Rosemarie Brucher

(Graz)

Haunted Identity. Melancholie und Dissoziation als Strategien
der Dekonstruktion des Ich in Helmut Kraussers «Schmerznovelle»

[Haunted Identity. Melancholy and Dissociation as Strategies for Deconstructing the Self
in Helmut Krausser’s «Schmerznovelle»
]

abstract. Krausser’s texts play repeatedly with the radical disintegration of identity. In «Schmerznovelle» (2001) he describes the encounter between Johanna Palm, who suffers from a split personality, and the narrator, a psychiatrist with the obsessive wish to cure her. As a result of this process, their ideas of self-identity increasingly dissipate. This article investigates the disintegration of the self against the backdrop of the psychological con­cepts of melancholia and dissociation. The productive conjunction that allows Krausser to question the idea of stable identity altogether is analysed with the help of the theories of Freud, Žižek and Agamben.

Der Wahnsinn – wenn man sich nicht länger gegen ihn auflehnt – stellt eine Befreiung dar. Wenn einem der Glauben an die fünf Sinne verlorengegangen ist, und man sie nur noch spielerisch benutzt, um einem ersten Befund von Wirklichkeit, der unerträglich ist, entgegen zu treten.[1]

Die melancholische Einverleibung des toten anderen ist wiederholtes Motiv fiktionaler Auseinandersetzungen mit der Dissoziation des Ich. Ob in Alfred Hitchcocks Psycho (1960) oder Alejandro Jodorowskys Santa Sangre (1989), der Spaltung des Individuums geht ein traumatischer Verlust eines Liebesobjektes voraus, welches dann in der Folge als Alterpersönlichkeit in das Ich integriert wird bzw. – präziser – dessen gespenstische Einverleibung die dissoziative Desintegration des Ich allererst in Szene setzt. Dabei wird in vielen fiktionalen Bearbeitungen dieses Motivs ein Bezug zu psychologi-schen Narrativen, so beispielsweise der Schizophrenie oder der Dissoziati­ven Identitätsstörung hergestellt. Im Zuge dessen rücken in Texten und Fil­men wie beispielsweise Robert Silverbergs Multiples (1983), Tedd Dekkers Thr3e (2003), Gabrielle Pinas Chasing Sophea (2006), Matt Ruffs Set This House in Order: A Romance of Souls (2004), Mischa Bachs Stimmengewirr (2006) oder John Carpenters The Ward (2011) Fragen der Diagnostik, der Ätiologie als Traumafolgestörung sowie der Therapie in den Vordergrund[2]. Zugleich werden jedoch in derlei Texten respektive Filmen medizinische Klassifizie­rungen der Normativität und Störung hinterfragt bzw. alternative Bewusst­seinsformen erprobt, welche die grundsätzliche Konstruktion und unhin­tergehbare Instabilität des Ich verdeutlichen sollen. Denn während die Psy­chiatrie als akademische Wissenschaft die psychotische bzw. dissoziative Desintegration des Ich bis heute weitgehend als eine Devianzerscheinung einer als normal erachteten einheitlichen Persönlichkeit fasst, fungiert diese in künstlerischen Auseinandersetzungen häufig als affirmiertes Modell, das gerade der condition humaine gerecht zu werden verspricht. Hierbei kann auf eine lange philosophische Tradition identitätskritischer Diskurse aufgebaut werden – kulminierend in poststrukturalistischer Differenzphilosophie, postmodernen Ansätze bzw. queer-theoretischen Positionen –, welche die pathologisierende Gewissheit von Norm und Devianz rigoros disqualifi­ziert haben.

Die Einbettung der künstlerischen Verhandlung dissoziativer Heimsu­chung in einen psychologischen Bezugsrahmen und zugleich die dekonstruk­tivistische Überschreitung desselben kennzeichnen auch Helmut Kraussers 2001 publizierte Schmerznovelle[3]. Dieser «Höhepunkt seiner Erzählkunst»[4] verbindet alle großen Themen des Krausserschen Werkes: Subjektspaltung, Aberration, Gewalt sowie die «andere Dimension, Sphäre oder Welt […], einen Bereich, der von der Realität der dargestellten Welt aus zwar erahnt, aber nicht beobachtet werden kann»[5]. Der Text erzählt in Form von Erin­nerungen, Polizeibefragungen sowie Briefeinschüben – eine Struktur, die auch auf der Erzählebene Spaltung sichtbar macht, zugleich aber auch die Handlung in der Tradition der Romantik zu beglaubigen versucht – die Be­gegnung des namenlos bleibenden Icherzählers, «den in Deutschland füh­renden Spezialisten auf dem Gebiet sexueller Aberrationen»[6], mit der an einer Bewusstseinsspaltung leidenden Johanna Maria Palm während seines Urlaubaufenthalts in einem kleinen österreichischen Kurort[7]. Wie der Ich­erzähler bald herausfindet, leidet Johanna nicht nur an einer Persönlich­keitsspaltung, sondern ihr alternierendes Ich ist darüber hinaus ihr toter Ehemann Ralf, den sie nach seinem Selbstmord in einem Prozess aus Trauer, Schuld und Obsession inkorporiert hat und auf diese Weise sein Ableben verleugnet. Wie auch anderen ProtagonistInnen in Kraussers Werk, so etwa Hagen Trinker in Fette Welt, bleibt dabei auch Johanna ihre Ichspaltung weitgehend verborgen. Zwischen dem Psychiater und Johanna, derer er sich therapeutisch annimmt – oder vielmehr aufdrängt –, ent­spinnt sich in der Folge eine sadomasochistisch ausgerichtete Affäre[8], die zunehmend außer Kontrolle gerät, als der Erzähler beginnt, für seine selbst-ernannte Patientin Gefühle zu entwickeln[9]. Denn dies geht mit dem Wunsch einher, seinen gespenstischen Rivalen zu verdrängen, wogegen so­wohl Johanna als auch Ralf Widerstand leisten, was schließlich in dem Sui­zid Johannas, der zugleich als ihre Ermordung durch Ralf gelesen werden muss, kulminiert: Der Versuch der Austreibung des Toten führt folglich zum Tod der Johanna Palm.

