetischen Tradition geht Schnitzler auf Distanz[17]. Von einer Medizin kommend, die sich als empirisch, skep­tisch und weitgehend antiromantisch versteht, ist er in der Ästhetik auf der Suche nach einer Vermittlung zwischen erkennendem Subjekt und zu er­kennendem Objekt bedacht, was schließlich auch auf eine grundlegende Reflexion über das Verhältnis von (dichterischem) Ich und Welt impliziert. Davon ausgehend, kann Schnitzlers Kritik an Hofmannsthal in einer brei­teren Perspektive als Ausdruck einer tiefgehenden Skepsis gegenüber einer seit der Jahrhundertwende und bis in die Zwanziger Jahre hinein auch all­gemein unter den Intellektuellen verbreiteten neoromantischen Ästhetik in­terpretiert werden – sowie gegenüber ihren rigoros kultur- und zivilisations­kritischen Implikationen[18]. Dass es sich dabei allerdings nicht nur um eine Frage der Ästhetik und des “Geistes”, sondern zugleich ausdrücklich auch der (Kultur)Politik und der “geistigen Macht” handelt, wird klar, wenn man sich mit Schnitzlers Auseinandersetzung mit der intellektuellen Debatte um den Ersten Weltkrieg sowie mit seiner Kritik an Hofmannsthal in dieser Zeit eingehender befasst.

2. Macht

Schnitzler arbeitet mit den antipathetischen, ametaphysischen, unparteiischen Mitteln seiner Generation, dennoch empfinde ich ihn vor allem als Ethiker.

Franz Werfel: Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag (1922)

Denn von Synthese aufsteigend zu Synthese, mit wahrhaft religiöser Verantwortung bela­den, nichts auslassend, nirgends zur Seite schlüpfend, nichts überspringend – muß ein so angespanntes Trachten, woanders der Genius der Nation es nicht im Stiche läßt, zu diesem Höchsten gelangen: daß der Geist Leben wird und Leben Geist, mit anderen Worten: zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation.

Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927)

Schnitzlers Auseinandersetzung mit dem Snobismus kann nicht auf die isolierte Kritik am Dichter Hofmannsthal reduziert werden – sie impliziert vielmehr eine weitgehende Diagnose der geistigen Atmosphäre der Zeit, wie sich am Beispiel von Schnitzlers außerordentlich kritischer Stellung in der Debatte um den Ersten Weltkrieg besonders deutlich machen lässt.

Es mag auf den ersten Blick bezweifelt werden, dass Schnitzlers Position im Weltkrieg tatsächlich so zeitkritisch sei. Denn Schnitzler, der zu der Ge­neration gehört, die nie an die Front kam, gehört auch zu denen, die sich zum Krieg nicht öffentlich äußern wollten. Ist das aber tatsächlich als Gleichgültigkeit gegenüber der Weltgeschichte und der Kriegsereignisse zu interpretieren? Ist das ein Zeichen seiner décadence und der überholten An-sichten eines Menschen des 19. Jahrhunderts, wie seine Zeitgenossen ihm vorwarfen?[19] Oder stellt sein Schweigen, wie Walter Müller-Seidel geschrie­ben hat, wirklich einen Ausdruck der Diskrepanz zwischen dichterischer Anschauung und politischer Realität als konsequentes Zeichen der literari­schen Moderne dar?[20]

Wie Nachlass, Tagebücher und Briefe dokumentieren, hat sich Schnitz­ler so intensiv und so kontinuierlich mit dem Krieg beschäftigt, dass der Vorwurf der Teilnahmslosigkeit schlichtweg als nicht gerechtfertigt er­scheint. Dafür spricht auch, dass er bereits einen Monat nach Kriegsaus­bruch, am 8. September 1914, beginnt, seine nachgelassenen Aufzeichnun­gen Und einmal wird der Friede wiederkommen niederzuschreiben. Mit diesen Aufzeichnungen, die neben kleineren nachgelassenen Beiträgen seine größte Notizsammlung zum Thema “Krieg und Frieden” darstellen, wird er sich bis zum Ende des Krieges beschäftigen – in derselben Zeit also, in der Thomas Mann seine Betrachtungen eines Unpolitischen verfasst. Auch der Versuch, Schnitzlers Schweigen nur mit der Tradition des Unpolitischen und mit seiner Zugehörigkeit zur literarischen Moderne erklären zu wollen, greift zu kurz, denn kaum ein Repräsentant der literarischen Moderne hat so deutlich gegen den Krieg Stellung genommen und sich so unmissver­ständlich gegen die Tendenzen der Zeit gewendet[21]. Schnitzlers antikriege­rische Position, die sich in den Tagebüchern, Briefen und Aphorismen bis in die Zeit vor dem Krieg zurückverfolgen lässt, setzt sich dem kriegsver­herrlichenden Zeitgeist diametral entgegen[22].

Warum hat Schnitzler aber öffentlich geschwiegen? Ein Brief vom 22. De­zember 1914 an seine Schwägerin Elisabeth Steinrück kann einiges Licht in diese Frage bringen. Hier weist Schnitzler den Vorwurf der Gleichgültigkeit gegenüber der Weltgeschichte und dem Krieg entschieden zurück[23]: Er sei kein Abseitssteher, sondern ein «mit beiden Beinen in dieser Zeit Stehen­der». Als Dichter verstehe er sich außerdem als Seismograph der Zeit, wes­wegen eine Ahnung der Atmosphäre der Kriegszeit schon in fast allen sei­nen Werken vor dem Krieg zu spüren sei. Deswegen sei seine Entschei­dung, sich zum Kriegsgeschehen nicht publizistisch zu betätigen, überhaupt nicht als «Abwendung», als «Einpuppung» zu verstehen, sondern als be­wusste Absicht, sich an den Debatten über den Krieg nicht zu beteiligen[24]. Neben der Zensur nennt Schnitzler in diesem Brief einen zweiten Grund für seinen Widerwillen, bei der öffentlichen Debatte mitzuwirken: die in Zeitungen und Feuilletons vorherrschende Meinung zum Krieg – eine Mei­nung, die sich in den verbreiteten Gedanken zu “Heldentum” und “Vater­land” äußere und die er gar nicht teile. Schnitzlers Misstrauen ist daher auf seine Wahrnehmung der geistigen Atmosphäre der Zeit zurückzuführen – einer Atmosphäre, die nur engagierte Publizistik, kriegsverherrlichende Li­teratur und starke Werte bejahe. Über die “zeitgenössische Stimmung” schreibt er bereits am 18. November 1914 im Tagebuch eindeutige Worte:

Wir spüren plötzlich die Stimmung der Zeitgenossen – ohne sie zu theilen, ohne sie gutzuheißen – ja mit Aerger. Das A- (nicht Un-) Mo­ralische würde auf um so verbissnern Widerstand stoßen, je höher das künstlerische Niveau des Werks. [...] Zweifellos kommt eine Epoche des Philistertums, der Banalität – wohl auch der Heuchelei. Man spürt es – rätselhaft klar. – (Tb 1913-1916, 151)

In einer solchen Atmosphäre wird auch Schnitzler selbst immer wieder für dekadent, unzeitgemäß und überholt erklärt. Die öffentliche Meinung ist Schnitzler allerdings nicht nur aus dem Grund zuwider, dass er sich miss­verstanden fühlt, sondern vor allem deswegen, weil Kritiker, Publizisten und Journalisten in seinen Augen auch den Weltkrieg ausnutzen, um aus neuen Parolen wie “Heldentum” und “Vaterland” Ansehen und Profit zu schlagen.

Schnitzlers oben erwähnte Aussage ist keine gelegentliche Äußerung. Sie geht auf eine tiefgreifende Zeitdiagnose zurück, die in den Aphorismen und Betrachtungen, in den Tagebüchern und im Nachlass immer wieder Aus­druck findet. Um 1916 präzisiert er in den Paralipomena zu den Diagram-men Der Geist im Wort und Der Geist in der Tat seine Kritik und beschreibt die geistige Atmosphäre der Zeit als eine von Feuilletonisten, Politikern und Literaten dominierte «Atmosphäre der Unsachlichkeit, der Unwahrhaf­tigkeit und des Snobismus» (AuB, 348).

Aus Schnitzlers Kritik an Hofmannsthal kennen wir schon seine Auffas­sung des “Snobismus” als ästhetisierten und affektierten Bezug zur Wirk­lichkeit. Im Snobismus erkennt Schnitzler allerdings nicht nur eine Weltent­fremdung des Dichters Hofmannsthal, sondern vielmehr die «Krankheit der Zeit»[25] und geradezu «eine der Wurzeln dieses Krieges»[26], wie er 1917 im Tagebuch notiert. Somit ist Schnitzlers Kritik am Snobismus nicht nur eine psychologische und auf Hofmannsthal beschränkte, sondern auch eine ausdrücklich zeitkritische, wie im Übrigen auch folgende Äußerung aus sei­ner nachgelassenen Friedensschrift über die intellektuelle Atmosphäre die­ser Zeit deutlich macht:

Nicht das Erschütterndste, aber das Betrübendste vielleicht ist dies­mal, daß die Intellektuellen, von denen wir gehofft haben, sie würden es uns doch möglich machen, ihnen über den Abgrund dieses Völker­krieges die Hand zu reichen, beinahe völlig versagen, daß sie die Tat­sachen nicht sehen wollen oder auch nicht sehen können. (AuB, 193)

In ihrem Snobismus oder in ihrem prekären, dabei blass ästhetisierten Bezug zur Realität versagten die Intellektuellen, indem sie «die Tatsachen nicht sehen wollen oder können». Sie seien durch die ungeheuren «Lügen, die schon vor Beginn des Krieges eingesetzt haben», irregeführt und ver­wirrt (vgl. AuB, 193). Diese “Lügen” sind in Schnitzlers Augen auf zwei Dogmen zurückzuführen, die unbedingt zu bekämpfen seien: einerseits das Dogma des läuternden Einflusses des Krieges und andererseits das Dogma der Schicksalsnotwendigkeit des Krieges. Gegen die erste Gesinnung argu­mentiert Schnitzler im Januar 1915 in seiner Friedensschrift wie folgt:

Viele Feuilletonisten finden, daß die Menschheit nach diesem Kriege irgendwie gereinigt und geläutert sein werde.

Die Gründe für diese Annahme sind unklar: keiner der Kriege, die bisher in der Welt geführt worden sind, hat diese Folge gezeitigt. [...]

Wer werden die Geläuterten sein? Die ein Bein verloren haben oder ein Auge? Oder die Eltern, die ein Kind, die Frauen, die ihren Mann verloren haben? Oder die Leute, die zu Grunde gingen? Oder die Leute, die durch Armeelieferungen Millionen verdient haben? Oder die Diplomaten, die den Krieg angezettelt haben? Oder die Monar­chen, die siegreichen oder die geschlagenen? Oder die Feuilletonisten, die daheim geblieben sind?

Diejenigen, die geläutert sein werden – ich wage es zu vermuten – sind es schon vorher gewesen. (AuB, 199)

Einmal mehr spricht hier der Mediziner und Diagnostiker, dessen nüch­terner Blick das Kriegsgeschehen unmöglich idealisieren oder ästhetisieren kann. Hier spricht aber auch der Skeptiker, der Dogmen ablehnen muss und der keine absoluten Werte setzen kann. So auch gegen das Dogma der Schicksalsnotwendigkeit des Krieges:

[Unsinn ist] auch der Satz, daß der Krieg eine Notwendigkeit sei und man sich daher nicht gegen ihn auflehnen dürfe. Auch Pest und Cho­lera sind Notwendigkeiten. Erst daß wir uns gegen angebliche Not­wendigkeiten auflehnen, macht uns ja zu Menschen. Und jedenfalls ist auch das Sichzurwehrsetzen Notwendigkeit. Glauben wir nicht an den freien Willen, so ist die Welt ja Unsinn [...]. (AuB, 205f.)

In Schnitzlers Augen sei dieses «Dogma» auch deswegen nicht berech­tigt, weil der Krieg nicht in der menschlichen Natur begründet sei, sondern im Wesen der Staatenbildung und in dem Verhältnis der einzelnen Staaten zueinander (vgl. AuB, 222f.). Schnitzlers Argumente setzen sich einer äs­thetisierenden und zugleich dogmatischen Tendenz der Zeit diametral ent­gegen und bringen die Diskussion von der sehr verbreiteten “metaphysi­schen” Ebene von Schicksal, Kausalität und Determinismus, die im Krieg einen höheren Sinn finden will, auf eine zu postulierende “ethische” Ebene von freiem Willen, Verantwortung und Recht hin. Von der Feststellung aus, dass «nicht die Menschen, sondern die Organisationen [zu bessern sind]», ist für Schnitzler eine eventuelle Bewegung gegen den Krieg einzuleiten (vgl. AuB, 214f.): Es handele sich darum, die staatlichen Organisationen umzugestalten. Auf diesem Weg solle die Existenz von Menschen unmög­lich gemacht werden, denen der Krieg einen Vorteil bringen kann und de­nen zugleich die Macht gegeben ist, ihn zu entfesseln (vgl. AuB, 208).

Wenn Schnitzler beklagt, dass die Intellektuellen in ihrer snobistischen Haltung im Weltkrieg versagt haben, so ist es vor allem deswegen, weil sie dem Kriegsgeschehen mit antirationalistischen und metaphysischen Kate­gorien gegenüberstehen. Sie seien «im Gebrauch ihrer logischen Fähigkeit durch ihr National- und Zugehörigkeitsgefühl erheblich gestört» (AuB, 193). Die mehrheitlichen antirationalistischen, idealistischen und nationa­listischen Tendenzen der Zeit teilt Schnitzler nicht. Er hält sie für “Snobis­mus”, einen damit weit über dessen ursprünglichen Sinn hinausgehenden Begriff, der in seinen Augen (wie er in einer nachgelassenen Aufzeichnung aus dem Jahr 1915 schreibt) das «mächtigst[e] Element moderner sozialer Entwicklung und Gliederung» bildet (AuB, 233). Als Skeptiker glaubt er, einen solchen Snobismus ablehnen zu müssen, welcher «der politischen At­mosphäre des Konservatismus, der philosophischen des Glaubens und des Optimismus bedarf [...]» (AuB, 233).

Wie ebenfalls aus dem Nachlass hervorgeht, bezieht Schnitzler wie kaum ein anderer Schriftsteller von Anfang an gegen den Krieg Stellung. Genauso eindeutig wendet er sich gegen den “Kulturkrieg” sowie gegen die in der Publizistik seiner Zeit vorherrschende geistige Atmosphäre des Konserva­tismus, Dogmatismus und Antirationalismus. In dieser Atmosphäre, die den Krieg für ihre Zwecke instrumentalisiert, mit der er nicht mittrommeln will und von der er sich als Dichter völlig missverstanden fühlt, glaubt Schnitzler keine andere Möglichkeit zu haben, als sich vorübergehend von der Öffentlichkeit zurückzuziehen – eine Entscheidung, die sicher proble­matisch erscheinen kann, die aber die Prägnanz seiner Kritik nicht beein­trächtigt.

Vor dem Hintergrund von Schnitzlers Zeitkritik bleibt zuletzt zu hinter­fragen, wo Hofmannsthal in diesem beschriebenen geistigen Panorama zu verorten sei. An dieser Stelle kann Hofmannsthals Position in den Kriegs­jahren nur skizziert werden, indem auf die Frage fokussiert wird, inwiefern er für Schnitzler in Bezug auf den Weltkrieg als Repräsentant der Atmo­sphäre des “Snobismus” zuzurechnen sei. Dabei wird hauptsächlich auf Hofmannsthals Aufsatz Antwort auf eine Umfrage des “Svenska Dagbladet” (1915) Bezug genommen.

Wie aus diesem Aufsatz sowie allgemein aus seiner Kriegspublizistik her­vorgeht[27], sieht der Dichter im Weltkrieg keine im traditionellen Sinne po­litische, sondern vor allem eine geistige Mission, eine Chance zu einer Aufer­stehung der Kultur, die sich insbesondere in der “europäischen Idee” kon­kretisiert. Die geistige, “europäische” Integration, die der Krieg in Hof­mannsthals Augen herbeiführen soll, hat nichts mit dem aufklärerischen Universalismus zu tun, sondern ist organisch bedingt und geht auf den ro­mantischen Europa-Begriff zurück[28]. Damit ist eine organische Einheit gemeint, die nach dem «glücklich überstandenen Kriegsgewitter»[29] durch den schöpferischen Geist der deutschen Kultur zusammengehalten wird. Ge­nau in diesem Sinne schreibt Hofmannsthal in seiner Antwort: «Für uns – noch mehr als für die andern – hat dieser Krieg auch eine geistige Bedeu­tung, die mit nicht minderer Kraft uns anfasst, als die von allen erkannte furchtbare materielle Wucht des Geschehens»[30]. Der Krieg sei somit als Wendepunkt, als Auslöser einer erwünschten geistigen Umwälzung und als Voraussetzung für ein neues Europa zu verstehen, das aus der Asche des zivilisierten und als flügellahm empfundenen “alten” Europa geboren wer­den soll.

Gerade gegen den Geist von Rationalität, Modernisierung und Zivilisa­tion plädiert Hofmannsthal im zitierten Aufsatz für geistige anstatt amtliche Formen der Autorität, für ein Wiedererwachen des religiösen Geistes, sowie für einen “hohen” Begriff des Volkes gegen den Begriff der Masse. Wenn sich Hofmannsthal auch nicht in die nationalistischen Muster der Zeit ein­passt, so argumentiert er dennoch in seiner Kriegspublizistik mit den in der Debatte um den “Kulturkrieg” überwiegenden lebensphilosophischen, zi­vilisationskritischen und metaphysischen Kategorien, denen Schnitzler sehr skeptisch gegenübersteht. Nicht zuletzt hierin scheint der Grund zu liegen, weswegen Schnitzler, von seiner Zeitkritik ausgehend, im Tagebuch von Hofmannsthals «Feudalismus»[31] und «Snobismus»[32], von seinen «politi­schen Allüren» und seiner «problematischen Stellung»[33] in den Kriegsjahren berichtet. In Hofmannsthals Engagement für einen neuen europäischen «Organismus, durchströmt von der inneren Religion zu sich selbst»[34] er­blickt der Mediziner Schnitzler ein Symptom des in seinen Augen allgemein erkrankten Geistes seiner Zeit. Von seiner Skepsis gegenüber jeder Ideali­sierung ausgehend, kritisiert Schnitzler Hofmannsthals Position, weil er da-rin die Gefahr einer Ästhetisierung der Geschichte, ja eine ästhetische Ver­einnahmung des Kriegsgeschehens wahrnimmt[35].

Man mag Schnitzlers Hofmannsthal-Kritik berechtigt finden oder nicht: Hofmannsthal hat seine Positionen der Kriegsjahre später ja selbst revidiert sowie seine kulturellen Visionen weiterentwickelt. Bezeichnend bleibt aber Schnitzlers Zeitkritik in den Kriegsjahren, insbesondere angesichts der all­gemeinen (publizistischen) Begeisterung der Zeitgenossen. Besonders ab diesen Jahren erblickt Schnitzler im Snobismus nicht nur eine gestörte, äs­thetisierte Beziehung der Intellektuellen zur Wirklichkeit, vielmehr glaubt er darin, das «mächtigst[e] Element moderner sozialer Entwicklung und Gliederung» (AuB, 233) zu erkennen, wie er in der erwähnten nachgelasse­nen Notiz aus dem Jahr 1915 schreibt. Soziale Entwicklung und Gliede­rung, Gemeinsinn und Kohäsion können in Schnitzlers Augen schwer auf dem Weg einer radikalen Ästhetisierung aller Ebenen der Existenz, und so­mit auch von Politik und Geschichte, erreicht werden. Aus dieser Perspek­tive erweist sich seine Kritik auch als der Versuch, die Rolle der Intellektu­ellen und nicht zuletzt die fragile Beziehung zwischen Ästhetik, Ethik und Politik in Zeiten der Krise und des Umbruchs zu hinterfragen und neu zu bedenken. Und unter diesem Gesichtspunkt hat Schnitzlers Diagnose bis heute nichts an Brisanz eingebüßt.

Siglenverzeichnis

AuB   Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke: Aphorismen und Betrachtungen, hrsg. von Robert O. Weiss, Fischer, Frankfurt a.M. 1967;

Tb     Arthur Schnitzler Tagebuch, unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hrsg. von der Kommission für litera­rische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaf­ten (Obmann: Werner Welzig), Verlag Österreichische Akademie der Wis­senschaften, Wien 1981-2000, 12 Bände;

SW    Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hrsg. von Anne Bohnenkamp (seit 2004), Heinz Otto Burger (bis 1977), Rudolf Hirsch (bis 1996), Clemens Köttel­wesch (1980-1988), Detlev Lüders (bis 1980), Mathias Mayer (seit 1996), Christoph Perels (seit 1989), Edward Reichel (seit 1993), Heinz Rölleke (seit 1974), Martin Stern (bis 1974), Ernst Zinn (bis 1990). S. Fischer, Frankfurt a. M., seit 1975.



[1] Vgl. Erich Zöllner: Geschichte Osterreichs: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, R. Olden­bourg Verlag, München 1979, S. 502ff.

[2] Franz Werfel: «Der Snobismus als geistige Weltmacht», in: ders.: Zwischen oben und unten: Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge, hrsg. von Adolf D. Klarmann, Lan­gen Müller, München 19802, S. 260-278. Von nun an abgekürzt mit der Sigle SgW.

[3] Vgl. dazu einführend: Alexander Košenina: «Snob; Snobismus», in: Historisches Wör­terbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 9, Schwabe, Basel 1995, S. 992f. Vgl. neuerdings auch folgenden Sammelband, der einen Überblick über bedeutende Bearbei­tungen des Themas “Snobismus” (besonders im 20. Jahrhundert) bietet: Péripéties du sno­bisme, hrsg von Jacqueline Bel und Till R. Kuhnle, in: Germanica 49 (2011), Volltext verfüg­bar unter: http://germanica.revues. org/1360 (zuletzt abgerufen am 31.3.2016). Darin (S. 69-82) befasst sich der Beitrag von Michel Reffet gerade mit dem Snobismus in Franz Werfels Werk: «Franz Werfel. Le snobisme, père de tous les maux».

[4] Eines Dichters, den Werfel übrigens auch allgemein als “Ethiker” sehr schätzt. Vgl. etwa den Aufsatz «Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag» (1922) und die Gedenkrede «Arthur Schnitzler» (1932), in: Zwischen oben und unten, a.a.O, S. 434-440.

[5] Die von Werfel zitierten Worte schreibt Schnitzler fast buchstabengetreu in seinem 1927 erschienenen Buch der Sprüche und der Bedenken unter der Rubrik «Tageswirren, Gang der Zeiten», vgl. AuB, 88.

[6] Vgl. ausführlich zu dieser Debatte: Barbara Beßlich: Wege in den “Kulturkrieg”. Zivilisa­tionskritik in Deutschland 1890-1914, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, S. 1-16.

[7] Vgl. Giuseppe Farese: «“in den Wurzeln verbunden”: Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal: eine wunderbare, einzigartige Freundschaft», in: Konstanze Fliedl (Hrsg.): Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert, Picus Verlag, Wien 2003, S. 290-304. Für einen Überblick über Schnitzler und Hofmannsthal sowie über den Stand der Forschung, vgl. außerdem den Beitrag von Dominik Orth: «Hugo von Hofmannsthal», in: Schnitzler Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, S. 19-21. Allgemein be­trachtet bleibt der bekannteste Aufsatz zu Schnitzler und Hofmannsthal im fin de siècle: Carl E. Schorske: «Die Seele und die Politik. Schnitzler und Hofmannsthal», in: ders.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Fischer, Frankfurt a.M. 1982, S. 3-21.

[8] Arthur Schnitzler: Hugo von Hofmannsthal. «Charakteristik aus den Tagebüchern», hrsg. von Bernd Urban in Verbindung mit Werner Volke, Freiburg 1975 (= Hofmannsthal-For­schungen 3).

[9] Ebd., S. 25.

[10] So schreibt er zum Beispiel am 5. Februar 1906, dass er Hofmannsthals Oedipus kalt bewundere, weil in diesem Stück «so unglaublich viel, so starkes herausgebracht ist, mit einem so geringen Interesse am Gegenstand» (Tb 1903-1908, 183). Zu Schnitzlers Kritik an anderen Werken Hofmannsthals vgl. außerdem: Tb 1909-1912, 22.3.1909, 57 und 16.2. 1910, 127.

[11] Über die Spannung zwischen Talent und “Herzensanteil” in ihrer dichterischen Produk­tion reden Schnitzler und Hofmannsthal interessanterweise auch persönlich, wie Schnitzler am 12. Mai 1906 im Tagebuch notiert. Vgl. Tb 1903-1908, 201.

[12] Zu Schnitzlers Ringen um die Synthese zwischen Dichtung und Wissenschaft vgl. das «Vorwort» von Horst Thomé zu den Medizinischen Schriften, Fischer, Frankfurt a.M. 1991, S. 11-59.

[13] Zur Zweiten Wiener medizinischen Schule vgl. das Standardwerk von Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Hermann Böhlaus Nachf., Graz 1965.

[14] Horst Thomé: «Vorwort», S. 30. Zum Naturkult um 1900 vgl. auch Jost Hermand: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Fischer, Frankfurt a.M. 1991.

[15] Zum “therapeutischen Skeptizismus”, der den jungen Medizin-Studenten und spä­teren Dichter Schnitzler prägt, vgl.: Mark Luprecht: What People call Pessimism: Sigmund Freud, Arthur Schnitzler and Nineteenth Century Controversy at the University of Vienna Medical School, Ariadne Press, Riverside 1991. Zu Schnitzlers “medizinischer Weltanschauung” vgl. au­ßerdem Olga Schnitzler: Spiegelbild der Freundschaft, Residenz Verlag, Salzburg 1962, S. 52f.

[16] Zu Hofmannsthals Ästhetik und deren Beziehungen zur Lebensphilosophie im Frühwerk vgl. Gregor Streim: Das “Leben” in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal, Königshausen & Neumann, Würzburg 1996. Zur Lebensphilosophie in Hof­mannsthals Spätwerk vgl. Cristina Fossaluzza: Poesia e nuovo ordine. Romanticismo politico nel tardo Hofmannsthal, Cafoscarina, Venezia 2010.

[17] So scheint seine Kritik nicht nur einer unverbindlichen Literatur zu gelten (wie Horst Thomé in seinem erwähnten «Vorwort» zurecht hervorhebt, vgl. S. 55), sondern explizit auch einer radikal subjektivorientierten.

[18] Zur neoromantischen Renaissance (sowie zur Entstehung anderer “Neostile”) in der kulturkritischen Debatte der Jahre 1890-1914 vgl. etwa Barbara Beßlich: Wege in den “Kul­turkrieg”. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, a.a.O, S. 1-16, besonders S. 13.

[19] Vgl. Walter Müller-Seidel: «Literarische Moderne und Erster Weltkrieg. Arthur Schnitzler in dieser Zeit», in: Uwe Schneider / Andreas Schumann (Hrsg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, S. 13-37, bes. S. 26f.

[20] Ebd.

[21] Zur Debatte um den Ersten Weltkrieg vgl. etwa folgende Studien: Wolfgang J. Mo­mmsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, Oldenbourg, München 1996 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien; 34), Barbara Beßlich: Wege in den «Kulturkrieg». Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, a.a.O und Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Akademie-Verlag, Berlin 2001.

[22] Vgl. dazu auch Adrian Clive Roberts: Arthur Schnitzler and Politics, Ariadne Press, Riv­erside 1989 (= Studies in Austrian Literature, culture and thought).

[23] Vgl. Arthur Schnitzler: Briefe 1913-1931, hrsg. von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler, Fischer, Frankfurt a.M. 1984, S. 64-69.

[24] Vgl. Ebd., S. 66ff.

[25] Tb 1917-1919, 24.11.1917, S. 92.

[26] Ebd., 20.10.1917, S. 84.

[27] Für eine weiterführende Analyse von Hofmannsthals Kriegspublizistik vgl. Gregor Streim: «Deutscher Geist und europäische Kultur. Die “europäische Idee” in der Kriegs­publizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz», in: Germanisch-romanische Monatsschrift, hrsg. von Conrad Wiedemann, Winter, Heidelberg, Bd. 46 (1996), S. 174-197.

[28] Vgl. dazu auch Cristina Fossaluzza: «Phönix Europa? Krieg und Kultur in Rudolf Pann­witz’ und Hugo von Hofmannsthals europäischer Idee», in: Sascha Bru / Peter Nicholls (Hrsg.): Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent, de Gruyter, Berlin 2009, vol. 1, S. 113-125.

[29] Hofmannsthal, Hugo von: Aufbauen, nicht einreißen, in: SW XXXIV: Reden und Aufsätze 3 [1910–1919], hrsg. von Klaus E. Bohnenkamp, Katja Kaluga und Klaus-Dieter Krabiel, 2011, S. 135.

[30] Hofmannsthal, Hugo von: Antwort auf eine Umfrage des “Svenska Dagbladet”, in: SW XXXIV (Reden und Aufsätze 3), S. 159.

[31] Tb 1913-1916, 13. 11. 1914, 150.

[32] Tb 1917-1919, 26. 4. 1917, 39.

[33] Tb 1913-1916, 26. 11. 1915, 241.

[34] So etwa Hofmannsthals Formulierung im Aufsatz Die österreichische Idee, in: SW XXXIV (Reden und Aufsätze 3), S. 207.

[35] Zu einem «idealistische[n] Rückzug» Hofmannsthals «ins Künstlerisch-Ästhetische» in den Kriegsjahren vgl. auch Andreas Schumann: «“Macht mir aber viel Freude”. Hugo von Hofmannsthals Publizistik während des Ersten Weltkriegs», in: Uwe Schneider / An­dreas Schumann (Hrsg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, a.a.O, S. 137-151, hier S. 150.

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Gernot Waldner

(Cambridge, MA)

Wie man’s nimmt
Zum Zusammenhang von Rassentheorien und Humor
in den Schriften von Fritz von Herzmanovksy-Orlando

[How you look at it. The relations between grotesque humour and racial theories
in the writings of Fritz von Herzmanovsky-Orlando
]

abstract. This article discusses the relationship between grotesque humor and racial theo­ries in the works of Fritz von Herzmanovsky-Orlando. The humor of his literary works comprises deviant characters and slips of the tongue, exposing a penchant for physiological and philological deviations. In his esoteric writings, ariosophic legends and etymological acumen serve to reconstruct inhabitants and languages of a fallen age. The author’s humor is thus based on political beliefs of the 1920’s, rendering him, his people and language greater than they could actually be.

Ja, ja; nein, nein.

(Matthäus 5:37)

Einleitung

Zu Lebzeiten erschienen nur zwei Bücher von Fritz von Herzmanovsky-Orlando, die kleine Novelle Der Kommandant von Kalymnos im Selbstverlag in Venedig und Der Gaulschreck im Rosennetz bei Artur Wolf in Wien, letzterer verkaufte sich nicht und wurde nach kurzer Zeit unter einem anderen Titel verramscht. Die beiden Texte erschienen Ende der 1920er Jahre, in dem Jahrzehnt, in das bis auf wenige Ausnahmen die gesamte künstlerische Pro­duktivität von Herzmanovsky-Orlando fällt. Hunderte von Zeichnungen entstanden, drei Romane, sowie zahlreiche Fragmente, Ballette, Pantomi­men und Dramen[1]. FHO war finanziell nicht auf den literarischen Erfolg angewiesen. Aus einer kulturkonservativen Familie des Wiener Beamten­bürgertums stammend lebte Fritz von Herzmanovsky-Orlando seit 1914 krankheitsbedingt in Meran, dem heutigen Südtirol. Ein vermutlich be­freundeter Arzt stellte ihm ein Attest aus, seinen Beruf des Architekten nie­derzulegen, und von nun an «den wärmsten Ort der Donaumonarchie» zum Wohnsitz zu wählen. Angeblich war das Meran, welches Herzmanovsky-Orlando bereits durch familiäre Reisen während seiner Kindheit kannte. Er verbrachte in Südtirol mehr als zwei Drittel seines Lebens und lebte von Mieterträgen, die zwei Zinshäuser in Wien und ein Grundstück in der Leipziger Innenstadt abwarfen. Seine Versuche, Manuskripte zu publizie­ren, wurden häufig mit der Begründung abgelehnt, dass er darin alles ins Lächerliche ziehe und ihm der nötige, einem Roman angemessene Ernst fehle[2]. Auch Überlegungen, welche die Zumutbarkeit an ein bestimmtes re­gionales Publikum betrafen, waren relevant. So äußerte ein deutscher Lek­tor «Zweifel daran [...], ob die entzückenden österreichischen Ironien in Deutschland und namentlich in Norddeutschland immer verstanden wer­den»[3]. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Name Fritz von Herzmanovsky-Orlando zumindest in Österreich, wo 1945 eine geringere gesellschaftliche Zäsur darstellt, zu einigem Ansehen. Friedrich Torberg freundet sich mit dem inzwischen über 70-jährigen Autor an und initiiert eine vierbändige Ausgabe der Werke, die zwischen 1958 und 1963 erschien. Die Verbindung mit Torberg hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass auch FHO als einer der Nachkriegsautoren gesehen wurde, die sich nostalgisch verkauzt auf der Suche nach kultureller Tradition den Themen und Figuren der untergegangenen Donaumonarchie widmen. Diese kulturelle Kontinu­ität, welche die NS-Zeit und den Austrofaschismus literarisch überbrückte, bildet die Patina der ersten Edition der Texte von Herzmanovsky-Orlando. So zutreffend dieser Befund für die populäre Rezeption nach 1945 auch sein mag, diese Arbeit vertritt dagegen die These, dass die nostalgische Di­mension der Texte weniger mit der untergegangen Donaumonarchie als mit ariosophischen Rassentheorien zusammenhängt. Letztere bilden den Groß­teil des archivierten Nachlasses, auch wenn ihnen in der Sekundärliteratur sowie in der erhältlichen Edition kaum oder wenig Raum gegeben wurde. Die letzte, auf Initiative des Brenner-Archivs Innsbruck unter der Leitung von Walter Methlagl und Wendelin Schmidt-Dengler erschienene Ausgabe sämtlicher Werke enthält neben zahlreichen unveröffentlichten literari­schen Texten auch Herzmanovsky-Orlandos Briefwechsel mit Alfred Ku­bin, Walter Benjamin, Jörg Lanz von Liebenfels und den Rittern des Neu­templer-Ordens. [4] Der esoterische Nachlass wurde jedoch aus editorischen und ökonomischen Gründen ausgelassen und im Archiv entweder den je­weiligen literarischen Werken zugeordnet oder unter Schlagwörtern wie «Mystik» lose gruppiert[5]. Der Neuausgabe sämtlicher Werke muss man zu Gute halten, dass sie die esoterische Forschung erstmals thematisiert und als Teil der Biographie des Autors darstellt. Was bisher allerdings noch nicht geschah, ist die Verbindung zwischen den literarischen und den esoteri­schen Schriften zu diskutieren. Vor dem Hintergrund des öffentlichen Stel­lenwerts sowie der bisherigen Rezeption nimmt sich damit das Unterfangen dieser Arbeit wie ein Mittelweg aus, dem es weder darum geht den Autor politisch pauschal zu diskreditieren noch die Werke rein ästhetisch zu be­handeln, als wären sie gleichsam in einem luftleeren Raum entstanden.

Fritz von Herzmanovsky-Orlando wurde also, nachdem ihm zu Lebzei­ten die Beamtenlaufbahn versagt geblieben war, nach 1945 literarisch in den Dienst der Monarchie genommen. Diese nostalgische Lesart konnte aber nur so Geltung beanspruchen, bis die langjährige und von den 1920er bis in die 1950er Jahre bestehende Verbundenheit mit dem Rassentheoretiker Jörg Lanz von Liebenfels sowie die Mitgliedschaft Herzmanovsky-Orlan­dos in der NSDAP bekannt wurden. Hatte sich davor in Wien innerhalb kurzer Zeit für einen absurden bis grotesken Sachverhalt das Adjektiv «herzmanovskysch» eingebürgert, so wollte diese kurrente Münze nun nicht mehr ihren Besitzer wechseln. Die Thematisierung des Schriftstellerlebens während der NS-Zeit vertrug sich mit der nostalgischen Kontinuität nicht, und ein einzelner Schriftsteller besaß nicht die identitätsstiftende Funktion, wie sie der Österreichtourismus später entwickeln sollte.

Einer der Leiter der zehnbändigen Ausgabe, Wendelin Schmidt-Deng­ler, hat die Poetik Herzmanovsky-Orlandos ausgehend von einem Frag­ment, Et in styria Dionysos, so charakterisiert, dass es in seinen Werken um die Relation zwischen Österreich und einem vergangenen Griechenland gehe[6]. Das überrascht zunächst, da viele der grotesken Texte nicht im Ge-ringsten von Griechenland handeln, sondern trotz provinzieller Vielfalt ir­gendwie österreichisch bleiben. Sowohl «Österreich» als «Griechenland» er­scheinen, wie man sehen wird, als zu vage Komplexe, wenn man die Ver­bindung zwischen literarischen und esoterischen Schriften beschreiben will.

Literarische Reste

Ein gewisser Herr Jaromir Sbitek aus Časlau, ein bekannter preisge­krönter Linguist, schrieb vor Jahren folgenden Brief über seine Reise­eindrücke einer Fahrt nach Wien an seinen Bruder Zdenko in Časlau.[7]

Der Inhalt des nachfolgenden Briefes ist schnell vorweggenommen. Nach der Ankunft mit der Nordbahn und den Empfang durch «Landsleute» fährt Jaromir Sbitek durch die Ringstraße zum Hotel Imperial, wo er zufällig Zeuge eines großen Empfangs wird. Im Hotel bewundert er die luxuriöse Einrichtung und versucht auf abendlichen Empfängen mit Adeligen in Kontakt zu kommen, zeigt sich beeindruckt von der Erscheinung der Gäste und hört ein Konzert. Am nächsten Morgen fährt er nach Schönbrunn, be­sichtigt das kaiserliche Anwesen, um anschließend im Prater zu Mittag zu essen, ein weiteres Schloss zu besichtigen und Abends in die Oper zu gehen, wo er einer Sängerin Blumen schenkt und mit ihr eine Affäre beginnt. Ent­sprechend euphorisiert beendet Jaromir Sbitek den Brief an seinen Bruder mit den Worten: «Ich glaube, Du wirst bald unerwartete Dinge von mir hören. Für heute bin ich Dein beneidenswerter Bruder»[8].

Dem Inhalt nach klingt dieser Brief wie eine Sammlung von Postkarten aus Wien. Bevor aber die Form des Schreibens selbst in den Blick genom­men werden kann, ist noch etwas zum einleitenden Absatz zu sagen. Jaro­mir Sbitek kommt aus Časlau und sendet den Brief dorthin zurück, an sei­nen Bruder. Die Struktur dieser Botschaft lässt also den Herkunftsort des Senders und den Empfangsort des Briefes zusammenfallen. Um es leicht bösartig zu pointieren: selbst in Časlau wird über Wien geredet; was das mit Wien zu tun hat, wird man in Časlau bestimmt wissen. Allein in der Anlage dieses Schreibens kommt damit ein Motiv zu tragen, welches sich durch zahlreiche Texte Herzmanovsky-Orlandos zieht. Seine Darstellungen ver­weigern eine zentrale Perspektive auf repräsentative Dinge, seien es Institu­tionen, Symbole, Personen oder Hauptstädte. Die Perspektive ist stets eine abseitige, wie im Falle Herzmanovsky-Orlandos so auch beim Linguisten Sbitek.