Im Folgenden gilt es anhand der Schmerznovelle exemplarisch Kraussers Ästhetisierung sowie literarische Funktionalisierung psychologischer bzw. psychoanalytischer “Störungsbilder” zu untersuchen. Dabei werden neben der Verhandlung von Dissoziation insbesondere verschiedene Konzepte der Melancholie, der “seelischen” Einverleibung des toten anderen, von In­teresse sein. Weist diese gezielte Verortung seiner Charaktere im Bereich psychischer Devianz zunächst auch auf deren Pathologisierung hin, so soll aufgezeigt werden, dass hinter dieser scheinbaren Pathologisierung einzel­ner Individuen vielmehr eine genuine Brüchigkeit und damit Hinterfragung stabiler Identität per se zu Tage kommt. Die Ästhetisierung psychologischer Konzepte dient Krausser folglich dazu, die Fragilität des Ich in einer sich notwendig dem logischen Zugriff entziehenden Welt sichtbar zu machen, wodurch seine Texte inhaltlich an die literarische Moderne und ihre The­matisierung der Krisenhaftigkeit des Ich und der Welt anschließen. Es über­rascht daher nicht, dass es in Kraussers Schmerznovelle letztlich der Polizei überlassen bleibt, Ordnung zu schaffen, wo epistemologische Ordnungen notwendig scheitern müssen. Um dies zu verdeutlichen, setzt die nachfol­gende Analyse der Schmerznovelle zunächst Freuds Konzept der Melancholie mit dem psychiatrischen Narrativ der Dissoziativen Identität in Kontext. Dabei sollen mittels eines komparatistischen Zugangs die Parallelen zwi­schen den theoretischen Ansätzen und Kraussers literarischer Desintegra­tion des Ich untersucht und auf ihr identitätstheoretisches Potenzial hin be­fragt werden. In einem zweiten Schritt gilt es mit Žižeks und Agambens Melancholietheorien Freuds Ansatz identitätstheoretisch weiterzudenken und die Lektüre der Schmerznovelle damit abzuschließen.

I. Melancholie und Dissoziation

Es ist diese schreckliche Einsamkeit, die meinige oder die unsrige, beim Tode des anderen, die jene Selbstbeziehung konstituiert, die man “ich”, “uns”, “unter uns”, “Subjektivität”, “Intersubjektivität”, “Ge­dächtnis” heißt.[10]

Wie eingangs erwähnt, liegt der Spaltung Johannas der traumatische Ver­lust ihres Liebesobjektes zugrunde. Ist es in anderen fiktionalen Beispielen dieser Art häufig die tote Mutter, die auf diese Weise eine Verinnerlichung erfährt, so handelt es sich in Kraussers Schmerznovelle um die Inkorporation des toten Ehepartners, den die Protagonistin im Moment seines Todes – Ralf Palm übergießt sich mit Benzin und verbrennt – quasi in sich birgt.

Dieses «monströs[e]» (Schmerznovelle, S. 22) Ereignis lässt sich im Kontext Freuds Konzept der Melancholie lesen, das er 1915 in seinem Aufsatz “Trauer und Melancholie” darlegt. In diesem Text grenzt Freud die Trauer, als “gesunde” Reaktionen auf einen Verlust, bei der nach einer gewissen Zeit der Realitätsverweigerung die Realität des Verlustes akzeptiert, die Li­bido folglich von dem verlorenen Objekt abgezogen und auf ein neues Ob­jekt gerichtet wird, von der pathologischen Melancholie ab. Auch bei dieser handelt es sich um eine Verlusterfahrung. Im Gegensatz zum Trauernden bleibt der Melancholiker jedoch im Zustand des Verlustes gleichsam ste­cken, er trauert «unendlich und unabschließbar»[11]. Es ist ihm nicht möglich, seine Libido von dem verlorenen Objekt abzuziehen bzw. – präziser – er zieht zwar seine Libido von dem Objekt ab, doch anstatt diese auf ein an­deres Objekt zu verschieben, kommt es zu einer narzißtischen Identifizie­rung mit dem verlorenen Objekt, das auf diese Weise inkorporiert wird. Das Ich richtet sein Begehren folglich auf sich selbst, wird dabei aber quasi selbst zum verlorenen anderen. So Freud: «Die narzißtische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Ersatz der Liebesbesetzung, was den Erfolg hat, daß die Liebesbeziehung trotz des Konflikts mit der geliebten Person nicht auf­gegeben werden muß»[12]. Bei der Melancholie handelt es sich folglich um die Ökonomisierung eines Verlustes, indem dieser als Realität verweigert wird, was aber eben nur gelingen kann, indem der (tote) andere inkorporiert wird; ein Vorgang, den Freud mit der «kannibalischen Phase» (“Trauer und Me­lancholie”, S. 436) in Verbindung bringt: Um den Verlust des Liebesobjek­tes zu vermeiden, wird der andere metaphorisch aufgefressen.

Nun setzt Freud voraus, dass es keine Identifizierung ohne Negativität geben kann, d.h., ohne dass dabei das “Andere” in Form einer Spaltung in das Ich Einzug hält. Im Falle der Melancholie erweist sich der Vorgang der Identifizierung indes als besonders problematisch, ja geradezu als selbstzer­störerisch, als nun der «Schatten des Objekts» (S. 435) auf das Ich fällt, wodurch sich der «Objektverlust in einen Ichverlust» (S. 435) verwandelt. Die Melancholie wird damit zum Modell «einer internen Alterität, einer Selbst-Differenz oder Inter-Subjektivität, die alle Vorstellungen von einer Abgrenzbarkeit der Subjekte gegeneinander, von Differenz und (Selbst-)I­dentität erschüttert» (Trauer schreiben, S. 23). Das Resultat dieser verhängnis­vollen Identifizierung ist die «Entleerung» des Ich «bis zur völligen Verar­mung» (S. 440). An anderer Stelle spricht Freud von der Melancholie als «Arbeit, welche sein Ich aufzehrt» (S. 432) bzw. benennt diese als «Verlust an seinem Ich» (S. 433).

Die Parallelen zu Kraussers Schmerznovelle sind bestechend. Auch hier geht der Desintegration der Protagonistin eine traumatische Verlusterfah-rung voraus und auch diese führt zu einer identifikatorischen Einverlei­bung, um die Realität des Verlustes zu negieren. Freuds inkorporierende Identifizierung gewinnt in Kraussers Text jedoch insofern an Radikalität, als die Verlusterfahrung der Protagonistin mit dem psychiatrischen Narrativ der Dissoziativen Identität zusammengeführt wird. So wird der tote Ehe­mann Ralf nicht nur als verlorenes Liebesobjekt verinnerlicht, sondern wächst sich vielmehr parasitär zu einer eigenständigen Alterpersönlichkeit aus, die zunehmend Johanna aus dem gemeinsamen Körper zu verdrängen beginnt; ein Vorgang, den sie lakonisch mit den Worten kommentiert: «Er hört schon lange nicht mehr auf mich» (Schmerznovelle, S. 93). Diese Ver­drängung äußert sich wiederholt in so genannten Switches, in denen Ralf die Kontrolle über den Körper übernimmt[13]. Den letzten dieser Wechsel, der zu Johannas Tod führen wird – sie bzw. er treibt sich ein Steakmesser «mit einem gewaltigen Stoß quer durch den ganzen Hals, bis es am Nacken heraustrat» (S. 139) –, beschreibt der Erzähler wie folgt:

Er sah mich an. Die Verwandlung schien, obgleich mit bloßem Auge kaum wahrzunehmen, schrecklicher und überzeugender als die Male davor. Als sei etwas Fremdes, unendlich Entferntes mit großer Wucht zwischen uns getreten und nähme von der Luft Besitz, die wir beide atmeten. (S. 135)

Folgt man Kraussers Zusammenführung von Melancholie und Dissozi­ativer Identität, so ist es möglich, hierüber die Desintegration des Ich radi­kaler zu denken, nämlich nicht als bloß respondierenden Akt, sondern als einen Prozess der Differenzverschiebung, der Identität immer schon unter­läuft. Der Grund hierfür liegt im psychologischen Narrativ der Dissoziati­ven Identitätsstörung selbst[14]. Folgt man dem derzeitigen Forschungsstand, so handelt es sich bei der Dissoziativen Identität um eine Traumafolgestö­rung, die jedoch nicht zur Desintegrationen einer vormals intakten Identität führt, sondern bei der das Herausbilden eines stabilen und kohärenten Identitätsgefühls aufgrund wiederholter schwerer Traumata in der frühen Kindheit von vornherein scheitert[15]. Anstatt eine konsistente Erinnerungs­kette zu bilden, werden Erinnerungen und Erlebnisse kontinuierlich am­nestisch abgespalten. Auf diese Weise entstehen an der Stelle eines einheit­lichen Identitätsgefühls bloße Persönlichkeitsfragmente, deren Anzahl bis in die Hunderte steigen kann. Diese verfügen in der Regel über individuelle Erinnerungen, soziale Beziehungen und Verhaltensmuster in unterschiedli­cher Komplexität, d.h. das Resultat eines solchen Prozesses ist tatsächlich, folgt man publizierten Fallberichten und Autobiografien Betroffener, in etwa so vorzustellen, wie dies Krausser in seiner Novelle beschreibt, wenn auch die Genese eine andere ist[16].

Betrachtet man nun das Konzept der Dissoziativen Identitätsstörung nicht ausschließlich im psycho-sozialen Kontext, sondern stattdessen als eine Art alternativen Ichentwurf, wie dies beispielsweise von James Glass bereits Mitte der neunziger Jahre angedacht wurde[17], so lässt sich hierin eine “Identität” erkennen, der statt Stabilität ein fortdauernder Prozess der Zer­streuung – der Dissoziation – zugrunde liegt. Zugleich zeigt sich jedoch auch eine Form des Ich, welches Vielheit kennzeichnet. Es handelt sich folglich – analog zu postmodernen Denkfiguren – um ein Ich als «leere[n] “Ort” […], an dem viele Ichs sich vereinigen und trennen»[18]. Die Entlee­rung des Ich, wie sie Freud als Charakteristikum der Melancholie ausmacht, wäre demnach der “Normalzustand” der Dissoziativen Identität. Diese kann damit als exemplarische Figur einer genuin dislozierten Identität die­nen.

Dahingehend erzählt die Schmerznovelle auch nicht die Geschichte einer Reintegration, sondern ganz im Gegenteil: Anstatt Johanna heilen zu kön­nen, kommt ihrem Psychiater selbst zunehmend sein Identitätsgefühl ab­handen. Er wird gleichsam von ihrer Dissoziation «infiziert» (Schmerznovelle, S. 56) – die intendierte Therapie gerät selbst zum «psychosozialen Symp­tom» (“Die Geburt des Autors”, S. 34)[19]. So entsteht in dem Icherzähler alsbald «der Verdacht, der mein Leben nach und nach zerstören sollte. Wie der letzte Schimmer einer untergehenden Sonne leuchtete die Frage tief in mich hinein: Wer bist du? Und warum bist du so?» (Schmerznovelle, S. 38). Kurz darauf beginnt er selbst erste Anzeichen einer Dissoziation zu zeigen wie Zeit- und Gedächtnisverlust:

Ja doch. Gewiß. Es muß bestimmt irgendeine Ordnung hinter den Dingen stehen. Meine Hose spannte noch immer. War alles Einbil­dung gewesen? Ich muß draußen onaniert haben, am Elektrozaun, vor staunenden Kühen, dumpf kann ich mich dessen erinnern. An den Rest aber nicht, der Nachmittag war aus der Zeit gefallen, wollte nie mehr dahin zurück. Die Stunden danach sind meinem Gedächtnis ver­loren gegangen. Unauffindbar. Blackout, fast ohne Alkoholeinwir­kung. Rätselhaft. (S. 75)

Die zunehmende Konfusion des zu Beginn der Novelle allzu selbstsi­cheren Icherzählers[20] macht zugleich Kraussers Strategie deutlich, Be­obachtbarkeit sowie Erzählbarkeit selbst in Frage zu stellen. So handeln Kraussers Texte bevorzugt von dem, was sich eigentlich nicht erzählen lässt, und machen zugleich dieses narrative Scheitern sichtbar; ein Umstand, der in der Sekundärliteratur wiederholt zu Bezugsetzungen zu Erzählstrate­gien der Romantik geführt hat[21]. Die Ereignisse bleiben dem Erzähler letzt­lich selbst unbegreiflich, er ist, wie sich auch in den eingeschobenen Poli­zeiverhören immer wieder zeigt, ebenso wenig ein verlässlicher Zeuge des Geschehens wie Johanna. Vielmehr kulminiert seine Erzählung angesichts Johannas Todes, der sein Weltbild endgültig ins Schwanken versetzt, in Spe­kulationen, Wissenslücken, traumatischen Flash-backs und schließlich gar der Notwendigkeit, auf den vagen Bericht anderer zurückgreifen zu müssen:

Ich schrie wohl stundenlang, über und über von spritzendem Blut be­sudelt.

Ich schrie, als wäre die Welt nur ein Lärm, der zu übertönen sein müsse, um alles darin neu nach meinem Willen zu gestalten.