Das Wort «Sbitek» bezieht sich im Tschechischen auf einen Rest, Über­rest oder Rückstand. Sbitek ist das, was übrig bleibt und suggeriert im Abs­trakten ein Ganzes, das einmal war und von dem sich nichts bis auf einen Sbitek erhalten hat[9]. Mehr lässt sich über den Reisenden, der aus der Pro­vinz in die Residenzstadt kommt neben seinem Beruf des Linguisten nicht sagen. Um das Programm dieser Wissenschaft genauer in Erfahrung zu bringen, lassen wir den Linguisten selbst zu Wort kommen. Jaromir Sbitek kommt in Wien an:

Lieber Bruder!
Soeben kam ich mittels eines Kompreßzuges der Mordbahn hier in Wien an. Schon am Bahnhof erwartete mich eine Deportation unserer Landsleute – lauter konfinierte Gesichter –, die mich in das Kartel Impertinal – ein Haus ersten Ranges – eskamontierte. [...] Vor dem Kartel angelangt, wurde ich Zeuge eines histerischen Monumentes. Ein fremder Souterrain – wie ich später erfuhr, war es der Endivie von Egypten – war mit großer Suada angekommen und wurde nach Ver­lassen der vierspännigen Eremitage von gouillotierten Lackeln mit brennenden Skandalabern umringt und in das festlich illustrierte Ridi­cul des prunkvollen Fremdenballastes evakuiert.
[10]

Wie die inhaltliche Zusammenfassung erwiesen hat, ist dieser Absatz schon an sich ein kleiner Affront gegen eine Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, sprachliche Bedeutungen zu klären. Denn uneigentliches Sprechen, Vagheiten, Ambivalenzen, Nebenbedeutungen und Hintersin­nigkeiten stören die Vermittlung von dem, was Jaromir Sbitek erlebt hat, kaum. Nichtsdestotrotz machen seine dem Bildungseifer geschuldeten Un­deutlichkeiten durchwegs deutlich, dass sozusagen ein Sbitek zwischen dem Text und dem Erlebten steht. Demnach ist der Name des Protagonisten hier ein Programm: kein Wort geht zur Gänze auf. Aber was macht der Rest, den Sbitek von sich gibt, hier genau?

«[M]ittels eines Kompreßzuges der Mordbahn» kommt Jaromir Sbitek in Wien an. Die Nordbahn von Wien nach Brno wurde 1839 eröffnet, an der ersten Fahrt nahmen 1200 Reisende teil und die Strecke von 144 Kilome­tern wurde in viereinhalb Stunden zurückgelegt. Bereits auf der Rückfahrt kam es zum ersten Zugunglück, dem noch weitere folgen sollten, so dass in der Bevölkerung von der Mordbahn Kaiser Ferdinands gesprochen wurde. Im Oktober desselben Jahres, erwies sich der Zug samt aller Passagiere als zu schwer für die Lokomotive, die Auslastung der Strecke war maximal. Wenn «Expresszug» also die offizielle Bezeichnung gewesen sein sollte, so entbehrt das nicht einer gewissen Ironie, wohingegen das dosensardinische Fahrgefühl im Neologismus «Kompresszug» besser getroffen wird. Beide vermeintlichen Fehler sind also keine simplen Kalauer, sondern charakteri­sieren Defizite des Eisenbahnwesens[11]. Das auf das Hotel Imperial am Kärntner Ring anspielende «Kartel Impertinal» weist in eine ähnliche Rich­tung, indem an der Zusammenkunft der Adeligen jene Form von sozialer Abschottung angesprochen wird, der das Hotel dient. Beim zweiten ver­wechselten Wort wird der ebenso unfreiwillige wie pejorative Standpunkt deutlich, wenn das Hotel Imperial mit Impertinenz verbunden wird. Diese Bewegung von den diversen Repräsentationen und den Spitzen der Gesell­schaft in verschiedene niedere Bereiche setzt sich fort. Aus dem Souverän wird ein Kellergeschoss, aus Khedive eine Salatsorte, aus dem Vestibül eine Lächerlichkeit, aus einem historischen Augenblick ein überemotionalisier­tes Denkmal. Die vorgesehenen Worte werden von dieser Bewegung nach unten erfasst und durch die ähnlich klingende Stellvertreter abgewertet. In diesen Ähnlichkeiten liegt auch die Prägnanz des Verfahrens, minimale Ab­weichungen erzeugen die größten Effekte[12]. In dieser semantischen Ab­wärtsbewegung von hoher Erwartung zu niederer Buchstäblichkeit liegt die Komik eines ersten Verfahrens, in dem die materielle Seite des einzelnen Wortes in komischer Verbindung zur erkennbar intendierten Bedeutung steht[13]. Diese Differenz von ambitionierter Intention und misslingender Aussage hat nun mehrere Dimensionen. Das Ziel, mit dem sie realisiert werden, ist in der Prosa stets eine Art von Komik im Sinne Jean Pauls, also das Ausstellen einer Diskrepanz zwischen Absicht und Erfüllung, wie es emblematisch im ersten Textabschnitt vorkam[14].

Die zweite Dimension knüpft an das Verhältnis an, das zwischen Jaromir Sbitek und Wien besteht, da in ihr die Diskrepanz zwischen institutionali­sierter Schriftlichkeit und dialektaler Mündlichkeit verhandelt wird. In den meisten österreichischen Dialekten wird nicht zwischen stimmlosen und stimmhaften labiodentalen oder alveolaren Plosiven unterschieden, einfa­cher gesagt, [p] wird wie [b] ausgesprochen und [t] wie [d]. Daher rührt der bis heute gepflegte Sarkasmus gegenüber der «teutschen Tugent». Im Fall dieses Textes heißt das aber, dass in Österreich die Fremdenpaläste im ge­sprochenen Singular immer schon ein Ballast sind, und der im Text durch­klingende Chauvinismus auch aus der Indifferenz besagter Plosive resul­tiert. Der Fremdenpalast wird im Text von FHO daher nur so geschrieben, wie er immer schon ausgesprochen wurde. Ein anderes Beispiel liefert der in den Texten häufig vorkommende böhmische Akzent, der sich prominent durch eine andere Artikulation gerundeter Vokale auszeichnet, dadurch dass [ü] als [i] ausgesprochen wird. Frau Watzka, ebenso aus Časlau, ver­sucht sich an eine der vier Himmelsrichtungen zu erinnern. «[W]ie heißt mer’s, wo die Wirschtel aufspringen? Richtig, im Sieden». Dieses zweite Verfahren macht also die Unterscheidung, die im ersten zwischen Intention und Realisierung gemacht wurde, intrikater. Denn während beim ersten Verfahren die Fälle einfach als Versprecher abgetan werden könnten, ste­hen beim letzteren die Homophone, wie «Sieden» und «Fremdenballast» systematisch zwischen der dialektalen Ebene der Sprecher und dem offizi­ellen Regelwerk der Orthographie. Das zweite Verfahren geht also über die Ebene der einzelnen Sprechakte hinaus und verweist auf die Diskrepanz zwischen standardisierter und gesprochener Sprache. In dieser Form von Komik schaffen es die dialektalen Individuen nicht, der Standardsprache gerecht zu werden. Ihre Untererfüllung ist systematisch.

Kehren wir jedoch nach den beiden Formen der Komik, die sich auf den Achsen von Intention und Realisierung bzw. Standard und Dialekt bewe­gen, noch einmal zu Jaromir Sbitek zurück. Zu Beginn seiner Fahrt referiert Jaromir Sbitek die Geschichte der Stadtmauer von Wien.

In vergangener Zeit haben entmenschte Feinde massenhaft auf diese Circumcision geschossen. Dazu hat auch der bekannte, geradezu dämo­nische Dreikäsehoch Napolium gehört, dessen wohlverdientes Ende dann auch ein Kragenmeps – verzeihe! – ein Magenkrebs geworden ist.[15]

Der Relativsatz, der das Ende von «Napolium» beschließt, enthält – un­erwarteter Weise – eine parenthetische Correctio. Dieses sich auf «Kragen­meps» beziehende «[V]erzeihe!» bricht mit dem bisherigen Stil des Textes. Die Pointe dieser Aposiopese besteht natürlich darin, dass der preisge­krönte Linguist hier zum ersten Mal einen seiner zahlreichen Fehler be­merkt. Die Correctio ist hier ein metatextueller Witz, der im durchgängig fehlerhaften Sprechen seinen Effekt aus der Selbsterkenntnis eines einzigen Fehlers zieht. Die Perfidität dieses Metawitzes besteht aber darin, dass nun selbst das Unlustige lustig wird. Im Gegensatz zu den beiden vorangegan­genen Analysen, kann hier nicht mehr von einem Verfahren gesprochen werden, sondern eher von einem Verdikt: jede Erkenntnis einer falschen Aussage besitzt alleine schon deshalb eine Diskrepanz, weil die sprechende Person ein zur Persona geronnener Fehler ist. Die Selbsterkenntnis wird dann komisch, wenn sie vor dem Hintergrund eines systematischen Man­gels zur reinen Geste wird.

Die literarischen Texte lassen sich tentativ durch drei Merkmale charak­terisieren. Sie entfalten ihr Komik entlang einer Diskrepanz (1) zwischen Intention und Realisierung einerseits und Dialekten und Standardsprache andererseits. Diese Diskrepanz lässt sich als eine fallende Bewegung (2) be­schreiben, in der etwas höher Codiertes wie eine Absicht oder ein sprachli­ches Regelsystem durch die faktische Aussprache oder dialektale Realisie­rung desavouiert werden. Gleichzeitig ist diese fallende Bewegung durch eine gewisse Ausweglosigkeit (3) gekennzeichnet. Die bestehende Sprache sowie deren Sprecher sind zu einem Grad korrumpiert, dass die Erkennt­nisse dessen, was eine korrekte Aussage wäre, nur noch den Charakter einer vergeblichen Geste besitzen und daher selbst verlacht werden müssen. Die­ser Rest, wie er von der Persona Sbitek programmatisch vertreten wird, liegt systematisch zwischen Intention und Realisierung, zwischen zeitlosem Sprachsystem und dialektaler Realisierung, zwischen dem tschechischen Wort und seiner deutschsprachigen Bedeutung. Er blockiert diese Bezie­hungen auf der Ebene der Persona. Es gilt nun aber zu klären woher die in einer grotesken Aktualität kulminierende Abwärtsbewegung rührt und in welcher Beziehung Linguisten wie Sbitek und die Erzähler von Fritz von Herzmanovsky-Orlando dazu stehen.

Fritz von Herzmanovsky-Orlando nahm erst im Laufe der 1920er Jahre diesen Namen an. Er stellte einen Antrag auf Namensänderung, da seine Mutter, laut einer Urkunde aus dem Jahr 1715, aus Nordgriechenland stammte. Sie war eine Orlando, während sein Vater, wie der Autor im Jar­gon der Zeit feststellt, ein «reiner Tscheche» war, ein Herzmanovsky. Im Eigennamen des Autors selbst findet sich also eine Diskrepanz zwischen dem auf einen Antiken Ursprung verweisenden Teil der Mutter und jenem tschechischen des Vaters, mit dem der Autor geboren wurde. Sucht man aber im Nachlass von Fritz von Herzmanovsky-Orlando nach Hinweisen, wie dieser sich verstand, so findet sich dort vieles jedoch kein einheitlicher Name. Das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Aktualität, wie es auch im Nachnamen angelegt zu sein scheint, ist also komplexer als eine Relation zwischen Griechenland und Österreich. Hier ein kleiner Auszug aus dem Namensregister eines Autors:

– Friedrich Ritter von Herzmanovsky-Orlando, Mitglied des Bundes-   denkmalamtes, Meran
– Frédéric de Herzmanovsky, Architect, Membre de la Commission des      Monuments, Vienne
– Architekt Fritz Ritter von Herzmanovsky
– Herr Doktor von Herzmanowsky-Orlando, Villa Franzisca MERAN,      Italien.
– Baron Friedrich Orlando
– Don Frederico de Orlando
– Ingenieur Friedrich von Herzmanovsky.[16]

Die meisten dieser Namen können geographisch situiert werden, weil die Attribute der einzelnen Visitenkarten jeweils bestimmte Regionen nahe legen. Die im Nachlass hinterlegte Identität von FHO breitet sich demnach wie auf einer Karte aus, vom südlichen Don Frederico in Richtung Westen, zu Frédéric de Herzmanovsky, und in den Norden, wo der in Frakturschrift gehaltene Ritter Fritz haust. Die Eigennamen des Autors zerstreuen sich gewissermaßen europäisch und in dieser weiten Gegenwart, in welcher FHO sein Leben veranschlagte, wird der Sbitek zum Prinzip. Der Orlando selbst kann als italienische Form des französischen «Roland» gesehen wer­den, welches wiederum vom Fränkischen «Hrodland», dem bekannten Land, herrührt. Man findet so Reste adeliger und institutioneller Titel, bei­der Nachnamen und verschiedener Vornamen eines Autors ohne sie mit einem bestimmten Prinzip identifizieren zu können. Obwohl dieser Topik im Zeichen der Unbestimmtheit nun neben der linguistischen auch eine räumliche Dimension zugestanden werden muss, ist noch nicht klar gewor­den wie Raum und Sprache zusammenhängen und, vor allem, worauf die Reste der voneinander abweichenden Gegenwart in der Vergangenheit ver­weisen. Einen guten Hinweis darauf, wie Geographie zum Ausgangspunkt esoterischer Forschung wurde, gibt eine der umfangreichsten esoterischen Schriften im Nachlass von FHO. Das in sorgfältiger Handschrift geschrie­bene, hundertzweiundvierzig Seiten umfassende Niederösterreichische Ortslexi­kon. Es gliedert die Namen von Marktgemeinden auf und listet sämtliche Städte und Dörfer dieses Wien umrahmenden Bundeslandes auf[17]. Die Na­men aller Dörfer von Niederrösterreich werden in diesem Buch in ihre Sil­ben zerlegt. Die Heuristik der Forschung, und diese Forschung ist nie mehr als heuristisch, besagt, dass einzelne Namenteile mit althochdeutschen oder lateinischen Prä- und Suffixen korrespondieren. Von diesen werden wiede­rum Lexeme abgeschieden, die dann Dingen wie legendenhaften Feen, ei­nem «Nein-Ort», verschiedenen Quellen, Hügeln, Wallfahrts- und Gnaden­orten, Lichterscheinungen und radioaktiven Erscheinungen zugeordnet werden. Ab und zu steht einfach «verborgen» oder ein Fragezeichen neben einem Dorf. Aus semiotischer Perspektive wird so ein ganzer Teppich von Potentialen vager Bedeutungen über Niederösterreich ausgebreitet. Dass die Orte sinnhaft etwas zu entbergen hätten, wird nie bezweifelt. Das ist die Prämisse dieses Buches. Aber dass eine Rekonstruktion gelingen oder gar erzwungen werden könnte, ist nicht die Bestimmung dieses Lexikons. Diese Form von philologischer Arbeit geschieht hier entlang einer diachronen Achse: blickt man von der Gegenwart in die Vergangenheit, so standen die einzelnen Orte einmal für mehr als das, wofür sie zur Zeit FHOs stehen. Wechselt man die Perspektive und sieht von der Vergangenheit in die Zeit­genossenschaft, so sind, ohne einem Bewohner oder einer Bewohnerin zu nahe treten zu wollen, die Orte inzwischen weniger als das, wofür sie einmal standen. Einem vergangenen Mehr korreliert ein gegenwärtiges Weniger, aber beide Perspektiven gehen nicht in einander auf, auch wenn sie sich am gleichen geographischen Punkt entzünden. Es verbleibt stets ein Sbitek, ein Rest, dem man sich philologisch widmen kann. Das Mehr einerseits und das Weniger andererseits etablieren also eine Unschärfe mit zwei Orientie­rungen: Jedes Dorf ist mehr als nur ein Dorf und gleichzeitig nur mehr ein Dorf.

Das Lexikon verbindet damit zwei sich scheinbar widersprechende Di­mensionen: es hat einen totalen Anspruch ohne absolut zu sein. Total ist es, da es sämtliche Orte, Flüsse, Hügel und Städte in Beschlag nimmt und etymologisch ihre Vergangenheit aus- und andeutet. Absolut ist es aber nicht, da es für keine einzige Herleitung eine abschließende Ausdeutung beansprucht. Etymologien werden stets nur angerissen, ausprobiert und großteils in ihrer rätselhaften Mehrdeutigkeit belassen. Das Namenslexikon bildet damit eine in die Vergangenheit gewandte Totalität, ohne eine Form von prinzipieller Allgemeinheit zu beanspruchen. Und das ist zunächst äs­thetisch konsequent, denn eine Theorie für Dürnbach, Lomitzberg, Müh­ling und Lingheim würde einer Komik anheimfallen, wie die Geste, mit der man, nach einer Formulierung von Musil, etwas Großes bedeutsam auf et­was Kleines legt. Obwohl die Namen ihrer Objekte zum Belächeln einla­den, steckt selbst nichts Komisches in ihnen. Die Komik wird erst manifest, wenn sie als Reste einer großen Vergangenheit behandelt werden, einer Ver­gangenheit, deren ursprüngliche Funktion oder deren zu Grunde liegende Bedeutung nicht klar werden kann. Berücksichtigt man die Unterscheidung zwischen total und absolut, so wird auch die Trivialität des Vorwurfs, dass FHO ein Nazi gewesen sei, deutlich: ausgehend von einem prinzipiellen Rassismus könnte man weder die ariosophischen noch die literarischen Texte erklären, da historische Spezifik dieser Komik sowie dieses Rassismus erst im Zusammenhang beider verständlich wird.

Bevor die Frage nach den Göttern, die diese Welt einst schufen, gestellt wird, kehren wir noch kurz in die Welt der 1920er Jahre und ihren Zeitge­nossen zurück. Biographisch befinden wir uns hier an jener Stelle, an der sich Carmen und Fritz von Herzmanovsky-Orlando großteils in der öster­reichischen Provinz aufhielten, also dort, wo nicht nur die alte Staatsform sondern auch das Wiener Gesellschaftsleben, die Vereine und Institutionen der Donaumonarchie wegfielen. Sozial waren sie auf seltene Besuche, Briefe und Bildungsgut angewiesen, um in der Provinz nicht zu vereinsa­men. Trotz des Erkenntniswertes eines Kreuzworträtsels bietet sich im Na­menslexikon eine symbolische Möglichkeit an, der Provinz mehr an Bedeu­tung abzugewinnen. Mit dem Anlegen von Deutungsvarianten werden die Dörfer im gleichen Zug verklärt und in Beschlag genommen, sie werden sozusagen als Vergangene überhöht, um der provinziellen Gegenwart ein freundliches Abbild abzugewinnen. Und mit diesem etymologischen Wur­zelschlagen gewannen die beiden Entwurzelten mit philologischen Mitteln eine relativ idiosynkratische Form von symbolischer Souveränität über ihr Umfeld[18]. Relativ waren diese Idiosynkrasien, da Fritz und Carmen von Herzmanovsky-Orlando dabei nur bedingt auf sich selbst gestellt waren. Ein sprechender Beleg sowohl für die Isolation als auch für den Versuch sie zu überwinden ist der folgende Brief an Jörg Lanz von Liebenfels:

Verehrter Meister!
Schon seit langem hatte ich den Wunsch, in eine Verbindung mit Ihnen, Meister, zu kommen. Heute nahe ich Ihnen als Unbekannter mit diesem Briefe, wohl bewusst, welch schwaches Medium der Weg des Papieres ist.
[...]
Ich habe mich in die absolute Stille Merans zurückgezogen wo ich [mich] an der Seite meiner Gattin [...] der Kunst widmete. [...]
Ich bitte mich nicht mißzuverstehen: Nie würde ich einem geistigen Führer der Menschheit mit grobstofflichen Angelegenheiten kom­men; aber die Art und Weise, wie meine Sammlungen hauptsächlich entstanden sind, bringt mich auf den Gedanken, daß ich ein Hüter und Bewahrer dieser Kunstschätze bin. Heute halten wir es an der Zeit Mittel zum geistigen Kampf zu schaffen; [...] und ich würde vielleicht ein verwendbarer Mitkämpfer gegen die Macht der Finsternis werden.

So idiosynkratisch das Namenslexikon auch anmutete, der eben zitierte Brief stellt die Forschung in ein anderes Licht. FHO erscheint in diesem Brief auch als Privatier, der seine finanziellen Mittel für höhere Ziele wie den Kampf «gegen die Macht der Finsternis» zu investieren überlegt. Au­ßerdem ist es ihm ein Anliegen vermittels seiner ariosophischen Interessen in einer größeren Gemeinschaft obskur Tätiger zu partizipieren, im Neu­templer-Orden. Wollte man im Neutempler-Orden nur eine Gemeinschaft von an Esoterik und Rassentheorien Interessierten sehen, so würde das aber die unternehmerische Seite dieses Bundes verklären. So macht etwa ein Blick auf eine Liste von Ordensbrüdern, welche FHO nach seiner Auf­nahme von Lanz von Liebenfels erhielt, deutlich, dass die gut situierte Mit­tel- und Oberschicht der Donaumonarchie den Großteil der Mitglieder bil­dete. Diplomingenieure, Oberlehrer, Juristen, Streckenleiter der Bundes­bahn, Hauptschuldirektoren, Physikprofessoren, Bürgermeister und Unbe­kannte mit einer Ferienadresse auf Rügen[19] – eine Liste, die auf keinen Fall dafür spricht, diese ritterliche Verbindung als gesellschaftlich abseitig abzu­tun. Der Neutempler-Orden wurde 1907 von Jörg Lanz von Liebenfels ge­gründet und war seitdem eine Anlaufstelle für «Mitkämpfer[n]», welche an­tisemitische und ökonomische Aspekte ihres Lebens feilboten, um in den Orden aufgenommen zu werden. Die Dichotomie zwischen dem Abseiti­gen und dem Finanziellen war also innerhalb dieser Institution bereits etab­liert, als sich FHO bei ihr vorstellig machte. Seit 1905 erschien die Zeit­schrift Ostara, die als Organ des Ordens gesehen werden kann, und zu ihren Lesern gehörte neben FHOs lebenslangem Freund, Alfred Kubin, der FHO auch auf Liebenfels brachte, Adolf Hitler. Vor allem letzterer brachte Lanz von Liebenfels, neben Guido von List, innerhalb der Forschung für kurze Zeit den Ruf ein, eine bestimmende Figur innerhalb der Rassentheorien des Nationalsozialismus gewesen zu sein[20]. Inzwischen ist diese Position wider­legt worden[21], doch trug die kurzfristige Prominenz von Lanz von Lieben­fels wesentlich dazu bei, dass FHOs Verbindung zu ihm öffentliche Auf­merksamkeit erregte: Hitlers Ideengeber und Herzmanovsky-Orlandos Freund. Das populäre Label der Rezeption FHOs wechselte mit dieser Ein­sicht, vom kauzigen Monarchisten wurde er zum Faschisten erklärt. Inzwi­schen wird aber, wie gesagt, die Signifikanz des Ordens für die nationalso­zialistische Ideologie als peripher eingeschätzt, da die dort ventilierten An­sätze zu esoterisch und eklektizistisch waren, um den propagandistischen Zwecken des NS-Regime zu dienen. Die ariosophischen Rassentheorien basierten auf humanistischer Bildung und letzteres machte Jörg Lanz von Liebenfels zwar zu einem Exzentriker unter den Ideologen aber ästhetisch und intellektuell nur für eine gebildete Elite attraktiv[22].

Im Rahmen des Neutempler-Ordens wurde auch die Narrative entwi­ckelt, die den Glauben an eine arische Rasse stützten. Die Ordensbrüdern argumentierten aber nie über die Details der historischen Herschreibung arischer Ursprünge, es wurde, auf dieser Ebene des Ordens, allgemein vo­rausgesetzt, dass man Rassist oder Antisemit sei. In vielen Briefwechseln ist eher der ironische Umgang mit ariosophischem Wissen vorherrschend. So wechselt etwa ein an FHO schreibender Ordensbruder, nachdem er einen Absatz lang die mögliche Bedeutung der Sterne zu erklären versuchte, schlicht mit «Aber die Moleküle rasen ...» das Thema, um endlich auf Zins­häuser zu sprechen zu kommen. Ähnlich ironische mitunter sogar sarkasti­sche Bemerkungen gegenüber Jörg Lanz von Liebenfels lassen sich auch in Briefen Herzmanovsky-Orlandos finden. Der gedankliche Austausch über die Rassenlehren verbleibt hier stets im Modus der Affirmation. Man wi­derspricht sich weder direkt noch indirekt. Man ist sich sozusagen grund­sätzlich über das Vorhandensein einer überlegenen arischen Rasse einig, wobei die Details noch geklärt werden könnten ohne geklärt werden zu müssen. Die bestehende Sekundärliteratur über den Neutempler-Orden be­legt diesen Befund indirekt, indem sie durchwegs biographisch orientiert ist. Innerhalb des Ordens waren sich die Eliten des Landes auch nach dem Ende der Monarchie noch einig, Teil eines Adels zu sein, wobei die Stamm­bäume nun selbst geschrieben werden konnten.

Eklektisch gehen griechische und keltische Mythologie ineinander über, lateinische und althochdeutsche Etymologien stören einander nicht und an­dere esoterische Publikationen, die auf die Technisierung der Welt reagie­ren, werden ebenso integriert[23]. Was folgt dann aus dieser Forschung wenn sich thetisch nichts über sie aussagen lässt? Es hilft, sie zwei anderen geis­teswissenschaftlichen Gebieten gegenüber zu stellen. Um das zu tun, müs­sen zwei Typen von Vagheit unterschieden werden[24]. Einerseits eine onto­logische Vagheit, die besagt, dass die Dinge, die existieren (können), immer gemischt sind, das heißt, nie ganz durch einen Begriff erfasst werden. Und andererseits eine phänomenale Vagheit, die besagt, dass die Realität zwar nicht den Begriffen entsprechend verläuft, aber man doch mit letzteren ar­beiten muss, um das Verständnis von Realität zu erhöhen. Die ontologische Vagheit trifft Aussagen über die Welt, die phänomenale Vagheit versucht begrifflich mit dem Vorhandensein von Vagheit umzugehen. Viele Histori­kerinnen würden letzteres vertreten, während Philosophen ersteres disku­tieren. FHO ist nun in der seltsamen Lage, zwar an eine bestimmte ontolo­gische Reinheit zu glauben, an eine arische Rasse, an ein ursprüngliches Griechenland, an einen wie auch immer jedoch bestimmt gearteten Urzu­stand, ohne aber diesen Verdacht begrifflich nachzuweisen oder, wie wir noch sehen werden, auch nur nachweisen zu wollen. Und aus dieser Posi­tion resultiert auch die zuweilen dogmatische Ambivalenz, die seine Werke auszeichnet. Alles hat mehr zu bedeuten als es den Anschein hat, aber es kann nicht genau gesagt werden, inwiefern es mehr bedeutet. Ausgehend von ariosophischen Lehren, die zahlreiche ursprüngliche Zustände zu pos­tulieren erlauben, erscheint die zeitgenössische Welt als eine Ansammlung von Resten eines vormaligen Reiches. Diese Ambivalenz hat daher auch eine bittere Seite, wo sie nämlich die ontologische Reinheit betrifft. Und in vereinzelten Schriften finden sich explizitere Versionen dessen, was endgül­tig untergegangen ist. Wo sich das Lexikon der Ortsnamen langsam, sozu­sagen Buchstaben um Buchstaben, dem Vergangenen näherte, sind hier, in einem Aufsatz von Carmen Herzmanovsky-Orlando, die Narrative so klar wie ihre Indizien vage.

Die Kinder Satans, die Brüder des Schattens, haben sorgsam, wo sie konnten, die Schriften der Armanen – unermessliches Geistesgut – vernichtet und mit Feuer, Schwert und Hunger die Helfer der Mensch­heit ausgerottet. Wäre das nicht gewesen, wäre heute die Welt ein Pa­radies voll der Herrlichkeiten, ein Garten Gottes, in dem jeder Mensch wie ein Fürst leben könnte, frei von Krankheit und Sorgen, in üppiger Pracht, umstrahlt von Schönheit.
Und jetzt? Die Menschheit ein Haufen trostloser Sklaven, sich in ganz unnützer Plage um ein Nichts herumackernd, krank und durch Miss­zucht bis zur Karikatur herabgewürdigt. Wer führt uns? Grösstenteils verkrachte Kaffeehausexistenzen, Hochstapler, die wenn sie nicht ar­riviert wären, im Zuchthaus geendet hätten. Das Weltbild ist auch da­nach. Alles ein Irrsinn ohnegleichen und dabei das Paradies auf Erden so einfach, mit wenigen Federstrichen, zu schaffen.
[25]

Unmittelbar nachdem die Kinder Satans das Paradies vernichteten, geht der Absatz zu den historischen Konsequenzen über und bedient sich ästhe­tischer Kategorien, um die Folgen zu beschreiben. Gegenwärtige Existen­zen seien «bis zur Karikatur herabgewürdigt». Unter diesem Gesichtspunkt erhalten die Grotesken Herzmanovsky-Orlandos erstmals eine realistische Note. Geht man nämlich davon aus, dass die Welt sowohl physiologisch als auch kulturell eine Abweichung von einem Ideal ist, so können Karikatur und Groteske nicht mehr als Verzerrungen der Realität vorgestellt werden. Die Realität selbst ist aufgrund einer ursprünglichen Devianz eine verzerrte.

Die weniger bittere Seite dieser Ursprungslegende kommt in einer Zeichnung Fritz von Herzmanovsky-Orlandos zum Ausdruck. In einer ge­zeichneten Version der Ursprungslegende wird eine Verführung in Szene gesetzt, in der zwei diabolisch behörnte Affen mit einer leicht unförmigen Frau abgebildet werden. Während der linke Affe am koketten Blickwechsel partizipiert, ist der rechte in einer Geste selbstvergessener Körperpflege ab­gewandt. Die pathetische Paraphrase dieses Bildes findet sich in einem Brief von Jörg Lanz von Liebenfels an FHO:

Unsere Weiber waren es ja, die diesen Gorillas sich hingaben u. so deren Brut den Weg in die Höhe freigaben. Und unsere Väter? Sie haben ebenso gesündigt, haben von den «sauren Trauben gegessen», so dass unsere Zähne dann faul u. stumpf geworden sind!

Zunächst scheint diese Legende, abgesehen von Plot und Protagonisten, in ein ähnliches Schema zu fallen wie das zuvor zitierte: Mit der Verführung der arischen Frauen durch affenartige Wesen wird eine groteske Verbin­dung zwischen zwei Arten von Primaten etabliert, die im Weiteren den Ver­lauf der Welt zum Verfall macht. Frei nach Werner Schwab kann die Tragik dieses Nadir so wiedergegeben werden: Weil wir in die Welt gevögelt wur­den, können wir nicht mehr fliegen. Die offensichtlich die gleiche Szene ein­fangende Zeichnung (vgl. Abbildung) wirkt aber weniger pathetisch und mi­sogyn als Lanz von Liebenfels’ Paraphrase. In der wechselseitigen Faszina­tion dieses Blickes lässt sich mehr ein flirtendes Versprechen erkennen, nach dem sich folgende Generationen zumindest einen Witz leisten werden können, der auch das genetische Sein erleichtern wird: «Du bist ein Affe, mein Sohn». «Und du bist mein Vater, Vater».

 Arnulf Meifert: Forscher im Zwischenreich.
Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando.
Herausgegeben von Manfred Kopriva. Wien: 2012. S. 52.

Allgemeiner gesprochen ist der historische Sinn, der sich hier Bahn bricht, innerhalb der Genealogie ein Spezialfall des komischen Sinns. Mit ihm kann Hohes aus niederen Quellen abgeleitet werden, sei es der «Endivie von Egypten» oder das «Kartell Impertinal»[26]. Obwohl er also stets in Span­nung zu einer arischen Vorwelt steht, ist es dieser Sinn für Komik, der FHOs Faszination für sämtliche Varianten von Dialekten, örtliche Abson­derlichkeiten und weitere Formen von Devianz anregte und schärfte[27]. Wie aus den beiden Ursprungslegenden klar wurde, umfasst der Verfall sowohl die kulturelle («unermessliches Geistesgut») als auch die physiologische Ebene («sich hingaben»). Und er ist auf der Achse zwischen Intention und Aussage ebenso zu finden wie auf jener zwischen Standardsprache und Di­alekt. Kehrt man mit den eben angedeuteten Prämissen zu den literarischen Texten zurück, so eröffnet sich auch ein neuer Rahmen von Selbstbezüg­lichkeit in ihnen. Die Ausweglosigkeit, wie sie die correctio von Sbitek an­deutete, gilt auch für die Forschung selbst. Die Forschung löst keine Gene­alogien auf, sie bestätigt und bereichert letztlich nur die Erfahrung eines devianten Stammbaumes.

Max Pallenberg war während der 1920er Jahre einer der bekanntesten Burgschauspieler, besonders sein sprachlicher Variantenreichtum zeichnete ihn aus. Im Roman Scoglio Pomo tritt er plötzlich vor Adeligen auf und gibt das Folgende zum Besten:

O fürchterliches Durchhaus! O mille Bombardement! ich bitte um Vergiftung! ich verganz Gas ... Nein, nein, nein ... O fürstliche Durch­laucht! o mille pardon! ich bitte um Vergebung! ich vergaß ganz! jetzt ist’s richtig! wie fehl ich gung als ich gang ... falsch! a, was, läuten mer a bissel: gong, gang, geng, gung ... ging! Richtig, ging heißt das dumme Wort! bitte: Ging! ist das nicht zu blöd? also, als ich ... ging ... einher um anzuschäulein, was sie haben.[28]

Die Apostrophe an den Adel weist hier zwei Parallelen zu den arioso­phischen Forschungen auf. Die ersten drei Interjektionen eröffnen die se­mantischen Felder von Krieg und Intrige, artikulieren also gegenüber dem Adel einen ähnlichen Vorwurf wie er im Text von CHO gegenüber den «Kindern Satans» geäußert wurde. Auch die Nähe der correctio zu «vergaß ganz», deutet an, dass sich in diesen unfreiwilligen Versprechern auch ein bestimmtes Ressentiment ausspricht. Ähnlich wie beim an anderer Stelle im Roman auftretenden Hofstotterlehrer Tatterer von Tattertal – «Dadada ... mals!» – stehen die deiktischen Elemente («jetzt», «da») in einer einfordern­den Spannung zur Vergangenheit («vergaß», «damals»). Zweitens gestaltet sich das anschließende Ringen um den richtigen Ausdruck zumindest stre­ckenweise, sozusagen «a bissel», systematisch. Tentativ wird das durch Kunst- und Sprachgeschichte systematisierte Wissen verwendet, um einer Antwort auf die Spur zu kommen. Im Text selbst lässt diese Systematik den sich Versprechenden ironisch erscheinen, da es, abgesehen von einer fernen Allusion an den Gang der Geschichte, schlicht darum geht, eine präteritale Verbform zu finden. Nimmt man jedoch parallel zum Text die Verfahren aus dem Namenslexikon von Niederösterreich in den Blick, so wird zwi­schen dem Autor und der Persona «Pallenberg» ein Erzähler deutlich, der mit beiden Verfahren in Verbindung steht. Die Reputation eines forschen­den Idioten wurde hier ziemlich bewusst in Kauf genommen, und zwar auf eine Art, in der Selbstreflexion nicht per se zu einem intellektuellen Eigen­wert wird.

Dass es eine Verbindung zwischen esoterischen und literarischen Schrif­ten gibt, impliziert aber nicht, dass die Schriften als Parabel für das Leben verstanden werden. Mir geht es nur darum, Parallelen zwischen esoteri­schen und literarischen Schriften aufzuzeigen, die belegen, dass letzte nicht ohne erstere und erstere nicht ohne letztere verstanden werden können. Bisher habe ich argumentiert, dass die Komik von «Der konfuse Brief» be­gründende Diskrepanz zwischen Intention und Aussage sowie jene zwi­schen Dialekt und Orthographie mit den esoterischen Forschungen zusam­menhängt, da sie auf zwei identischen Prämissen beruhen. Erstens sind die diskutierten Charaktere physiologisch deviant, da ihre Genealogie die Ver­fallsgeschichte eines arischen oder zumindest vorzeitigen Geschlechts ist. Zweitens ist ihre Sprache depraviert, da sie nicht mehr in der Lage sind, die verlorene Welt philologisch zu rekonstruieren. Mit letzterem ist gemeint, dass die Charaktere zwar um ihr eigenes Defizit wissen, dass ihre Anstren­gung, die Reinheit des Ursprungs zu rekonstruieren, jedoch eine tragikomi­sche ist, denn selbst ihre philologische Forschung ist von Sprachfehlern un­unterscheidbar. Die tragische Seite der Gegenwart besteht darin, in sich auch nur einen Fehler zu sehen, wie in sämtlichen anderen Teilen der Ge­genwart. In den literarischen Werken FHOs hat aber die komische Seite gesiegt. Sie sind Ansammlungen von devianten Charakteren, bei denen nur in geglückten Streichen oder Versprechern wie «Bombardment» sich die Verdikte über die Welt andeuten, wie sie in den esoterischen Schriften kul­tiviert wurden. Aber die Verbindungen zur Ariosophie gehen über die bei­den Achsen von Vergangenheit und Zukunft beziehungsweise Tragik und Komik hinaus. Die Verbindungen betreffen auch die narrative Form der literarischen Texte.

Während der Edition der ersten Ausgabe von FHOs Werken soll sich Friedrich Torberg darüber mokiert haben, dass den meisten der Texte ein klarer Plot fehle, auch nach Spannungsbögen und Peripetien suche man vergeblich. Wie sich nach der Neu-Edition der Texte überprüfen lässt, ist diese Einschätzung, abgesehen von «Der Gaulschreck im Rosennetz», ziemlich zutreffend, egal wie man ästhetisch zu ihr stehen mag. Torbergs Beobachtung steht aber in Kontrast zum Klappentext von Scoglio Pomo, ein Roman, der in seiner neuesten Auflage damit beworben wird, dass es in ihm nichts gebe, «was es nicht gibt». Die von Torberg konstatierte Monotonie findet sich zunächst in den erzählerischen Übergängen. Die im ersten Satz eines Absatzes stehenden Worte nehmen sich nämlich auf den ersten knapp hundert Seiten von Scoglio Pomo so aus:

Nicht weit vom, [z]u dieser Zeit geschah es, [a]n einem Nebentisch, um dieselbe Zeit, [i]m selben Moment, [s]iehst Du den alten Herrn dort, [n]icht weit davon, [u]nweit, [u]nd weiter, noch weiter oben, [a]ber schau, was dort vor sich geht!, [s]chau, dort, [h]ier mischte sich unerwartet, [z]u all dem, [m]itten in diesem, [m]an hörte.[29]

Übergänge erfolgen also über eine wiederholte Ablenkung des Erzählers. Der Genitiv kann als subjectivus oder objectivus verstanden werden: ent­weder Geschehnisse kommen akustisch oder visuell ins Blickfeld oder sie drängen sich dem Ereignishorizont gewissermaßen auf. Der Erzähler ist dabei auf gleicher Höhe mit seinem Stoff: er lenkt seinen Blick einerseits weiter und wird andererseits vom nächsten Ereignis abgelenkt. Neben die­sem erzählerischen Gleichgewicht zwischen Abschweifung und Ablenkung fällt auf, dass die Texte größtenteils in der Gegenwart verbleiben, da viele Übergänge sinnlich motiviert sind. Dieses Element der Sinnlichkeit wird in den Texten geradezu programmatisch vertreten und der Erzähler behauptet es, indem er sich an jener Berufsgruppe abarbeitet, die seinen eigenen sprach- und kulturgeschichtlichen Bezügen am nächsten steht. Es ist eine von wenigen Stellen im Text, wo die Arbeit an einer Differenzierung expli­zit wird.