Das Halbdunkel des Schlafzimmers war ein flüssig wabernder Raum, unter mir schwankte der Boden. Taub gegen mein eigenes Geschrei wurde ich ohnmächtig, die Schatten tanzten und quollen auf, mehr weiß ich nicht.
Bildfetzen der Verblutenden tauchen auf. Manchmal. In meinen Träu­men. […]
Kann sein, daß das Messer im Lauf der Nacht in meine Hände geriet. Daß ich es aus der Wunde zog. Daß die Fingerabdrücke sich so erklä­ren.

Es liegt nahe.

Man fand mich morgens im Freien, halb erfroren, im Gras vor dem Haus, ein blutverkrustetes T-Shirt um den Oberarm geknotet. Immer hätte ich “Johanna” geflüstert, tausendmal “Johanna”, frierend, halb bewußtlos in den Anblick der aufgehenden Sonne versunken. So wurde es mir erzählt. (S. 139)

Auf die im Polizeiverhör gestellte Frage, ob er denn seinen Beruf als Psychiater ernst nähme, antwortet der Erzähler schließlich auch folgerich­tig: «Nein. Nicht mehr» (S. 29). Es wird am Ende ihm zufallen um Johanna zu trauern oder aber er wird wie zuvor sie der Melancholie anheimfallen. Statt einer klaren Trennung von Norm und Devianz ist es folglich bezeich­nenderweise gerade die für eine solche Trennung legitimierte Instanz, die sich zunehmend der Instabilität ihrer vormals allzu sicher erscheinenden Kategorien gewahr wird.

Diese fortschreitende Dissoziation der Romanfiguren spiegelt sich auch auf der formalen Ebene des Textes wider[22], so beispielsweise wenn einzelne Kapitel mit Dialogpassagen eröffnet werden, bei welchen zunehmend be­deutungslos erscheint, welche Sätze von wem gesprochen werden:

“Endlich. Ich hab auf dich gewartet”.
“Ich hab auf dich gewartet!”
“Wir sind zu alt, um solche Spiele zu spielen”.
“Aber Spiele spielen dürfen wir?”
“Natürlich. Was bleibt uns denn?”
“Dann spielen wir”.
“Du bist unser Gast”. (S. 113 [Herv. i. O.])

Diese Veruneindeutigung der SprecherInnenposition und damit letztlich von Identität überhaupt wird auch auf Figurenebene reflektiert, wie das fol­gende Zitat verdeutlicht: «“Sie können mich küssen, wenn Sie wollen”. Der Satz stand im Raum. Aber wer von uns hatte ihn ausgesprochen? Ich bin mir ehrlich nicht mehr sicher. Oder war unser beider Denken so laut ge­worden? Hatte es sich mit vereinigten Kräften in Laute verwandelt?» (S. 41). Auf diese identitären Verschmelzungs- bzw. Verdoppelungsvorgänge gilt es zurückzukommen.

Wenn uns Krausser vor Augen führt, dass die Grenzen des Ich immer schon als durchlässig gedacht werden müssen, dass das Ich eine Leerstelle ist, von der nichts als sein anderes abgeleitet werden kann, dass die Dualität von Ego und Alter folglich in sich zusammenfällt, worin liegt dann noch das Charakteristische der melancholischen Inkorporation, wie sie der Autor anhand seiner Protagonistin beschreibt? Der Versuch einer Antwort soll in der zweiten Hälfte des Textes in dem Konzept eines konstitutiven Mangels gesucht werden, wie er in ähnlicher und doch differenter Weise sowohl Žižeks als auch Agambens Lektüre der Melancholie zugrunde liegt. Mit die­sen Re-Lektüren der Freudschen Melancholie schließt sich auch der ge­dankliche Bogen, der durch die Zusammenführung von Melancholie und Dissoziativer Identität gespannt wurde.

II. Melancholische Desintegration II

Slavoj Žižek bietet ausgehend von Agamben eine Lesart der Melancho­lie, die nicht den Verlust des Liebesobjektes zum Ausgang nimmt, sondern stattdessen auf den Verlust des Grundes des Begehrens zielt, der, so Lacan, objet cause. Der Melancholiker betrauere demzufolge das Objekt, bevor es überhaupt verloren ist. Žižek spricht in diesem Zusammenhang von einem «preactive mourning»[23]. Doch wie ist diese Relektüre zu verstehen?

Folgt man Lacan, so ist die Struktur des Begehrens durch eine Ökono­mie des Mangels gekennzeichnet, d.h. Begierde setzt konstitutiv Negativität im Sinne eines unhintergehbaren Entzugs des begehrten Objekts voraus. Diese Dynamik des Mangels wird von Lacan bekanntermaßen begrifflich als Objekt klein a oder auch als Grund des Begehrens gefasst. Der Grund des Begehrens ist folglich als Objektfunktion zu verstehen, die ein beliebiges konkretes Objekt erfüllen kann. Letzteres ist daher strukturell metonymisch und kann die Funktion des Mangels nie aufheben[24].

Wenn Žižek also vom Verlust des Grund des Begehrens als Basis der Melancholie spricht, so lässt sich folglich annehmen, dass es die metonymi­sche Funktion des Begehrens selbst ist, d.h. die Fähigkeit, im Begehren von Objekt zu Objekt zu wandern, die in der Melancholie eine Stillstellung er­fährt. Es findet gleichsam keine fort/da Bewegung mehr statt, wie sie Freud in “Jenseits des Lustprinzips” (1920) in Bezug auf das Kinderspiel seines Enkelsohns angesichts der Abwesenheit seiner Mutter beschreibt, sondern das Ich bleibt vielmehr im fort stecken, d.h., es kommt zur Auflösung des Objekts in seiner Abwesenheit[25]. Ebenso gut ließe sich jedoch sagen, das Ich verharre im Moment des da, in dem sich jedoch die dem Objekt immer schon eingeschriebene Abwesenheit in Form eines unaufhebbaren Mangels entbirgt. Das Subjekt hätte also sein Objekt schließlich gefunden, es hört auf zu supplieren, doch erweist sich dieses als schiere Leere. Was dem Ich auf jeden Fall abhandenkommt, ist die Alternanz von Abwesenheit und An­wesenheit, die jedoch, so Lacan, notwendige Bedingung des Begehrens ist. Der Melancholiker verliert in Žižeks Lesart somit eben nicht das Objekt bzw. dieser Verlust ist nicht Ursache der Melancholie, doch wird die Be­gierde selbst in ihrer Logik inhibiert.

Diese Inhibition des metonymischen Begehrens findet sich auch in Kraussers Schmerznovelle. So verhindert das melancholische Festhalten an Ralf nicht nur die Reintegration der Protagonistin, sondern auch die Mög­lichkeit, ein neues Liebesobjekt zu wählen und damit das metonymische Begehren fortzusetzen.