Die Rede ist von den Professoren. Sie sind der einzige Berufsstand der als solcher detailliert behandelt wird. In Scoglio Pomo haben sich mehrere Gelehrte auf einer Kurinsel versammelt und fiebern der Ankunft von Pro­fessor Harnapf, einer Koryphäe aus Berlin, entgegen. Wie seine professo­ralen Kollegen stellt Harnapf eine überzeichnete Variante von Gelehrten aus dem späten 19. Jahrhundert dar und gewinnt bereits während seiner Anreise verzerrte Gestalt. Da er wegen seiner Kurzsichtigkeit permanent ein Zeissglas vor Augen hat, fehlt ihm ein alltagstaugliches Verhältnis zu den Dingen. Noch bevor er seinen Fuß auf die Insel gesetzt hat, tritt er durch eine Lücke im Schiffsgeländer und landet in den Fluten. Da die for­schende Tätigkeit der Professoren vom Schlage Harnapfs vor allem darin besteht, Nomenklaturen zu überprüfen und mit positivistischem Eifer zu erweitern, kann der Sturz durch die Lücke als erster Seitenhieb auf die in-stitutionelle Methodik verstanden werden. Das Ziel der Professoren besteht nämlich darin eine lückenlose Nomenklatur zu erstellen, in die alles Empi­rische eingeordnet werden kann. Das Tragen des gelehrten Sehgerätes macht Harnapf, der immer auf der Suche nach nomenklatorischen Lücken ist, blind gegenüber tatsächlichen Löchern. Der Erzähler ist den Gelehrten hier überlegen, da er den Begriff der «Lücke» nicht nur als Beschreibung der Forschung sondern auch als Metapher verwenden kann. Eine licentia, die den Gelehrten die Profession verbietet. Im Fall des Falles von Harnapf wird der Verdacht des Spottes durch den Namen des Trägers bestärkt. Wo mit «Haar» eine feineres Ding neben dem weniger schmeichelnden «napf» steht, der als Gefäß für einiges herhalten kann. Berufliche Pedanterie und Fall in die Adria klingen also bereits im Namen an, doch nach seiner Ret­tung will der Getrocknete sofort mit der Arbeit beginnen, da ihm Scoglio Pomo «epochale Funde auf paläontologischem, ja mythologischem Ge­biete» verspricht. Professor Harnapf gilt als ausgewiesener Archäologe, «Kenner der altgriechischen Mysterien, der ägyptischen und altorientali­schen Kulte». Doch trotz der Einführung als übergelehrter Tölpel besteht insgesamt ein ambivalentes Verhältnis zwischen den Professoren und dem Erzähler. Denn neben den die lebenspraktischen Fähigkeiten des Gelehrten diskreditierenden Witzen finden sich auch anerkennende Worte. Harnapf, so wenig später, «ging nämlich von der ganz richtigen Voraussetzung aus, dass alle sogenannten Fabelwesen auf reale Existenzen zurückzuführen seien»[30]. Warum der Erzähler diese Annahme mit besonderer Betonung, «ganz», teilt, erfährt man im Roman nicht. Es ist aber schon an dieser Stelle zu sehen, dass sich mit der Figur Harnapfs auch ein Verhältnis zu den eso­terischen Schriften zu profilieren beginnt.

Die lakonische Kritik an den Professoren richtet sich gegen den Weg, der für die Gelehrten zurück in die Antike führt, dem Ziel könnte auch der Erzähler folgen. Nachdem es die Professoren endgültig auf die Insel ge­schafft haben, führt einer der Betreiber der Ferieninsel, Baron Zois (sein Name sei nicht zu verwechseln mit der griechischen Seitenlinie des Ge­schlechts), die Gelehrtengruppe über die Insel. Ihre Suche kommt rasch zu einem phantastischen Ende.

Vor ihnen stand nichts Geringeres als eine junge Nymphe!
«Wohl eine Hamadyade, Hemitheia Parthenomorfe ...? oder bloß He-mitheopaidion Hamadryadomorfe? vielleicht aber am Ende ein Kata­drymos Korasion ...? na, wir werden ja sehen!» So paralysierte für ei­nen Augenblick die Pedanterie des trockenen Gelehrten das Uner­hörte der Situation. [...] Harnapf, noch immer sprachlos, zitterte vor Erregung und setzte einen zweiten Zwicker über die Brille. Dabei ließ er den Regenschirm fallen, worauf sofort die holde Erscheinung ver­schwand, als ob sie sich im blumenduftenden, moosfeuchten Wald­hauch aufgelöst hätte.
[31]

Während die Exklamation samt Zeilenumbruch das gemeinsame Inte­resse zwischen Erzähler und Exkursion bestätigt, simulieren die anschlie­ßenden Partikel und Anakoluthe den bildungshungrigen Blick ins Buch. Die von Füllwörtern gezeichnete und syntaktisch holpernde Prosa der Gelehr­ten macht deutlich, dass am Ort, an dem die Nymphe erscheint, nur sie selbst fehl am Platz sind. «Wohl», «oder bloß», «vielleicht aber am Ende» – so wird die Banalität der akademischen Taufe ausgestellt und das im Futur stehende Verb «sehen» markiert die sarkastische Spitze, auf die es dem Er­zähler hier ankommt. Die Professoren zielen also auf einen definitiven Be­griff ab, auf ein begriffliches Ende in der Anstrengung die Empirie zu ord­nen. Woher die erzählerische Abneigung gegen das präpositionale Telos, gegen die, wie es der Erzähler nennt, «Pedanterie des trockenen Gelehrten» rührt, wird erst klar, wenn man beide Formen von Gelehrsamkeit, die der Professoren und die des Oeuvres von FHO einander gegenüber stellt. Die Nomenklatur der Professoren, so klischeehaft sie sich auch ausnimmt, zielt darauf ab eine intellektuelle Ordnung zu stiften, ihr Ziel, wie es in der zi­tierten Szene den Blick auf die Nymphe blockiert, eine vollständige No­menklatur zu entwickeln, deren Kategorien alle möglichen Phänomene der Welt aufnehmen könnte. Für FHO ist die intellektuelle, begriffliche und etymologische Arbeit an Phänomenen dagegen eine Bereicherung der eige­nen Erfahrung. Egal ob unscheinbare Dörfer, seltsame Charaktere, blöd­sinnige Versprecher oder andere zu Hauptsachen erklärte Abseitigkeiten, es geht in den Texten stets darum, die Phänomene für ein Staunen zugänglich zu machen. Zu Staunen heißt dabei sie im gleichen Zug zu ent-trivialisieren und als Phänomene definitorisch ungelöst zu lassen. Beiden Zugängen ist gemeinsam, dass sie intellektuell eine begriffliche Prägung der Realität ver­folgen. Während der den Institutionen unterstellte Zugang aber von der Vorstellung getragen ist, an einer von den forschenden Personen unabhän­gigen Taxonomie zu arbeiten, ist FHOs Interesse notorisch idiosynkratisch. Nicht nur in dem Sinn, dass es ihm selbst als Person auf Erfahrung von etwas ankäme, die Idiosynkrasie zeigt ihre anti-institutionelle Ausrichtung auch auf der narrativen Ebene.

Fritz von Herzmanovsky-Orlandos Prosa reflektiert sich selbst über den misslingenden Gebrauch historischer Linguistik. Im Zusammenhang einer esoterischen Gegenöffentlichkeit setzt sie sich formal auch von offiziellen Formen der Historiographie ab. Die literarischen Texte sind zum Großteil lose Ansammlungen von Anekdoten und mit dieser Form wenden sich die Texte gegen große Narrative, seien sie unpersönlich gestaltet oder von ein­zelnen souverän agierenden Figuren geprägt. In den anekdotischen Ab­schweifungen selbst muss also ein Gegenentwurf zu einer institutionellen Form von Wissensformierung gesehen werden, denn die Anekdoten kom­men in dem Moment ins Spiel, als die Thesen der institutionalisierten Ver­treter der Gelehrsamkeit anzitiert werden und geben den «ganz richtigen» Ausgangsthesen eine neue Form. Historiographisch steht FHO damit ne­ben Autoren wie Jacob Burckhardt oder Egon Friedell, bei welchen die Anekdote ebenso positiv besetzt ist und teilweise eine ähnliche Stoßrich­tung besitzt[32]. In der FHO besessenen Kulturgeschichte der Neuzeit Friedells ist die Anekdote das umfassende Mittel um große Angelegenheiten auf kleine Anlässe zurückzuführen, wobei es bei FHO nicht um die Formung neuer Geschichtsmodelle sondern nur um die Diskreditierung alter geht. Von Historikern wurde die Anekdote kritisiert, da sie keine unpersönlichen Per­spektiven auf Geschichte erlaubt, polemisch wurde argumentiert, dass die Anekdote die kleine Form sei, die selbst die größten historischen Ereignisse auf ein handliches Format reduziert, das es jedem erlaube, in historischen Prozessen nicht mehr als einen persönlichen Lapsus zu erkennen. Diese Kritik wäre auch bei FHO angebracht, hätte er die Profession des Histori­kers gewählt. Die reductio ad personam muss aber innerhalb der herzma­novskyschen Ontologie gesehen werden, wo das wirken personaler Mächte bereits am Beginn der Verfallsgeschichten steht. Obwohl die unpersönliche Fortschreibung dieser Legenden auf der Ebene nicht artenreiner Rassen si­tuiert werden kann, obwohl also nichts Gutes geschieht, da es die ursprüng­lichen Arier, Griechen und Byzantiner nicht mehr gibt, kann sich dieses Defizit doch nur personal äußern. Als Aussage, deren Intention physiolo­gisch ruiniert ist, oder als Dialekt, dessen sprachliches System sich auch nicht mehr rekonstruieren lässt. In den Ereignissen von FHO gibt es immer einen diabolischen oder missglückten Anfangspunkt, von dem aus die Zu­fälligkeit in Szene gesetzt wird. Was in der Terminologie von Versicherun-gen mit dem Begriff Act of God[33] Ereignisse bezeichnet, die den menschlich präventiven Rahmen verlassen und schlicht hingenommen werden müssen, entspricht in der diegetischen Welt von FHO den Akten der Teufel und Harlekins. Jedes einzelne Unglück ist beseelt in dieser pantheistischen Welt.

Da der Schwerpunkt der persönlich gefärbten Anekdote oft in der mündlichen Rede liegt, besitzt diese Form eine strukturelle Analogie sowohl mit Dialekten als auch mit geheimem Wissen: da sich das mündlich vermit­telte Neue dem schriftlich tradierten Rahmen nicht fügt, hat es das Potential ihn zu untergraben. Vor dem Hintergrund der offiziellen Geschichte ist die Anekdote demnach ein zentrales Mittel, um den pathetischen Rahmen herr­schender Geschichtsschreibung durch verborgene Fakten oder körperliche Details aufzubrechen. Oberhaupt der Kirche – aber die alten Knie? Als kri­tisch humoristische Arbeit kann sie sich nur gegen einzelne Personen rich­ten, buchstäblich gegen die Köpfe der Institutionen, indem die abstrakten Entitäten mit ihrer konkreten Körperlichkeit konfrontiert werden. Damit bleibt die Form der Anekdote doch der Tradition verpflichtet, die es im Gleichen Zug zu desavouieren versucht. Und darin besteht auch der Reiz dieser Form, das Inoffizielle des Offiziellen ist die Erotik der Anekdotik. Als Form eröffnet die Anekdote gerade jene strukturellen Lücken, in denen die Kontingenz des Privaten, des Körperlichen und Unwahrscheinlichen die Diktion souveräner Akten unterläuft[34].

In einem größeren Kontext betrachtet sind die Texte FHOs damit Teil der delegitimierenden Bewegung, wie sie Gesetze und Machthaber seit dem 19. Jahrhunderts erfasst[35]. Eine Konsequenz daraus ist, dass die gegenwär­tige Politik dämonisiert oder ridikülisiert wird und jeder Geist einer positi­ven, in die Zukunft gerichteten Utopie fehlt. Als in Scoglio Pomo ein närri­scher Greis auftritt, der nachts Herrenschuhe vor die Zimmer alleine ste­hender Damen stellt, soll dieser resozialisiert werden. Doch der Erzähler lehnt es hier ab, den Alten «[...] in ein Kadetteninstitut [zu GW] stecken, wo man durch eiserne Strenge für die paar Lebensjahre, die ihm vielleicht noch geschenkt seien, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft aus ihm machen könne»[36]. Hier wird deutlich, inwiefern die Zuflucht zum Scherz und zu fataler Ironie von politischer Ohnmacht handelt. Der Auf-bau einer ariosophischen Gegenwelt resultierte auch aus dem Verzagen an der wirklichen der 1920er Jahre. Wie in Die letzten Tage der Menschheit, als Gott am Ende bemerkt, er habe es nicht gewollt, kann ein ähnlicher Satz für diese Texte Geltung beanspruchen: nein, die Welt musste anders ge­dacht gewesen sein.

Konklusion

Am 4. Dezember 1921 schreibt Walter Benjamin an Fritz von Herzma­novsky-Orlando:

Sehr geehrter Herr,
während, dank der schönen Stunden, die meine Freunde, Erich und Lucie Gutkind, zu Anfang des Jahres mit Ihnen verlebten, Ihr Name mir schon seit längerem im erfreulichsten Gedächtnis ist, folgt dieser Brief an Sie wohl nur kurz der ersten Erwähnung meines Namens, die Ihnen Herr Gutkind wohl in seinem letzten Briefe gab. Nichtsdesto­weniger hoffe ich, daß Sie meine Bitte freundlich aufnehmen werden. [...]
Ihr sehr ergebener
                                                              Walter Benjamin[37]

Es ist nicht mehr zu klären, welchen der zahlreichen Namen Walter Ben­jamin im Gedächtnis hatte. Gerechterweise verweist das bei Metzler er­schienene Walter Benjamin Handbuch auf eine Person namens Doris von Herzmanovsky-Orlando. Walter Benjamin bat FHO, einen literarischen Beitrag für eine in Gründung befindliche Zeitschrift zu schreiben. Und ob­wohl er dieser Bitte nachkam und ein kürzeres Prosastück an Benjamin schickte, scheiterte das Projekt der Zeitschrift Angelus Novus aus wirtschaft­lichen Gründen. Trotz vieler programmatischer und inhaltlicher Divergen­zen, die zwischen beiden Schreibern auszumachen wären, verband sie das Anliegen, die vorherrschende Form bürgerlicher Literatur zu verändern. Benjamin betonte, «wie ungemein wertvoll mir radikale und sozusagen ex­zentrische Prosastücke wären, denn von einer epigonalen und klassizisti­schen Haltung will ich natürlich [...] nichts wissen». Innerhalb der Benjamin-Forschung ist von diesem Brief ähnlich selten die Rede wie von der esote­rischen Gegenöffentlichkeit, die beide Autoren verband und die mit der ge­nannten Zeitschrift erreicht werden sollte[38].

Ich habe hier versucht die Komplexe von Gegenöffentlichkeit und Lite­ratur aufeinander zu beziehen. Es stellte sich dabei heraus, dass die nostal­gische Note, die den Werken FHOs nachgesagt wurde, nicht in die Donau­monarchie verweist, sondern in eine ariosophische Gegenwelt, in die Vor­stellung, dass alles anders gedacht war, als es ist[39]. Die Texte bedienen sich linguistischer Verfahren, um Komik zu erzeugen oder nach einem Ur­sprung zu suchen, und beiden Dimensionen ist gemeinsam, dass sich die versprechenden Forscher als Produkt einer ursprünglichen Devianz begrei­fen. Obwohl also die vielen Erzähler hinter dem Kürzel FHO verkommen und unveränderlich sind, fehlt den einzelnen Beobachtungen jede Form von allgemeiner Konsequenz. Es ist die Haltung eines ausbüchsenden Kunst­sammlers, die sich im detaillierten Beobachten von Abseitigem und im all­umfassenden Interesse, nicht nur an Niederösterreich, ausspricht. Unter den Freunden von FHO befanden sich sowohl Rassentheoretiker als auch jüdische Anwälte, ungarische Bauern neben südamerikanischen Dienst­mädchen und Walter Benjamin neben Jörg Lanz von Liebenfels. Die Zeiten waren so verkommen wie faszinierend. Und als lockerer Haufen von Anek­doten, samt der richtigen Mitgliedschaften, ließ sich in ihnen leben. Wenn es eine rhetorische Figur gibt, die diese Texte prägt, so ist es die kosmische Ironie. Diese Arbeit vertritt die These, dass der literarische Kosmos von FHO nicht ohne die rassentheoretische Kosmogonie verstanden werden kann, die dieser parallel zu seinen literarischen Werken schuf. Und in diesen ariosophischen Lehren besteht die historische Spezifik dieses Lachens.

In den 1930er Jahren schrieb FHO einen Brief an den Chefdramaturg von Kassel, einen Herrn Langenbeck, um eines seiner Stücke zu verkaufen. Neben den opportunen Bekundungen, von unarischen Theaterstücken nichts zu halten, führt FHO folgenden Grund auf, sein Oeuvre zu berücksichti­gen:

Vielleicht interessiert es auch im Reich vom Mutterstamm abgespreng­tes Schrifttum zu Wort kommen zu lassen.[40]

Der Verfasser des Briefes verstand sich als ein «Abgesprengter». Seine Losung könnte gelautet haben: Wie man’s nimmt.



[1] Friedrich Bohne, Fritz von Herzmanovsky-Orlando. Katalog der Ausstellung 16. April - 27. Mai 1961 im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover. (Nürnberg, Verlag Nürn­berger Presse, 1961). S. 15.

[2] Dieser Brief sowie einige weitere Materialien stammen aus dem Nachlass Fritz von Herzmanovsky-Orlandos im Brenner Archiv Innsbruck. Der Nachlass wurde in Kassetten und Mappen unterteilt und wird im Laufe der Arbeit auf folgende Weise adressiert: [Nach­lass FHO: Nummer der Kassette / Nummer [oder] Name der Mappe]. Im Fall dieses Brie­fes also: Nachlass FHO: 27 / 10 – 27 – 62.

[3] Nachlass FHO: 27 / 10 – 27 – 62.

[4] Fritz Herzmanovsky-Orlando, Sämtliche Werke in zehn Bänden: Texte, Briefe, Do­kumente (Salzburg: Residenz-1994, 1983).

[5] Ich verdanke diesen Hinweis Ursula Schneider.

[6] Vgl. dazu Bernhard Fetz, Klaralinda Ma, und Wendelin Schmidt-Dengler, Phantastik auf Abwegen: Fritz von Herzmanovsky-Orlando im Kontext: Essays, Bilder, Hommagen, Transfer (Vienna, Austria); 58 (Wien: Folio, 2004).

[7] Herzmanovsky-Orlando, Fritz von: Erzählungen, Pantomimen und Ballette. Heraus­gegeben und kommentiert von Klaralinda Ma-Kircher und Wendelin Schmidt-Dengler. Salzburg / Wien: 1991. S. 90ff. Im folgenden abgekürzt als EPB.

[8] EPB. S. 95.

[9] Vergleiche zur Figur des unreinen Ursprungs: Jacques Derrida, Grammatologie., Neuauflage. edition (Suhrkamp, 2000); Georg W. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruk­tion: Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie (München: Fink, 2002). S. 87ff.

[10] EPB. S. 90f.

[11] Richard Heinersdorff, Die K. u. K. privilegierten Eisenbahnen 1828-1918 der öster­reich-ungarischen Monarchie (Wien; München; Zürich: Molden, Mchn., 1984). S. 25ff.

[12] Zur Materialität des Zeichens vgl. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwer­kes: Mit der Einführung von Hans-Georg Gadamer und der ersten Fassung des Textes (1935), Klostermann RoteReihe (: Vittorio Klostermann, 2012). S. 50ff.

[13] Wir übernehmen die Form der Bewegung hier ansatzweise aus: Leopold Sacher-Ma­soch, Venus im Pelz, 1. Aufl., Insel Taschenbuch; 469 (Frankfurt am Main: Insel, 1980). S. 231ff.

[14] Jean Paul, Vorschule der Ästhetik: kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, Studienausg., 2. Aufl. (München: Hanser, 1974). S. 120ff.

[15] EPB. S. 90.

[16] Nachlass FHO: 46 / Visitenkarten. Und: Nachlass FHO: 27 / 10 – 27 – 33.

[17] Nachlass FHO: 33 – Mappe Mystik.

[18] Carrie Asman: Orte des Sammelns: Xanadu, Weimar. In: Sammler – Bibliophile – Ex­zentriker. Hg. v. Assmann u.a. (Literatur und Anthropologie Bd. 1). Tübingen: 1998. S. 211-226.

[19] Nachlass FHO: 28: Lanz-Liebenfels an FHO.

[20] Vor allem ein Buch trug nicht nur mit seinem Titel dazu bei: Wilfried Daim, Der Mann, der Hitler die Ideen gab: Jörg Lanz von Liebenfels, 3., erw. und verb. Aufl. (Wien: Ueberreuter, 1994).

[21] Brigitte Hamann, Hitler’s Vienna: A Dictator’s Apprenticeship (New York: Oxford University Press, 1999).

[22] Ausgezeichnet informiert hierzu: Maurice Olender, Race and Erudition (Cambridge, Mass: Harvard University Press, 2009). S. 34ff.

[23] Martin Bernal, Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization (New Brunswick, NJ: Rutgers University Press-2006, 1987). S. 485ff.

[24] Ich verdanke diesen Hinweis Christopher Wienkoop.

[25] Nachlass FHO: 33 – Mysterien.

[26] Klaus R. Scherpe, Elisabeth Wagner, und Humboldt-Universität zu Berlin, Konti­nent Kafka: Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1. Aufl. (Berlin: Vor­werk 8, 2006). S. 76.

[27] Ebd. S. 82.

[28] «[L]äuten mer a bissel» bedeutet «Leuten wir ein bißchen». Fritz Herzmanovsky-Or­lando, Scoglio Pomo, oder, Rout am Fliegenden Holländer: Roman (StPölten: Residenz, 2007). S. 121f. Im Folgenden als SP.

[29] SP: S. 13, 16, 21, 30, 32, 39, 41, 51, 51, 51, 51, 51, 54, 67, 79, 83, 84, 88, 91, 93, 96, 97, 97, 102, 109, 157.

[30] SP. S. 77.

[31] SP. S. 80.

[32] Jacob Burckhardt, Jacob Burckhardt Werke: kritische Gesamtausgabe (München: CHBeck: Basel, 2000); Egon Friedell, Kulturgeschichte der neuzeit; die krisis der europäi­schen seele von der schwarzen pest bis zum weltkrieg, (München, CHBeck-31, 1930).

[33] Diesen Hinweis verdanke ich Daniel Kashi.

[34] Volker Weber, Anekdote: die andere Geschichte: Erscheinungsformen der Anek­dote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Stauffenburg Col­loquium, Bd. 26 (Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1993).

[35] Kontinent Kafka, S. 84.

[36] SP. S. 86f.

[37] Fritz Herzmanovsky-Orlando, Sämtliche Werke in zehn Bänden: Texte, Briefe, Do­kumente (Salzburg: Residenz-1994, 1983 S. 213f.

[38] Burkhardt Lindner, Benjamin-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung (Stuttgart: Metzler, 2006). S. 305.

[39] Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Lite­ratur (Wien: PZsolnay, 2000).

[40] Nachlass FHO: 28 / FHO an Curt Langenbeck.

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Sabine Zelger

(Wien)

Habsburgs Despotie und die Hochkultur des Asservierens
Zum Aufheben und Liegenlassen österreichischer Bürokratieliteratur

[Habsburg Despotism and the High Culture of “Asservieren”
On Preserving and Shelving Austrian Bureaucratic Literature
]

abstract. The Austro-Hungarian bureaucracy is often remembered for its practices of delay (or, to use a term emphasized in The Man without Qualities, for its practices of «Asser­vieren»). This is the case in the reception of literary texts as sources and as culture, in the marginalization of «new objectivity» texts, in the production of autobiographical texts, and in the aesthetics of contradiction. This article examines the grave consequences for the understanding of domination.

Habsburgs Bürokratie, die ein wesentlicher Bestandteil der k.u.k Monar­chie war, ist Kernstück österreichischer Erinnerungskultur und wird in Tex­ten und Praktiken immer wieder erneuert. Gehäuft treten diese Aktualisie­rungen dann auf, wenn die kollektive Identität erschüttert ist, die Gegen­wart als Herausforderung erlebt wird und die jüngere Vergangenheit ver­drängt werden will: Dies gilt in Österreich insbesondere für die Nachkriegs­zeiten, in denen die Habsburgbürokratie in einem reichhaltigen und mäch­tigen Fundus an Erzählungen immer wieder von neuem reproduziert wurde. Eine wichtige Rolle nehmen hier die Literatur im engen Sinn des Wortes, vor allem aber auch ihre LeserInnen ein.

Mich interessiert nun, wie diese Habsburgverwaltung als Herrschafts­form – das ist der Aspekt, den ich vor allem betrachten möchte – erinnert und was dabei beiseite gewischt wird: Projekte der Moderne, Neuerungen der jungen Demokratien, gesellschaftliche Aufbrüche. Meine Frage ist, in­wiefern sich die Art der Bürokratieerzählungen und Bürokratieerinnerun­gen als distinguierte Formen der Aufhebung[1] fassen lassen, als Hochkultu-ren des Asservierens. Als Terminus technicus habe ich das “Asservieren” von Robert Musil entlehnt, der den Ministerialrat Folgendes ausführen lässt:

Diese Zauberformel Ass., die in den kakanischen Ämtern in Gebrauch war, hieß «Asserviert», auf deutsch soviel wie «Zu späterer Entschei­dung aufgehoben», und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts ver­loren gehen läßt und nichts übereilt. Asserviert wurde zum Beispiel die Bitte des kleinen Beamten um eine außergewöhnliche Wöchnerin­nenbeihilfe so lange, bis das Kind erwachsen und selbständig erwerbs­tätig war, aus keinem anderen Grunde als dem, daß die Materie bis dahin vielleicht gesetzlich geregelt sein konnte und das Herz der Vor­gesetzten vorher die Bitte nicht abschlagen wollte [...] und grundsätz­lich wurde alles, was zum erstenmal an ein Amt herantrat, solange as­serviert, bis ihm ein ähnlicher Fall voranging. Aber es wäre ganz falsch, sich über diese Gewohnheit der Ämter lustig zu machen, denn außer­halb der Büros wird noch viel mehr asserviert. [...] Dabei geht in den Ämtern doch wenigstens einiges verloren, in der Welt aber nichts.[2]

Einige Aspekte des Asservierens, auf die ich in meinem Beitrag eingehen werde, sind im literarischen Zitat schon angesprochen:

• die Routine, mit der die Tätigkeit des Asservierens gehandhabt wird – verdeutlicht in der Formel;

• der Hang zum Pleonasmus in der Formulierung «zur späteren Ent­scheidung aufgehoben»

• die positive Wertung des Asservierens, sichtbar in den Worten Vor­bild, Umsicht etc.

• die Rechtfertigungsstruktur und Verteidigungshaltung gegenüber Kri­tik, die jedoch nicht ernst zu nehmen ist

• die Temporeduktion, die sich als Stillstellung entpuppt

• die Dichotomie zwischen Amt als Innen und Welt als Außen – oder anders das Auseinanderklaffen der Verwaltung und des Verwalteten

• die ironische Sichtweise, die sich in Wörtern wie «Zauberformel» und «Umsicht», in der Litotes «nichts übereilt» sowie am Zugeständ­nis offenbart, dass die Methode für die verwalteten Menschen völlig ungeeignet, ja katastrophal ist

Im kakanischen Asservieren sind damit auch jene drei Formen der He­gelschen Aufhebung realisiert, die dem Begriff «aufheben» innewohnen: der Aufhebung im Sinn des Erhöhens (die positive Wertung dieser Tätigkeit), des Konservierens (in der Formalisierung und der Aufbewahrung für spä­ter) und der Auflösung (zum einen in der Ironie, zum anderen in der Still­stellung).

Ich möchte nun skizzieren, wie sich diese Weisen des Asservierens in der Erinnerungskultur der posthabsburgischen Zeit nachweisen lassen – in den Texten und in den Lesarten – und werde dazu nach den Bedeutungs­ebenen des «Aufhebens», aber auch des Liegenlassens vorgehen.

1a. Aufheben als Erhöhen

Aufheben in seiner ersten Bedeutung wird als Handlung verstanden, bei der etwas, was am Boden liegt, in die Höhe gehoben wird. Damit kann das Aufgehobene besser gesehen und inspiziert werden. Mit der festgelegten Perspektive ist auch eine Wertung verbunden, zumal die Richtung nach oben in unserer Kultur mit Aufwertung verbunden ist[3].

Bürokratische Verwaltung zum bevorzugten literarischen Sujet zu ma­chen, kann erstaunen, da hier etwas Formales, Sachliches, Unspektakuläres aufgewertet wird. Dies erscheint als ungewöhnliche Kombination[4] und wird auch aus komparatistischer Sicht als Besonderheit angesehen[5]. Noch mehr jedoch verblüfft die Aufwertung dieses Sujets, wie es für die Habsburglite­ratur ausgemacht wurde: von LiteraturwissenschafterInnen, allen voran Claudio Magris, der die verklärende Macht unter dem Begriff des «Habs­burgmythos» diskutierte[6], von Funktionsträgern, wie dem Juristen Manfried Welan, der die literarische als «nostalgische, illusionistische Sicht» charakte­risierte[7] und von HistorikerInnen, wie Waltraud Heindl, die den literarisch und filmisch produzierten «Typus des “Beamten-Helden”» nach wie vor als prägend für unseren Blick auf die Habsburgbürokratie ansieht[8].

Die Aufwertung der k.-u.-k.-Bürokratie durch Literatur wird aber nicht nur gesehen oder herausgelesen, sondern durch Literaturverständnis und Textauswahl in der Rezeption auch praktiziert.

Aufwerten durch Literaturverständnis als wissenschaftliche Quelle und Kulturgut

Die Aufwertung der k.u.k. Bürokratie kann auf einen Realitätsanspruch zurückgeführt werden, der vor allem aus interdisziplinärer Perspektive an die Literatur herangetragen wird. Die zentrale Frage, die von verschiedenen Wissenschaften zu literarischen Bürokratiefiktionen gestellt wird, ist auf li­teraturtheoretischem Terrain zu verorten: Was gibt Literatur von der Reali­tät preis, wenn die Quellenlage der Verwaltungstexte mangelhaft[9], die The­orie bewundernd bzw. einseitig[10] ist? Kann sie Wirklichkeit evozieren? Und wie verlässlich ist ihre Abbildungskraft? Der Verwaltungswissenschaftler und Ex-Sektionschef Raoul Kneucker erhebt in seinem Text «Literarische Lesarten zu Verwaltung und Bürokratie» die Literatur in den Rang einer Quelle, die sich nur graduell von anderen unterscheide. Dies sei im Bereich der Verwaltungsgeschichte mittlerweile akzeptiert:

Waltraud Heindl erstaunte die österreichische Fachwelt, als sie im Jahre 1991 in ihrem ersten bürokratiegeschichtlichen Werk Franz Kafka wie einen Fachkollegen behandelte; es gab dann kein Stirnrun­zeln mehr, als sie in ihrem zweiten Band 2013 die «großen» und «nicht so großen» Literaten der Habsburger Monarchie [...] offensichtlich wie Quellen heranzog. Ich hege übrigens keinen Zweifel, dass die Fach­kollegen und Fachkolleginnen immer schon mit gewissem Gusto, und ohne große methodologische Skrupel, Franz Kafka, Robert Musil u.a. zitierten, wenn sie die traditionelle Verwaltung der Habsburger Mo­narchie vor allem Nichtösterreichern erläuterten.[11]

In den politischen und sozialwissenschaftlichen Fächern waren die Wi­derstände gegen die Verwendung von fiktionaler Literatur laut Kneucker noch größer: «zu persönlich, zu phantasievoll, zu impressionistisch, zu “al fresco”, so lauteten stets die Vorwürfe oder Einwendungen oder Warnun­gen»[12]. Die vehemente Kritik basiert auf einem Verständnis von Literatur als Realitätsdarstellung, das sich mit der Spiegelmetapher fassen lässt. Auch die Historikerin Waltraud Heindl greift darauf zurück, betont allerdings den Bruch durch den Spiegel und fordert, wie für andere Materialien auch, Quel­lenkritik[13]. Das Dilemma eines derartigen Verständnisses liegt darin, dass Literatur und ihre Fiktionen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren und Überzeichnungen oder Polyvalenzen zum genuinen Arsenal des litera­rischen Schreibens gehören. Jedenfalls zeigt sich, dass die Quellenkritik da­von beeinflusst scheint, ob die Literatur die in der Wissenschaft gängigen Blicke teilt oder kontrastiert. Im positiven Fall kommt es zu einer Bestäti­gung: So finde der Verwaltungsforscher im «Mann ohne Eigenschaften» «eine atemberaubend gültige Beschreibung der prototypischen Habsburger Monarchie nach Struktur, Gestalt und System»[14]. Bei Abweichungen von der wissenschaftlich erforschten «Realität» müssen hingegen Korrekturen angebracht werden. So sieht Kneucker in der russischen Literatur eher Überhöhungen als realistische Darstellungen, und also kein Quellenmate­rial, auf das man sich, wie etwa bei Musil oder Kafka, verlassen könne. Ei­nen Schritt weiter geht die Historikerin Waltraud Heindl. Sie wird zum Sprachrohr der karikierten Beamten, fragt nach den möglichen Reaktionen der Monarchiebeamten auf die mitunter sehr kritischen Befunde der Litera­tur[15] und formuliert:

Ein Beamter hätte die spöttischen literarischen Beschreibungen seiner Welt durch die Schriftsteller wohl kaum verstanden. Die Bürokraten lebten mit einer Selbstverständlichkeit in diesem abgeschotteten Ap­parat. Und es war gerade diese Selbstverständlichkeit, die die Literaten in Erstaunen versetzte.[16]

Verschont von diesem Dilemma – und damit komme ich zu einem ganz anderen Zugang zu Literatur – sind WissenschafterInnen, die an ein bür­gerliches Selbstverständnis andocken und die Literatur als hohes nationales Kulturgut ansehen. Dabei handelt es sich um jene Art von Aufwertung, wie sie in geistesgeschichtlichen Ansätzen und der nationalen Literaturge­schichtsschreibung und häufig auch im schulischen Literaturunterricht prak­tiziert wird. Ein sehr schönes Beispiel liefert der lange in den USA tätige Literaturwissenschaftler Joseph Strelka, der die österreichische Seele und Kultur als «menschenbrüderliche Humanitas und All-Liebe» bewarb[17], wel­che von der Beamtenliteratur und Beamtenkultur wesentlich mitgeprägt sei:

Es sind die kulturmorphologischen Prägekräfte jener dienstaristokra­tischen Lebenshaltung, die in rund einem halben Jahrtausend das We­sen und den Stil der österreichischen Dichtung bestimmten. Denn es waren die Dienstaristokraten, welche in Stellvertretung der Hocharis­tokratie die tatsächlich leitende Schicht des Staatsgebildes darstellten und es ist immer die führende Schicht eines Gesellschaftskörpers, wel­che die Geistigkeit der gesamten Gesellschaft bestimmt.[18]

Die Verve, mit der hier Patriotismus betrieben wird, erklärt sich aus der identitätsstiftenden Rolle der k-u.-k Literatur für die österreichische Nation bzw. für das österreichische Bürgertum nach 1918 bzw. 1945 – ein verspä­tetes und langanhaltendes Projekt mit Unterbrechungen, das umso schärfer zur Sprache gebracht wird. Während es bevorzugt mit deutschsprachiger Literatur (wenn auch aus dem ganzen Reich – auf Kafka und Roth verzich­tet man ungern) unterfüttert wird, geht Strelka noch einen Schritt weiter und sammelt in seinem Band Beiträge zu verschiedensprachigen literari­schen Texten der gesamten Habsburgmonarchie. Die Übertitelung all die­ser Artikel ist allerdings unmissverständlich: «österreichische Literatur». Was die Stellvertreterfunktion der literarischen Ermächtigung und die da­mit verknüpften Hoffnungen betrifft, zeigen sich Analogien zur Rolle der Literatur und Ästhetik für das deutsche Bürgertum des 18. Jahrhunderts: Politische Ohnmacht und ungünstige Lebensverhältnisse zwangen, so Terry Eagleton, zur symbolischen Befriedigung in einem anderen Feld. Die Ästhetik lässt die in der Geschäftswelt ausgeschlossenen Dimensionen, wie die sozialen Bindungen, inkludieren und wirkt zudem wie ein «Traum der Versöhnung»[19].

Auch im Nachkriegsösterreich von 1918 und 1945 finden sich für die alten Herrschaftseliten ungünstige Bedingungen vor: nach dem 1. Weltkrieg durch die Verkleinerung des Reiches, durch die demokratischen Entwick­lungen und aufkommende ArbeiterInnenbewegungen, die Despotie und Totalitarismus ablösten; und nach dem 2. Weltkrieg durch die Mitverant­wortung für Kriegsverbrechen und Holocaust und dem heftigen Drang zu vergessen. Mit Rückgriff auf bürokratische Fiktionen, die gleichermaßen auf österreichische wie klassenspezifische Identität abstellten, konnte die Herrschaft und der Zusammenhang symbolisch aufrechterhalten werden.

1b. Was wird liegengelassen?

Ganz anders sieht die Frage nach der Aufwertung der k. u. k. Bürokratie aus, wenn man nicht dem Konzept der Spiegelung oder des Kulturgutes, sondern einem diskursiven Verständnis von Literatur folgt. Hier kommt ein erweiterter Literaturbegriff zum Tragen, der verschiedenste Texte, primäre und sekundäre, integriert und davon ausgeht, dass sie Wirklichkeit entwer­fen und in sie eingreifen können. Dadurch werden Texthierarchien und etablierte Textkorpora fragwürdig und der Blick auch auf das gelenkt, was bislang als minderwertig und uninteressant vernachlässigt wurde. In diesem Sinn ändert sich die Frage und richtet sich nicht nach dem, was aufgehoben, sondern was liegen gelassen wird.