Um dies umfassend zu verstehen, ist ein weiteres Charakteristikum der Melancholie wesentlich, das bislang unberücksichtigt blieb: Die zentrale Rolle der «Ambivalenz der Liebesbeziehungen» (“Trauer und Melancholie”, S. 437) innerhalb des Komplexes der Melancholie[26]. Folgt man Freuds 1913 publiziertem Aufsatz “Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregun­gen”, so ist jeder Liebesbeziehung ein Todeswunsch gegen den anderen eingeschrieben, weshalb mit dem realen Todesfall zwangsläufig ein Gefühl der Schuld und damit zugleich eine Angst vor der Rache des Toten einher­geht[27]. Unter dieser Perspektive lässt sich die Melancholie in ihrer Verwei­gerung nach Liebesersatz als Akt der Buße einer Schuld verstehen, welche sich mit dem Ende der Trauer aktualisieren würde. Denn «das neue Objekt, der Ersatz, der das glückliche Ende aller Trauer sein sollte, wird nun nach­träglich zu dem Profit, um dessentwillen das Ich am anderen schuldig ge­worden ist. Der Ersatz des verlorenen Objekts wird im nachhinein zum “Mordmotiv”» (Trauer schreiben, S. 19).

Auch die Beziehung zwischen Johanna und Ralf, so erzählt der Text, war durch eine destruktive Dynamik gekennzeichnet. So hat Ralf Palm seine Frau nicht nur geschlagen und sexuell unterworfen, sondern auch program­matisch demoralisiert. In einem Brief an seine Mutter schreibt er: «ich habe versucht, sie zu zerstören, zu beugen, habe so vieles getan, Johanna von mir loszulösen» (Schmerznovelle, S. 102). Ihre daraus resultierende Ambivalenz gegenüber ihrem Ehemann veranschaulichend antwortet Johanna daher auf die Frage:

“Lieben Sie Ihren Mann?”
“Nein, er ist ein Monstrum. Ja, ich liebe ihn, selbstverständlich”.
                                                                                      (S. 37f.)

Das der Melancholie stets eingeschriebene Schuldgefühl am Tod des an­deren gewinnt jedoch in Kraussers Novelle besondere Brisanz, als sich letztlich herausstellt, dass es Johanna selbst war, die Ralf auf sein Drängen hin angezündet hat. Dieser Moment der Inbrandsetzung ist zugleich auch jener der ersten Dissoziation:

“Ich stand vor ihm, hatte diese Spielchen satt, so satt, diese Prügeleien, weil er impotent oder deprimiert war, er spielte mit dem Streichholz, ich sagte, Ralf, tu es nicht, wir hatten das so oft, ich bin müde, Ralf. Aber er, naß vom Benzin, entzündete das Streichholz, gab es mir, und er sagte: Sei mein Leuchtfeuer, sei mein Licht in der Nacht. Ich habe geweint, weil das alles zuviel war für mich. Eine Sekunde lang hab ich ihn verabscheut, habe ich mich verabscheut. […] Und plötzlich ließ er das Streichholz fallen”.

“Ralf? Ralf ließ das Streichholz fallen?”
“Ja. Er war in einem Moment so stark in mir. So stark”.

“Seither seid ihr zusammen?”
“Ja. Seither lebt er. Frei von Schmerz”. (S. 129)
[28]

Die Textstelle verdeutlicht das Ineinandergreifen von Melancholie und Dissoziation, von Begierde und Schuld, zugleich wird klar, warum die No­velle mit Johannas Tod enden muss. Denn das Angebot des Erzählers, mit ihm ein neues Leben zu beginnen, d.h. die Wiederaufnahme des metonymi­schen Begehrens, würde bedeuten, Ralf in seiner «merkwürdige[n] Zwi­schenform von Existenz» (S. 66) ein zweites Mal zu töten und ihre Schuld damit zu besiegeln.

III. Doubles und parasitäre Heimsuchung

Ist das Verharren im Zustand der Inkorporation der Grant Johannas Schuldlosigkeit an dem Tod ihres Ehemanns, so zugleich auch die Erklä­rung für ihren Widerstand, Ralf auf- bzw. freizugeben:

Zu anfangs der Glauben, sie wolle das, sehne sich subkonszient, manchmal auch bewußt danach, mit den Schrecken der Vergangenheit abzuschließen. Ehrgeiz und Eitelkeit trieben mich. Später waren es Eifersucht und Besitzgier. Bisweilen setzte ich Ralf Palm einem Dä­mon gleich, der in ihr hauste und sein Wohnrecht längst verloren hatte, der Johanna unterdrückte und sie zwang, um ihn zu trauern. Aber alles war viel komplizierter und in keinem Moment ganz eindeu-tig. Ebensogut ließe sich behaupten, Ralf Palm, oder was aus ihm ge­worden war, wäre ihr Gefangener gewesen, den sie mit allen Mitteln daran hinderte, aus ihr herauszufahren. (S. 127)

Die Textstelle verdeutlicht die wechselseitige Gefangenschaft von “Sub­jekt” und “Objekt”, die deren Status und damit zugleich die Antwort auf die Frage, wer letztlich wen heimsucht, ungreifbar werden lässt. Dieses Mo­ment der (gewaltsamen) Aneignung des Toten, d.h. dessen, was per se nicht aneigenbar ist, erinnert an einen abschließenden Theoretiker der Melancho­lie, auf welchen Žižek in seiner Darlegung derselben – insbesondere in der Idee der antizipierenden Trauer («preactive mourning») – wiederholt Bezug nimmt: Giorgio Agamben.

Agamben entwirft in Stanzen (1977) eine Lektüre der Melancholie, die in einigen Punkten Parallelen zu dem Lacanschen Konzept des Mangels als Grundlage des Begehrens aufweist. So geht in Agambens Freudlektüre der Melancholie ebenfalls nicht der Verlust eines realen Objektes voraus, son­dern diese antizipiert vielmehr einen Verlust, der nie stattgefunden hat, ja, der gar nicht stattfinden kann, da das in der Melancholie betrauerte Objekt nie besessen wurde. Es handelt sich folglich um eine imaginierte Verluster­fahrung, wobei der Fokus der Imagination weniger auf dem Verlust liegt – dieser kann nach Freud, wie ausgeführt, sowohl real als auch irreal sein –, sondern auf dem mit Hilfe eines vermeintlichen Verlustes imaginierten vo­rausgegangenen Besitzes. So Agamben:

In dieser Perspektive wäre die Melancholie weniger die regressive Re­aktion auf den Verlust des Liebesobjektes als vielmehr das phantas­matische Vermögen, ein nicht aneigenbares Objekt als verloren er­scheinen zu lassen. Wenn die Libido sich gleichsam verhält, als hätte sich ein Verlust ereignet, obgleich in Wirklichkeit nichts verlorenging, so deshalb, weil sie auf diese Weise eine Simulation inszeniert, in der das, was nicht verloren gehen konnte, weil es niemals besessen wor­den ist, verloren scheint und das, was nicht besessen werden konnte, weil es womöglich niemals real war, als verlorengegangenes Objekt angeeignet werden kann. (Herv. i. O.)[29]

Die Melancholie wäre demnach ein sich ausschließlich in der Negation bzw. in der Nachträglichkeit ereignender Besitz, der nun jedoch, da er aus der Narration eines Verlustes hervorgeht – d.h., immer bereits verloren ist –, nicht mehr verloren gehen kann. Denn insofern die Melancholie «die Trauer um ein nicht aneigenbares Objekt ist, eröffnet ihre Strategie einen Raum für die Existenz des Irrealen und umreißt eine Szene, in der das Ich mit dem Objekt in Beziehung treten und eine Aneignung versuchen kann, der kein Besitz je gleichkommen, die kein Verlust je gefährden könnte» (Stanzen, S. 39)[30].

Als eine solche Szene einer idealen, jedoch irrealen Beziehung kann auch Ralfs Einverleibung durch Johanna gedeutet werden. Denn hat hier auch ein reales Sterben stattgefunden, so legen Johannas Erinnerungen an ihren Ehemann sowie dessen Briefe an seine Mutter zugleich nahe, dass sich Ralf Zeit seines Lebens einer tatsächlichen Bindung zu seiner Frau immer bereits durch seine Depressionen sowie seinen Wunsch zu sterben bzw. sein Be­gehren, sie tot zu sehen, um – um sie trauernd – überhaupt eine Verbindung mit ihr eingehen zu können, entzogen hatte. Vor diesem Hintergrund der gegenseitigen Inbesitznahme im Tod scheint es zunehmend unklar, ob Jo­hanna oder Ralf der Fremdkörper ist, der eine «parasitical inclusion», ein «home for someone else’s suffering within him»[31] erfährt. So kann die me­lancholische Inkorporation auch als Geiselnahme des Toten verstanden werden, was Ralf Palm mit einigem Zynismus zu der Feststellung veranlasst: «– er habe danach erfahren müssen, daß das Leben der Liebe, einer starken, großen Liebe, nicht so leicht entkommen kann» (Schmerznovelle, S. 65).

Folgt man Avital Ronells in ihrer Studie Dictations. On Haunted Writing dargelegter Logik multipler wechselseitiger Heimsuchungen und Verdop-pelungen, so lässt sich bezüglich Kraussers Figurenkabinett darüber hinaus fragen, ob nicht auch hier eine solche Logik der Verdoppelung zugange ist. In diesem Sinne kann beispielsweise Johanna, die von Ralf einerseits in ge­radezu vampiristischer Weise als Erlöserin stilisiert wird, die er jedoch an­dererseits zu zerstören versucht, als Doppelung seiner Mutter, mit der ihn eine ähnliche Hassliebe verbindet, gedeutet werden. Die erste Objekttren­nung, nämlich die von der Mutter als Ausgangsbasis seiner “melancholi­schen Existenz” (Anne Dufourmantelle), würde somit durch seine Einver­leibung in Johanna – quasi als Rückkehr in den Mutterleib – aufgehoben werden. Gleichzeitig doppelt Johanna für Ralfs Mutter in deren ödipaler Gegenbesetzung ihren verstorbenen Sohn, indem sie “als Ralf” fortfährt, Briefe an diese zu schreiben. Gerade diese Briefe, die zusammen mit den “Originalbriefen” des Sohnes in den Text eingeschoben sind und dem Er­zähler durch ihren mit Ralfs Handschrift positiv ausfallenden Schriftpro­benvergleich Rätsel aufgeben, sind für Kraussers Spiel der Identitäten be­sonders exemplarisch, was anhand eines längeren Zitats aus dem vierten und letzten Brief veranschaulicht werden soll. Hier zeigt sich nicht nur in besonders eindrücklicher Weise, wie es Johanna, indem sie quasi Ralf wird, gelingt, ihre Beziehung nachträglich zu idealisieren und dabei zugleich durch seine Stimme ihre narrative Identität umzuschreiben, sondern auch die ambivalente Hass-Liebe zur (Schwieger)Mutter, die zwischen Todes­wunsch und Verschmelzungsphantasien oszilliert:

Laß Dir sagen, daß Du verstockt bist und grausam. Ich würde gerne einmal wieder nahe bei Dir sitzen und dich spüren, aber Du – Du machst hysterische Szenen, nur weil ich nicht aussehe, wie Dein klein­mütiger Geist sich mich vorstellt. Wir alle verwandeln uns, wechseln unsere Gestalt und die Körper. Doch die Liebe – sie verbindet alle Erscheinungsformen, weit über den Tod hinaus, sie allein bleibt ewig, durchdringt das Lebendige, ist die Wärme, die uns diese Welt ertragen läßt. […]

Mein Leben war glücklich, weil Johanna mich geliebt hat. Diese Liebe zu begreifen, wurde mir sehr spät zuteil. Lange nahm ich sie als etwas hin, das eben da war, nicht zu ändern, manchmal störte sie mich sogar, störte meine Welt, das jämmerliche verzerrte Abbild meiner Welt, meine Kunst. […] Sie hat sich nie beirren lassen, blieb rein, blieb sie – bei allem, was ich ihr antat. Wer hätte solches auch vermuten kön­nen? Daß mir, von allen Lebewesen ausgerechnet mir, die Gnade ge­schenkt worden ist.

Von alledem begreifst Du nichts. Ich schäme mich Deiner. Willst Du denn sterben, ohne mich noch einmal in dem Arm gehalten zu haben? Dann stirb, geh hin, Du wirst an Verstopfung krepieren, stirb von mir aus, woran Du Lust hast, Du wirst nicht verhindern können, daß ich für immer Johanna sein werde und sie für immer ich. Dann – dort – wirst Du mir die Hand reichen und ihre nehmen müssen, dann werden wir eins sein vor allem, ineinander zerschmolzen im Feuer, das Feuer – hab ich Dir je davon erzählt? Nie wirklich. Ich habe gebrannt, mein Fleisch ist Asche geworden, das war der Moment, da ich Gott ähnli­cher wurde, zum Verwechseln ähnlich, in einem Moment, der Dir noch bevorsteht, stirb, Du blöde alte Kuh, dann wirst Du wissen, wo­von ich all die Jahre an Dich, Geschöpf aus Stein, hingeredet habe. Wofür hast du denn je gelebt? Mich geboren zu haben? War das alles? […] Dann sei auf Dich geschissen, als hätten alle Engel des Himmels noch ein Arschloch, verrecke im Dünnschiß tausender Putten, er­trinke darin, Du verwahrloste Mutter, Du kleinmütige Karikatur eines gebärenden Scheusals! Ralf. (S. 102-103)

Es bleibt letztlich ungeklärt, ob Johanna bzw. Ralf den plötzlichen Herz­tod von Charlotte Palm verursachen oder ob dieser natürlich eintritt.