Im Zusammenhang mit der Habsburgbürokratie werden bestimmte Ro­mane bevorzugt ausgewertet, während widersprüchlichere Texte (wie etwa diverse Romane von Joseph Roth oder auch Werke von Fritz von Herzma­novsky-Orlando), aber auch Bücher anderer Autoren und Autorinnen kaum Betrachtung finden. Auch jenseits dieses Augenmerks litt die Rezeption der österreichischen Literatur unter dem «Habsburgmythos», weil Texte oder Stilrichtungen, auf die diese Bezeichnung nicht passte, im Abseits landeten. Erst spät wurden Österreichs neusachliche LiteratInnen entdeckt oder Österreichs Avantgarden anerkannt, weil neusachlich und avantgardistisch so gar nicht als Etikett der österreichischen Literatur taugte[20].

Für unseren Zusammenhang relevant ist hier, dass Österreichs Literatur auch jenseits Kakaniens über aufschlussreiche Bürokratiefiktionen verfügt – wenn diese auch lange Zeit nicht und oft auch heute noch wenig Beach­tung finden. Freilich steht in diesen Texten nicht der hohe Beamte im ab­geschotteten Apparat im Mittelpunkt, sondern das Schriftstück, der Behör­dengänger, die Verwaltung des Elends und der Sozialstaat. Die Perspektive ist verkehrt und Figuren anderer Klassen und auch des anderen Geschlechts avancieren zu Protagonisten. Die bevorzugte Zeit der Handlungen ist die Gegenwart[21], aber viele Geschichten reichen in die Monarchie zurück[22]. Dort kommen, soweit ich dies sehe, Bürokratie und große Politik oft in ihren ökonomischen Auswirkungen vor, was sich mit dem Krieg bzw. der Mobilisierung schlagartig ändert[23]. Die Romane zeigen damit, wie weit ent­fernt (und ignoriert oder verschont) Handwerker, kleine Handelstreibende, Angestellte und Hausfrauen von der habsburgischen Bürokratie waren bis der Krieg ausbrach und die Bürokratisierung ihren absoluten Höhepunkt erreichte. Wie gewaltvoll und unverstanden dieses politische Ereignis erlebt wird, demonstriert Andreas Thom im Roman «Vorlenz, der Urlauber auf Lebenszeit, und Brigitte mit dem schweren Herzen» wie folgt: «Krieg wurde, plötzlich, über Nacht fast stand die ganze Erde rundherum in Flam­men. Das Böse brach wie eine Krankheit aus, schlimmer als die Pest und ärger als der Tod, denn es war Mord»[24]. Durch die naive Sicht der Klein­bürger, die große Teile des Romans durchgehalten ist, wird mit dem Pathos gebrochen und die Naturalisierung der kriegerischen Ereignisse subvertiert. Die Klimax lautet: Naturereignis/Flammen, Böses, Krankheit/ Pest, Tod und endet im bewussten Akt des Tötens, im Mord. So wird der Absolut­heitsanspruch der Anordnungen karikiert, bei Kriegsausbruch ebenso wie auf dem Feld. Über Fragen der Verantwortung und der politischen Hand­lungsfähigkeit werden Budgetentscheidungen und strafrechtliche Konse­quenzen thematisiert.

Die Italiener schossen wie verrückt und legten ihr ganzes Geld in Bomben und Granaten an. «Wenn man so denkt», überkam es Vor­lenz, «was dafür alles geschaffen werden könnte, daß es keine Not mehr geben würde, keine Kranken ohne Spitäler, keine Hungrigen ohne Speisehäuser und keine Durstigen ohne Freibier ...» Er schwelgte besonders im letzten Teil dieser Überlegung. Aber Soldaten dürfen nun einmal nicht denken. Das ist gegen die Dienstordnung und kann im Krieg sogar bestraft werden, denn ein Soldat ist bloß die notwen­dige Ergänzung des Gewehrs, und das wird mit Kugeln und nicht mit Gedanken geladen.[25]

Während die großen Akteure und Bürokraten in den meisten neusachli­chen Texten hinter den Ereignissen und Anordnungen verborgen bleiben, realisiert Robert Brunngraber im Roman «Karl und das XX. Jahrhundert» einen Kunstgriff, um Entscheidungsträger und Untertanen zu verknüpfen: Wie Krieg von ökonomischen und politischen Akteuren an den einfachen Figuren vorbei vorbereitet und gemacht wurde, beschreibt der Autor, in­dem er Weltgeschichte gespickt mit zahlreichen Daten und Fakten parallel zur persönlichen Geschichte des Protagonisten aufrollt.

Rußland berief Iswolski zum Außenminister, der der konsequenteste Feind der Österreichisch-ungarischen Monarchie war, und Conrad von Hötzendorf, der österreichische Generalstabschef, fordert in ei­ner Denkschrift an seinen Kaiser einen Präventivkrieg gegen Italien. Die deutschen Waffenwerke in Karlsruhe ließen durch eine französi­sche Waffenfabrik Aufsätze [...] über die Güte und die große Zahl an Maschinengewehren, über die das französische Heer verfügte, lancie­ren, mit welchen Zeitungsartikeln in der Hand dann ein deutscher Ab­geordneter, der von der Rüstungsindustrie bestellt war, vom Reichstag eine Verbesserung auch der deutschen Heeresbewaffnung verlangte und einstimmig zugesprochen erhielt. In diesen Tagen legte der vier­zehnjährige Karl Lakner seine Aufnahmeprüfung am Lehrerseminar ab. [Es] sagte der examinierende Professor, als Karl mit dem «Gott erhalte» an eine bestimmte Stelle gelangt war: Schluß. Immer der glei­che Fehler, das ganze Volk singt seine Hymne falsch; es heißt nicht: Ewig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint, son­dern ve-ereint. Da ist ein Vorschlag von Haydn geschrieben.[26]

Wie der Staat während des 1. Weltkrieges die Geschicke der Protagonis­ten übernimmt, zeigt sich nicht nur in Schlachtromanen[27], sondern auch in Schilderungen des Hinterlands oder am eindringlichsten in der Erzählver­weigerung: So unterbricht Robert Neumann in seinem Roman «Sintflut» die Chronologie der Erzählung und lässt die 4 Jahre schlicht und einfach weg[28]. In der Nachkriegszeit geht es hinsichtlich bürokratischer Ordnung insbe­sondere um die sozialstaatliche Verwaltung des weiterhin starken Staates. Diese Institutionen fungieren als Rettungsanker und Schutzgebiete, spätes­tens nach der Wirtschaftskrise und den drastischen Kürzungen werden sie jedoch als völlig unzureichend kritisiert[29]. Ab 1945 richtet sich die literari­sche Bürokratiekritik insbesondere gegen Formalismen, Totalitarismen und die Kolonisierung des Individuums. Ironie und Satire bleiben wichtige Mit­tel der Auseinandersetzung, schlagen aber immer wieder in Sarkasmus um[30].

Auch wenn nach 1918 und nach 1945 tatsächlich einige Autoren an die Bürokratie der Habsburger Monarchie anschlossen – satirisch wie Jörg Mauthe[31] oder grotesk wie Fritz von Herzmanovsky-Orlando[32] finden sich genügend Bürokratiefiktionen, die in der demokratischen Republik oder dem NS-Staat angesiedelt sind. Viele dieser Texte der Zwischen- und Nach­kriegszeit wurden jedoch lange Zeit vernachlässigt und eben nicht aufgeho­ben. Sie eignen sich auch schwerlich für ein Asservieren, das der Hochkul­tur verpflichtet ist. Statt zum Aufwerten der Bürokratie zu taugen, sind sie vielmehr kritische Interventionen und als solche nicht gerade willkommen beim Establishment, das nach den Weltkriegen an die «Kulturträger» der monarchischen Bürokratie andockt.

2 Aufheben als Konservieren/Aufbewahren

Bei der zweiten Bedeutung von «Aufheben» steht die zeitliche Dimen­sion im Mittelpunkt und meint eine Pause unbestimmter Dauer, während­dessen das Aufbewahrte stillgestellt ist. Konservieren heißt nicht wegwer­fen, aber auch nicht gebrauchen. In diesem Sinn ist Aufheben notwendig nachträglichen Charakters, das Aufgehobene verfügt über eine Geschichte, enthält aber auch die Idee von Zukunft als potentielle Wiederverwendung. Es impliziert eine Wartehaltung und negiert für die Gegenwart mit der Ak­tivierungs- auch die Handlungs- und Änderungsmöglichkeiten.

Neben dieser zeitlichen Dimension hat die Tätigkeit des Aufbewahrens auch eine räumliche Ordnungsfunktion, den Akt der Konservierung, die Arbeit am Konservieren und man könnte jetzt über die Genese der Texte sprechen, die Bearbeitungen durch AutorInnen oder der HerausgeberIn­nen, wie das Zurechtschleifen widerborstiger oder problematischer Texte. Man denke nur an Torbergs Bearbeitungen der Prosa Herzmanovsky-Or­landos, denen sogar der Name der Tarockei zum Opfer fiel, um in das un­verfängliche kakanische Tarockanien transformiert zu werden.

Statt Fragen der Textgenese zu betrachten, werde ich hier jedoch auto­biographische Texte in den Mittelpunkt stellen, für die die Funktion des Aufbewahrens, das Aufheben «zu späterer Verwendung» zentral ist. Offen­sichtlich waren es zahlreiche Beamte, die in den letzten 60, 70 Jahren der Monarchie ihre Lebenserinnerungen zu Papier brachten. Waltraud Heindl wurde insbesondere in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts fündig und er­gänzt ihre historischen Untersuchungen durch die Betrachtungen dieser Materialien, da es das

skurrile Moment [gibt], dass Beamte zwar beschriebene Papiere wie Sand am Meer produzieren, dass aber die meisten zur Bildung ihrer Geschichte kaum taugen. Sie sagen über die Staatsdiener selbst, ihre Bedeutung in der einen oder anderen Angelegenheit, ihre Meinungen, nur wenig aus.[33]

Wie für die Schriftstücke, so die Historikerin, gelte dies leider auch für die Memoiren der Beamten, die standardisiert Etappen des Lebens wieder­geben, selten die eigentliche Amtsarbeit fokussieren, immer die Grenzen dessen, was sich geziemt, respektieren und darüber hinaus Schweigen be­wahren[34]. Die Chronik und das Schickliche strukturieren denn auch die Er­innerungen von tschechischen k.-u.-k. Beamten, die Pavla Vošahlíková her­ausbrachte[35], eröffnen aber gerade hierdurch Blicke auf die wirksame Züch­tigung der Disziplinarmacht. Die Erzählungen von Anekdoten muten bis­weilen genau deshalb komisch an, weil sie das Leben als Routinen erzählen und minimale Alltagsunterbrechungen erzählerisch aufwerten. Auch die Er­innerungslücken und die dokumentierte Ereignislosigkeit zeugen vom rechtschaffenen Bemühen, dem Leben für die Memoiren doch noch etwas abzutrotzen.

Mein Dienst in den Jahren 1909 bis 1913 war wahrscheinlich gänzlich normal, ohne alle Aufregungen, denn mir fällt auf, daß mir trotz in­tensiven Nachdenkens aus dieser ganzen Zeit, bis auf zwei fast bedeu-tungslose Begebenheiten, nichts im Gedächtnis hängen geblieben ist, was der Erwähnung wert wäre.[36]

Im Prinzip ähneln diese Memoiren den als Romanen präsentierten Er­innerungen diverser österreichischer Beamter wie Büchern von Gustav von Festenberg[37] oder Friedrich Kleinwächter[38]. So erscheinen die Texte als der historischen Zeit seltsam enthoben, die Zäsuren von 1914, 1918, 1934 und 1938 sind verwischt. Allerdings finden sich auch Unterschiede. Statt auf die Lücke zu verweisen, in der nichts Erzählrelevantes geschieht, wird gerade darauf ein besonderes Augenmerk gelegt. So scheinen sich Beamtenro­mane, anders als die Autobiographien, die ein ganzes Beamtenleben zu fas­sen versuchen, auf kleinteilige Zeitabschnitte wie Vormittage oder Stunden zu konzentrieren und schildern im handlungsarmen Plot eine Fülle an Überlegungen, Ängsten und Träumen. Solche Handlungspausen betreffen interessanterweise insbesondere bürokratische Belange[39]. Je mehr sich die Erzählung nämlich räumlich und zeitlich der konkreten Amtsarbeit annä­hert, entzieht sie sich ihr sofort wieder und verschwindet gleichsam in ei­nem Kokon vertrauter Naturbilder und Gedankenspiele. Hervorragend nachvollziehen lässt sich dieser Prozess des Einhegens und Stillstellens in Gustav von Festenbergs «Ein Tag wie alle», in dem das Amtszimmer einen Rückzugsort von existentieller Bedeutung darstellt:

Freilich, dieses Zimmer, dieses Büro ist nicht zu vergleichen mit sei­nem lieben Zimmer zu Hause. Denn dieser übergroße Schreibtisch mit den schwarzen und roten Gesetzesbüchern, dieser braune weiche Schrank und die kahle Garnitur aus gebogenem Holz, sie liegen wie Steine umher, sie lassen sich nicht verwandeln, sie sind nicht einzube­ziehen. Sie werden immer tote Stellen bleiben ohne Resonanz, gelbe Flecken in dem Auge des Raumes. Aber Franz hat sich ihnen gegen­über geholfen, ähnlich wie die Bienen sich helfen gegenüber einem Fremdkörper in ihrem Stock. Sie überkleiden ihn ganz mit Wachs, so daß er ein Teil ihres Reiches, Wesen von ihrem Wesen wird.[40]

Dieses Zitat entstammt einem Roman, der im Paratext als Handlungsort «eine österreichische Kleinstadt» ausweist und als zeitliche Verortung «vor 1930» angibt. Eine solcherart offene Zeitangabe rekurriert in diesem derart präzisen Roman, der nur den Ablauf eines einzigen Tages eines mittleren Beamten beschreibt, auf einen sehr dehnbaren Zeitraum. Ganz anders als Bloom in James Joyce Ulysses verwischt auch die Grenze zwischen dem Konservieren des Autors und dem Konservieren des Protagonisten.

Neben der Tendenz zur Enthistorisierung der Erinnerung finden sich in der fiktionalen und nicht fiktionalen Beamtenbiographie auch zahlreiche Beispiele für das Engagement gegen jede Veränderung. So wirbt die partei­ische Erzählinstanz dafür, alles, was einem Stillleben gefährlich werden könnte, fernzuhalten oder zu minimieren. Nur ab und zu blitzt Gefahr auf, die sich meist aber auf neue Regelungen bezieht und das Tempo beschleu­nigt[41], auf junge Ungestüme, die die kleinteiligen Subordinationsgesten ig­norieren[42] oder auf unerwartete Zusammenkünfte mit Kollegen oder Par­teien in den Gängen der Ämter[43]. Die Abwehrstrategien sind für gewöhn­lich erfolgreich. Insofern stellt sich die Habsburgbürokratie hier als in Wachs gekleidete und stets wieder in Wachs zu kleidende überzeitliche Form dar, die nach draußen und gegenüber Veränderungen durch Konser­vierung immun gemacht wird.

3. Aufheben im Sinne von Auflösen

Die dritte Bedeutung von Aufheben wird als Nichtig-Machen bezeich­net und meint beispielsweise das Auflösen bestehender Regelungen und Gesetze. Diese Bedeutung ist auch durch die philosophische Frage von In­teresse, ob und wie die Widersprüche in einer Synthese aufgehoben werden können, praktisch werden müssen oder bestehen bleiben. Die Wider­sprüchlichkeit der Bürokratie zeigt sich insbesondere, wenn verschiedene Bürokratiediskurse verglichen werden: Während in den Rechts- und Sozial­wissenschaften, wie auch in der Theorie, Bürokratie vor allem mit Moderne und Fortschrittlichkeit einhergeht[44], werden mit demselben Begriff von phi­losophischen Positionen aus, vor allem aber in der Alltagssprache, Unzu­länglichkeiten und Rückschrittlichkeit kritisiert. Gegenüber stehen sich Transparenz und Intransparenz, Korrektheit und Fehler, Schnelligkeit und Langsamkeit, Ordnung und Unordnung, demokratische und totalitäre, frei­heitssichernde und kolonialistische Formen[45]. Welche Spezifik wird nun der habsburgischen Bürokratieherrschaft zugeschrieben?

Im kollektiven Gedächtnis des heutigen Österreichs, wie es sich aus ver­schiedenen Äußerungen und Texten konstituiert, scheinen Despotie und Kolonialismus keine zentralen Bezeichnungen für die Habsburgherrschaft zu sein. Demgegenüber zählte Hannah Arendt neben dem zaristischen Russland auch die österreichische Monarchie zu den legitimen «despoti­schen Bürokratien» und schrieb:

[G]erade diese Legitimität half besser als alles Geheimhalten und Sichaufspielen den grundsätzlichen Opportunismus verbergen, der hinter der Willkür aller bürokratischen Regime liegt. Die Vorteile bü­rokratischer Herrschaft für große Reiche mit heterogener Bevölke­rung, die man unterdrücken muß, will man sie überhaupt zusammen­halten, liegen auf der Hand.[46]

Für die Gegenseite stellt sich die Situation etwas anders dar, weil Ent­scheidungen nicht verstanden werden können und zu zahllosen Auslegun­gen und Spekulationen führen[47]. Das sei zusammen mit einer Aura des Ge­heimnisvollen kennzeichnend für die vorrevolutionäre russische Literatur[48]. Die Frage ist nun, wie die österreichische Literatur derartige Mechanismen zur Sprache gebracht hat. Hat sie sie aufgelöst? Hat sie das fortschrittliche oder das rückschrittliche Moment betont? Den aufklärerischen oder den kolonialen Aspekt? Ich möchte hier zum Abschluss Texte kanonisierter Au­toren anführen, die diese Fragen und ihre unauflösbare Dialektik ausdiffe­renziert und auf verschiedenen Ebenen literarisch verwirklicht haben.

So hat Joseph Roth in seinen Büchern die Widersprüchlichkeit und Un­durchschaubarkeit des k.u.k Regimes detailliert vorgeführt. Am besten zei­gen sich diese Phänomene beim Übertritt in die neue demokratische Ord­nung[49] oder an den Rändern der Monarchie, wie in Roths spätem Roman «Das falsche Gewicht». Die Maßnahmen sind vielfältig und der Kolonial­herr allerorten spürbar:

Eines Tages kümmert sich der Staat um dieses und morgen um jenes. Er kümmert sich sogar um die Geflügelware der Frau Czaczkes; um die Gewichte des Balaban; um die schulpflichtigen Kinder Nissen Piczeniks; um die Impfungen kümmert sich der Staat, um die Steuern, um die Trauungen und um die Scheidungen, um die Testamente und Hinterlassenschaften, um die Schmuggelei und um die Goldfälscher. Warum sollte er sich nicht um die Grenzschenke Jadlowkers küm­mern, in der alle Deserteure zusammenlaufen?[50]

Wie in dieser Aufzählung deutlich gemacht wird, fokussiert das bürokra­tische Ansinnen der österreichischen Monarchie auf Machterhalt und Geld und impliziert säkulare, aufklärerische Anliegen, die von der Bezirkshaupt­mannschaft durchzusetzen sind. Aus Sicht der Bürokratieforschung waren diese Verwaltungsstrukturen bewunderungswürdig und die Monarchie wurde darum, so Kneucker, sogar beneidet[51]. In Roths Zlotogrod ist von dieser Attraktivität nichts zu spüren. Auch die positive Bedeutung des Verbs «kümmern», das etwas von sozialer Nähe und Wohlwollen enthält, wird in den Passagen, in denen die Perspektive der Bevölkerung dominiert, entschieden zurückgewiesen und konterkariert. Verständlich ist dies bei den Kontrollen der Maße, die die Bevölkerung wie Seuchen fürchtet. Aber auch Informationen der monarchischen Behörden werden missbilligt und miss­verstanden, was bisweilen die Lage noch verschlimmert. So halten die Zlo­togroder daran fest, dass es sich beim roten Regen keineswegs um Wüsten­sand, sondern um ein schlimmes Zeichen handelt, «und sie starben noch schneller und jäher als vorher»[52]. Vor allem aber zeigen sich die Wider­sprüchlichkeiten der Aufklärung im besetzten Galizien in der Gesundheits­politik.

Mit Entsetzen hörten die Einwohner des Bezirks das Eis krachen, kaum eine Woche nach Weihnachten. Laut einer alten Sage, die in der Gegend umging, bedeutet dieses Krachen des Eises ein großes Un­glück für den kommenden Sommer. [...] Nun, sie hatten recht. Die alte Sage hatte recht. [...] Schnell starben die Menschen dahin, kaum waren sie drei Tage krank gewesen. Die Ärzte sagten, es sei die Cholera, aber die Leute in der Gegend behaupteten, es wäre die Pest. Es ist aber auch gleichgültig, was für eine Krankheit es war. Jedenfalls starben die Leute.[53]

Neben der Informationspolitik scheitert die Behörde auch bei ihren ge­sundheitspolitischen Maßnahmen: Die in den Bezirk geschickten Ärzte und Medikamente werden nicht angenommen, genauso wenig kommen die Evakuierungsmaßnahmen im intendierten Sinn an:

Es gab viele, die sagten, Ärzte und Medikamente würden höchstens schaden und die Verordnungen der Statthalterei seien noch schlimmer als die Pest. Das beste Mittel, sich das Leben zu bewahren – so sagten sie –, sei der Alkohol. [...] Die Leute starben wie die Fliegen. [...] Was nützten die Ärzte und die Medikamente, die man von der Statthalterei geschickt hatte? Eines Tages kam von der Militärbehörde der Befehl, das Regiment der Fünfundreißiger möge unverzüglich den Bezirk Zlo­togrod räumen, und jetzt entstand ein noch größerer Schrecken. Bis jetzt hatten die armen Leute geglaubt, der Tod sei gleichsam nur zu­fällig durch ihre Häuser und Hütten gegangen. Nun aber, da man die Garnison verlegte, war es auch von Staats wegen beschlossen und be­siegelt, daß die «Pest», wie sie es nannten, eine andauernde Angelegen­heit war.[54]

Interessanterweise affizieren Gewalt und Mängel bei der Bürokratisie­rung auch die Erzählweise und kippen manche Bilder, verdrehen Superla­tive, werden unzuverlässig. So wird etwa kritisiert, dass die moderne Medi­zin nichts nützt, obwohl (oder weil?) sie abgelehnt wurde. Ebenso wird die Seuche als Naturgewalt gesehen, die dann aber doch unter staatlicher Ob­hut zu stehen scheint. Und undurchsichtig bleibt, ob nun mit Pest die Cho­lera oder die Staatsmacht bezeichnet wird. So kommt selbst die aufkläreri­sche k.u.k. Gesundheitspolitik als unerklärliche und machtvolle Katastro­phe an, als welche nach Arendt despotische Ver/Ordnungen für gewöhn­lich erlebt werden[55].

Ebenfalls bemerkenswert sind die zahllosen Belege für die widersprüch­liche Un/Ordnung der Habsburgmonarchie bei Herzmanovsky-Orlando, der im «Maskenspiel der Genien» mystische und esoterische, mythologische und moderne Versatzstücke ineinander montiert: bei traditionalen Herr­schaftsauftritten des Kanzlers und seinen Organen[56], weil ein Akt von Mot­ten zerfressen wird[57] oder weil man mit der «Registrierung der Akten um zwanzig bis dreißig Jahre im Rückstand war»[58]. Besonders krass sind die Erlässe des Kanzlers, die von den Beamten exekutiert werden müssen, egal ob er versehentlich Insassen eines Irrenhauses begnadigt[59] oder skurrile Projekte ins Leben ruft:

«Denken Sie [...], die vergangene Woche hat der Sküs wieder eine na­tionale Industrie aus dem Boden gestampft. Es wird die größte der Welt werden!» «Ja, wo ist denn der Platz dafür in dem kleinen Land», warf Pizzicolli ganz richtig ein. «Er wird das Meer zuschütten lassen; im Mai oder Juni. Die Häfen werden verlegt und zwar ins Hochge­birge! Dort ist ja sonst nichts los und alles Staatseigentum. Es soll, behauptet man im Arbeitsministerium, ganz gut gehen, ... mittels schiefer Ebenen oder so ... alles, damit in die unwirtlichen Hochtäler ein bißchen Leben kommt. Verstehen Sie jetzt, was es heißt: Pater patriae zu sein und alle Vorteile wahrhaft gerecht zu verteilen ... [...]»[60]

Es ist die Reibung des traditionalen Herrschaftssystems mit dem fort­schrittlichen Projekt der Moderne, wie es für die bürokratische Herrschaft Habsburgs typisch ist, was hier zur Diskussion gestellt wird[61]. Statt eine Aura des Geheimnisvollen und der Tiefe zu produzieren, wie es nach Arendt die russische Literatur als Reaktion auf die bürokratische Herrschaft tut, legen viele Texte Herzmanovsky-Orlandos die Widersprüchlichkeit mit zahlrei­chen Übertreibungen offen. Dazu werden auch Zeiten und Klassen durch­einandergewirbelt. Ein besonders schönes Beispiel ist das Stück «Kaiser Jo­seph II. und die Bahnwärterstochter, eine dramatische Stimme aus Innerös­terreich»[62]. In diesem Drama geht es um die erste Eisenbahn, die im Öster­reich des 18. Jahrhunderts entlegene Gegenden im Gebirge verbindet. Diese fortschrittliche Erfindung versucht zwar Touristen und Ausländer fernzuhalten, ist jedoch allen Einheimischen zugänglich, wenngleich gestaf­felt nach einem mehrteiligen Klassensystem – in den untersten Klassen gibt es keine Wände oder keinen Boden. Als der Kaiser, inkognito unterwegs, dies erfährt, schlägt er «die Hände über dem Kopf zusammen: Auf was die Bahnfachleute alles kommen, wenn man sie laßt ... Er sinkt gebrochen auf die Bank nieder und ringt stumm die Hände. Das – hat – man – vom – Fortschritt»[63]. Dieser wird auch durch andere Elemente herausgefordert: So arbeiten bei der Bahn neben der kaum alphabetisierten Bahnwärterstochter auch Gnome und konzessionierte Eisenbahnzugsauskunftszeitenwahrsage­rinnen[64] mit. Am Ende des Stücks treten Pagen auf, die Joseph II. darüber informieren, dass die Eisenbahnerfindung vom englischen König schon ei­nem englischen Herrn versprochen ist. Also ordnet der österreichische Kai­ser kurzerhand an, dass «die Eisenbahn in Österreich in Vergessenheit zu geraten hat»[65] und überlässt es England, sie zu erfinden – bekanntlich hat sich die Geschichte daran gehalten. Dass vieles, was Herzmanovsky-Or­lando in seine Bücher einbaut, auf archivalischen Studien beruht und damit faktuale Bezüge aufweist, wird in der kritischen Ausgabe deutlich[66]. Das Ei­senbahnstück etwa fußt auf der Auswertung eines 6-bändigen Standard­werks zur Geschichte der Eisenbahnen der österreichisch-ungarischen Monarchie, wo u.a. eine verschollene Bahn (zwischen Prag und Pilsen) erwähnt wird[67]. Auch beruht die Idee des tarockanischen Kanzlers, Häfen ins Hochgebirge zu verlegen[68], auf Schifffahrtsplänen aus Tirol, über die sich der Autor in einem Brief an Friedrich Torberg äußert[69]. Klaralinda Ma, Mitarbeiterin an der Ausgabe Sämtlicher Werke Herzmanovsky-Orlandos, schreibt zu dieser kunstvollen Mischung der faktualen und fiktionalen Ebene:

Die Verunsicherungen, die der Autor mit dem Spiel zwischen Faktum und Fiktion auslöst, führen aber dazu, dass der Leser in den Geschich­ten die Geschichte genauer zu nehmen beginnt; er stellt verwirrt fest, dass sich oft genug Fakten als Fiktionen erweisen wie umgekehrt Fik­tionen als Fakten.[70]

So kehren wir am Ende ausgerechnet mit Herzmanovsky-Orlando zum Realitätsanspruch zurück.

Schlussbemerkung

Die Widersprüchlichkeit der bürokratischen Herrschaftsordnung wird in einfach gestrickten Autobiographien aufgehoben und im Modus des Kon­servierens zur Einheitlichkeit gezwungen. Andere Literatur setzt auf Unauf­hebbarkeit und Rätsel, die von Göttern und Zwergen und Beamten ausge­dacht sind, und entwirft detaillierte Blicke auf die Bürokratie als Projekt der Moderne. Nicht zuletzt finden sich aber auch kaum beforschte Texte aus der Zwischenkriegszeit, die statt am Wunderlichen und Geheimnisvollen der Amtsaura an den banalen Ungleichheiten der Gesellschaft interessiert sind. Dabei legen sie das Augenmerk auf Brüche zwischen den bürokrati­schen Ordnungen, vor allem aber auch auf Kontinuitäten. Gerade die dem Asservieren eingeschriebene Spannung zwischen erwartetem Wandel und erwarteter Konstanz löst sich nicht auf. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus Brunngrabers Roman schließen und eine Textstelle zur ka­kanisch verwischten Zäsur von 1918/1919 anführen, als der Protagonist ins soeben von der Habsburgherrschaft verlassene Österreich zurückkehrt:

Das Einzige, das für ihn aus der Welt vor dem Krieg herüberreichte, war der Revers. Jenes Dokument, mit dem ihn das Lehrerseminar ver­pflichtet hatte, mindestens sechs Jahre dem Lande Niederösterreich (einschließlich Wiens) seine Dienste zu widmen. Widrigenfalls er das Schulgeld von 1.500 Kronen noch nachträglich zu bezahlen hätte. Dieses Dekret war nun die Brücke in die Zukunft. Karl ging noch am Tage seiner Ankunft in das Gebäude des niederösterreichischen Lan­desausschusses. Dort erfuhr er jedoch, daß die Behörde, die er suchte, für ihn nicht mehr existierte. Man sagte ihm, Österreich sei nun ein Bundesstaat, Wien ein eigenes Land und die zuständige Stelle für ihn wäre der Stadtschulrat. Karl begab sich in den Stadtschulrat. Er ging langsam und etwas scheu, denn er war noch mitgenommen von der langen Spitalszeit. Auch verursachte ihm die neue Ordnung Unbeha­gen. Sie schien die Erwartung, daß er nun in sein eigenes Schicksal entlassen sei, umzustoßen.[71]



[1] Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler im Vorwort zu meiner Bürokratiestudie, der an­merkt, dass das Phänomen der Bürokratie in den literarischen Texten “im besten Sinn wie im bekannten Doppelsinn aufgehoben ist”. In: Sabine Zelger: Das ist alles viel komplizier­ter, Herr Sektionschef! Bürokratie – Literarische Reflexionen aus Österreich. (= Literatur und Leben 75) Wien u.a. 2009, S. VII.

[2] Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1988, S. 225f.

[3] Vgl.: George Lakoff / Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Ge­brauch von Sprachbildern. Heidelberg 2008, S. 22ff.

[4] Vgl. Kerstin Stüssel: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwi­schen früher Neuzeit und Gegenwart. (= Studien zur deutschen Literatur, 171) Tübingen 2004, S. 8.

[5] Vgl.: Zelger 2009, a.a.O.; Raoul Kneucker: Bürokratische Demokratie, demokratische Bürokratie. Ein Kommentar zu Struktur, Gestalt und System der Bürokratie in Europa. Manuskript. Erscheint 2017 bei Böhlau.

[6] Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966.

[7] Manfried Welan: Republik der Mandarine? Ein Beitrag zur Bürokratie- und Beamten­diskussion. In: Diskussionspapier. Institut für Wirtschaft, Politik und Recht. Nr. 57. Wien 1996, S. 9ff.

[8] Waltraud Heindl: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich. Bd. 2: 1848 bis 1914. (= Studien zu Politik und Verwaltung 107) Wien u.a.: 2013, S. 26.

[9] Vgl. Kneucker 2017 a.a.O.

[10] vgl. Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich. 1780 bis 1848 (= Studien zu Politik und Verwaltung, 36). Wien/Köln 2013. S. 360; Eva Kreisky: Bürokratie und Politik. Beiträge zur Verwaltungskultur in Österreich. Bd. 1. Habil. Wien 1986, S. 613.

[11] Kneucker 2017 a.a.O.

[12] Ebd.

[13] Heindl: Mandarine 2013 a.a.O., S. 238.

[14] Kneucker 2017 a.a.O.

[15] Heindl: Mandarine 2013 a.a.O., S. 243.

[16] Ebd. S. 249.

[17] Joseph P. Strelka, (Hg): Die sozialgeschichtliche Entwicklung und die kulturmorpho­logische Funktion des Beamten in der österreichischen Literatur. In: ebd. (Hg.): Im Takte des Radetzkymarsches ...: der Beamte und der Offizier in der österreichischen Literatur (= New Yorker Beiträge zur Österreichischen Literaturgeschichte 1). Bern/Berlin u.a. 1994, S. 17-31, hier S. 28.

[18] Ebd., S. 27.

[19] Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart/Weimar 1994, S. 15ff.

[20] Vgl. Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012, S. 7. Der Band lädt nicht nur zu einem anderen Blick auf die Literaturgeschichte ein, sondern vor allem auch zur Lektüre zahlrei­cher vergessener Bücher und erweist sich als wahre Fundgrube für weitere Studien.

[21] Vgl. Fritz Hochwälder: Donnerstag. Graz u.a.1995; Hugo Bettauer: Der Kampf um Wien. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd.1. Salzburg 1980; Veza Canetti: Die Gelbe Straße. München/Wien 1990 u.a.

[22] Oskar Maurus Fontana: Gefangene der Erde. Berlin 1928; Rudolf Brunngraber: Karl und das XX. Jahrhundert. (Revisited, Bd. 3) Wien 2010; Robert Neumann: Sintflut, Stutt­gart: Engelhorns Nachf. 1929 u.a.

[23] Vgl. Sabine Zelger: “Eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit”. Zur Ökonomie des Ersten Weltkriegs in Romanen rund um die Wirtschaftskrise von 1929. In: Sema Colpan, Amália Kerekes, Siegfried Mattl, Magdolna Orosz, Katalin Teller (Hg.): Kulturmanöver. Das k.u.k. Kriegspressequartier und die Mobilisierung von Wort und Bild. (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 18) Frankfurt/M. 2015, S. 305-315.

[24] Andreas Thom: Vorlenz der Urlauber auf Lebenszeit und Brigitte die Frau mit dem schweren Herzen. Berlin u.a.1930, S. 29.

[25] Ebd., S. 145.

[26] Brunngraber 2010 a.a.O., S. 60f.

[27] Vgl. Rudolf Geist: Der anonyme Krieg. Leipzig 1929.

[28] Neumann 1929 a.a.O.

[29] Vgl. Sabine Zelger: Verwaltung des Elends. Über die politische Widerständigkeit ös­terreichischer Literatur der 1920er Jahre. In: Primus Heinz Kucher / Julia Bertschik (Hg.): “baustelle kultur”. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918-1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 85-102.

[30] So etwa bei Konrad Bayer, Albert Drach, Heimrad Bäcker. Vgl. Zelger 2009.

[31] Vgl. Jörg Mauthe: Die große Hitze. Oder die Errettung Österreichs durch den Lega­tionsrat Dr. Tuzzi. Wien u.a. 1974.

[32] Vgl. Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Maskenspiel der Genien. Roman. In: ders.: Sämtl. Werke in 10 Bdn. Texte, Briefe, Dokumente. Hgg. v. Walter Methlagl / Wendelin Schmidt-Dengler. Salzburg/Wien 1989. Bd. 3.

[33] Heindl: Mandarine 2013 a.a.O., S. 25.

[34] Ebd. S. 25f.

[35] Pavla Vošahlíková (Hg.): Von Amts wegen. K.k. Beamte erzählen. Wien u.a. 1998.

[36] Jan Baše: o.T. In: ebda. S. 179-243, hier S. 217.

[37] Gustav von Festenberg: Ein Tag wie alle. Hamburg 1930.

[38] Friedrich F. G Kleinwächter: Bürokraten. Ein heiterer Roman aus dem alten Öster­reich. Wien 1948. Vgl. Zelger 2009 a.a.O., 256ff.

[39] Vgl. ebd. S. 279ff.

[40] Festenberg 1930 a.a.O., S. 58.

[41] Vgl. Baše 1998 a.a.O.

[42] Vgl. Kleinwächter 1948 a.a.O.

[43] Vgl. Festenberg 1930 a.a.O.

[44] Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziolo­gie. Tübingen 1990 oder Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt 1988.

[45] Vgl. Zelger 2009 a.a.O.

[46] Hannah Arendt: Bürokratie. Die Erbschaft des Despotismus. In: dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Zürich 2005, S. 515-529, hier S. 518.

[47] Ebd., S. 520.

[48] Ebd.

[49] Vgl. Roth: Die Rebellion 2005 a.a.O. oder ders.: Zipper und sein Vater. Köln 1956.

[50] Joseph Roth: Das falsche Gewicht. Köln 1990, S. 53.

[51] Vgl. Kneucker 2017 a.a.O.

[52] Roth 1990 a.a.O., S. 74.

[53] Ebd., S. 72.

[54] Ebd., S. 73f.

[55] Vgl. Arendt 2005 a.a.O.

[56] Herzmanovsky-Orlando 1989 a.a.O., S. 19, 31, 42 u.a.

[57] Ebd. S. 56.

[58] Ebd. S. 115.

[59] Ebd., S. 42.

[60] Ebd., S. 103.

[61] Vgl. im Detail Zelger 2009 a.a.O., S. 59ff.

[62] Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter. In: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Texte, Briefe, Dokumente. Bd. 6. Dramen. Salz­burg/Wien 1985, S. 73-147.

[63] Ebd., S. 102.

[64] Ebd., S. 87.

[65] Ebd., S. 142.

[66] Vgl. Sabine Zelger: Voraus&zurück. Singuläre Wegweiser aus der Monarchie von The­odor Hertzka und Fritz von Herzmanovsky-Orlando. In: Fenyves, Miklós / Kerekes, Amália / Kovács, Bálint / Orosz, Magdolna (Hg.): Habsburg bewegt. Topografien der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/ Oxford/ Wien: Peter Lang 2013 (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 17), S. 253-269.

[67] Herzmanovsky-Orlando 1985 a.a.O., S. 342.

[68] Herzmanovsky-Orlando 1989 a.a.O., S. 103.

[69] Ebd. Notiz S. 516.

[70] Ma, Klaralinda 2004: Clio enthüllt. Eine “andere” Geschichte. In: Bernhard Fetz / Klaralinda Ma / Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Phantastik auf Abwegen. Fritz von Herz­manovsky-Orlando im Kontext. Essays/Bilder/Hommagen. Wien/Bozen, S. 70-86, hier S. 74.

[71] Brunngraber 2010 a.a.O., S. 138.