Die Verbindung, ja Verschmelzung – «Dann – dort – wirst Du mir die Hand reichen und ihre nehmen müssen, dann werden wir eins sein vor al­lem, ineinander zerschmolzen im Feuer» – von Johanna, Ralf und Charlotte Palm ist jedoch nicht die einzige Dreieckskonstellation, in der sich die Iden­titäten verschieben bzw. aufzulösen beginnen. So kann der Erzähler wiede­rum als Supplement für Ralf erachtet werden, als welches er von Johanna immer wieder adressiert wird – so beispielsweise, wenn sie feststellt: «“Sie sehen ihm ein wenig ähnlich. […] Ja, er hat ihre Mundpartie. Ihr Mund ist ein einziges Plagiat”» (40) – auch wenn er letztlich in dieser Funktion an der Frage scheitern muss: «“Du willst uns auseinanderbringen? Wie willst du ihn denn ersetzen? Wo ist deine Kraft?”» (S. 133 [Herv. i. O.]).

Und schließlich doppelt Johanna, so erfährt man beim Lesen in einzel­nen Andeutungen, Sonja, die einstige Liebe des Psychiaters, die ihm an­scheinend der Tod geraubt hat, was seinerseits ein tatsächliches Sich-Ein-lassen auf Johanna verhindert: «Hinten im Wagen kuschelte sie sich an mich. Warmer Atem an meinem Hals. Tat gut. Erinnerte an – ich schob sie prompt von mir weg» (S. 95). Dahingehend deutet Conter die Schmerznovelle als «Selbsterlösungsgeschichte des Arztes»[32], im Rahmen derer er seine zu­nehmende Dissoziation bewusst herbeiführe, um über das eigene Trauma des Verlustes hinwegzukommen. So Conter: «Sowie der Arzt die Patientin Johanna konsequent infolge des Modells der Gegenübertragung zu seinem Instrument der Selbstheilung gemacht hat, wird er zu seinem eigenen Pati­enten qua Projektion und emotionaler Reaktanz auf die Ich-Dissoziation von Johanna Palm zwecks Überwindung der für den Leser im Verborgenen gebliebenen traumatischen Liebesgeschichte zu Sonja» (“Zur Inthronisie­rung der Poesie”, S. 51).

In allen drei Dreieckskonstellationen dringt folglich ein parasitäres Drit­tes in eine idealisierte Paarbeziehung ein und subvertiert diese. Was jedoch Kraussers Text in der Behandlung dieses Motivs auszeichnet, ist, dass letzt­lich jede der Personen je nach gewählter Perspektive als dieser eindringende Parasit gelten kann. So untergräbt beispielsweise aus der Sicht Charlotte Palms Johanna die vormals intakte Mutter-Sohn-Beziehung, um ihr Ralf abtrünnig zu machen. Aus einer anderen Perspektive betrachtet ist es je­doch gerade Johanna, die den Erhalt dieser Beziehung über Ralfs Tod hin­aus gewährleistet. Zugleich wünscht sich Johanna Charlotte als Mutterer­satz, da sie selbst früh ihre Eltern verloren hat. Noch eklatanter verhält es sich mit dem Beziehungsdreieck Erzähler/Ralf/Johanna. Denn wenn der Erzähler auch Ralf eindeutig als einen störenden Eindringling auszumachen können glaubt, so gerät er unversehens selbst in diese Position, wenn Jo-hanna ihm entgegenschleudert: «“Ralf hat mich immer geliebt, und wir lie­ben uns noch, und niemand bringt uns je auseinander!”» (Schmerznovelle, S. 134). Über diese wechselseitige Rivalität der beiden Männer hinaus stellt der Text jedoch auch, quasi als eine weitere Beziehungsebene, homoerotische Konnotationen zwischen dem Erzähler und Ralf her, da es stets Momente sexueller Intimität sind, in denen Ralf in Erscheinung tritt. So etwa nach dem ersten Geschlechtsverkehr zwischen dem Erzähler und Johanna: «Ich mußte noch mal abspritzen. Es ging unglaublich schnell. Der Samen landete auf ihrem Bauch, auf ihren Beinen, die Stiefel traf ich nicht. “Nicht schlecht”. Sagte ER. “Du gibst ihr, was sie braucht”» (S. 94). Das Zitat ver­anschaulicht, ebenso wie die joviale Zusicherung Ralfs, der Erzähler habe von ihm «keine Repressalien zu erwarten» (S. 65), ein Geschlechterverhält­nis, im Rahmen dessen männliche Subjekte über Frauen, als Objekte des Begehrens, verfügen bzw. ihren Besitzanspruch untereinander aushandeln. Interpretiert man diese erotische Dreieckskonstellation vor dem Hinter­grund von Eve K. Sedgwicks Studie Between Men (1985)[33], so lässt sich das vordergründig umkämpfte weibliche Objekt des Begehrens gar als stören­des Drittes einer homosozialen bzw. homoerotischen Beziehung zweier Männer deuten, wodurch unversehens Johanna zum parasitären Fremdkör­per wird. Hierfür spricht auch die Identifikation des Erzählers mit Ralf, die insbesondere in deren analogen Sadismus gegenüber Johanna zum Aus­druck kommt, sowie die diabolische Macht, die Ralf zunehmend über den Erzähler zu gewinnen scheint. So schwankt denn auch deren letzte Begeg­nung, die ebenso nach einem Geschlechtsakt mit Johanna stattfindet, zwi­schen erotischer Anziehung und Überwältigungsphantasien, wie das fol­gende Zitat zum Ausdruck bringt:

Diese Stimme. Rauh, heiser, beherrscht. Diese Stimme redete zu mir, wie nichts sonst auf mich jemals eingeredet hat. Schlug eine Brücke, auf der vieles hin und her wechselte, Ahnungen, Erinnerungen, Er­fahrungen, Destillate des Lebens, Übersetzungen aus allen Sprachen in die eine Sprache des Gefühls.