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Clemens Götze

(Berlin)

Titania und ihr Meister
Epigonale Inszenierung und Habsburgischer Mythos
in Elisabeth von Österreichs Lyrik

[Titania and her Master. Epigonous Self-Presentation and Habsburg Myth
in the Poetry of Elisabeth of Austria
]

abstract. This article offers an inventory of the rarely analyzed poetry of the mythical Austrian Empress and thereby shows the masterful self-presentation of a historically am­bivalent personality. Using selected poems, this article brings out Elizabeth’s appraisal of the contemporary court society, for which she often had only biting scorn. Her poetry reveals an almost religious veneration for Heinrich Heine and an almost subversive attitude towards the k.u.k. monarchy. It also illustrates Elizabeth’s literary strategy of dismantling a hated society, though its effect could also be interpreted to the contrary, i.e. as an unin­tended contribution of the opposition to the transfiguration of the Habsburg myth.

1. Die Monarchin als Mythos und Dichterin

Was wir heute über die Persönlichkeit Kaiserin Elisabeths von Öster­reich wissen, entblößt den Mythos einer Monarchin, die keineswegs die all­seits geliebte und verehrte Landesmutter war, sondern vielmehr eine höchst ambivalente Persönlichkeit (vgl. Hamann 1984: 10). Ihre lange Zeit beson­ders märchenhaft verklärte Biographie, die gewiss nicht erst seit den Filmen des deutsch-österreichischen Nachkriegskinos Eingang in das kulturhisto­rische Gedenken gefunden hat[1] sowie der tragische Tod überlagern ihr weit­gehend unbekannt gebliebenes literarisches Vermächtnis, das sich neben wenigen Briefen vornehmlich in einer epigonalen[2] Lyrik ausdrückt. Tat­sächlich ist es jedoch das rastlose Leben dieser Monarchin, das bis heute den Elisabeth-Kult stetig am Laufen hält[3]. Wen mag da erstaunen, welche Vielzahl an Neupublikationen zum Leben der Kaiserin immer wieder den Buchmarkt überschwemmt, wobei Autoren und Herausgeber stets noch ei­nen besonderen Aspekt im Wesen der exzentrischen Monarchin zu finden glauben, um uns diese Frauengestalt in scheint es immer neuem Blickwinkel erzählen zu können[4]. Vielfach handelt es sich bei den angepriesenen Entde­ckungen jedoch schlichtweg um Wiederaufbereitungen von bereits Bekann­tem. Die historische Person Kaiserin Elisabeth ist mittlerweile hinlänglich biographisiert und jedermann leicht zugänglich[5].

Seit kurzem liegt überdies eine umfassende Studie zur Entstehung des literarischen Mythos Elisabeths vor, der zweifellos Grundlage war für die zahlreichen filmischen Bearbeitungen dieses Stoffes[6]. Lange Zeit hingegen unbekannt waren die literarischen Werke der Monarchin, die in reifem Le­bensalter die Dichtkunst als Ausdrucksmittel entdeckte. Es ist das Verdienst von Elisabeths Biographin Brigitte Hamann, dass jenes Poetische Tagebuch in einer kommentierten Ausgabe vorliegt[7], deren Hauptaugenmerk auf den Quellenwert dieser Texte verweist und den literarischen Wert als «Kuriosi­tät des Wiener Fin de siècle» tituliert (Hamann 1984: 9). Gleichwohl blieb das literaturwissenschaftliche Interesse an diesen Dichtungen bis heute marginal; es existieren kaum Studien, die das lyrische Werk der Kaiserin unter literaturwissenschaftlichen Fragestellungen untersuchen (Mészöly 1998, Kill 1995), und jene, die existieren, sind nicht selten «nachlässig er­stellt[] […] und bleiben im Ganzen unergiebig» (Maikler 2011: 36). Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die Edition verspätet und im Kontext ihrer Bewertung als historischer Quelle ausschließlich als «Selbst­portrait der etwa fünfzigjährigen Elisabeth» gewertet wurde (Hamann 1984: 10). Diesen Umstand bemängelt Josef Hermann Stiegler in seinen knappen Ausführungen zum lyrischen Werk der Kaiserin Elisabeth und betont, dass dieses Werk trotz «viel Mittelmäßige[m] und manch Missglückte[m] […] dennoch genügend auch vom dichterischen Gesichtspunkt aus Bemerkens- und Schätzenswertes enthält, das eine Betrachtung in literarischer Hinsicht rechtfertigt, ja empfiehlt» (Stiegler 1987: 170).

Inwiefern, so stellt sich die Frage, sind diese Verse dann doch mehr als bloße Spielereien einer gelangweilten Fürstin? So ist der symbolische Wert des Künstlerhabitus auch beim Adel nicht zu unterschätzen[8]. In jedem Falle fungieren Elisabeths Dichtungen als Ausdruck eines Paradoxons, will man sie als Herrschaftsausdruck[9] fassen, denn im Sinne einer tradierten Dilet­tantismusdefinition[10] erscheinen Elisabeths Gedichte durchaus problema­tisch, wenn man bedenkt, «daß sich dilettierende Kunstausübung stets in Abgrenzung zu professionellem “banausischem” Künstlertum gleichsam als Privileg versteht» (Rosenbaum 2007: 236). Anders gesagt: «Die Kunst des Dilettanten besteht darin, diese nachlässig zu verbergen und das eigene Tun stets als Gegenstand eines unangestrengten Zeitvertreibs kenntlich zu machen» (Rosenbaum 2007: 236). Eben dies tut die Kaiserin jedoch nicht, denn ihre Verse bleiben lange Zeit geheim, obschon ihre Vertrauten von ihrem Dichten Kenntnis haben. Man stößt ferner auf ein Problem, das re­zeptionsästhetisch zu verorten ist und im Augenschein der Publikationsge­schichte von Elisabeths Dichtungen weit ins 20. Jahrhundert hinein reicht. Wie Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij in ihrer Studie über Sprachkunst und Gewalt konstatieren, gilt «die Sprachgewalt des Führers als wesentliches Bindeglied zwischen ihm und dem Volk», ihm kommt Ein­heit stiftende Funktion zu (Koschorke/Kaminskij 2011: 14). Wo Monar­chien über Jahrhunderte hinweg teils abstruse Genealogien schaffen konn­ten, müssen moderne Despoten mit schöpferisch-fiktionaler Kreativität «eine Vergangenheit […] erfinden, als deren Erbe sie sich ausgeben» kön­nen (Koschorke/ Kaminskij 2011: 14). Indem Kaiserin Elisabeth gerade dies nicht unternimmt, kehrt sie mit ihren Bestrebungen einerseits ihren politisch-gesellschaftlichen Status ins Gegenteil, indem sie sich dem in Wien als subversiv diskreditierten Heinrich Heine verpflichtet fühlt; und anderer­seits durch das exzessive Ausleben eines luxuriösen Lebenswandels infolge von Egozentrik und royalem Selbstbewusstsein plakativ zur Schau stellt. Eine Funktionalisierung in Form der Visualisierung literarischen Ge­schmacks und Kunstverstandes wie es Herrscher und Fürstinnen im 18. Jahrhundert im Spiegel ihrer selbstaufgebauten Kunstsammlungen vornah­men, findet bei Elisabeth dergestalt nicht mehr statt. Durch ihr literarisches Vermächtnis an die Nachwelt wird vielmehr ein nachträglicher Mythos kon­struiert, der eine dauerhafte Anerkennung als Persönlichkeit und Dichterin begünstigen soll[11]. So trägt das Poetische Tagebuch nicht nur dazu bei, die Be­findlichkeiten zu artikulieren, sondern ähnlich wie das körperliche Regle­ment der Schönheitspflege einen Mythos abzubilden und zu festigen.

Allen Krisen der Monarchie des 19. Jahrhunderts trotzte das Selbstver­ständnis Elisabeths, sie «setzte ihren eigenen Körper als ein unkorrumpier­bares, unverderbliches Zeichen ein» (Vogel 2002: 233). Kaum eine öffent­liche Frau ihrer Zeit war so extrem auf ihr Äußeres bedacht wie Elisabeth, was ein höchst interessanter Aspekt bezüglich ihrer Stellung ist: «Haut, Haar und Figur der Kaiserin bildeten eine imperiale Ikone der Habsburger Mo­narchie, die durch die Transfiguration des natürlichen Körpers das Ansehen zurückeroberte, das durch das Aussehen ihrer königlichen Zeitgenossen eingebüßt worden war» (Vogel 2002: 235). Ähnlich wie die Kaiserin an ih­rem äußerlichen Mythos laborierte, kann auch ihre Dichtung nur dem Zweck der Selbstverherrlichung huldigen. Die Konservierung der Schön­heit erfolgte auf der Ebene des Literarischen Vermächtnis infolge seiner Geheimhaltung als Spiegelbild[12]. Inhaltlich korrespondieren sie dagegen wenig mit der Realität Elisabeths, denn während die Autorin in ihren Tex­ten das zwischenmenschliche Miteinander durch Karikatur implizit einfor­derte, trug sie in ihrer eigenen Biographie selbst nicht viel zur innerfamiliä­ren Stärkung bei; ihre Dichtungen «erwiesen sich bei genauerer Betrachtung als oberflächliche, nur der Wortwahl nach wohlklingende Zeilen, jedoch ohne wirkliche Tiefe» (Schilke 1993: 140). Oberfläche und dahinter Verbor­genes sind kaum in Einklang zu bringen, Scheinbares wird zum Realitäts­partikel instrumentalisiert[13].

Ziel dieses Beitrages soll es daher sein, (I) die Lyrik der Kaiserin in eine knappe literaturhistorische Verortung einzubetten, kurz deren charakteris­tischen Merkmale herauszuarbeiten, um zu klären, inwieweit diese Gedichte höfisch-repräsentativen oder rein dilettantischen Charakter haben und (II) die Beleuchtung des Inszenierungsaspektes als Rollenspiel und die Verbin­dung zum Habsburgischen Mythos.

2. Literaturhistorische Verortung der Dichtungen Kaiserin Elisabeths

Das lyrische Werk der Kaiserin ist literaturhistorisch mithin schwer ein­zuordnen, da es sich an der Grenze zwischen epigonaler Gelegenheitsdich­tung[14] und chiffriertem Gesellschaftskommentar bewegt. Nun ist das Merk­mal künstlerischer Epigonalität für die deutsche Kultur des 19. Jahrhun­derts durchaus charakteristisch (vgl. Sorg 2004: 375), weswegen kaum ver­wundern kann, dass Elisabeths lyrisches Werk zumeist vor dem Hinter­grund einer Epigonendichtung[15] abgewertet wurde[16]. Stiegler bemängelt diese Gefahr der Rezeption und zählt gerade jene «Gedichte im Stil politi­scher Kabarett-Texte […] zu den besten der Sammlung» (Stiegler 1987: 173). Einer literarischen Bewertung unerachtet steht die Kaiserin mit ihren lyrischen Versuchen durchaus in einer höfischen Tradition, nicht zuletzt im eigenen Hause Wittelsbach[17].

Brigitte Hamann schließt eine genauere Betrachtung hinsichtlich litera­turwissenschaftlicher Gesichtspunkte wie der Heine-Epigonalität aus, weil dies «wohl die künstlerische Bedeutung der Elisabeth-Gedichte zu hoch veranschlagen [würde]» (Hamann 1984: 13). Da es sich aber nicht um his­torische Quellen etwa in Briefform oder offiziellen Schriften handelt, son­dern um eine Literarizität anstrebende Ausdrucksform erscheint es durch­aus legitim, Elisabeths Verse als Dichtung zu betrachten. Im Folgenden soll indes weniger die Bewertung nach literaturwissenschaftlichen Maßstäben im Vordergrund stehen, sondern die Relevanz der Inhalte zur Diskussion gestellt werden.

Der Überraschungen gibt es in diesen gedichteten Selbstbekenntnis­sen viele: war die Monarchin doch eine glühende Verfechterin der re­publikanischen Staatsform, war sie als Kaiserin eines derart mit der Kirche verbundenen Reiches wie Österreich-Ungarn antiklerikal, war sie als erste Repräsentantin auch des österreichisch-ungarischen Adels eine Feindin der Aristokratie und schließlich – als Gattin eines stark von militärischem Denken bestimmten Kaisers – ausgerechnet Pazi­fistin und scharfe Kritikerin des Militärs. (Hamann 1984: 10)

Elisabeths dichterische Existenz muss schließlich als Ergebnis ihrer ge­sellschaftlichen Stellung[18] und ihres Lebenswandels[19] verstanden werden: So nutzte die Kaiserin die Zeit während ihrer täglich mehrstündigen Haar­pflege zur geistigen Arbeit, indem sie las, übersetzte und dichtete; dies je­doch erst mit fast fünfzig Jahren, als ihre gerühmte Schönheit merklich schwindet. Ihre Lyrik liest sich als Kontrastprogramm zur panegyrischen Kasualdichtung[20] und steht dennoch hinsichtlich ihrer Produktionsbedin­gungen erstaunlich in der Tradition des Musenhof-Typus, mit dem das fürstliche Selbstverständnis mangelnden politischen Einfluss auf europäi­schem Parkett auszugleichen suchte[21]. Natürlich verbietet es die politische Bedeutung Wiens in über sechshundertjähriger Habsburgerherrschaft von einem klassischen Musenhof zu sprechen[22]. Trotzdem lässt sich Elisabeths Selbstverständnis eher mit dem einer Fürstin im 18. Jahrhundert verglei­chen, da sie ihre repräsentativen Aufgaben wie etwa karitatives Engagement weitgehend ablehnte und sich zu allererst als Privatperson verstand.

Die adeligen Damen, gebildet genug, um schreiben zu können, und unbegabt genug, um das weite Feld der Mittelmäßigkeit nicht zu ver­lassen […], diese Damen vertrieben sich mit der modischen Schreibe­rei die Zeit, da ihnen gesellschaftliche Normen untersagten, einen bür­gerlichen Beruf auszuüben; sie kompensierten ihre soziale Restriktion durch literarische Ausflüge in niederes Milieu oder fernere Gestade, sublimierten mit ihren «Dichtungen» die erotischen Gefühle, die ihnen eine strenge Gesellschaftsmoral verbot oder verdrängte. (Schenda 1988: 153)

Kaum eine amtierende Monarchin zu Elisabeths Zeit war so ernsthaft mit Dichten beschäftigt: weder die Kaiserin von Preußen, Victoria Luise, noch Königin Victoria von England oder die französische Kaiserin Eugènie. Die große Ausnahme war Rumäniens Königin Elisabeth, die unter dem Pseudonym Carmen Sylva[23] ein sowohl gattungsspezifisch wie quanti­tativ ausgesprochen umfassendes Werk publizierte und die Initiatorin für Elisabeths lyrisches Geschick war[24]. Im Gegensatz zum Werk Sylvas sind die Ausprägungen von Elisabeths Lyrik eher homogen zu nennen, das In­teresse an einer breiten, gattungsübergreifenden literarischen Tätigkeit lässt sich bei ihr nicht erkennen[25]. «Elisabeth war nicht an poetologischen Fra­gestellungen interessiert, sie reflektirete auch nicht das problematische Ver­hältnis von Dichtung und Erfahrungswelt» (Exner 2004: 100)[26]. Dies passt freilich in das Außenseiterbild dieser Dichtungen, die sich zu ihrer Entste­hung keineswegs einer breiten Zustimmung erfreute, kritisierte sie doch nicht zuletzt jene eigenen Kreise am Wiener Hof und wurde daher geheim gehalten.

Kaiserin Elisabeths Gedichte demontieren die Repräsentationspraxis des Wiener Hofes und stellen damit ein Gegenprogramm zur tradierten Huldigungslyrik dar. Dort wo ihre Gedichte vom bissigen Gesellschafts­kommentar abweichen, sind sie Ausdruck einer privat-romantischen Welt­flucht in Naturbeschreibungen und Nachahmungsdichtung[27], sie entspre­chen damit einem Dilettantismus, der im späten 19. Jahrhundert das bür­gerliche Milieu eroberte[28]. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – lässt sich das Werk der Monarchin keineswegs in eine spezifisch weibliche, lite­rarische Tradition einreihen, denn ihr Dichterinnenhabitus zeigt keinerlei Bezugnahme auf zeitgenössisches weibliches Schreiben[29] (wie bei Annette von Droste-Hülshoff, Bettine von Arnim, Ada Christen[30], Marie von Eb­ner-Eschenbach[31], Franziska zu Reventlow oder Nataly von Eschstruth[32]), obschon doch gerade eine geistige Verbindung mit der durch die zeitgenös­sische Literaturszene so verkannte und nicht minder tragisch endende Karoline von Günderrode sinnfällig erscheint. Da die Gedichte zu Lebzei­ten der Kaiserin jedoch nicht veröffentlicht wurden, stellte sich ein wesent­liches Problem der weiblichen Autorschaft für die Autorin nicht: das der Positionierung als Dichterin[33]. Die Tradition weiblicher Autorschaft negie­rend richtet sich Elisabeths Interesse auf den am Wiener Hof verpönten Dichter Heinrich Heine und ist geprägt durch intertextuelle Referenzen und epigonale Bezüge zu dessen Werk und zu Figuren aus Shakespeares Som­mernachtstraum sowie der griechischen Antike. Damit demonstrierte die Kaiserin ihre selbstbewusste Emanzipation gegenüber einer höfischen Ge­sellschaft, der sie sich nur nach ihren eigenen Regeln zugehörig fühlte[34].

Ihre in nur vier Jahren (zwischen 1885 und 1889) entstandenen Gedichte zeigen eine prozentual interessante Unterteilung der thematischen Ge­sichtspunkte, wie Heike-Susanne Kill herausgearbeitet hat, wonach sich die Texte in 45 % Natur- und Reisegedichte[35], 24 % Gedichte über sich selbst und ihre Familie, gut 3 % Gedichte über Heinrich Heine, 1% Gedichte über Politik aufgliedern; fast 8 % der Gedichte werden von einem ironischen Ton getragen, der in Richtung Zynismus tendiert (Kill 1995: 19f.). Bezüg­lich der Liebesgedichte lässt sich indes unschwer ein verbitterter, ja depres­siver Grundton ausmachen (vgl. Stiegler 1987: 172).

3. Das Universum der Gedichte

Mészöly betont wiederholt, dass Elisabeth eigene Erlebnisse verarbeitet habe[36], was sicherlich der Fall ist. Dies führt er jedoch als Argument für den Wert der Werke an, die seiner Ansicht nach deswegen eben gerade nicht als epigonal zu bezeichnen seien (Mészöly 1998: 18 u. 24). Gerade dieser As­pekt der stilistischen Nachahmung ist es jedoch, der diese Lyrik zu einer epigonalen Dichtung werden lässt (vgl. Meyer-Sickendiek 2001: 24), die von einem ausgesprochen persönlichen Ton getragen werden und ein deutlich autobiographisch fundiertes lyrisches Ich erkennen lassen. Dieser Selbstpo­sitionierung als nicht involvierte Beobachterin des Hofes entspricht schließ­lich der volksliedhafte Duktus vieler Gedichte und die zum Teil starke An­lehnung an das Vorbild Heine bis hin zu ganzen kopierten Verszeilen (Kill 1995: 108f.), was bewusst eine deutliche epigonale Inspiration offenbart[37], und das Werk in den Kontext einer verspielten Gelegenheitsdichtung rückt. Elisabeths Hinwendung zum mythologischen Diskurs und das Interesse für Griechenland entspricht dabei durchaus nicht nur dem aktuellen Zeitge­schmack, sondern fungiert darüber hinaus als dynastischer Legitimations­mechanismus[38]. «Mythos und Poesie, der Mythos in der Poesie werden als Möglichkeit sinnlicher Erkenntnis verstanden» (Andres 2005: 93).

Stilistisch betrachtet sind Elisabeths Gedichte einem bewusst immer wiederkehrenden Konstruktionsschema des Volksliedes zuzuordnen, das sie kaum variiert (Kill 1995: 128). Jamben bestimmen die Metrik, seltener Trochäen oder Anapäste, Enjambements brechen vereinzelt den Rhyth­mus; nicht selten wirkt das Versmaß wie erzwungen, was sicherlich auch in Elisabeths Perfektionsstreben begründet liegt (vgl. Kill 1995: 127). Ähnli­ches gilt für die Verwendung von Bild- und Namenschiffren, die Elisabeth bei Heine «entlehnt». Stets bemüht die Kaiserin dieselben Bilder («Möwe» für Freiheit, «Esel» für Dummheit usw.) und kreiert keine besonders origi­nellen Neuschöpfungen. Ihre eigenen Bilder (wie «dicke, gelbe Kröte» oder «Trampeltier» für ihre Schwiegertochter Stephanie von Belgien) sind nicht annähernd so poetisch wie die dem klassischen Lyrikrepertoire entnomme­nen Bilder. Per Definitionem daher von Oden, Hymnen oder panegyri­schen Werken, die dem Habsburgerreich huldigen, kann man allenfalls in Bezug auf deren Karikatur respektive einer ironischen Umdeutung spre­chen[39]. Ein Beispiel anlässlich der Geburt einer Erzherzogstochter[40]:

Heil! Zur sechsten Tochter, Heil!
Heil dem Hause Habsburg! Weil
Seine Sprossen ungezählt,
Sternengleich am Himmelszelt;
Täglich mehrt sich ihre Zahl,
Die bereits schon unnormal.
Ängstlich nach dem Herrscherhaus
Blickt das Volk: «Was wird wohl draus?»
Himmelssterne glänzen mehr,
Doch das kommt von oben her;
Aber unsrer Sterne Schein,
Muss durch uns geliefert sein
                        (Hamann 1984: 293)

Elisabeths intensive Rezeption Heines, dessen Werkkenntnis sie für die Auseinandersetzung mit ihren Versen voraussetzte[41], stellte nicht nur eine bewusste Provokation des Wiener Hofes dar, sondern ist Ausdruck einer in die Groteske mündenden Weltflucht, behauptete die Kaiserin doch spiritis­tischen Umgang mit Heine zu haben (vgl. Hamann 1998: 438)[42]. Dies kenn­zeichnet sowohl Epigonalität, Phantastik als auch Inszenierung ihrer Lyrik, die Elisabeths Gemahl Kaiser Franz Joseph ohne genaue Kenntnis über Inhalte zu haben dennoch trefflich «Wolkenkraxeleien» nannte (Unterreiner 2005: 91f.)[43]. Dem als Meister verehrten Heine zugeeignete Gedichte[44] ver­deutlichen vor allem Eines: unsäglicher, romantisch-schwülstiger Pathos auf der einen, realistische Selbsteinschätzung des dichterischen Könnens auf der anderen Seite kennzeichnen vielfach die Verse der Kaiserin Elisa­beth, wie diese zwei Beispiele illustrieren:

An meinen Meister

An den Meister

Ich eil ins Reich der Träume

Nur einmal, einmal komme wieder,

Mein Meister, da bist Du

Dass ich Dich schau von Angesicht,

Es jubelt meine Seele

O, schwebe einmal noch hernieder,

Begeistert schon Dir zu.

Du meiner Seele Trost und Licht.

Dein Geist hat mich geleitet

Führ’ sie zurück in Deine Bahnen,

Beherrscht den ganzen Tag

Eh’ ihr die Welt ein Böses tut.

Ich fühlt wie er gebreitet

Mein Herz durchzieht ein schlimmes Ahnen

Auf meiner Seele lag. […]

Mir fällend fast den stolzen Mut.

        (Hamann 1984: 152)

                   (Hamann 1984: 359)

Schwärmend und schwermütig zugleich bekennt sich Elisabeth zu Hei­nes Vorbildfunktion, der politische Anspruch seiner Werke erwächst aus ihrem eigenen literarischen Nachlass keineswegs. Thematische Aspekte von Elisabeths Dichtung sind: Bitterkeit, Einsamkeitsbeschreibung, Todessehn­sucht, Flucht in Traumwelten und unberührte Landschaften, abwertende Kommentare der Hofgesellschaft, chiffrierte Darstellung etwa von Ehe­problemen und persönliche Abneigungen, kurz eine durchweg negative Bi­lanz des eigenen Lebens wie in dem 1886 verfassten Gedicht Verlassen: «In meiner großen Einsamkeit / mach’ ich die kleinen Lieder; / Das Herz voll Gram und Traurigkeit / drückt mir den Geist darnieder» (Hamann 1984: 137). Hier spiegelt das Gegensatzpaar «große Einsamkeit / kleine Lieder» Elisabeths Gefühl des Unverstandenseins wider. Durch diese Ambivalenz­konstruktion wird auf die ungleich geringere Bedeutung der verfertigten Texte angespielt, die in keinem, dem Leid entsprechenden Verhältnis zu stehen scheinen und ebenso wenig an die Größe des Vorbildes Heine her­anreichen; und es bliebe zu fragen, inwieweit es sich dabei um Koketterie der Monarchin handelt.

Das Gedicht An die Gaffer illustriert die in späteren Jahren zur Manie werdende Menschenscheu der Kaiserin, die im krassen Widerspruch zu ih­ren repräsentativen Pflichten steht. Mészöly konstatiert eine gezwungene Erhabenheit bei Elisabeths zeitgenössischen Dichterkolleginnen, die aller­dings bei der Kaiserin gänzlich fehle (vgl. Mészöly 1998: 96). Doch genau dies trifft nicht zu. Zwar mag die oberflächliche Betrachtung des Textes zu diesem Schluss verleiten, doch bringt die Kaiserin jenen majestätisch-erha­benen Impetus schon per se mit, muss diesen jedoch nicht zwingend in ihrem Text dichterisch umsetzen, indem sie einen entsprechend getragenen Duktus zur Anwendung bringt; dieser ist hingegen immer schon da und erfährt eher gegenteilig durch inhaltliche Aspekte der Lyrik eine ironische Brechung, die von Elisabeths ambivalentem Charakter Zeugnis ablegt:

Ich wollt’, die Leute liessen mich
In Ruh’ und ungeschoren,
Ich bin ja doch nur sicherlich
Ein Mensch, wie sie geboren.
Es tritt die Galle mir fast aus,
Wenn sie mich so fixieren;
Ich kröch’ gern in ein Schneckenhaus
Und könnt’ vor Wut krepieren.
Gewahr ich gar ein Opernglas
Tückisch auf mich gerichtet,
Am liebsten säh’ ich gleich das,
Sammt der Person vernichtet.
Zu toll wird endlich mir der Spass;
Und nichts mehr soll mich hindern;
Ich dreh’ eine lange Nas’
Und zeig ihnen den H……n.
            (Mészöly 1998: 157f.)

Hier entblößt Elisabeth den ihr so verhassten höfischen Voyeurismus[45], indem ihr lyrisches Ich einen weit größeren Skandal provoziert, als sich seine Verfasserin im realen Leben zu erlauben getraute und offenbart damit das subversive Potenzial ihres lyrischen Geschicks. Kaiserin Elisabeth be­nutzte folglich die Lyrik zur deutlichen Meinungsäußerung, die einer Kon­versation nicht zuträglich war. Ihre Texte offenbaren eine psychologische Komponente, sind sie doch verschlüsselte Stellungnahmen zu persönlichen Begebenheiten und Lebensumständen, wie etwa der Beziehung der Schau­spielerin Katharina Schratts zu Kaiser Franz Joseph durch die Bezugnahme auf Heines König Wiswamitra, der eine Kuh liebte.

Elisabeths Kunst ist thematisch dennoch zumeist strikt apolitisch, was dem persönlichen Lebensstil der Monarchin entspricht. Zwar lassen ihre Texte eine pazifistische Haltung und sogar republikanische Tendenzen er­kennen[46], doch das stark Resignative ihres Tones, in Verbindung mit man­gelndem Tatendrang und der konsequenten Geheimhaltung gerade dieser brisanten Dichtungen hebt die potenzielle Sprengkraft ihrer Texte auf. Po­litisch ist ihr Werk da, wo die elitäre Weltflucht der Monarchin durch die literarische Inszenierung gefeiert wird.

Selbst in der Karikatur des Panegyriktopos durch spöttische Beschrei­bungen von Hoffestivitäten[47] wird das Politische im Rollenspiel überdeckt, indem die Rollen des Oberon und der Titania vergeben und gegeneinander ausgespielt werden: «Was Ob’ron treibt, das kümmert nicht Titanien, / Ihr Grundsatz ist: Einander nicht genieren. / Frisst Einer Disteln[48] gerne und Kastanien, / Sie selber will sie ihm sogar off’rieren» (Hamann 1984: 360). Sehr deutlich wird hier das Verhältnis des Kaiserpaares charakterisiert, die Anspielung auf die Vorlieben bezieht sich auf des Kaisers Beziehung zur Burgschauspielerin Schratt, die durch Kaiserin Elisabeth selbst ihren An­fang genommen hatte (Hamann 1998: 500).

Die Figur der Titania wird zum Sprachrohr der Kaiserin[49] wie etwa in dem sehr ausführlich beschriebenen Bild des Hauses Habsburg im Gedicht Fami­lienmahl aus dem Jahr 1887, in dem es beispielsweise heißt:

Auf Titania, schmücke Dich

Erster zu erscheinen pflegt

Heut’ mit Diamanten!

Ob’rons jüngster Bruder[50];

Sonntag ist’s, es nahen sich

(Und der große Erdball trägt

Wieder die Verwandten.

Kein solch zweites Luder).

      (Hamann 1984: 147)

         (Hamann 1984: 148)

Elisabeths im Privatleben zelebrierte Außenseiterrolle findet in den Ge­dichten ihre Entsprechung. Solche zum Teil sehr verletzende Verse, sind indes dem von ihr so verabscheuten Hofklatsch in Form und Funktion sehr ähnlich. Elisabeth inszeniert sich als sensible und unverstandene, aber ge­bildete Dichterin und weise Feenkönigin, ihre Mitmenschen und Umge­bung hingegen als verständnislose Kretins; ihre Kritik am Hofklatsch ver­blasst jedoch in dem Moment, da sie sich selbst in ihrer Dichtung dieser sprachlich wie inhaltlichen Form der Stellungnahme bedient. Man kann diese Diagnose gewiss mit der Feststellung Schilkes psychologisch deuten und untermauern, wenn dieser konstatiert:

Die Kaiserin hing zeit ihres Lebens gedanklich dem Trauma nach, durch zu frühe Heirat Mitglied einer höfischen Gesellschaft geworden zu sein, die ihr regelrecht zuwider war. Diese permanente Selbstbe­mitleidung, die verkannte Person am falschen Ort zu sein, führte dazu, dass sie sich ihren eigentlichen Aufgaben als Kaiserin mehr und mehr verweigerte. […] Allein für die Durchsetzung eigener Vorteile trat sie vehement ein, sah in einer Verbesserung des damals unterprivilegier­ten Status ihrer niedriger gestellten Geschlechtsgenossinnen keine lohnende sozial-politische Aufgabe. (Schilke 1993: 114)

Es erscheint in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, weshalb die von Elisabeth gewählte Form der plakativen Bildungsbeflissenheit so bedeutend war für ihre Zeit, war sie doch das probate Mittel, um sich von einer ungebildeten wie bildungsfeindlichen (nicht nur höfischen) Wiener Gesellschaft abzusetzen (vgl. Hamann 1998: 448). Der Mythos dieser Frau ist Bestandteil eines Inszenierungskultes, der dem höfischen Zeremoniell diametral entgegensteht: «Elisabeths Abwesenheit destabilisiert jenes macht­volle Zeugnis monarchischer Kontinuität und Potenz, das der Öffentlich­keit geboten werden soll. Nur das Phantasieren überläßt die Kaiserin der Mitwelt und Nachwelt» (Vogel 1998: 162). Ihre Lyrik ist Ausdruck einer schwermütigen Seele und Abbild eines hohen, literarischen Geschmacks gleichermaßen. In ihrer künstlerisch-ästhetischen Zelebration verweist Eli­sabeth auf die eigene Mystifikation und vereint die denkbar massivsten Ge­gensätze in ihrer Figur der dichtenden Kaiserin.

4. Inszenierung und Mythos in Kaiserin Elisabeths Lyrik

Die in jungen Jahren über das Motiv der gerühmten Schönheit vorge­nommene Inszenierung Elisabeths wird im Alter durch ihre lyrische Pro­duktivität abgelöst. Dass Elisabeths Epigonendichtung vor allem Inszenie­rungscharakter und Mythenbildungsfunktion hat, zeigt ihr Verständnis des Auserwähltseins, fühlte sie sich doch als Medium Heinrich Heines, der ihr die Verse in die Hand diktiere. Dies entsprach ihrem hohen Status als Kai­serin, was sich auch in der Rolle der Titania widerspiegelt[51]. Eine derartige Machtdemonstration ist für die politische Herrschaft natürlich unerlässlich, denn sie konstituiert die herrschende Persönlichkeit mittels Zuschreibun­gen von außen[52]. Im Falle der Kaiserin Elisabeth aber funktionierte diese öffentliche Wahrnehmung durch das Trugbild eines sorgfältig komponier­ten Images der unnahbaren Schönheit, die aufgrund ihres exzentrischen Le­benswandels, geprägt durch permanente Abwesenheit der Residenz Wien[53], keineswegs positiv besetzt sein konnte – ganz im Gegensatz zu jenem ihres Gemahls Kaiser Franz Joseph. Privatheit und Herrscherideal finden vereint in der Figur der Kaiserin ihre deutlichste Ausprägung. In dem Gedicht Tita-nias Klage wird offenkundig, was die Monarchin Elisabeth nicht offen aus-sprechen kann. In der verzweifelten Suche nach Liebe und Anerkennung wird ihr deutlich, dass auch der schönste und mächtigste Thron nichts wert ist, wenn man persönlich unglücklich ist (vgl. Mészöly 1998: 153f.).

Elisabeths Perfektionsdrang stand dem oberflächlichen Hofleben dia­metral entgegen, da zum Einen die Konversation vom Klatsch geprägt war und zum Anderen der Kaiser jede geistige Beanspruchung von seiner Ge­mahlin fern hielt und ihr Dasein auf Repräsentationspflichten reduzierte. Die daraus resultierende Diskrepanz zwischen äußeren Umständen und in­neren Bedürfnissen der Kaiserin mussten zwangsläufig zu einem enormen Konfliktpotenzial führen, welches in der Provokation Elisabeths sein Ventil fand[54]. Dass die Kaiserin ihre Gedichtsammlungen erst 60 Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht sehen wollte und sich außerdem mit zunehmendem Al­ter durch eine fast schon manische Reisetätigkeit immer stärker der Öffent­lichkeit entzog, führt unweigerlich zu der Erkenntnis, in ihrer Verweige­rungshaltung eine Strategie zur eigenen Mystifizierung zu erblicken. Insbe­sondere Elisabeths impliziten Bezugnahmen auf Heine und Shakespeare tragen zur Überhöhung ihrer Person bei; solch elitäre Rollenspiele (wie das Beispiel Titania zeigt) belegen statt eines durch volksliedhafte Dichtung evozierten bürgerlichen Bewusstseins eher ihren eigenen Standesdünkel, denn selbst in ihrer Traumwelt ist ihr Alter Ego von Adel und damit eine Standesperson. Auf die Ambivalenz von Elisabeths Persönlichkeit verweist Brigitte Hamann, wenn sie unterstreicht: «Trotz dieses Auserwähltseins und ihrer kaiserlichen Stellung verlor Elisabeth zeitlebens nicht ihre Sehnsucht, das Leben “gewöhnlicher” Menschen kennenzulernen» (Hamann 1998: 372). Vermutlich begründet diese Sehnsucht neben der allgemeinen Abnei­gung des Wiener Hofes auch die aktive Reiselust der Monarchin, die sie ähnlich wie die Dichtung in fremde Welten entführte.

Nach dem tragischen Suizid ihres Sohnes Rudolf 1889 gibt die Kaiserin das Dichten schließlich sehr abrupt auf und versteckt ihre Gedichte[55]. Zwar hat dies sicherlich mit der öffentlichen Wahrnehmung Rudolfs und seiner politischen Schriften nach dessen Ableben und dem gebrochenen Herzen einer sonst erstaunlich unbekümmerten Mutter zu tun[56]. So radikal wie Eli­sabeth ihre Dichtung aufgibt, stellt sich aber durchaus die Frage, welchen Stellenwert diese für Elisabeth gehabt haben mag. Die unverkennbar thera­peutische Wirkung ihres Schreibens hat die Kaiserin nach 1889 jedenfalls nicht mehr in Erwägung gezogen; stattdessen zeugt die Rettung ihres dich­terischen Nachlasses von einer bedachten Handlungsweise, die sehr wohl das Urteil der Nachwelt im Blick gehabt haben dürfte. Dennoch hat die Dichtung ihr auch nach ihrem Tod keinen nennenswerten Ruhm einge­bracht. Dies mag auch an Elisabeths mangelndem Wagnis liegen, denn an­statt selbst eine unverwechselbare Formensprache zu entwickeln, kettet sie ihre Werke bewusst an literarische Gewährsmänner. Damit avanciert ihr Schreiben zur Fortführung alter Meister und trägt so auf den ersten Blick wesentlich mehr zu deren Mythenbildung bei als zu ihrer eigenen. Dennoch muss man in dieser Strategie einer starken Autorenbindung das wohl mar­kanteste Merkmal von Elisabeths Dichtkunst erblicken, indem sie durch eine Überhöhung fremder Dichter die eigene Glorie gleich mit konstituiert.

Es gehört indes mit zum habsburgischen Mythos, dass das Kaiserhaus die offiziöse Huldigung besonders gern hatte, denn das Gegenteil ist der Fall: «Die Habsburger waren besonders gerne unter sich, alleine in den ei­genen vier Wänden, und haben den Zustand des Privatseins in vollsten Zü­gen ausgelebt» (Praschl-Bichler 2007: 220). Zeremoniell und Etikette waren besonders für das Reglement des höfischen Lebens prägend und dienten schließlich zur Erhöhung des Monarchen und seiner Familie. «Wer – räum­lich und ideell – schwer zu erreichen ist, ist schwer anzugreifen, ist ge­schützt. Hauptsächlich aus diesem Grund haben sich Fürsten dem Prinzip des Zeremoniells unterworfen. Wer das nicht tat, bezahlte es häufig mit dem Leben – Kaiserin Elisabeth ist ein gutes Beispiel dafür» (Praschl-Bich­ler 2007: 220). So ist Kaiserin Elisabeths Lyrik ein prägnantes Exempel für die bewusst vorgenommene, literarische Demontage höfischer Huldigungs­praxis, da ihr lyrisches Ich von einer außen stehenden Position die Hofge­sellschaft und eigene Familie dem Spott des Betrachters preisgibt.

De toute façon, Elisabeth déteste sa caste, lui reproche sa vie oisive de luxe auf frais du peuple. Dans le poème étonnant, Un rêve, son attitude républicaine se manifeste sans equivoque. Si elle était l’Empe­reur, elle renoncerait à exploiter le peuple pour produire des canons, et si le peuple décidait de se gouverner seul, elle l’en féliciterait. (Phi­lippoff 2003: 416)

Gleichzeitig gelingt es der Autorin durch das Zelebrieren ihrer Rollen­spiele mit literarischen Figuren ironischerweise dieselbe Überhöhung und Unantastbarkeit zu erlangen, die das von ihr kritisierte Spanische Hofzere­moniell am Wiener Kaiserhof bewirkte. Was die Zeitgenossen Elisabeths am Verhalten der Monarchin ablesen konnten, nämlich ihre Kritik an den Verhältnissen durch Rückzug ins Private, offenbart sich der Nachwelt – je­nen so hoffnungsvollen Zukunftsseelen – in ihren Dichtungen als bedeutende historische Quelle. Sie zeigen eine Kaiserin, die zwar die Vorzüge ihrer ho­hen Stellung im vollen Ausmaß in Anspruch nahm, jedoch ohne die Bereit­schaft, ihre Persönlichkeit zugunsten ihrer kaiserlichen Stellung hintanzu­stellen, wie es Kaiser Franz Joseph so selbstverständlich bis zur Selbstent­äußerung tat (vgl. Hamann 1984: 10)[57].

Ohne es freilich zu wollen, stiften Elisabeths lyrische Ambitionen ein durchaus kritisches, wenn auch ambivalent-ausschnitthaftes Abbild jenes Habsburgerreiches, auf das wenig später in der österreichischen Literatur die Verklärung eines mythologischen Konstruktes folgen sollte. Hierbei von einem Mythos zu sprechen, erscheint durchaus legitim:

in ihm vermengen sich ja fortwährend die echte Verherrlichung realer Werte mit einer Entstellung und märchenartigen Idealisierung der Welt, so dass die Dichter des «habsburgischen Mythos» zugleich Zerr­spiegel und Mikroskop der Prägung des alten Reiches sind. (Magris 1988: 9)

Claudio Magris hat in seiner wegweisenden Studie über den Topos des habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur jene Feststellung getroffen, die von Kaiserin Elisabeth freilich konterkariert wird: gemeint sind «die Atmosphäre und Kennzeichen des kulturellen Lebensstils der Do­naumonarchie» (Magris ²1988: 8). In ihrer kontra-verherrlichenden Ausprä­gung wird der Ruhm Habsburgs durch Elisabeths Lyrik freilich demontiert, die Wiener Gesellschaft demaskiert. Dennoch ist Kaiserin Elisabeth sicher eine der ersten, die den k-u-k-Topos literarisch aufgreifen; ihre verspätete, spärliche und teilweise einseitige Rezeption hat diese Wahrnehmung indes verhindert. Da dieser habsburgische Mythos nicht erst nach dem Ende der Monarchie entstand, sondern schon zu deren Existenz erlebbar war, «knüpft [er] vielmehr unmittelbar an eine säkulare habsburgische Tradition der Wirklichkeitsverwandlung an» (Magris 1988: 21).

Als Ironie der Geschichte muss man es wohl bezeichnen, dass die Wit­telsbacherin Elisabeth mit ihrer epigonalen Meisterinszenierung ausgerech­net jenem Mythos des ihr so ungeliebten Hauses Habsburg Vorschub ge­leistet und damit nicht nur sich, sondern einer ganzen Epoche ein Denkmal gesetzt hat, an dessen literarischer Verarbeitung noch die österreichischen Autoren des 20. Jahrhunderts sich vortrefflich abarbeiten konnten[58]. Aller­dings reguliert das Moment des Außenstehens Elisabeths Betrachtungs­weise, die binäre Konstellation aus Involviertheit und Abneigung tragen zu einer Spannung innerhalb der lyrischen Texte bei, die in der Selbstmythisie­rung der Kaiserin mündet[59].

En ce sens, Elisabeth peut nous apparaître comme une femme très moderne, révoltée, qui, tout en n’etant pa à sa place dans la fonction qu’elle exerçait, était la personnen qu’il fallait pour nous en livrer les secrets. (Philippoff 2003: 419)

Zwischen Mythos und Konstrukt eines Hauses Habsburg, das noch heute so glanzvoll zum Zwecke touristischen Umsatzertrages zelebriert wird, bewegen sich die Dichtungen jener Monarchin, die mit ihren literari­schen Äußerungen Kritik an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit üben wollte. Ob sich ihre Lyrik zukünftig als Stoff der literaturwissenschaftlichen For­schung etablieren wird, bleibt abzuwarten. Für die Etablierung ihres Mythos und selbst die Diskussion um den Komplex des habsburgischen Symboler­bes waren und sind sie hingegen stets präsent und produktiv gewesen. Was als Lebenskommentar gedacht war, zeigt bis heute eine Faszination für das Wesen einer ungewöhnlichen Frau, die ihrer Zeit in mancher Hinsicht vo­raus war. Dass die Literatur hierbei eine wesentliche Rolle spielt, kann trotz­dem nicht darüber hinwegtäuschen, woran das lyrische Werk Kaiserin Eli­sabeths freilich zu messen ist: ihr lyrisches Geschick funktionierte als epigo-nale Meisterinszenierung und unbewusst, aber repräsentativer Beitrag zum habsburgischen Mythos.

Der österreichische Autor Felix Salten schrieb in seinem Nachruf auf die Kaiserin 1898: «Jetzt ist uns ihre Existenz fast schon wie etwas Unwirkli­ches, ihre Gestalt schwebend wie die Gestalten eines Traumes, und auf ihr Schicksal blicken wir kaum noch wie auf ein gelebtes Dasein, sondern wie auf eine Dichtung» (Salten 1909, 257). So ist denn doch der Nachwelt diese ungewöhnliche Frau zwar nicht unbedingt durch ihr literarisches Werk, so doch aber durch ihr poetisches Leben gleich einer Dichtung in Erinnerung geblieben (vgl. Maikler 2011: 443f.). Indem jedoch das Leben zur Poesie wird, verblasst die Dichtung vor dem Hintergrund glorifizierter Schönheit. Ein mitunter zweifelhafter Ruhm ist Kaiserin Elisabeth von Österreich da­mit – auch abseits ihrer rein biographischen Verklärung – allemal gewiss.

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[1] Vgl. hierzu die Ausführungen von Ursula Storch, die ausführlich die Elisabeth-Ver­klärung in Dramentexten der 20er und 30er Jahre thematisiert (Storch 1986: 111-116).

[2] Matthias Kamann definiert den Begriff des Epigonalen keineswegs negativ, sondern erkennt darin ein ästhetisches Verfahren (vgl. Kamann 1993: 9ff.).

[3] Bis heute lebt die Bundeshauptstadt Wien dank eines geschickten Tourismusmarke­tings vom Erbe der Donaumonarchie, die Galionsfiguren Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph I. sind allgegenwärtig und zieren selbst als Konterfei die Papiersackerl der Museumsshops.

[4] Es sind hierbei vor allem die Publikationen, die zu jedem nur denkbaren Jubiläum erscheinen und sich vorwiegend an eine populärwissenschaftlich interessierte Leserschaft richten (Unterreiner 2010 und 2012, Thiele 2011, Reiser 2009 sowie Sternthal 2011).

[5] Neben der zum Standardwerk avancierten Biographie von Brigitte Hamann, die seit 1982 in etlichen Neuauflagen und Übersetzungen Verbreitung gefunden hat (Hamann 1997), finden sich auch deutlich komprimiertere Monographien wie Exner 2004 oder Schad 2004.

[6] Als Thema und Filmstoff war die Figur der schwermütigen Kaiserin schon seit Beginn des filmischen Zeitalters präsent. Die Filmindustrie der 1950er Jahre formte schließlich das zuckersüße Image einer zum Kitsch verkommenen Monarchin, die mit der Realität nur wenig zu tun hatte. Gewiss lag der immense Erfolg der Sissi-Trilogie von Ernst Marischka auch an seiner Entstehungszeit, die einerseits mit dem Genre des Heimatfilmes das Leben im Nachkriegsdeutschland (sowie dem Österreich der Zweiten Republik) erträglicher ma­chen wollte, zum anderen auch genau einhundert Jahre nach den historischen Gescheh­nissen das moderne Märchen vom Mädchen, das zur Prinzessin der Herzen wird am Bei­spiel der jungen Romy Schneider durchexerzieren konnte.

[7] Nach dieser Ausgabe werden die Primärtexte Elisabeths vorwiegend zitiert.

[8] «Der Anteil der Künste an der sichtbaren Erscheinung fürstlicher Aura, die privile­gierte Nähe des Künstlers zum Herrscher hat den Eindruck von einer «höheren», aus be­sonderen Gnaden genährten, mit universaler Kompetenz begabten, außergewöhnlichen Tätigkeitsform hervorgerufen und festgelegt» (Warnke 1985: 11). Eine Potenzierung dieses Sachverhaltes ergibt sich folglich durch die Personalunion von Monarchin und Dichterin wie im Falle Elisabeths.

[9] Zum Verhältnis von Herrschaft, Macht und Literatur vgl. Kleber 2005.

[10] Zum Begriff Dilettantismus und dessen Wandel vgl. Leistner 2001: 63-87.

[11] «Sicherlich spielte auch Elisabeths Ehrgeiz eine Rolle, sich als Person – und eben nicht als monarchische Würdenträgerin – zu profilieren und einmal in den Kreis der fürst­lichen Schriftsteller aufgenommen zu werden, der 1883 in einem Buch von Franz Xaver Seidl mit dem Titel Deutsche Fürsten als Dichter und Schriftsteller vorgestellt wurde» (Hamann 1984: 14).

[12] Stiegler sieht in der Notwendigkeit der Geheimhaltung dieser Verse einen nicht un­bedeutenden Grund für deren teilweise eher geringe Qualität, da die Urheberin sich eben nicht einer kritischen, öffentlichen Meinung habe unterziehen können (vgl. Stiegler 1987: 171).

[13] «Die Werkpolitik des 19. Jahrhunderts steuert auf eine selektionslose Aufmerksam­keit zu, die auch das Mangelhafte interessant finden kann, weil es historisch «bedeutsam» ist» (Martus 2005: 68).

[14] Elisabeths Dichtungen fallen in die von Meyer-Sickendiek beschriebene Kategorie der Legitimation von Epigonalitätswerken, «wenn der Künstler sein wiederholendes Schreiben als Gattungstreue begreift, die dabei auftretenden Wertungsfragen – mangelnde Originalität bzw. Experimentierfreude, allzu starke Orientierung an literarischen Vorlagen – also kaum mehr berücksichtigt» (Meyer-Sickendiek 2001: 28).

[15] Epigonalität «ist eine von Verlauf und Vollzug des einzelnen Werks nicht ablösbare Formungsweise, die inhaltlich wie formal eine nur textuell fassbare individuelle Disposition thematisiert, welche vergangene Literatur nicht einfach als Objekt des Gebrauchs benutzt, sondern sich wiederholend in dieser konstituiert bzw. sich in solchen Formen des Um­gangs mit dieser konturiert, die keinen Hinweis darauf geben, daß sich das Individuum der vergangenen Literatur in irgendeiner Weise überlegen oder von ihr unabhängig fühlt» (Kamann 1994: 11).

[16] Schilke konstatiert Selbstüberschätzung hinsichtlich der lyrischen Qualität, hält die Bildung der Kaiserin für wesentlich bedeutender als ihr lyrisches Geschick und bezeichnet die Gedichte Elisabeths als Lyrik, die «durchaus dilettantische Züge in sich birgt – mit teilweise infantilen Sequenzen, überspannt und von Selbstmitleid durchzogen» (Schilke 1993, 68ff.).

[17] Man denke an die Dichtungen König Ludwigs I., auch Elisabeths Vater Herzog Max in Bayern konnte es sich aufgrund seiner dynastischen Stellung als Oberhaupt einer unbe­deutenden Nebenlinie der Wittelsbacher leisten, sich in Kunst und Poesie zu ergehen. Un­ter dem Pseudonym «Phantasus» betätigte sich der Herzog sowohl als Dramatiker, Lyriker und Essayist (vgl. Katalog 1986, 254).

[18] Zur Herkunft und sozialem Status schreibender Frauen im 19. Jahrhundert vgl. Ha­cker 2007: 45ff.

[19] Dieser besteht seit den 1860er Jahren zunehmend aus einer aktiven Reisetätigkeit der Kaiserin. Da insbesondere Fernreisen, wie Elisabeth sie unternahm, kostspielig waren, ge­hörte dieses Vergnügen zu denjenigen Hobbys, die sich nur wenige Frauen dieser Zeit leisten konnten. Einige prominente Beispiele wie die Österreicherinnen Ida Pfeiffer (1797-1858), Maria Schuber (1799-1881) oder Gräfin Pauline Nostitz (1801-1881), die auch ent­sprechende Reiseberichte verfassten. Gräfin Paula Kollonitz (1830-1890) reiste im Gefolge des Hofstaates von Erzherzog Ferdinand Maximilian, dem Schwager Kaiserin Elisabeths, nach Mexiko und publizierte 1867 den Bericht dieser Reise (vgl. Habinger 2006: 42ff.).

[20] Zur Kasualdichtung im 19. Jahrhundert vgl. Andres 2005.

[21] Zur Typologie des Fürstenhofes im 18. Jahrhundert vgl. Bauer 1993.

[22] Dies muss auch hinsichtlich der Definition des Musenhofes gelten, der sich ja in hohem Maße als Förderinstanz einer kulturellen Elite verstand. Dem stand Elisabeths Ein­stellung zum Geistesleben der Donaumonarchie entgegen, da sie «weder zur geistigen Elite des Reiches Verbindungen knüpfte noch an den neuen Entwicklungen in Kunst und Kul­tur teilnahm, sie demzufolge auch nicht förderte» (Schilke 1993: 68).

[23] Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die zeitgenössische Kritik sich zu Lebzeiten der Königin keine Bewertung ihrer Dichtungen vornahm, auch nach ihrem Tode war dies lange Zeit nicht der Fall (vgl. Badea-Păun 2011: 130).

[24] Eine umfassende Studie zum Werk der rumänischen Königin bietet Zimmermann 2010, die das Schreiben Carmen Sylvas als Selbstmythisierung und prodynastische Öffent­lichkeitsarbeit durch Literatur charakterisiert.

[25] Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Sylva den Imageverlust aufgrund ihrer Kinderlosigkeit mittels literarischer Produktion und ihrer vorbildhaften Funktion als Lan­desmutter zu kompensieren suchte, ein Umstand, der auf Kaiserin Elisabeth keinesfalls zutreffend war, da diese zum Zeitpunkt des Beginns ihrer Dichterinnenlaufbahn bereits fast fünfzig Jahre alt ist und vier Kinder geboren hat, darunter 1858 den für die Monarchie und das Ansehen Elisabeths in ihrer Funktion als Kaiserin bedeutende Thronfolger Ru­dolf.

[26] Damit entspricht die Dichtung Elisabeths auch nicht der Tendenz poetologischer Reflexion im 19. Jahrhundert, wie Sandra Pott sie herausgestellt hat (vgl. Pott 2005: 50f.).

[27] Die «langen Schilderungen von Meer, Sternen, Bergen […] sind auch Ausdruck der Opposition, Ausdruck des Rückzuges in die Größe der Natur vor den Kleinheiten des politischen Lebens» (Hamann 1984: 11). Dem gegenüber steht die Betrachtung Stieglers, der in Elisabeths Texten einen «geradezu filmische[n] Bilderreigen von Pracht und hohem epischen Reichtum» erkennt (Stiegler 1987: 173).

[28] «Dichten war wie Musizieren, Komponieren oder Malen Ende des 19. Jahrhunderts noch Teil standesgemäßer adeliger wie bourgeoiser Lebensführung» (Exner 2004: 100). Ein besonders anschauliches Beispiel bietet für die bürgerliche Perspektive die Erzählung Der Bajazzo von Thomas Mann.

[29] Einen sehr fundierten Überblick zu österreichischen Dichterinnen zwischen 1800 und 2000 liefert Schmid-Borstenschlager 2009. Einführend auch Gürtler / Schmid-Bor­tenschlager 1998.

[30] Ada Christen (1839-1901) erregte 1868 mit ihrem Lyrikband Lieder einer Verlorenen Aufsehen, in dem sie erstmals das weibliche Bedürfnis nach einer erfüllten Sexualität arti­kulierte.

[31] Die bereits früh als Ausnahmeerscheinung im zeitgenössischen Literaturbetrieb an­erkannte Ebner-Eschenbach lässt sich hinsichtlich ihres Autorinnenselbstverständnis am ehesten mit Elisabeth kontratstieren, war es doch bei ihr «das Bewusstsein von der eigenen, kreativ schaffenden Persönlichkeit, die das Gefühl der Befriedigung hervorbrachte» (Teb­ben 1998: 35), während die Kaiserin dieses zu deutlichen Teilen aus ihrer Epigonalität der Dichtung bezog.

[32] Trotz einiger Parallelen dieser zwei Autorinnen, hat beider Werk eine sehr unter­schiedliche Wirkung entfaltet. Obschon ungleich produktiver als Reventlow, ist Eschstruth heute fast völlig vergessen. Ihr Werk fand über die wilhelminische Epoche hinaus, für die es eindrucksvolles Zeugnis einer adeligen Gesellschaft ist, kaum Verbreitung und hat sicher auch deswegen bisher keine nennenswerte Diskussion von Seiten der Forschung erfahren.

[33] Jenes Dilemma umreißt Karin Tebben in ihrer Bestandsaufnahme zu soziokulturel­len Bedingungen weiblicher Autorschaft treffend: «Freiwillige oder unfreiwillige Akzep­tanz des kulturellen Primats männlicher Autorschaft führten unweigerlich zu Identitäts­konflikten: Veröffentlichte die Autorin nicht anonym, riskierte sie eine Attacke auf ihre Geschlechtsidentität, veröffentlichte sie anonym, leugnete sie wesentliche Bereiche ihres Selbstverständnisses» (Tebben 1998: 27).

[34] Ironischerweise stellen ihre Verse jedoch oftmals die einzigen Quellen für Hofbe­schreibungen über manche Eskapaden der Habsburger dar, weil die Pressezensur ein skan­dalöses Habsburgerimage zu verhindern gewusst hatte (vgl. Hamann 1984: 11).

[35] Damit entspricht Elisabeth durchaus einem zeittypischen Frauenbild, wie Tamara Felden in Bezug auf die zeitgenössische Reiseliteratur von Frauen ausgemacht hat. Reisen als Form des Überlebens (vgl. Felden 1993: 28) spielt bei Elisabeth von Österreich eine bedeutende Rolle, die fast schon als Lebensgrundlage, ähnlich wie das Schreiben in jenen Jahren bezeichnet werden kann.

[36] Zum therapeutischen Moment in Elisabeths Lyrik vgl. Hamann 1984: 13f. Die Über­windung von Leid und Trauerarbeit waren auch bei Carmen Sylva wichtige Motoren ihres Schreibens (vgl. Zimmermann 2010: 24ff.).

[37] Zum Verhältnis Epigonalität und Gattung vgl. Zymner 2010: 63.

[38] Nicht nur dynastisch, auch literarisch wird mit dieser von Elisabeth praktizierten Epigonalität legitimiert, was auf die von Meyer-Sickendiek vorgenommene Typologisie­rung der epigonalen Disposition Anwendung finden kann (vgl. Meyer-Sickendiek 2001: 28).

[39] Inhaltlich-thematisch ist diese Form der Lobpreisung positiver Eigenschaften und Taten des Regenten ins genaue Gegenteil verkehrt. Weiters fehlt im Falle Elisabeths die direkte Wendung an eine Öffentlichkeit: «Durch die Verpflichtung der Panegyrik auf Au­ßendarstellung, auf Publikumsbezug, ist sie oft zeremoniell eingebunden und weist in den Aspekten von Anlass, Repräsentation und Funktionalität große Nähe zur Gelegenheits­dichtung im engeren Sinn auf» (Andres 2005: 188).

[40] Erzherzog Friedrich von Österreich-Teschen (1856-1936) hatte mit seiner Gemahlin Isabella neun Kinder, von denen fast alle in den 1880er Jahren zur Welt kamen.

[41] Zwischen 1886 und 1888 arbeitete die Kaiserin die 22-bändige Heine-Gesamtaus­gabe aus ihrem Privatbesitz durch; die einzelnen Bände wurden mit Anmerkungen und Angaben zu Ort und Datum der Lektüre versehen und waren für das Reisegepäck unent­behrlich (vgl. Hamann 1984: 13 sowie Katalog 1986: 262).

[42] Gerade in diesem Umstand erkennt Stiegler einen wesentlichen Grund dafür, dass gerade die Liebeslyrik am wenigsten als geglückt zu bezeichnen sei (vgl. Stiegler 1987: 172).

[43] Elisabeth verfasst ein Gedicht mit dem Titel Mein Traum und karikiert das Modell des kaiserlichen Gottesgnadentums und damit den Gemahl in einem Rollenspiel ihres ly­rischen Ichs mit den volksliedhaften Worten: «Nach langem Überlegen / Komm ich jetzt zum Entschluß / daß hier mit Gottes Segen / etwas geschehen muß» (Hamann 1984: 144).

[44] Gerade diese Dichtungen fallen in die Kategorie der Elevation, wie sie Nikolas Im­mer in seiner Untersuchung zum Dilettanten als Nachahmer diskutiert (vgl. Immer 2007: 63).

[45] Wie Kill anmerkt, zeigen manche ihrer Werke auch einen journalistischen Stil, da sie Begebenheiten mitteilt, die aus Gründen der Zensur nicht in die Öffentlichkeit gelangten (vgl. Kill 1995:137).

[46] Zur Abneigung Elisabeths gegenüber dem Militär und die republikanischen Neigun­gen vgl. Amtmann 1998: 60 und 71f. Auch Mészöly, der unter den Interpreten die Texte der Kaiserin literarisch am ehesten als hochwertig verstanden wissen will, sieht in der Sehn­sucht nach Flucht Elisabeths bedeutendstes Merkmal für die dichterische Inspiration (vgl. Mészöly 1998: 97).

[47] Das Gedicht Klingel-Lied offenbart besonders Elisabeths Abneigung gegen die banale Vergnügungssucht des Wiener Hofes.

[48] Anspielung auf Heines Gedicht Pferd und Esel.

[49] Zur offenkundigsten Durchbringung von Realität und Fiktion als Abbildung eines figuralen Rollenspiels kommt es in Elisabeths Text Titanias Besuch bei Carmen Sylva und Rück­kehr in ihr Feenschloß, genannt Villa Hermes (vgl. Hamann 1984: 196-207). Hier offenbart schon der Titel, dass es keine Unterscheidung mehr gibt zwischen Wirklichem und Fiktio­nalem.

[50] Gemeint ist Erzherzog Ludwig Viktor (1842-1919), dessen homosexuelle Neigungen und ausschweifender Lebensstil für jede Menge Hofklatsch sorgten. Zu Oberons Wiegen­feste charakterisiert sie ihn ebenfalls als geschwätzig und böse: «Ekelhaft ist mir der Affe / Boshaft, wie kein andres Vieh / Solcher Tag scheint wahre Strafe / Seh’ ich ihn, den ich sonst flieh’» (Hamann 1984: 263).

[51] Zum von Elisabeth zelebrierten Rollenbild der kaiserlichen Schönheit vgl. Christen 1998: 182.

[52] «Als derjenige, der den sozialen Körper personifiziert, ist der Herrscher den Unter­tanen nicht einfach gegenübergestellt, sondern Inbegriff dessen, was sie sind; er ist als Ein­zelner, gewissermaßen in der Gestalt eines Kollektivsingulars, was sie in der Menge umfas­sen» (Koschorke 2002: 79f.).

[53] Einen Überblick über die umfassende Reisefreude der Kaiserin in einer anschauli­chen Zeitstrahlauflistung bietet Hamann / Hassmann 2000.

[54] Hier seien stellvertretend zwei Situationen genannt, mit denen die Kaiserin die Wie­ner brüskierte: die Einweihung der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn fand 1860 ohne die Na­menspatronin Elisabeth statt und auch bei der feierlichen Eröffnung der Wiener Hofoper an der Ringstraße 1869 blieb sie fern, obschon man den Termin ihretwegen extra verscho­ben hatte.

[55] Ein solches Schockerlebnis hatte die Kaiserin bereits 1884 getroffen, als man den Bayerischen König Ludwig II. tot im Starnberger See fand. Elisabeths Seelenleben war schwer erschüttert, sie durchlebte eine längere Krise, die auch in ihrer Dichtung Ausdruck fand. Zu dieser Zeit funktionierte die therapeutische Wirkung ihres Tagebuches noch. Der Tod ihres Sohnes schließlich war nicht nur ausschlaggebend für das Einstellen jeglicher Versproduktion, sondern führte auch dazu, dass das von ihr initiierte Heine-Denkmal nicht wie geplant ausgeführt wurde, stattdessen – und ganz Abbild ihres Rückzugs – ließ die Kaiserin ein privates Huldigungsmonument vor ihrem Besitz auf Korfu errichten.

[56] Dieses Ereignis musste die Kaiserin so tief getroffen haben, dass ihr die Dichtung keinen Halt mehr geben konnte und auch die Initiatorin von ehedem, Carmen Sylva, nichts dagegen auszurichten vermochte (vgl. Schad 2004: 91f.).

[57] Zum Lebensstil Kaiser Franz Josephs vgl. Winkelhofer 2010.

[58] Ähnliches konstatiert auch Maikler: «Nach Untergang des Habsburgerreiches wird der Elisabeth-Stoff in der Literatur wie ein antiker Mythos rezipiert […]. Diese Texte fun­gieren nicht mehr als Herrscherlob, sondern widmen sich ausschließlich der Person Elisa­beth, deren widersprüchlicher Charakter jetzt problematisiert wird» (Maikler 2011: 458).

[59] Dieses Moment sei mit Maikler folgendermaßen verstanden: «Bei einer Mythisierung wird nicht eine mythische Gottheit auf eine berühmte Geschichtsperson reduziert, son­dern umgekehrt eine historische Gestalt zur mythischen Gottheit auratisiert» (Maikler 2011: 19).

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Micaela Latini

(Cassino)

Die letzten Bilder der Menschheit
Günther Anders und die deutschsprachige Literatur

[The Last Pictures of Mankind. Günther Anders and the German-language Literatures]

abstract. The aim of this paper is to explore the literary investigations of Günther Anders within the horizon of his philosophical thinking. Starting from Anders’s thesis about the «humanity without world», the paper analyzes Anders’s interesting remarks about Brecht’s literary theory and theatrical works, the poetry of Rilke, the literature of Döblin, and espe­cially the masterpieces of Kafka. Relying upon the analysis of these authors, and thanks to an interdisciplinary viewpoint, the importance of the method of literary reference becomes crucial to an understanding of Anders’s concept of «humanity without world» and of the apocalyptic image of a «world without humanity».

1. Menschen ohne Landschaft

Wie bereits richtig beobachtet wurde, ist das Werk Günther Anders’, auch quantitativ betrachtet, in gleichem Maße der Literatur wie der Philo­sophie zuzuordnen[1]. Jedoch liegen gerade diese Unterscheidungen dem Selbstverständnis von Anders fern. In einem polemischen Erguss, 1945 ge­schrieben und an Thomas Mann adressiert, offenbart Anders seine Feind­seligkeit gegenüber der strengen akademischen Trennung verschiedener Fachgebiete, in denen Philosophie, Politik und Literatur wie getrennte und unabhängige Bereiche behandelt werden: «Meine Fabeln nannte man poe­tisch, meine Gedichte philosophisch, meine philosophischen Arbeiten po­litisch und meine politeia fabulös. So warte ich auf einen jener günstigen Au­genblicke, in denen sich die Wichtigkeit solcher Klassifikationen neutrali­siert»[2].

Das Werk Anders’ sträubt sich gegen eine reduzierende Klassifikation: Anders war Essayist und Dichter, Polemiker und Erzähler, Literaturkritiker und Musikphilosoph, Tagebuchschreiber und vor allen Dingen kritischer Zeitzeuge. Es genügt an das Thema der «Weltfremdheit des Menschen» zu denken, das der Autor auf verschiedene Weise behandelt hat. Denken wir also an das Motiv der Unheimlichkeit, des «Nicht-zu-Hause-Seins», das den roten Faden von Anders’ Reflexionen bildete. Eben dies ist der Kern jener negativen (philosophisch-literarischen) Anthropologie, die Anders bereits im Rahmen einer 1929 gehaltenen Konferenz mit dem Titel Die Weltfremd­heit des Menschen angedeutet hatte, in dem er das Bild eines Weltverlustes gezeichnet hatte. In diesem Entwurf der «Figuren ohne Welt» vereint An­ders die entfremdeten Persönlichkeiten von Bertolt Brecht, von Alfred Döblin, von Rainer Maria Rilke und auch von Franz Kafka. Immer radikaler wird bei diesen Autoren die Passivität, das «Ausagiert werden», das «Erlebt sein», die Chiffre der menschlichen Bedingtheit.

2. Erstes Bild: Bertolt Brecht oder der Mensch «ohne Stabilität»

Im Folgenden soll Anders’ Verarbeitung seiner Brechtlektüre betrachtet werden, des Autors, mit dem er über ein halbes Jahrhundert in ständigem Dialog stand und der für ihn auch ein literarisches Vorbild war[3]. Brechts Demaskierung und Kriminalisierung der bürgerlichen Welt scheinen in sei­nem Bemühen, der akademischen Welt den Rücken zu kehren, stark mitge­wirkt zu haben. Bereits 1930 widmete Anders Brecht eine Radiokonferenz mit dem Titel Brecht als Denker[4]. Sie leitete einen langen Austausch der bei­den Intellektuellen während der Zeit des Kalifornischen Exils ein, der in Bert Brecht. Gespräche und Erinnerungen (Tagebuch 1941) von Anders festgehal-ten wurde[5]. Auf diesen Seiten unterstreicht Anders, wie viel weniger bedeut­sam das geschriebene Wort für Brecht ist als das gesprochene Wort, das dem Gesang der Sirenen gleicht, den schmeichlerischen Stimmen der Me­dien im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. So sind Brechts Fi­guren «vom langen Arm» der Industrie geprägt, von der Kommerzialisie­rung der Medien herabgewürdigt – sie sind der Konsumgesellschaft fest eingeschrieben. Darüber hinaus ist das Werk Brechts für Anders mit einer experimentellen Dramaturgie vergleichbar, mit einem Versuchslabor, in dem ein kommunikativer Rahmen erprobt wird, sowie mit körperlicher Er­tüchtigung[6]. So schreibt Anders mit den Worten seines Gespräches mit Brecht: «In der Literatur haben Sie nur deshalb experimentiert, weil Sie da­rauf aus waren, mit Hilfe literarischer Werke nützliche Experimente auf­bauen zu können»[7].

Und weiter:

Modell der Situation, die Sie vor sich sehen, ist das physikalische Prak­tikum. An die Stelle der Studenten treten die Zuschauer; an die der Professoren die Kommentatoren. Im naturwissenschaftlichen Expe­riment setzten wir Stücke der Welt auf eine Weise ein, in der diese sich “von sich aus” nicht kombinieren; was im Experiment von sich geht, ist stets ein Begriff, ein von uns gemachtes Arrangement, eine von uns kontrollierte physische Veränderung.[8]

Wandelbarkeit, Instabilität und Unvollständigkeit: dies sind die Koordi­naten, denen Brechts Menschheit verschrieben ist. Jedoch ist es wiederum die Wandelbarkeit, in der Anders auch die Grenze der Vision Brechts er­kennt. Das Werk Brechts (das Anders als «prophetisch» definiert)[9] lässt tat­sächlich, im Unterschied zu Kafka, der Vernunft des Menschen wieder eine hervorgehobene Bedeutung zukommen. Dieses Vertrauen in das mensch­liche Urteilsvermögen und den menschlichen Wandel ist kaum mit Anders’ These der Weltfremdheit des Menschen vereinbar. Laut Anders bezichtigt sich der Dramaturg Brecht selbst als gestrig, indem er (im Einklang mit Max Scheler) die These der «Verändertheit des Menschen» aufstellt, eben weil wir verändert sind[10]. Die Aussicht auf eine Verändertheit zeigt tatsächlich eine gewisse Hoffnung auf die Zukunft und hierin ist Brecht für Anders vergleichbar mit Ernst Bloch, dem Philosophen der Utopie[11]. Es gibt keinen Zweifel: Da er nicht dazu bereit war, auf das Vertrauen in die Zukunft zu verzichten, gehört Brecht, wie auch Bloch, «zu den tragischen Figuren einer endgültig vergangenen Vergangenheit»[12].

3. Zweites Bild: Alfred Döblin oder «der arbeitslose Mensch»

Laut Anders ist Alfred Döblin der Autor, der der apokalyptischen Aus­sicht auf eine Verdunklung der Welt am nächsten kommt. In seinem Werk zeichnet sich klar und eindrücklich die eschatologische Menschheit ohne Welt ab. Im Unterschied zu Brechts Figuren sind die Protagonisten Döblins durch Passivität und Stagnation charakterisiert und folglich durch die Un­möglichkeit, wirklich zu leben und zu handeln. Das einzige Handeln, das ihnen gestattet wird, besteht darin, mühsam einem Zugehörigkeitsgefühl nachzueilen, oder besser, den Versuch zu unternehmen, auf die Welt zu kommen, der aber für sie immer mit dem Weltverlust einhergeht. Anders’ Text Der verwüstete Mensch (1931), in dem die Aufmerksamkeit auf Döblins Roman (oder Antiroman) Berlin Alexanderplatz (1929) gerichtet wird[13], of­fenbart sich in all seiner dramatischen Aktualität, indem er sich mit dem Thema der Arbeitslosigkeit und ihrer Auswirkungen auf die persönliche Identität auseinandersetzt. Auf diesen Seiten – die ursprünglich in der Fest­schrift zum achtzigsten Geburtstag von György Lukács publiziert wurden[14]stellt Anders Döblins Modell des Menschen ohne Welt dar, das Modell des Ar­beitslosen, der von seinem Werk enteignet ist, und der an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Döblins Figuren gehören für Anders zu der Ka­tegorie der Weltlosen in einem «verstärkten Sinne». Das bedeutet, dass die «verrückte» Welt des Arbeiters ihnen absolut fremd ist. Sie sind in die menschliche Ausschussware der kapitalistischen Überflussgesellschaft ein­zuordnen[15].

Aus Anders’ Sicht stellt sich das Werk Berlin Alexanderplatz als ein Par­cours der Zerstörung heraus. Es ist der Roman des Weltverlustes, des Schwindels, ausgelöst durch die Dinge und Ereignisse, die den Menschen enteignen, die ihn zur großstädtischen Einsamkeit verdammen. Für den Protagonisten des Romans, den ehemaligen Sträfling Franz Biberkopf, ist der Ort der Weltlosigkeit nicht das Gefängnis (Tegel), sondern die Metro­pole Berlin der 1920er Jahre, oder auch die überfüllte Wüste des Berliner Alexanderplatzes. Wie man bei Anders liest, war «Tegel […] noch eine Welt»[16], während sich Biberkopf jetzt, gerade aus dem Gefängnis entlassen, in einer Nicht-Welt bewegt. Die Stadt Berlin anerkennt ihn nicht, antwortet ihm nicht, nimmt ihn nicht auf, sondern lässt ihn links liegen[17]. Mit anderen Worten ist für Anders der Antiheld Döblins nicht auf der Höhe der Welt und gleichzeitig in zu hohem Maße dennoch auf der Welt; er ist nicht auf der Welt, und geht auch nicht durch die Wüste, sondern die Wüste ist in ihn eingedrungen und hat ihn verwüstet. Biberkopf hat sich selbst überlebt und es ist ihm somit gelungen, das Gefängnis von Tegel zu verlassen, nicht aber in sein Leben zurückzukehren. Deshalb ist er dazu verdammt, entwur­zelt zu sein und sich dennoch nach Wurzeln zu sehnen. Um wieder auf der Welt zu sein, musste er in die Vergangenheit zurückkehren und von vorne anfangen, nämlich: bei seinem Leben vor dem Gefängnis. Jedoch bedeutet das Zurückblicken in die Welt von gestern für Biberkopf – wie für jeden Exilanten –, mit der Unmöglichkeit, nach Hause zurückzukehren, abzu­rechnen. Es ist nicht nur der Raum, der ihn abweist, sondern auch die Zeit: «Da seine Vergangenheit keine kontinuierliche Bahn darstellt, kann er sich nicht erinnern, kann er keine Bahn des Berichtes der Bahn des Lebens pa­rallel führen; was er de facto nicht hat formen können, kann er auch nach­träglich nicht formulieren»[18].

Hinter der Figur des Biberkopf gibt es nichts: der Mensch ist verlassen, ohne Erfahrung, seiner eigenen Existenz beraubt; und eben dies beobachtet Anders in Bezug auf Döblin: «Dieses Leben ist nichts als die dauernde Ge­legenheit, ihm zu zeigen, dass es nicht seines ist»[19]. Wie in einer Abfolge eskalierender Erdrutsche rutscht und stürzt auch Biberkopf von einer Zeit in die nächste und setzt sich in mehreren Zeiten gleichzeitig fest. Das Leben schreitet für ihn «als Subjektlosen» voran, in einer unpersönlichen Form, als «man», was dann das schreckliche Siegel der Existenz im 20. Jahrhundert ist.

In Einklang mit Benjamins Positionen[20] kritisiert auch Anders das Ende des Romans, das eine Art Erlösung für die Hauptfigur profiliert. Unter die­sem Gesichtspunkt wird nach Anders der Roman Berlin Alexanderplatz eine Variante der Definition der äußersten, schwindelnden, letzten, vorgescho­bensten Stufe des alten bürgerlichen Bildungsromans[21].

4. Drittes Bild: Rainer Maria Rilke oder «der obdachlose Mensch»

In denselben Horizont, aber mit stärkerer Vertiefung bezüglich dem Thema der existenziellen Entwurzelung, kann die Dichtung Rainer Maria Rilkes gestellt werden, dem Günther Anders (damals Stern) 1929 mit der damaligen Ehefrau Hannah Arendt eine interessante, 1930 in der «Neue Schweizer Rundschau» veröffentlichte Interpretation widmete[22].

Die Schlüsselworte, welche das Ehepaar Arendt-Stern in Rilkes Texten ausfindig machen, sind die Verzweiflung, die Verlassenheit, die Fremdheit Gottes gegenüber der menschlichen Welt oder sein Umgang nur durch Bo­ten, die Fremdheit des Menschen gegenüber seiner menschlichen Erde, der Welt, der Zeit. Und weiter, als Varianten: das sich zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht Befinden, die Unsicherheit der menschlichen Existenz und zuletzt, aber nicht als Letztes, die Tatsache, dass die Dinge den Menschen überleben. Gemeinsam mit Kafka kann der Dichter Rilke laut Anders als letzter Überlebender der «Welt von Gestern» betrachtet wer­den, als tragischer Zeuge ihres Verfalls. Seine ist eine Dichtung des inexis­tenten, verweigerten häuslichen Feuers, des Menschen ohne Zuhause, der weder Stützpunkte noch Bezugskoordinaten hat. Die letzten drei Gedichte der Duineser Elegien bestätigen für Arendt und Stern erneut die Weltlichkeit des Menschen und des menschlichen Auftrags. Bei Rilke werden die Men­schen Dinge oder namenlose Wesen und erreichen so ihr endgültiges Menschsein. Aber die Dinge haben mit dem Auftrag zu tun, da sie aufgrund ihrer Vergänglichkeit Rettung brauchen (Dinggedichte). Die Dinge retten heißt in diesem Sinne, sowohl für Anders als auch für Arendt, sie zu nen­nen, sie vor der Auflösung zu bewahren. Ausschlaggebend ist die Tatsache, dass – wie die beiden Philosophen betonen – sich die Dinge gegenüber dem Menschen eines existentiellen Vorteiles rühmen können, insofern sie dau­erhafter als der Mensch sind, ihn überleben: «als die Dinge für Rilke einen Existenzvorrang vor dem Menschen haben; sie sind relativ dauernder als der Mensch, der in seiner äußersten Flüchtigkeit der Welt eigentlich nicht mehr zugehört, der die Dinge “bestehen” in ihrem relativen Bestand, und der von ihnen nur geduldet ist»[23]. Dieser hat nämlich nicht nur aufgehört, das Zentrum des Universums zu sein, sondern ist extrem flüchtig gewor­den: er gehört nicht mehr zur Welt, sondern er sieht sich als von den Dingen gerade noch geduldet. Solche Verlassenheit ist auch an der Wurzel des We­sens, das sich zu einem Aufgehen und einem Untergehen herabgesetzt hat, da nirgendwo irgendein Verbleiben vorgesehen ist. Die Menschheit ist bei Rilke verdammt dazu, nach vorne und zurückzuschlenkern, ohne einen Ru­hepunkt zu finden. Das ewig verweigerte Zuhause wird für Rilke eine ne­gative, ontologische Wirklichkeit, und daher eine absolute Notwendigkeit. Dieselben Themen greift Anders in einer am 13. März 1943 in der «Vigo­vino Gallerie» in Brentwood (Kalifornien) gehaltenen Rede mit dem Titel Homeless Sculpture (Obdachlose Skulptur) wieder auf. In einem interessanten Abschnitt des Textes steht:

House and garden are forfeited. Rilke wants to rescue them; he wishes to reinstate them in their «due» place; to reinstate by cutting off their ties which connect them, as he puts it, with the «frightful spider web of the world» and which deprive them of their identity (Haus und Garten sind verloren. Rilke will sie wiedergewinnen; er möchte sie wiedereinsetzen an dem Platz, der ihnen «gebührt»; wiedereinsetzen, indem er die Fäden durchschneidet, die sie mit dem – wie er es aus­drückt – «fürchterlichen Spinnennetz der Welt» verknüpfen und ihrer Identität berauben).[24]

Die Dinge zu erlösen heißt für Anders, sie aus dem System unserer Be­dürfnisse herauszuziehen, sie von der Welt des Gebrauchs unabhängig zu machen, um sie im Reich des Schönen zu befreien. In demselben Kontext konzentriert Anders seine Aufmerksamkeit auf das Konzept der «Obdach­losigkeit» bei Rilke. Diese Kategorie der Unmöglichkeit, sich niederzulas­sen, die Rilke schon als göttliche Eigenschaft festgestellt hat, spielt für An­ders eine wichtige soziale Rolle. Aus diesem Grund bietet Rilke nun Anders eine Gelegenheit dazu, über den Verlust für die kleinbürgerliche Gesell­schaft der sozialen und politischen Bezugswelt nachzudenken, und folglich über die Entfremdung des Menschen von der Welt als geschichtlich-soziale Kategorie im Bezug auf den Prozess der der kapitalistischen Gesellschaft eigenen Verdinglichung. In Rilkes Interpretation der Skulptur von Rodin spielt dieses Thema eine überaus wichtige Rolle: Rodin hat mit seiner Home­less Sculpture die Situation des modernen Menschen und seinen verzweifelten Versuch, diesen Zustand zu überwinden, vorweggenommen[25].

5. Viertes Bild: Franz Kafka oder der «sinnlose Mensch»

Zeigte sich bei Döblin die Entfremdung als «Nicht-Dazu-Gehören» und wird mit Rilke das Motiv des «Nicht-zu-Hause-Seins» poetisiert, ver­stärkt sich dieses Problem bei Kafka zu einem metaphysischen Verbot, der menschliche Zustand gestaltet sich als ein «Nicht-Erlaubt-Sein» auf der Welt[26]. Im Rahmen der Konferenz von 1934 Theologie ohne Gott stellt Anders wie im Spiegel seine eigenen Emigrationsbedingungen den von Kafka be­schriebenen Situationen gegenüber: Fremdsein in der Welt. Kafkas Schloss-Motiv würde hierbei den Ort darstellen, von dem die europäischen Juden vertrieben wurden, die ohne jedes Dokument nichts mehr sind (sans-papier). Bei seiner ersten Lektüre der Werke Kafkas identifizierte sich der damalige Günther Stern, ein kurz zuvor in Paris gelandeter Emigrant und politischer Flüchtling, mit dem Anti-Helden des Schlosses. Wie dem Landvermesser K. gelingt es auch ihm trotz etlicher Versuche nicht, sich in die Welt einzu­gliedern, Teil des Ganzen zu sein, dafür zu sorgen, akzeptiert zu werden. Er bleibt ein Weltloser[27]. Und so ist «sein ganzes Leben eine dauernde Geburt, ein nicht endendes “Zur-Welt-kommen”»[28]. Die Existenz von Kafkas An­tihelden wird ein Warten vor der Tür des Lebens sein. Deshalb bleiben seine Geschichten stets unvollendet und alles auf dieser Welt offenbart sich wie Dinge der anderen Welt. Ebenso wie Learsi (die Hauptfigur von Anders’ Erzählung) sich bemüht, als Ausländer im Hotel «Zur Freiheit» in Topilien akzeptiert zu werden[29], so muss auch K. in Das Schloss feststellen, dass es unmöglich ist, wirklich dazuzugehören. Anders schreibt:

Wer zu «kommen» hat, ist wiederum er, der Fremdliche [sic]: denn er hat anzukommen, er dazuzukommen, Kafkas Hauptwerk «Das Schloss» ist Hauptzeugnis dieser These […]. Zahlreiche Kafkasche Fabeln und sein Roman «Amerika» beginnen mit Ankunftssituationen, die sich von der aufgeführten im Schloss grundsätzlich nicht unterschieden, und alle hören als vergebliche Ankunftsbemühungen auf.[30]

Bei Kafka ist die Verwüstung deshalb vollkommen, da seine Figuren selbst ihren Namen verloren haben, ihre eigene Identität, und folglich auf eine Initiale, K., reduziert sind. Sie haben ihren Ursprung und folglich ihre Bestimmung verloren, sie sind in der Vergessenheit versunken, sind in sol­chem Maße von ihr verschüttet, dass sie sogar das Vergessen vergessen ha­ben. Dieser K., der dazu verdammt ist, an allen Orten ein Fremder zu blei­ben, hat das Land, aus dem er stammt, vergessen, oder er deutet es, besser gesagt, als ein namenloses Anderswo an. Er ist «von hier», die Vergangen­heit «von dort». Wie es der Untertitel von Anders’ Werk Diesseits als Jenseits jedoch ausdrückt[31], ist das Jenseits für ihn zu dieser Welt geworden, weil das Diesseits zu einer transzendenten Realität geworden ist. Für Anders ist der Ursprung in Kafka ein Anderswo, da das Leben selbst ein Anderswo ist. Anders betont, dass die grundsätzliche Topographie Kafkas jene des Innen/Außen ist. Emblematisch in diesem Sinne ist die Randnotiz, die er der Erzählung Eine kaiserliche Botschaft (1917) hinzufügt, in der der Weg des Boten durch die Unmöglichkeit des Menschen, auf den Sinn, auf das eigene Zuhause zuzusteuern, charakterisiert wird[32]. Während in Brechts Theater­stück Leben des Galilei die Botschaft der Wissenschaft dazu bestimmt war, früher oder später einen Zuhörer zu erreichen, wenn auch über Umwege, kommt die Botschaft bei Döblin zwar an, jedoch ist der Inhalt verdorben (da die logisch-kausalen Zusammenhänge der Sprache weggefallen sind). In Anders’ Kafka-Interpretation ist die Hoffnung auf die geringste Kommu­nikation von Anbeginn unmöglich: Die Wahrheit kann nicht gefunden wer­den (man muss sie aber suchen)[33]. Die Botschaft des sterbenden Kaisers ist dazu verdammt, niemals anzukommen, sie ist dazu verurteilt, sich in den Mäandern des «Zwischenraums» zu verlieren, zwischen den zahlreichen Höfen, Gängen, Häusern, Türen. Tatsächlich existiert bei Kafka die Di­mension der Zeit nicht. Die Abwesenheit von Zeit bringt mit sich die Un­möglichkeit der Vorstellung (Bestimmung) von Begriffen, wie zum Beispiel Entwürfen und Hoffnungen: Die Zeit des Menschen bei Kafka ist für An­ders Zeit des Überlebens. Das Gleiche gilt für den Begriff des Raums bei Kafka: ein Zwischenreich, ein Niemandsland zwischen zwei Welten, an dem die Botschaft des Kaisers haftet. So bekräftigen die wiederholten Ver­suche des Landvermessers K. (der eigentlich den Raum vermessen sollte), in das Schloss einzudringen, das ewige Exil. Kafkas Welt entlarvt sich als ein negatives Gefängnis, wie man in Anders Kafka pro und contra lesen kann: «Denn Kafka fühlt sich nicht eingesperrt, sondern ausgesperrt. Er will nicht ausbrechen, sondern einbrechen – nämlich in die Welt»[34]. Die Welt und deren pars pro toto, das Schloss, ist das absolute, unermessliche und nicht steiger­bare Mächtige. Dies ist die Situation, in die er das moderne Individuum stellt, ein Dividuum, das sich mit der Unmöglichkeit, dazuzugehören, ausein­andersetzen muss, und folglich mit der Unmöglichkeit zu sein. Daher die verzweifelte Bitte desjenigen, der nicht ist (und folglich nicht dazugehört), von der Welt akzeptiert zu werden. Anders kommentiert in der Einleitung zu Kafka. Pro und contra (jetzt in Mensch ohne Welt): «Und schliesslich erkannte ich in den Lebensversuchungen K’.s natürlich die uns Juden vertraute Be­mühung, dazuzugehören und akzeptiert zu werden»[35].

In seiner Einleitung bekennt sich Anders nicht nur zu seiner Bewunde­rung für und seiner theoretischen Schuld gegenüber Kafka, sondern belegt ihn auch mit harter Kritik, die das im Untertitel seiner Studie enthaltene «contra» rechtfertigt. In Einklang mit den Positionen von Lukács polemi­siert Anders selbst gegen die Verinnerlichung des Scheiterns bei Kafka. In der Beharrlichkeit zu widerstehen, die typisch für Kafka ist, wird die Ver­zweiflung in Apologie des Verzichts auf die Welt umgewandelt. Die Ver­zweiflung, die Anders Kafka vorwirft, spielt in seiner Welt keine Rolle[36].

Anders lädt allenfalls dazu ein, Kafka im Negativen zu lesen und als Mahnung für die Zukunft anzusehen. So kann man auf der letzten Seite der Studie lesen: «Die von ihm durchgeführte Zeichnung der Welt, wie sie nicht sein sollte; der Attitüden, die unsre nicht sein dürfen – als Warnungstafeln in unseren Seelen aufgestellt, werden von Nutzen sein»[37].

Laut Anders hat es keinen Sinn, Kafka zu verbrennen, es ist hingegen notwendig, ihn «bis zum Tode verstehen» zu lernen. Dieses Motiv gliedert sich gänzlich in den Rahmen der Abwesenheit von Schönheit in Kafkas Werk ein[38]. Für Kafka versteinert die Schönheit, die eng mit der Macht ver­bunden ist, und vor allem ist die Schönheit nicht mehr von dieser Welt, in der man mit einer notwendigerweise deformierten Form zu tun hat[39]. Mit anderen Worten hegt Anders keine Zweifel über den ästhetischen Wert von Kafkas Werk, sondern eher über dessen moralische Überzeugungskraft[40].

Mit einer Art Prophezeiung betreffend das tragische Aufeinanderfolgen der geschichtlichen Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Kafka verstanden, dass innerhalb kurzer Zeit die Kunst das Reich des Schönen hätte verlassen müssen und sich der schrecklichen Welt des Schicksals, des menschlichen Leidens hätte zuwenden müssen. Sein Brief spielt auf diese Dynamiken des Schreckens an, verneint die Zeit als Hoff­nungsfaktor, aber – daher die Kritik von Anders – er wendet dieses Be­wusstsein nicht an. Wegen dieser übertriebenen Vorsicht verdammt Kafka seine Figuren dazu, in einer Zwischenreich-, einer Grenzzone zu verblei­ben, ausgeschlossen sowohl von der «Welt von Gestern» als auch von der «Welt von Heute».

Wenn also von Anders ein endgültiges Urteil über Kafka ausgespro­chen wird, kann es folgendermaßen zusammengefasst werden: Das Werk Kafkas muss als eine Botschaft an denjenigen angesehen wer­den, der sein Werk als künstlerisch zu perfekt abgeurteilt hat. Fast 50 Jahre danach hat die Mahnung, die aus Kafkas Werk spricht, ihre Empfänger erreicht, Flaschenpost, angetrieben vom Fluss der Ge­schichte, gestrandet auf der Dürre der Barbarei und endlich gelandet auf der «Welt ohne Menschen». Doch hier befinden wir uns bereits in einem anderen Szenario, dem der Landschaft ohne Figuren (vgl. Sa­muel Beckett, und vielleicht heutzutage auch Mc Carthy mit The Road, Die Strasse, 2006). Aber dieses Szenario der «Welt ohne Menschen» entlarvt sich auch als Szenario der «Welt ohne Kunst», d.h. eine Welt, in der die Kunst keine Rolle mehr spielt.[41]



[1] Vgl. Ludger Lütkehaus, «Antiquiertheit des Menschen. Antiquiertheit der Kunst?», in Profile, 7, 11 (2004), 242-261, hier 244, und Bernhard Fetz, «Attacke von zwei Seiten. Über Dichten und Philosophieren bei Günther Anders», ebd., 242-261. Auf Italienisch vgl. Pier Paolo Portinaro, Il principio disperazione. Tre studi su Günther Anders, Torino 2003, und meine Studie: «Il mondo dell’altro ieri. Le «Note per la letteratura» di Günther Anders», in Micaela Latini und Aldo Meccariello (Hrsg.), L’uomo e la (sua) fine. Studi su Günther Stern-Anders, Trieste 2014, 183-200.

[2] ÖLA (Österreichisches Literaturarchiv), 237/04.

[3] Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, «Anders. Mensch ohne Welt», in Literatur und Kri­tik, 201-202 (1986), 371, und Ders., «Günther Anders’ «Mariechen» oder: Wie man auf dem Kissen philosophiert» [Vortrag beim Anders-Symposium im Februar 1992 am Öster­reich-Institut in Paris], in Forum, 487-492 (1994), 30-34. Vgl. auch: Walter Delabar, «Fa­bula docet. Zu den erzählenden Texten von Günther Anders und zum Roman «Die mol­lusische Katakombe»», in Zeitschrift für Germanistik, 2 (1992), 300-319.

[4] Günther Anders, «Gespräche und Erinnerungen» in Ders., Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur, Nachdr. der 2. Aufl., München 1993, 135-153.

[5] Vgl. auch B. Fetz, «Prophet, Regisseur und Stimmenimitator. Der Tagebuchsschrei­ber Günther Anders», in Austriaca, 35 (1992), 64-77, hier 66-68 und Ders., «Writing Poetry Today: Günther Anders between Literature and Philosophy», in Günter Bischof, Jason Dawsey, B. Fetz, The Life and Work of Günther Anders, Innsbruck, Wien, Bozen 2014, 119-130.

[6] Vgl. Marco Castellari, «Theaterarbeit als Experiment: Bertolt Brecht», in Raul Calzoni und Massimo Salgaro (Hrsg.), Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment, Göttingen 2010, 145-158.

[7] G. Anders, «Gespräche», a.a.O., 138.

[8] Ebd., 137.

[9] Ebd., 158.

[10] Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, II, Nachdr. der 2. Aufl., München 1980, 9.

[11] Vgl. Burghart Schmidt, «Anders versus Bloch», in Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Günther Anders kontrovers, München 1992, 49-56.

[12] Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit, a.a.O., 9.

[13] Wie bekannt, hat Anders (damals Stern) 1935 auch den Text Der letzte Roman. Ge­brauchsanweisung für Döblins Buch «Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall» ge­schrieben.

[14] Ders., «Der verwüstete Mensch. Über Welt- und Sprachlosigkeit in Döblins Berlin Alexanderplatz», in Frank Benseler (Hrsg.), Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukacs, Berlin 1965, 420-442.

[15] Christian Dries, Günther Anders, Paderborn 2009, 55.

[16] G. Anders, «Der verwüstete Mensch. Über Welt- und Sprachlosigkeit in Döblins «Berlin Alexanderplatz»», in Ders., Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur, a.a.O., 3-30, hier 7.

[17] Vgl. W. Schmidt-Dengler, «Der verwüstete Mensch. Zu Günther Anders’ Essay über Döblins Roman «Berlin Alexanderplatz»», in Raimund Bahr (Hrsg.), Urlaub von Nichts. Dokumentation des gleichnamigen Symposiums zum 100. Geburtstag von Günther An­ders im Juni 2002 in Wien, Wien 2003, 122-132, hier 127; und Andreas Oberprantacher, «The Desertification of the World: Günther Anders on «Weltlosigkeit»», in G. Bischof, J. Dawsey, B. Fetz (Hrsg.), The Life and Work of Günther Anders, a.a.O., 93-103.

[18] G. Anders, «Der verwüstete Mensch», a.a.O., 13. Man kann hier viele Ähnlichkeiten mit dem autobiographischen Text Vita 1945 erkennen (in Ders., Die Dichter und das Den­ken, a.a.O., 231-236).

[19] G. Anders, «Der verwüstete Mensch», a.a.O., 13.

[20] Vgl. Walter Benjamin, «Krisis des Romans. Zu Döblins «Berlin Alexanderplatz»» in Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1982, Bd. III, 230-236.

[21] Vgl. Simonetta Sanna, Die Quadratur des Kreises. Stadt und Wahnsinn in «Berlin Alexanderplatz» von Alfred Döblin, Frankfurt a.M. 2000, 29, und Roland Links, Alfred Döblin, Berlin 1980, 113-138.

[22] Hannah Arendt, Günther Stern, «Rilkes Duineser Elegien», in Neue Schweizer Rundschau, Wissen und Leben, 23 (1930), 855-871. Wiederabgedruckt in Ulrich Fülleborn und Manfred Engel (Hrsg.), Materialien zu Rilkes «Duineser Elegien», Bd. 2, Frankfurt a.M. 1982, 45-65. Vgl. Gerald Stieg, «Günther Anders als Deuter der Duineser Elegien. Eine Miszelle», in Austriaca 35 (1992), 159-163.

[23] H. Arendt, Günther Stern, «Rilkes Duineser Elegien», a.a.O., 51.

[24] Günther Stern (Anders), «Homeless Sculpture», in Philosophy and Phenomenologi­cal Research, 5, 2, 293-307, hier 294. Deutsche Übers. von Werner Reimann in Ders., Ob­dachlose Skulptur. Über Rodin, München 1994, 11.

[25] Anders hat Rilkes Cornet (Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, 1899) einige interessante Bemerkungen gewidmet, die nicht veröffentlicht wurden, und die mit dem Titel «Rilke Material 1947 – Zur Poetik» im Günther-Anders-Archiv vorhanden sind. Im Mittelpunkt dieses Texts stehen das Motiv der Dike sowie das Thema der «Ästhetik des Tötens». Vgl. ÖLA, 237/W36, 32 und 38.

[26] W. Schmidt-Dengler: «Ein Modell der Kafka-Rezeption: Günther Anders», in Ders. (Unter Mitw. von Georg Kranner, Hrsg.), Was bleibt von Kafka? Positionsbestimmung. Kafka-Symposium, Wien 1983-1985, 185-197.

[27] Vgl. Monika Tokarzewska, «Johannes Urzidil, Günther Anders und Gustaw Herling-Grudzinski», in Steffen Höhne, Klaus Johann und Mirek Nemek (Hrsg.), Johannes Urzidil (1896-1970). Ein «hinternationaler» Schriftsteller zwischen Böhmen und New York, Köln, Weimar, Wien 2011, 395-414.

[28] G. Anders, «Kafka. Pro und Contra», in Ders., Mensch ohne Welt, a.a.O., 45-131, hier 57.

[29] G. Anders, «Learsi», in Ders., Erzählungen, Frankfurt a.M. 1978, 96-189.

[30] G. Anders, «Kafka. Pro und Contra», a.a.O., 57.

[31] Ebd., 47-72.

[32] Anders betont, wie sowohl Brecht als auch Kafka auf unterschiedlichen Wegen be­schlossen, eine nichtdichterische Sprache zu schaffen, die Alltagssprache von den falschen Flittern zu säubern, von denen sie übersät ist. Zu diesem Zweck wählte Kafka einen büro­kratischen, Brecht einen zynischen Ton (Vgl. G. Anders, Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung, Göttingen 1992, 15-16).

[33] Vgl. Johann Holzner, «Bemerkungen zu Kafka und Günther Anders», in Herbert Alt, Manfred Diersch, Sein und Schein – Traum und Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1994, 28-39.

[34] G. Anders, Kafka, Pro und contra, a.a.O., 70.

[35] G. Anders, Mensch ohne Welt, a.a.O., Einleitung, XXXII.

[36] Daher die Kritik, die Max Brod an Anders übt (vgl. M. Brod, Über Kafka, Frankfurt a.M. 1989, 375-387).

[37] Ebd., 122, sowie auch G. Anders, Kafka. Pro und contra, a.a.O., 101.

[38] Wie Anders in seiner Rezension mit dem Titel «Der «Tod des Vergil» und die Diag­nose seiner Krankheit» (1965) betont, wollte der lateinische Dichter in Brochs Roman die Äneis nicht verbrennen, weil sie zu unvollkommen war, sondern im Gegenteil, weil sie zu schön war.

[39] G. Anders, Kafka, a.a.O., 93. Vgl. dazu B. Fetz, Das unmögliche Ganze. Zur litera­rischen Kritik der Kultur, München 2009, 23-31, hier 25.

[40] Stephen D. Dowde, Kafka’s Castle and the Critical Imagination, Columbia 1995, insb. «Kafka in the Weimar Era», 18.

[41] Das Theater Becketts hat Anders in einem ausführlichen Buchteil mit dem Titel «Sein ohne Zeit» behandelt (G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., 213-231).

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Vanessa Hannesschläger u. Wolfgang Ulrich Dressler

(Wien)

Poetische Brücken über sprachliche Lücken
Kompositabildung und Gapping in Peter Handkes «Bildverlust»
und «Kali» analysiert mit corpuslinguistischen Methoden

[Poetic Bridges over Language Gaps. Compound Creation and Gapping in Peter Handke’s «Crossing the Sierra de Gredos» and «Kali» Analyzed with Corpus Linguistics Methods]

abstract. This paper investigates creative word formation and especially the word for­mation method of gapping in Peter Handke’s literature by employing corpus linguistic methods. His novel Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002; transl. Crossing the Sierra de Gredos, 2007) is investigated as an exemplary work of the author’s late creative development and compared to the novella Kali. Eine Vorwintergeschichte (2007) in order to test the findings. The linguistic analysis is framed and contextualized with a literary criti­cism approach, thus offering new perspectives for both disciplines.

Dieser Aufsatz untersucht mit corpuslinguistischen Methoden kreative Wortbildung und besonders das Wortbildungsverfahren des Gapping in der Literatur Peter Handkes. Als exemplarisches Werk für die spätere Schaf­fensphase des Schriftstellers wird dazu vor allem der Roman Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002), als Prüfgröße aber auch Kali. Eine Vor­wintergeschichte (2007) zur Analyse herangezogen. Einleitend werden aus lite­raturwissenschaftlicher Perspektive die beiden großen Werkphasen und die Poetik Handkes umrissen und die Stellung des Romans im Gesamtwerk er­örtert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Handkes Umgang mit gram­matikalischen und lexikalischen Möglichkeiten, die die deutsche Sprache bietet. Darauf folgt eine linguistische Detailanalyse, die die Wortbildungs- und Gapping-Verfahren, die Handke anwendet, offenlegt. Anhand des Pe­ter Handke-Corpus, den das Academy Corporae-Institut (AC) der Österreichi­schen Akademie der Wissenschaften erstellt hat, wird die Repräsentativität der analysierten linguistischen Verfahren für den Gesamttext überprüft. Abschließend werden die Ergebnisse der (corpus-)linguistischen Untersu­chung zusammengefasst und poetologisch kontextualisiert.

1. Literaturwissenschaftliche Standortbestimmung

Peter Handkes Poetik hat sich seit den 1980er Jahren konsequent dem Prinzip der Klassik und der Darstellung des Schönen mit den Mitteln der Sprache zugewandt (Höller 2013). Die «Wende zum Klassischen» (Ebd., 84ff.) folgte auf Handkes große Schreibkrise rund um die Arbeit an Lang­same Heimkehr (1979). Die in der Folge entstandenen Werke erwachsen aus einem Welt- und Literaturverständnis, das jenem der früher entstandenen Texte nicht widerspricht, sondern es vielmehr um eine positive Kehrseite ergänzt. Das Ziel ist dabei, «im Schreiben die Verbindung […] zu den heute lebenden Menschen aufzunehmen» (Höller 2013, 37).

Die poetischen Verfahren Handkes vor seiner “Wende” waren vor allem von dem Willen geprägt, die «regulierende Macht der Sprache» (Buddeke, Hienger, 1971, 553) ins Bewusstsein zu holen und die hohlen Phrasen als Weltwahrnehmungsverhinderer zu demaskieren. Seine Phrasenkritik wird vor allem in den Bühnentexten, etwa den Sprechstücken (1966) ebenso wie Kaspar (1968), besonders deutlich. Dabei ist wesentlich, dass Handkes «Sprachkritik […] nach seiner eigenen fraglosen Überzeugung immer auch Gesellschaftskritik impliziert, weil die uns determinierende Sprache ihrer­seits gesellschaftlich determiniert»[1] ist. Die “Wende zum Klassischen” und damit einhergehend zur Schönheit dreht dieses Verständnis von Sprache und die entsprechende Arbeit mit ihr jedoch ins Positive. Im Vordergrund steht nicht mehr die oft zum Negativen instrumentalisierte Macht der Spra­che, sondern das Potential zur Erschaffung von Wirklichkeiten in der Lite­ratur, das die Sprache, wie sie ist, in sich trägt. Die Möglichkeiten von neuen Realitätsräumen, die ihre Wörter und Strukturen eröffnen, stehen nunmehr im Zentrum von Handkes poetischem Weltverständnis.

Im Rahmen der “Jugoslawien-Debatte” um Handkes poetische Reakti­onen auf die Kriege im Balkan-Raum in den 1990er Jahren wurde diese po­etologische Mission des Schriftstellers von kritischen Stimmen oft überse­hen. Mit dem monumentalen Werk Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gre­dos (2002) schuf Handke einen Roman, der als andere Antwort auf die Aus­einandersetzungen um seine Thematisierung des Zerfalls des Südslawen­staates gelesen werden kann. Anders als in den zahlreichen Texten, in denen er sich dem Thema inhaltlich widmete, kann der Bildverlust als poetologische Stellungnahme zum feuilletonistischen Unverständnis der Jugoslawien-Texte interpretiert werden. Allein mit den Mitteln der Sprache werden Wirklichkeitsebenen (wobei der Traum-Charakter des Texts Wirklichkeit keineswegs ausschließt) dargestellt, geschaffen und verschränkt. Es geht da­rum, die Sprache nicht zu biegen oder zu erweitern, sondern ihre Möglich­keiten zu finden und auszuschöpfen.

Eine dieser Möglichkeiten hatte Handke Jahre früher bei Columella ent­deckt. Der Erzählung Die Wiederholung (1986) stellte er das aus Columellas De re rustica entnommene Motto laboraverimus voran («wir werden gearbeitet haben»; Schmidt-Dengler, 2006). Neben dem inhaltlichen Bezug zum Land­bau, der in der Wiederholung eine bedeutende Rolle spielt, ist dieses Motto vor allem den syntaktischen Möglichkeiten zu verdanken, die das Futurum Exactum eröffnet. Eines der Motti des Bildverlusts spielt ebenfalls mit den Möglichkeiten zur mehrdeutigen Weltbeschreibung, die die deutsche Syn­tax erlaubt:

Du wirst gehen
zurückkehren                 nicht
sterben
im Krieg

Denselben Wortlaut hatte das Motto von Handkes erstem Werk Die Hor­nissen (1966), wobei dort ein einziger Zeilenbruch die Worte voneinander trennte:

DU WIRST GEHEN
ZURÜCKKEHREN NICHT STERBEN IM KRIEG
                                                (vgl. Hafner 2008, 81f.)

Mit dieser Wiederholung spannte Handke den Bogen von Der Bildverlust zurück zu seinem Erstling, der wiederum motivisch und kontextuell in en­ger Verbindung zur Wiederholung steht. Dabei bleibt er im Rahmen der Mög­lichkeiten, die die Sprache vorgibt und erzeugt die Ambiguität allein durch den Satz des Texts und den Verzicht auf Satzzeichen.

Die Mehrdeutigkeit dient in Handkes poetischem Verständnis nicht zur Verwirrung der Lesenden, sondern dazu, ein erweitertes Möglichkeitsspekt­rum sichtbar zu machen. Das angesprochene Du des Mottos muss nicht entweder «zurückkehren, nicht sterben» oder «zurückkehren nicht, [son­dern] sterben»; die Literatur erlaubt, beide Möglichkeiten nebeneinander Wirklichkeit sein zu lassen. Dazwischen entsteht, in 40-jährigem Abstand, im Satz des Mottos ein Spalt – dieser ist aber keineswegs nur eine «leere Mitte, in der sich die abwesenden Anderen befinden» (Hafner 2008, 82), sondern vielmehr der Möglichkeitsraum, in dem ein ganzes Spektrum von weiteren Bedeutungsoptionen steht. Hans Höller spricht diesbezüglich von «Handkes Weigerung, den Sinn eindeutig festzulegen und so abgeschlos­sene Begriffsysteme zu schaffen» und seiner «Poetik einer Sprache, die grammatisch und semantisch Öffnungen erschafft»[2].

Als zweiter Text wird in diesem Aufsatz die “Vorwintergeschichte” Kali als Untersuchungsgegenstand herangezogen. Der Bildverlust und Kali eignen sich für die Zusammenschau aus mehreren Gründen gut: Die Texte stam­men beide aus der jüngeren Schaffensphase des Autors, die Gegenprüfung von anhand des umfangreichen Bildverlusts angestellten Überlegungen an ei­nem kurzen Text erlaubt Erkenntnisse über die Unterschiede und Gemein­samkeiten, die erklären können, dass Prosa in Handkes Poetik nicht gleich Prosa ist. Während der Bildverlust ein deutlich der Langform Epos naheste­hende Arbeit ist, ist Kali (wenngleich ebenfalls Handkes epischem Erzähl­duktus entsprechend) im Vergleich verknappter und verdichteter und ent­spricht eher der Gattung der Novelle. Aufschlussreich ist, dass der Bildver­lust, der von einer Selbstsuche erzählt (wie etwa auch die Odyssee), wesentlich mehr Raum einnimmt als die Liebesgeschichte Kali. Es lässt sich im Kon­text von Handkes Gesamtwerk argumentieren, dass Texte, die die Liebe zum Gegenstand haben, meist in literarischen Kleinformen verhandelt wer­den (zum Beispiel auch im “Sommerdialog” Die schönen Tage von Aranjuez, 2012, oder in Der kurze Brief zum langen Abschied, 1972), während Texte, die die Auseinandersetzung ihrer Protagonisten mit dem eigenen Selbst zum zentralen Gegenstand haben, meist mit langem epischem Atem erzählt wer­den (zum Beispiel in Langsame Heimkehr, 1979, Der große Fall, 2011, oder dem epischen Drama Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Land­straße, 2015). Eine gemeinsame Betrachtung von Kali und Der Bildverlust bie­tet sich schließlich auch deshalb an, weil in beiden Texten Wirtschaft und Ökonomie von Bedeutung sind (das ist im Bildverlust offenkundig, bei Kali erlauben vor allem auch die Werkmaterialien Handkes diesen Rückschluss; vgl. Kastberger 2009, besonders 151f.).

Sprachlichen Charakteristika Handkes haben sich nur wenige gewidmet, so einigen wenigen isolierten syntaktischen Erscheinungen (zum Beispiel Federmair 2009, welcher eingangs eine Wende zur Klassik ab Langsame Heimkehr hervorhebt, und umfassender Eisenhut 2008).

2 Methode

Dieser Beitrag untersucht und beschreibt die Verfahren des Gappings und der Wortbildung in den beiden genannten Texten Handkes und disku­tiert ausgewählte Beispiele aus den corpuslinguistisch erhobenen Gesamt­beispielen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden sodann literaturwissen­schaftlich betrachtet und auf Handkes Poetik bezogen kontextualisiert. Die Sammlung der Beispiele der verschiedenen behandelten lingusitischen Phä­nomene stützt sich auf Ergebnisse, die aus dem Handke-Corpus des Acade­miae Corpora-Instituts (AC) der Österreichischen Akademie der Wissenschaf­ten gewonnen werden konnten[3]. Für das Handke-Corpus liegen detaillierte Metadaten vor, wie Werktitel, Erscheinungsjahr, Verlag, etc. Ebenso ist das gesamte Corpus automatisch linguistisch annotiert, d.h. mit morphosyntak­tischen Informationen versehen und lemmatisiert. Zur Identifikation der Wortklassen wurde das Tool TreeTagger eingesetzt, das die Daten mit dem STTS (Stuttgart Tübingen Tagset) annotiert.

In diesem Datenbestand wurde die absolute Frequenz der darin vorkom­menden Okkasionalismen und Gappingverfahren erhoben. Die Überprü­fung der Geläufigkeit der Formulierungen, die beispielhaft vorgenommen wurde, wurde mittels string-search in Google vorgenommen und stützt sich damit auf das umfangreichste digitale Corpus deutschsprachiger Texte der Welt.

3 Linguistische Analyse

3.1 Wortbildungsverfahren und Okkasionalismen

Ein besonders klar darstellbarer Aspekt der sprachlichen Kreativität ei­nes Schriftstellers liegt in seiner Wortbildung, und zwar in der Schöpfung von Okkasionalismen. Okkasionalismen (vgl. Christofidou 1994) sind für ein Textstück ad hoc gebildete Komposita (z.B. Wildgen 1982, Boase 1987) oder Derivationen. Es handelt sich um Neubildungen von Wörtern, welche deren Autoren für eine einmalige Verwendung in einem Text erfinden, aber nicht um Anerkennung und Weiterverwendung in der Sprachgemeinschaft zu erreichen, wodurch sie zu Neologismen werden können. Sie haben daher wenig Chance, nochmals verwendet zu werden, weder durch denselben Au­tor noch durch andere (es sei denn als Zitat). Rekurrente Okkasionalismen sind normalerweise auf denselben Text beschränkt und dienen der Charak­terisierung einer Person oder eines Objekts, z.B. das mehrmals verwendete Kompositum Stadtrand+idiot in Handkes Bildverlust. Wir beschränken uns in dieser Studie auf den Normalfall von konkatenativ entstandenen Okkasio­nalismen und geben mit dem Pluszeichen an, wo die Grenze bei der Zu­sammensetzung geläufiger lexikalischer bzw. morphologischer Bestandteile liegt.

Okkasionalismen sind daher diachron gesehen neue Wortbildungen, aber synchron sind sie im Wesentlichen mit aktuell und früher existierenden morphologisch abgeleiteten Wörtern vergleichbar, außer dass sich unter den Okkasionalismen viel häufiger ungrammatische, also illegale Wortbil­dungen befinden können, wie Arno Schmidts Wolk+in (Feminina dürfen mit dem Motionssuffix -in nur von belebten Maskulina abgeleitet werden).

Solch ungrammatische Okkasionalismen repräsentieren den höchsten Grad an Kühnheit im Rahmen der poetischen Lizenz (Dressler 1983, 2007b). Diese Art von Neubildung ist bei Handke sehr selten, in den beiden untersuchten Texten nur Studentin+zimmer (Bildverlust p. 13 in einer Gap­pingkonstruktion, s.u.) statt potenziellem Studentinnen+zimmer; sowie Ein­dringling+in (Kali p. 99).

Die weiteren Grade der Kühnheit von Neubildungen sind umgekehrt proportional mit dem Grad der Produktivität korreliert. Denn je produkti­ver eine Wortbildungsregel ist, desto weniger kühn ist ein mit Hilfe dieser Regel gebildeter Okkasionalismus. Morphologische Produktivität einer Re­gel kann mit Schultink (1961, 113) als die Möglichkeit für Sprachbenutzer, ohne bewusste Absicht eine im Prinzip unzählbare Reihe von neuen Wör­tern oder Wortformen nach derselben Regel zu bilden, definiert werden. Am produktivsten sind dabei Regeln, welche auch auf rezente Fremdwörter angewendet werden können (vgl. Dressler 2007a), wie die Kompositabil­dung ohne Fugenelement (Interfix), z.B. in Handkes Computer+diktatur (Bildverlust p. 96).

Dass Handke überhaupt rezente Fremdwörter selten verwendet, und da­her auch aus solchen gebildete Neubildungen, hat mit seiner poetischen Perspektive und seiner Arbeit an einer “neuen Klassik” zu tun. Handkes Poetik des Schauens, Anschauens und Wahrnehmens verknüpft seine Texte notwendig mit der Biographie und Erfahrungswelt des Autors, weil er nur über das schreiben kann, was er selbst wahrnimmt bzw. -genommen hat. Da Gegenstände wie z.B. Computer kaum in Handkes unmittelbarem Wahrnehmungsbereich vorkommen, finden sich die sie bezeichnenden Be­griffe auch selten in seinen Texten. Überdies vermeidet er (großteils, aber nicht per se, s.u.) die von Beginn seines Schreibens an in der Kritik stehenden Phrasen und phrasenhaften Wörter, geht also mit alltagssprachlichen Kon­ventionen vorsichtig um.

Noch kühner sind Okkasionalismen, die mit unproduktiven Wortbil-dungsregeln gebildet sind, so z.B. die Serie von Neubildungen, wie Schlaf und Aberschlaf, Tod und Abertod in Hermann Brochs Der Tod des Vergil, welche in Analogie zu dem unproduktiven Muster hunderte und aberhunderte kreiert worden sind (vgl. Dressler 2007b).

Handke bildet zwar sehr viele Okkasionalismen, aber so gut wie alle mit völlig produktiven Wortbildungsregeln. Damit schließt er an die klassische deutsche Literatur an. Der einzige nach unproduktiven Mustern gebildete Okkasionalismus, den wir in den beiden hier analysierten Handke-Texten gefunden haben, ist die Zusammensetzung der Zeitadverbien damals-jetzt (Bildverlust p. 100). Das ist insofern bezeichnend, als die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart in Handkes Texten immer wieder eine zent­rale Rolle spielt (zum Beispiel in Die Wiederholung) und den Traumcharakter der in seinen Texten erzählten Geschichten unterstreicht (vgl. etwa die Zeit­angabe am Beginn des Stücks Immer noch Sturm: Jetzt, im Mittelalter, oder wann. p. 7).

Das Deutsche ist eine eher kompositionelle Sprache, so wie die meisten germanischen Sprachen, im Gegensatz zu den eher derivationellen romani­schen und slawischen Sprachen. Dieses Charakteristikum übererfüllt Handke insofern, als er fast nur kompositionelle Okkasionalismen bildet. Ausnah­men sind z.B.: vorbei+röhrten (Bildverlust p. 55); zickzackten (ebd. p. 68); zelt­stadt+haft (ebd. p. 70); unter+schlupft (ebd. p. 93); weg+geschmettert (ebd. p. 102); taumel+ig (ebd. p. 118). Das mag angesichts von Handkes intensiver Beschäftigung mit südslawischen Sprachen und der häufigen Verwendung slowenischer und – wie Handke selbst sagen würde – serbokroatischer Wörter in seinen Texten überraschen.

Auch darin folgt Handke der Normalität der deutschen Sprache, dass seine neu gebildeten Komposita hauptsächlich zweigliedrig sind. Okkasio­nalistische Mehrfach-Satzkomposita wie Bankartikelfachmann (Bildverlust p. 20), Bruchsekundenbild (ebd. p. 21), «Finanzfürstin»-Existenz (ebd. p. 22) oder Satz- bzw. Phrasenkomposita wie Nichtmehrvorhandenen, Niewiederzurückrufba­ren (ebd. p. 10), Fließwasserschwarz-Wechseln (ebd. p. 64) sind viel seltener.

Im Unterschied zu Nestroys okkasionalistischen Komposita, welche ei­nen Teil ihrer Wirkung daraus erzielen (Tumfart & Dressler 2016), dass die Kombination der beiden Teile eines prototypisch zweigliedrigen Komposi­tums überraschend ist (wie etwa in Liebes+mathematiker in Der Zerrissene), sind Handkes Neubildungen in Analogie zu einer Serie ähnlicher Kombi­nationen gebildet. In Gegenüberstellung zu Nestroy zeigt sich somit, dass Handke nicht auf Pointen abzielt (wenngleich seine Texte von einem oft verkannten, komplexen Humor geprägt sind).

Ein weiterer Unterschied zu Nestroy besteht dabei auch darin, dass so-wohl Erstglied als auch Zweitglied eines Kompositums eine beträchtliche Familiengröße haben (cf. Tumfart & Dressler 2016, allgemein: Bertram et al. 2000, Hay & Baayen 2001, Mulder 2014), d.h. dass sowohl das Erstglied in vielen anderen Komposita als Erstglied vorkommt als auch das Zweit­glied in vielen anderen Komposita als Zweitglied. Auch mit diesen beiden verwandten Eigenschaften stellt sich Handke in die klassische Tradition der deutschen Literatur.

Schließlich folgt Handke der klassischen poetischen Tradition auch in der kotextuellen Vorbereitung von Okkasionalismen, wie etwa in Kälte, ein Parfüm so frisch wie nur je eines, und dieses Kälte+parfüm (Bildverlust p. 86), die falsche Wärme. Eine an+getrimmte Wärme. (Kali p. 14), Dann folgt das Kind ihrem Blick […] Könnte auch ich so ihrem Blick folgen? Ist das jetzt ein beiderseitiger Kom­plizen+blick? (ebd. p. 18), von Schlafenden und Halb+schlafenden (ebd. p. 32).

Gewöhnlich ist die kotextuelle Motivierung in unmittelbarer Nachbar­schaft, wie in allen bisherigen Beispielen, selten erfolgt sie in Distanz, so in: Neu+leute (Bildverlust p. 46; motiviert durch Neubevölkerung p. 44), Nasen­blut+tuch (ebd. p. 53; nach aus der Nase geblutet […] weißen Taschentuch p. 52).

Selten wird ein Okkasionalismus durch den folgenden Kotext motiviert, wie in nach einer kleinen Gruß+zeit auch wieder grußlos (ebd. p. 45), das Vier+rad neben dem Dreirad neben dem Zweirad (ebd. p. 80).

Eine später erfolgende Motivation aus Distanz ist natürlich unmöglich, was der bekannten Asymmetrie zwischen anaphorischen und kataphori­schen Beziehungen entspricht.

Die Einbettung in den Kotext kann auch zu Parallelismen von Okkasio­nalismen führen, wie in Die zauberische Montags+leere, Wochenanfangs+leere (ebd. p. 64), das Aussehen von überdimensionalen Käfigen hatten, Spiel-Käfigen, Schein+kä­fig+ruten (ebd. p. 68), In meiner Kinder+gegend. Oder nein, in der Nachbargegend. In der Gegend gleich nebenan, hinter dem Kindheits+fluß, hinter dem Kindheits+see, hinter dem Kindheits+hügel. In der Gegend hinter meiner Gegend. (Kali p. 30).

Diese Beispiele illustrieren, dass sich Handkes poetische Beschäftigung mit der Wiederholung auch auf Ebene der linguistischen Wortbildungsver­fahren zeigt (Eisenhut 2008). Wir stimmen somit der Analyse zu, dass «auf der textsemantischen Ebene» die Wiederholung «als strukturierende und vernetzende Instanz im Text» funktionalisiert wird (ebd. 67).

Wenn ein Okkasionalismus nicht durch den Kotext mitbedingt ist, so kann er auch in Analogie zu einer ganz ähnlich klingenden und analog ge­bauten existierenden Wortbildung kreiert sein (vgl. dazu allgemein Mattiello 2016), so in ihrer erd+umspinnenden Legende (Bildverlust p. 16; Analogie zu erd­umspannend) und laufen quer+wald+ein (ebd. p. 52; analog zu querfeldein).

Bei beiden Beispielen liegt die Motivation zwar mehr in der paradigma­tischen Analogie zu einem im Kotext nicht vorkommenden Wort als in der Konkatenation selbst, nichtsdestoweniger können wir die existierenden le­xikalischen bzw. morphologischen Bestandteile mit dem Pluszeichen ein­deutig abgrenzen.

Als vorläufiges Fazit kann man an dieser Stelle festhalten, dass die Wort­bildungsverfahren, die Handke anwendet, seiner Poetik entsprechen. Kon­sequent behandelt er die Sprache analog zur Welt: Gegenstand seines Inte­resses ist nicht der Einzelfall, der im außergewöhnlichen Ereignis liegt, son­dern die Schönheit und Besonderheit des Allgemeinen, die Einzellfallhaf­tigkeit alles Alltäglichen. Bei Handke liegt die sprachliche Kunstfertigkeit nicht in der Übertretung von Normen, sondern darin, ihnen zu entsprechen und innerhalb ihrer Regeln das Neue und Besondere zu entdecken.

3.2 Gapping

3.2.1 Morphologie

Wodurch Handke aber in der okkasionalistischen Wortbildung hervor­sticht, ist seine Vorliebe für die aus einer Interaktion von Syntax und Wort­bildung bestehenden Gapping-Konstruktion, besonders im Bildverlust, wo wir 350 Okkurrenzen gezählt haben, viel weniger in Kali (30 Okkurrenzen). Das ist auch proportional zur jeweiligen Textlänge wesentlich weniger: Für Kali lassen sich demnach 0,19 Okkurrenzen pro Buchseite zählen, für den Bildverlust mit 0,46 Okkurrenzen mehr als doppelt so viele. Gapping (Booij 1985, 2002, Hartmann 2000, Bauer 2014, Wälchli 2015) wie in prototypi­schen Repräsentanten der Form Haupt- und Staats+zeiten (Bildverlust p. 27) besteht in der Verbindung zweier (oder viel seltener mehrerer) gleichgebau­ter Wortbildungen, bei denen das gleich bleibende Glied zunächst wegge­lassen wird und nur beim letzten komplexen Wort beibehalten wird. Gap­ping wird auch als Kompositumskoordinationskürzung bezeichnet, ein Ter­minus, der aber für die seltenen derivationsmorphologischen Gappingkon­struktionen nicht zutrifft, z.B. vor- und zurück+rumpelnden (Kali p. 118), vater- und mutter+loses Kind (ebd. p. 59).

Gehen wir zunächst näher auf den morphologischen Aspekt der Gap­pingkonstruktionen ein: Die Kürzung erfolgt fast immer nur in Vorgänger­komposita, nicht im letzten Kompositum der Gappingkonstruktion, d.h. in einem formelhaften Schema ausgedrückt vorwiegend X- & YZ mit Kür­zung von identischem Z im Erstkompositum, z.B. Dorf- oder Kleinstadt+be­wohner (Bildverlust p. 18; zur Verbindung der Komposita, hier angedeutet durch &, mehr im folgenden Syntaxteil).

Das auch im allgemeinen viel seltenere Gappingschema XY & -Z (mit Kürzung von X im Letztglied) verwendet Handke fast nie, so ein einziges Mal in Kali: Reitstiefel und -hosen (p. 40). Einige Beispiele aus dem Bildverlust: Baumblättern und -nadeln (p. 30), hierhergewanderten und -geflüchteten (p. 37; ein Gapping, welches in mündlicher Sprache, weil semantisch nicht rekonstru­ierbar, unmöglich wäre), Volkslieder und -tänze (p. 49), mittelgroßen oder -kleinen (p. 147), Winzigfische und -frösche (p. 69), herbeigelaufen, -gerannt (p. 157). Diese Asymmetrie ist erstens dadurch erklärbar, dass bei der Sprachverarbeitung erstens das in Komposita rechts befindliche Haupt (E. head) des Kompo­situms leichter rekonstruierbar ist als das links befindliche Nichthaupt, wel­ches auch für die Etablierung von Textkohärenz wichtiger ist (Dressler & Mörth 2012), und zweitens, weil in mündlicher Sprache der Bindestrich nach dem Erstglied (aber nicht der Bindestrich vor dem Zweitglied) eine prosodische Entsprechung hat.

Die wesentlich häufigere Anwendung des geläufigeren Schemas bei Handke unterstützt die bereits in Bezug auf seine Kompositabildungsver­fahren formulierte These, dass der Autor nicht darauf abzielt, die (legalen) Möglichkeiten der Sprache zu erweitern oder zu überschreiten, sondern vielmehr zu zeigen versucht, dass eine neue, andere, poetische und manch­mal traumhafte Weltwahrnehmung und -(re)konstruktion in der Literatur auch innerhalb der von der Sprache zur Verfügung gestellten Möglichkeiten erreichbar ist.

3.2.2 Syntax

Wenn wir nun zur Syntax der Gappingkonstruktionen übergehen, so stellt sich zunächst die Frage: Was ist okkasionalistisch?

A) nur die Verbindung zweier existierender komplexer Wörter samt Gap­ping, wie im genannten Beispiel Reitstiefel und -hosen (Kali p. 40);

B) die Verbindung zweier komplexer Wörter selbst: Hier wäre eine corpus­linguistische Suche, ob in einem elektronischen Textcorpus Reitstiefel und Reithosen miteinander in einer Phrase verbunden wäre, für sämtli­che verhandelte Beispiele zu aufwändig, weshalb wir eine solche Unter­suchung späteren Studien überlassen;

C) (als Teilmenge von A) ein Teil der Gappingkonstruktion ist auch ein ok­kasionalistisches Kompositum.

ad A)

Ein Abgleich im elektronischen Handke-Corpus hat ergeben, dass nur sieben der Gappingkonstruktionen im Bildverlust auch in anderen Texten Handkes vorkommen und dass diese ganz geläufige Gappingkonstruktio­nen der Alltagssprache sind, nämlich: Ein- und Ausatmen (Bildverlust p. 83; p. 720), linker- und rechterhand (ebd. p. 523), Kreuz- und Quergehen (ebd. p. 569; p. 658), Tag- und Nachtgleiche (ebd. p. 586), Vater- und Mutterland (ebd. p. 599), Obst- und Gemüsekisten (ebd. p. 704), Berg- und Talbahn (ebd. p. 709). Dasselbe gilt für das einzige Beispiel in Kali: Vor- und Nachteile (p. 91). Sämtliche dieser Formulierungen sind, wie eine Überprüfung mittels Google string-search ergeben hat, geläufige Phrasen. So zeigt sich, dass Handkes Poetik nach der Krise Phrasen durchaus zulässt, wobei diese immer gezielt eingesetzt wer­den. Als Beispiel dafür unterziehen wir an dieser Stelle eine der genannten Mehrfachokkurrenzen einer genaueren Analyse.

Die Geläufigkeit dieser Gappingkonstruktionen lässt zwar naheliegend erscheinen, dass sie mehrfach vorkommen; wie exakt und gezielt Handke dennoch auch solch alltagssprachliche Wendungen einsetzt und in welch enger Verbindung auch die allgemeinen Wendungen zu seiner Poetik ste­hen, zeigt sich daran, wo die Formulierungen noch auftauchen. Als Beispiel sei hier das Vater- und Mutterland herausgegriffen: die zweite Okkurrenz die­ser Formulierung findet sich in Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999; p. 51). In zeitlicher Nähe zum Bildverlust entstanden verhan­delt dieser Bühnentext, wie auch der Bildverlust auf ganz eigene Weise, die “Jugoslawien-Thematik”. Sein Verhältnis zum südslawischen Raum leitet sich Handke biographisch über die Herkunft seiner kärntnerslowenischen Mutter her (vgl. Hannesschläger 2013, Weller 2011), während Krieg rheto­risch traditionell mit einem “Vaterland” in Verbindung steht; so setzt Handke diese Formulierung gezielt und bewusst an Stellen und in Texten, an und in denen sich diese Elemente treffen. Wie eine Gegenprüfung mit­tels Google string-search zeigt, kommt die Formulierung Vater- und Mutter­land in literarischen Texten vor und in oft politisch fragwürdigen Texten über Heimatverbundenheit. Der Einsatz der Formulierung dient also bei Handke dem Ziel, sie von politischen Konnotationen zu befreien; dies ist auch für Handkes Einsatz des Begriffs Heil festgestellt worden (Dronske 2013).

Die genannten acht Fälle sind etwas mehr als 1% der Gappingkonstruk­tionen in beiden Texten. Auch dies beweist, dass Handke okkasionalistische Gappingkonstruktionen genau für eine einzige Textstelle plant. Das ver­wundert nicht, wenn man bedenkt, dass Handke nach Genauigkeit (wenn auch nicht im Sinne von Präzision, sondern von Sensibilität) trachtet; die Worte, die in seinen Texten zu lesen sind, wählt und setzt er bewusst und aufmerksam, Verfahren der Weltbeschreibung werden kaum wiederholt, weil Wahrnehmung momentgebunden und kaum exakt wiederholbar sei. Auch andere Beispiele von Gappingkonstruktionen im Bildverlust, die auch in anderen Texten vorkommen, sind insofern ebenfalls andernorts in Hand­kes Werk zu erwarten, weil sie Hauptthemen seiner Poetik behandeln: das Ein- und Ausatmen als Repräsentation von Rhythmus, das Jäger- und Sammler­tum als Repräsentation des in-der-Natur-Seins und das Kreuz- und Quergehen, dass die poetische Grundkonstante Handkes, das nicht zielgerichtete zu-Fuß-Gehen (vgl. z.B. Steinfeld 2012), repräsentiert (ein Element der Poetik, das Handke – bei aller sonstiger Differenz – mit Thomas Bernhard gemein­sam hat).

Allerdings befinden sich unter den von Handke nur ein einziges Mal ver­wendeten Gappingkonstruktionen auch ganz geläufige wie Berg- und Tal+landschaft (Bildverlust p. 29). Auch das scheint, an obige Ausführungen anschließend, nicht überraschend: In der allgemeinen Sprache geläufige Formulierungen können im Kontext einer Poetik der Genauigkeit durchaus vorkommen und demnach situationsgebunden “wahr” sein, aber auf keine weitere wahrgenommene und literarisch verarbeitete Situation zutreffen.

ad C)

Okkasionalistische Komposita kommen in allen formalen Gappingtypen vor, so im Typ XY & -Z in eher Gesellschaftsunfähige oder eher -unwillige (Bildver­lust p. 17), Winzig+fische und -frösche (ebd. p. 69), Werkkompanie oder -truppe (ebd. p. 72), torbreites und -dickes (ebd. p. 97). Beim Typ X- & YZ stehen die Okkasionalismen am häufigsten an zweiter Stelle, d.h. sind als solche expli­zit zu erkennen, z.B. im Bildverlust in den Haupt- und Staats+zeiten (ebd. p. 27), zwischen zwei welt- wie geldbedeutenden Flüssen (ebd. p. 47), Abfahrts- und Rück­kehr+stunde (ebd. p. 96), Solches Undeutlich- und Irgendwer-Werden (ebd. p. 98), in dem schweiß- und speichel+dampfenden Verschlag (ebd. p. 118). Von den fünf Okkurrenzen in Kali seien genannt: wenn nicht tag- so fast bühnen+hell (p. 10), in die Weide- und Wasser+land+weite (ebd. p. 152). Beispiele aus der selteneren Erstposition des Okkasionalismus (kein Beispiel in Kali) sind im Bildverlust ihre Wege- und Unternehmungslust (p. 88), vater- und mutterseelenallein (ebd. p. 221, welches eine volksetymologische Verbalhornung sowie Teilübersetzung von Frz. moi toute seule ist). Okkasionalismen in beiden komplexen Wörtern der Gappingkonstruktion sind wieder häufiger, so im Bildverlust der Grund- oder eher Untergrundzug (ebd. p. 20, wobei der Begriff Untergrundzug reseman­tisiert wird und nicht mehr eine U-Bahn, sondern eine verborgen zugrun­deliegende Eigenschaft meint), so etwas wie eine Vor- oder Nachkriegs+stille (ebd. p. 36), Die Winter-, die Januar-Reisende (ebd. p. 80), Sierra- und Mancha-wärts (ebd. p. 209). Das einzige Beispiel in Kali ist an den Meeres- und Wüs-ten+reklamen (p. 19). Ein ungekürzter Okkasionalismus ist klarerweise leich­ter verständlich als ein gekürzter. Handke erleichtert daher öfter das Ver­ständnis gekürzter Okkasionalismen in Erstposition bzw. in beiden Positi­onen durch Bindestrichsetzung oder Formulierungen wie so etwas wie (Bild­verlust p. 36).

Wie zu erwarten ist die Gappinggruppe fast immer zweigliedrig, so im­mer beim Schema XY & -Z. Daher gibt es kein Gapping in der Aufzählung Eine Kochmütze. Ein Kochhalstuch. Eine Kochschürze. Ein Kochknieschutz. Kochpan­toffeln aus Lindenholz (Bildverlust p. 126). Die Hervorhebung der Kochutensi­lien und die Wiederholung des ersten Elements weisen an dieser Stelle be­reits voraus auf die baldige Ankunft der Heldin auf dem Schloss, wo sie den Abend mit dem Hausherrn und Koch (p. 158) verbringen wird und auch selbst in der Küche anwesend ist. Eine Gappingkonstruktion in der Form “Eine Kochmütze, -halstuch, -schürze, etc.” würde an dieser Stelle nicht densel­ben Effekt erzielen, da Handke auf die Besonderheit der einzelnen Gegen­stände hinweist, deren gemeinsamen Bereich er dabei gleichzeitig mit der Wiederholung des ersten Elements verdeutlicht.

Beispiele für die seltenen dreigliedrigen Gappinggruppen des Schemas X-, Y- & ZN (Kürzung von identischem N) sind im Bildverlust das bereits als teilweise ungrammatisch genannte Beispiel Kinder-, bis Schüler- bis Studen­tin+zimmer (p. 13), Cliquen-, Avantgarde- oder Elitenbewußtsein (ebd. p. 89), das Elektrodraht-, Scheinwerfer- und Wachturm+gelände (ebd. p. 116), mit Mathema­tik-, Russisch- und Spanischstunden (ebd. p. 129), Gebrauchs- oder Nähr- oder sons­tiger Nutzwert. Sondern der Spiel- oder Marken- oder Zeitvertreibs+wert (ebd. p. 135), Gras-, Stein- und Sand-Hochfläche (ebd. p. 182), Sterbens- und Todesgeschich­ten oder eher -anekdoten (ebd. p. 202). In Kali findet sich nur kein Übersee-, Tan­ker- oder Ozean+riesenhafen (p. 70). Inhaltlich, aber formal nicht ganz ver­gleichbar ist Messing-, Elfenbein- und anderes Blinken (ebd. p. 136). Viergliedrig und mit Bindestrichen verbunden wie ein Satzkompositum ist Kreuz-und-Quer-und-Sturz-und-Steigflug (Bildverlust p. 31), welches eine Verbindung aus zwei zweigliedrigen Konstruktionen darstellt.

Sogar fünfgliedrig ist Er ist mein Berg- und Tal-, mein Seil-, Steppen- und Wüs­ten+gefährte (ebd. p. 55). Das Verständnis der beiden ersten gekürzten Kom­posita als solche ist dadurch gegeben, dass semantisch gesehen ein Mensch kein Berg- und Tal- sein kann. Daher wird das Verständnis auch nicht durch den Neuansatz mein Seil- gestört. Ausgedrückt werden soll hier ein weltum­spannendes Gefährtentum der Heldin mit einem Abwesenden, wobei das Gefährtentum durch seine einmalige Nennung am Ende der Konstruktion sowie seine Außergewöhnlichkeit durch die ungeläufigen Verbindungen be-sonders in den Fokus gerückt wird. Dass eine Liebesbeziehung als Ge­fährtentum dargestellt wird, ist in Handkes Texten immer wieder der Fall.

Ganz selten sind noch komplexere Konstruktion, welche in der Alltags­sprache kaum vorstellbar und daher auf Bindestrichsetzung im Schriftbild angewiesen sind, so in Bildverlust die einstigen Obst- und Gemüsegärten oder -felder oder -terrassen (p. 48), wo ein Schema X- & YZ mit einem Schema -A & -B mit dreimaliger Auslassung von Z so verschränkt ist, dass das geläufigere Schema vorausgeht. Analog, aber in eine Dreiheit reduziert ist Sterbens- und Todes+geschichten oder eher -anekdoten (ebd. p. 202). Das komplex verwobene Kompositabildungs- und Gappingschema in diesen Beispielen entspricht der engen semantischen Verbindung der Begriffe, illustriert aber gleichzeitig das Anliegen des Autors, die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die zusam­mengeführten Einzelelemente zu lenken.

Wenn wir die bisher beschriebenen morphologischen und syntaktischen Charakteristika der Gappingkonstruktionen zusammenfassen, so folgt Handke dem allgemeinen schriftlichen Sprachgebrauch, auch in der Distri­bution der Untertypen, ja erleichtert sogar der Leserschaft durch die Bevor­zugung der Letztposition von Okkasionalismen innerhalb der Gappingkon­struktionen und durch graphische und lexikalische Hilfsmittel das Ver­ständnis der Konstruktionen. Obwohl Handke im Allgemeinen als “schwie­riger” Autor wahrgenommen wird, zeigt sich, dass er sich nicht nur nach dem «Volk der Leser», (das auch ich so sehr will) (Das Ende des Flanierens, p. 158) sehnt, sondern auch in seinem Sprachgebrauch darum bemüht ist, dieses zu erreichen und sich ihm verständlich zu machen. Diese Sehnsucht nach dem «Leser-Volk» formulierte der Autor in seiner Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises 1979, und damit im zeitlichen Kontext seiner großen Schreibkrise. Die Verfahren des Bildverlusts als prototypischem Werk der “ungewöhnlichen Klassik” zeigen, dass diese Klassik auf Schönheit aus (Das Ende des Flanierens p. 157) ist, die nicht im Besonderen, sondern in der be­wussten Wahrnehmung des Alltäglichen liegt.

3.2.3 Semantik

Fokussieren wir jetzt nach Morphologie und Syntax den für die literatur­wissenschaftliche Analyse wichtigsten Aspekt der Gappingkonstruktionen, nämlich deren Satzsemantik, insbesonders die Verbindung zwischen den ge­kürzten und ungekürzten morphologisch komplexen Wörtern (hauptsäch­lich Komposita). Diese Verbindung ist gewöhnlich schon syntaktisch sehr eng, nämlich wie in der Alltagssprache durch ein einziges Wort, vorwiegend durch und (275 Okkurrenzen in beiden Texten), aber auch oder (110 Okkur-renzen). In der Alltagssprache unüblich ist die syntaktisch noch engere Ver­bindung durch Asyndese, wie in Die Winter-, die Januar-Reisende (Bildverlust p. 80) und in der asyndetischen Aufzählung in Explosionen, noch und noch, Knat­tern, Rattern, Todesgurgeln, Weiterknattern, -explodieren, und so fort. (Kali p. 17).

Andere einwortige Verbindungen sind bis (Bildverlust p. 13), wie (ebd. p. 47) oder nein (ebd. p. 183). Die längeren Verbindungen sind oder eher (Bild­verlust p. 15, 17, 20, 202), oder schon (ebd. p. 123), oder auch (ebd. p. 500), und vor allem (ebd. p. 597), und beinahe auch (ebd. p. 700), und auch (ebd. p. 231), und zugleich (ebd. p. 245), und insbesondere auch (ebd. p. 265), und ebenso (ebd. p. 313), oder gar (ebd. p. 359), und andererseits (ebd. p. 55), vielmehr bloß (ebd. p. 89), und schon gar keine (ebd. p. 89), und nicht nur (ebd. p. 366), und zwischen­durch auch (ebd. p. 145), wenn nicht (ebd. p. 107), sondern eine (ebd. p. 165), sondern womöglich fast (ebd. p. 139), und schon fast (ebd. p. 362), so fast (Kali p. 10), denn als eine (ebd. p. 119).

Die Enge der Verbindung zeigt sich auch darin, dass nach einer einfa­chen Konjunktion nie ein Artikel folgt und selbst in längeren Verbindungen Artikel (inkl. kein) fast nie vorkommen, d.h. dass sonst immer die Definit­heit bzw. Indefinitheit für die gesamte Gappingkonstruktion als Determi­nerphrase gilt. Die Verbindungen sind ein Mittel der Präzisierung, wobei diese Präzisierung nicht unbedingt eine Einschränkung bedeutet, sondern eine sensiblere Wahrnehmung und das genauere Erkennen eines spezifi­schen Elements eines weiteren Feldes. Die große Anzahl und Mannigfaltig­keit der Verbindungen illustriert Handkes «Suche nach Zusammenhang» (Bartmann 1984), der so vielgestaltig sein kann wie das Zusammenhän­gende selbst.

Eine untypische Gappingkonstruktion, welche durch eine Parenthese unterbrochen ist, kommt im Bildverlust vor: Geld- (und damit meinen Beruf) Ver­achten (p. 208).

Wenn wir genauer die Satzsemantik der Verbindungen der okkasionalis­tischen Gappingkonstruktionen (Typ A) betrachten, so zeigt sich beim häu­figsten Typ, der bloßen Verbindung durch und, dass es sich nie um seman­tisch enge Verbindungen des Typs Augen und Ohren handelt, sondern dass sich die Konstruktion einfach auf nebeneinander koexistierende Entitäten bezieht, die der Autor auf den ersten Blick willkürlich zusammenstellt. Da­bei zeigt sich aber bei genauem Hinsehen, dass er damit die Lesenden auf Zusammenhänge zwischen Begriffen aufmerksam machen möchte, die sich nicht unmittelbar erschließen, sich aber durch die Verbindung mit dem ge­meinsamen Zweitglied eröffnen, wie im Bildverlust in den Beispielen in den Haupt- und Staats+zeiten (ebd. p. 27), Schalt- und Vermittlungsstelle (ebd. p. 81), Geld- und Computer+diktatur (ebd. p. 96), Spieler- und Spekulaten+massen (ebd. p. 135), keine Marter- und Drohbilder mehr (ebd. p. 175), schrumpligen Gebirgsäp­feln und -kartoffeln (ebd. p. 185), Hiesigkeits- und Lebenswelt (ebd. p. 203), die Himmel- und Bodenfarben (ebd. p. 215), und in Kali in Meeres- und Wüsten+re­klamen (Kali p. 19), Krankenwagen- und Feuerwehrsirenen (ebd. p. 40), Weide- und Wasser+land+weite (ebd. p. 152). Ebenso in diese Reihe fällt das interessante Beispiel die Traum- und Geistererzählungen in Tibet (Bildverlust p. 37) – hier zeigt Handke mittels Gapping die Verbindung auf, die im Rahmen seiner Poetik zwischen Träumen und Geistern (der Toten) gezogen wird. Im Traumstück Immer noch Sturm etwa träumt die Erzählerfigur die Geister sei­ner Vorfahren herbei: Ich rufe euch aus den Gräbern zur Auferstehung. (Immer noch Sturm p. 155).

Ein weiteres Beispiel ist zwischen zwei welt- wie geld+bedeutenden Flüssen (Bild­verlust p. 47), wobei der Reim des Erstglieds eine engere formale Verbindung erzielt, und expliziter Stühle […] wie zusammen- und andererseits auseinanderge­schoben (ebd. p. 55) und des alten König- und zwischendurch auch Kaiserreichs (ebd. p. 145).

Oder es handelt sich, ebenfalls im Gegensatz zum Usus der Alltagsspra­che, um einander überlappende Begriffe, wie in merk- und denkwürdigen (Bild­verlust p. 23), im All- und Arbeitstag (ebd. p. 24), an den hundert dahin+gewürfelten und -geschobenen Spielzeugen (ebd. p. 13), die orts- und landes+gewachsenen Bestände (ebd. p. 48), ihre Wege- und Unternehmungslust (ebd. p. 88), der fröhlich Eltern- und Heimatlosen (ebd. p. 102), auf jedem zweiten Wahl- und Reklameplakat (ebd. p. 105), ein Tod- und Erzfeind (ebd. p. 106).

Dies kann auch eine Intensivierung oder Präzisierung mit sich bringen, wie in: das Bedeutungslos- und Unscheinbar+werden der Vorfahren (Bildverlust p. 11), Solches Undeutlich- und Irgendwer-Werden (ebd. p. 98), Groß- und Raubvögel (ebd. p. 69), im allgemeinen Schreien- und Brüllenmüssen (ebd. p. 117), ein Hass- und Drohlied (ebd. p. 136), urwald- und urwelt+hafte (Kali p. 74).

Als zusammengehörige Begriffe, die aber entweder beide okkasionalis­tisch sind oder in einer okkasionalistischen Gappingphrase miteinander ver­bunden werden, kann man in folgenden Gappingkonstruktionen finden: auf den Baum+blättern und -nadeln (Bildverlust p. 30), samt Schiffs- und Bus+passagen (ebd. p. 31), Winzigfische und -frösche (ebd. p. 69), Lebend- und Tot+äste (ebd. p. 70), Abfahrts- und Rückkehr+stunde (ebd. p. 96), Knochen+staub und -splitter (ebd. p. 109), links- und rechts+flankig (ebd. p. 117), in dem schweiß- und spei­chel+dampfenden Verschlag (ebd. p. 118), beinah hafenstädtische Häuser- und Hüt­tenlandschaft (Kali p. 70).

und zeigt sich damit bei Handke als additives Verbindungswort, das auf die Koexistenz der verbundenen Elemente hinweist und die Pluralität der Erscheinungsformen der Welt betont.

Bei der in Gappingskonstruktionen am zweithäufigsten verwendeten Konjunktion oder ist bemerkenswert, dass diese in okkasionalistischen Kon­struktionen so gut wie nie eine exklusive Bedeutung hat (Lat. aut), d.h. im Sinne von entweder X oder Y (Lat. aut – aut) verwendet wird. Und entweder X oder Y, welches Handke ansonsten relativ häufig verwendet, kommt bei Gapping in den beiden untersuchten Texten überhaupt nur ein einziges Mal vor: ihr das Schlechtestmögliche entweder nach- oder vorherzusagen (Bildverlust p. 61). Die nicht-exklusive Verwendung von oder in Verbindung mit Gapping zeigt, dass Handkes Anliegen beim Einsetzen von Gapping im Bereich der Er­weiterung und Präzisierung der Bilder liegt, die er in seinen Texten schafft.

Ansonsten wird oder im Sinn von oder auch (Lat. vel), zum Teil ähnlich wie nicht eng verbindendes und verwendet: so sah sie eines Sommer- oder Wintermor­gens (ebd. p.10), der Mondlichtschatten…so anders als Flugzeug- oder Vogelschatten in der Sonne (ebd. p.20), so etwas wie eine Vor- oder Nachkriegsstille (ebd. p.36), Viertel- oder Halbkreis+flug (ebd. p.69), Werkkompanie oder -truppe (ebd. p.72), ob pfeil- oder parabelförmig (ebd. p.81), ein Schneuztuch … schneuzt, ein Schneuz- oder Sacktuch (ebd. p.85), ohne irgendein Cliquen-, Avantgarde- oder Elitenbewußt­sein (ebd. p.89), mittelgroßen und -kleinen (ebd. p.147). Das gilt auch in Kalidie fernen alpen- oder pyrenäen+hohen Bergketten (Kali p.34), Feierabend- oder Schicht­wechselsirene (ebd. p.134), Übersee-, Tanker- oder Ozeanriesenhafen (ebd. p.70), Hut- oder Kappeziehen (ebd. p. 109).

Dabei kann der zweite den ersten Ausdruck, zumindest leicht, verbes­sern, etwa in stehen- oder sitzenließ (Bildverlust p. 26), als eine Art Asyl- oder Aus­ruhzone (ebd. p. 31), dieser … hierhergewanderten oder -geflüchteten Stadtrandleute; von der beruhigenden oder beruhigenwollenden (ebd. p. 37), «hell- oder quittengelb» (ebd. p. 184).

Dieser Gebrauch von oder entspricht der expliziteren Verbindung durch oder eher: auf die Gegen- oder eher Nebenspur (ebd. p. 15), und sonst eher Gesell­schaftsunfähige oder eher -unwillige (ebd. p. 17), als der Grund- oder eher Untergrund­zug (ebd. p. 20), Sterbens- und Todesgeschichten oder eher -anekdoten (ebd. p. 202). Dem verwandt sind auch die Beispiele im Halb- oder schon im Tiefschlaf (ebd. p. 123), Völkerfeindschaften, die in der Regel jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendeal­ten (ebd. p. 107), nicht bloß wort-, sondern womöglich fast lautlosen (ebd. p. 139), und in Kali: wenn nicht tag- so fast bühnen+hell (Kali p. 10), auch weniger eine Werk- denn als eine Markthalle (ebd. p. 119). Eine vollständige Korrektur scheint aber Gapping weitgehend auszuschließen, wie in Kali: In meiner Kindergegend. Oder nein, in der Nachbargegend. (ebd. p. 30). Wir haben nur ein einziges Beispiel mit Gapping gefunden: keine Liebes-, sondern eine Kampfnacht (Bildverlust p. 165).

Handke verwendet Gapping somit nicht nur als Stilmittel, sondern bringt dieses Verfahren bewusst dort zum Einsatz, wo er im Gegenstand seines Schreibens Verbindungen und Verwandtschaften entdeckt, die sich durch ein gemeinsames Bindeglied ausdrücken lassen. Wenn von einander ausschließenden Gegenständen die Rede ist, kommt Gapping deshalb nicht zum Einsatz, weil der dabei notwendige Bindestrich selbst über den Gap hinweg eine Verbindungslinie legt, die zwischen oppositionellen Gegen­ständen fehl am Platz wäre.

Ein weiteres Charakteristikum von Handkes Gappingkonstruktionen, das diese These weiter stärkt, ist die Vermeidung von Negationen. Analog zur Vermeidung von entweder – oder kommt weder – noch bei Gapping gar nicht vor, obwohl Handke sonst weder – noch häufig verwendet (79 Okkur­renzen im Bildverlust). Besonders stark vermeidet Handke eine negative Ver­bindung innerhalb der Gappingkonstruktion. Die einzigen Beispiele, die wir gefunden haben, sind: Luft- und keine Abfluss+löcher (Bildverlust p. 419), eine bronze-, nein namenlos+farbene Taukugel (Bildverlust p. 183; dagegen in einem Wettbewerb, nein einem Wettkampf, p. 162, ohne Gapping).

Ein wenig häufiger sind der Gappingkonstruktion übergeordnete Nega­tionen: keine Gemeinschafts- und schon gar keine Gesellschafts+gefühle mehr (ebd. p. 89), kein Anhauch von Todes- oder Vergehens+angst (ebd. p. 222). Diese Beispiele zeigen, dass Handkes zentrales Anliegen die Betonung von Gleichzeitigkeit und Vielschichtigkeit von Phänomenen selbst dann ist, wenn er diese Phä­nomene im Rahmen einer gemeinsamen Negation ausschließt.

4 Conclusio und Ausblick

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine detaillierte Ana­lyse der Wortbildungs- und Gappingverfahren, die Peter Handke anwendet, durchwegs an seine Poetik rückgekoppelt werden kann. Der Autor konstru­iert durch enge Gappingverbindung eine vermeintlich nicht vorhandene Enge der inhaltlichen Zusammengehörigkeit koexistierender Entitäten und teilt so mit seiner Leserschaft einen poetischen Blick auf das, «was die Welt» – mit Handkes literarischem Vorbild Goethe gesprochen – «im Innersten zusammenhält».

Die Sprachverwendung Handkes, die einen unverkennbaren literari­schen Stil erzeugt, ergibt sich aus seinen poetischen Anliegen und ist durch­wegs inhaltlich motiviert. Die Auflistung der mittels Corpus erhobenen Bei­spiele ist demnach nicht nur für eine linguistische, sondern auch für eine literaturwissenschaftliche Analyse höchst nützlich und erlaubt, qualitativ analysierte Verfahren quantitativ zu belegen. Wir sehen diese Studie daher als erfolgreich an und planen Folgeanalysen einerseits des Handke-Corpus in der Dissertation von Vanessa Hannesschläger, andererseits von weiteren Corpora zu österreichischer Gegenwartsliteratur, um Vergleichsgrößen zu dieser ersten erfolgreichen Studie zu erlangen, in der Linguistik und Litera­turwissenschaft mittels Corpusanalyse zusammengeführt werden konnten.

Literatur

Primärliteratur

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Handke, Peter: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.

Handke, Peter: Die Hornissen. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966.

Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986.

Handke, Peter: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Land­straße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten. Berlin: Suhrkamp 2015.

Handke, Peter: Immer noch Sturm. Berlin: Suhrkamp 2010.

Handke, Peter: Kali. Eine Vorwintergeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.

Für die vorliegende Auswertung von Handkes Bildverlust und Kali wurde das Peter Handke-Corpus des Academiae Corpora-Instituts der Österreichischen Aka­demie der Wissenschaften verwendet.

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[1] Ebd., S. 554; Buddecke und Hienger weisen diesbezüglich auf Handkes Jonke-Rezen­sion In Sätzen steckt Obrigkeit (Der Spiegel, 21.4.1969) hin.

[2] Aus Notizen von Hans Höller für den Workshop zum Handke-Corpus im Jahr 2013 zur Kontextualisierung von auffälligen Kompositabildungen im Bildverlust, die für die Arbeit an diesem Aufsatz freundlicherweise eingesehen werden durften.

[3] Die in dieser Arbeit zitierten Werke Handkes sind in der Literaturliste angegeben. Dank für die Erlaubnis, mit dem Handke-Corpus zu arbeiten, gilt Evelyn Breiteneder und Hanno Biber vom AC sowie Raimund Fellinger und dem Suhrkamp Verlag.

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