Als würde ich Ralf Palm binnen einer Sekunde kennengelernt haben und wüßte nunmehr jede Regung seiner Seele voraus, wurde er mir vertraut, zwang sich mir auf, begann in mir zu wüten. Und ich ver­mochte ihm nichts entgegenzustellen. (Schmerznovelle, S. 135-136)

In diesem unlösbaren Konflikt aus schuldhaften Ersetzungen, mimeti­schen Begierden und unabschließbaren Verbindungen mit den Toten wählt Johanna schließlich die Flucht in den Suizid, welcher zugleich als Überwäl­tigung durch das verinnerlichte Objekt verstanden werden kann.

IV. Schluss und Ausblick

Sowohl Žižeks als auch Agambens Lektüre der Melancholie lassen einen wesentlichen Aspekt des Freudschen Konzepts unberücksichtigt, jenen der Inkorporation. Womit identifiziert sich der Melancholiker, wenn es nicht das Objekt ist, das ihm verloren geht? Lässt Žižek diese Frage unbeantwor­tet, so soll abschließend in der Zusammenführung der “ausgelegten Fäden” eine Antwort versucht werden. Diese lautet: Der Melancholiker identifiziert sich nicht mit dem Objekt des Verlustes, sondern dem Verlust selbst, nicht mit dem Toten, sondern mit dem Tod, nicht mit der Mangelhaftigkeit seines Liebesobjektes, sondern mit dem Mangel – kurz, er identifiziert sich nicht mit dem Objekt, sondern der Objektfunktion, dem Objekt klein a, der Ne­gativität per se, das, was Kristeva “melancholisches Ding” nennt[34]. Die Me­lancholie beschreibt vor diesem Lektürehintergrund somit eine radikale Vergegenwärtigung des Entzugs, die jedoch zugleich die genuine “Lücke im Ich” (Caroline von Günderrode) offenlegt, was sich exemplarisch mit Hilfe des Konzepts der Dissoziativen Identitätsstörung verdeutlichen ließ. Was hier wiederkehrt, im Sinne einer gespenstischen Heimsuchung, ist folglich die paradoxe Anwesenheit von Absenz.

Dieses melancholische Gewahrwerden der eigenen Absenz versucht auch Kraussers Text zu fassen, wenn sich Ralf in dem zweiten eingescho­benen Brief an seine Mutter erinnert:

Liebste Mamschi

wie ich wünschte, Du wärest hier bei mir, wenn ich wieder so friere und nachts die Felsen, die ich von mir, aus mir heraus gemacht hab, zurückkehren ins Fleisch, das tut weh. […]

Meine Gedanken schießen aus mir raus, alle meine Gedanken torkeln um mich herum, in mir ist nichts. Die Figuren verschwimmen.

Aber Johanna, das Licht, sie liebt mich noch, sie will mich nur erlösen, vielleicht ist das zuviel gewollt und niemand kann mehr etwas für mich tun. Wenn man alles versucht, und die Welt nicht antwortet, wenn sie das Spiel mit einem spielt, wie früher Vati, Du weißt, als er fragte, wo Ralf denn sei, und ich sagte: hier, hier bin ich doch, und er sah in die Luft und fragte, wo denn Ralf bloß ist, und ich klammerte mich an seine Hosenbeine, schrie: hier bin ich doch, hier, und Tante Helga und Onkel Fred spielten das Spiel noch lustvoll mit, sahen sich mit großen Gesten im Zimmer um, suchten den kleinen Ralf, und ich dachte, nie­mand könne mich mehr sehen, nie mehr. Und erst als ich laut geweint habe, hatte das Spiel ein Ende, Vati «fand» mich, hob mich hoch, das war kein Glück, war mehr als Glück, war die Begnadigung eines zum Tode Verurteilten, das ist was anderes, so nah am Tod vorbei kann sich dieser Zustand, auf den ich jetzt wieder warte, Glück nicht nen­nen. (Schmerznovelle, S. 81-82)

In dem Gewahrwerden der eigenen Absenz liegt auch der Gewinn, das Dissoziationskonzept mit jenem der Melancholie gegenzulesen, denn die Radikalisierung einer solchen Lektüre ist eine wechselseitige: Beschreibt die Dissoziation, wie aufgezeigt, eine dem Ich konstitutiv eingeschriebene Mul­tiplizität, so zeigt das Konzept der Melancholie, dass diese Vielheit nicht als colorful diversity, als kreatives “inneres Team” oder aber als fröhliches patchwork zu verstehen ist, sondern dass diese als unhintergehbare Negati­vität, der sich Identität nicht entziehen kann, gedacht werden muss. Hinter jeder Alterpersönlichkeit bzw. – präziser – hinter der Funktion der Disso­ziation selbst steht folglich die Absenz von Identität und damit letztlich der Tod, der dem Ich immer schon eingeschrieben ist, der dieses immer schon als sein Verschwinden heimsucht. Folgerichtig ist die Identifikation der Protagonistin mit ihrem Ehemann in Kraussers Schmerznovelle eine Liaison mit dem Tod und mündet dementsprechend auch in ihrem Sterben. Das Bergen des toten anderen im Selbst kündigt so die eigene Determination hin zum Tode an.

Literatur

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[1] Helmut Krausser, UC, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 437.

[2] Einen Überblick zum Motiv Dissoziativer Identität in der amerikanischen Gegen­wartsliteratur bietet Heike Schwarz, Beware of the Other Side(s). Multiple Personality Disorder and Dissociative Identity Disorder in American Fiction, Bielefeld 2013.

[3] Die Auseinandersetzung mit so genannten psychischen Devianzen, wie beispielsweise Obsessionen, Wahnzuständen bzw. Schizophrenie, findet sich auch in anderen Texten Kraussers. Vgl. hierzu etwa Thanatos 1996, Fette Welt 1999, Eros 2006 oder UC 2003.

[4] http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=3508&ausgabe=200104 (acces­sed 22 October 2018).

[5] Oliver Jahraus, “Die Geburt des Autors aus dem Geist der Romantik” in Sex – Tod – Genie. Beiträge zum Werk von Helmut Krausser, hg. v. Claude D. Conter, Oliver Jahraus, Göt­tingen 2009, S. 23-42 (S. 28).

[6] Helmut Krausser, Schmerznovelle, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 11.

[7] Kraussers Text weist sowohl in der Wahl des Titels als auch des Schauplatzes sowie in einzelnen Handlungselementen Parallelen zu Arthur Schnitzlers Traumnovelle auf. Vgl. hierzu Matthias Pauldrach, Die (De-)Konstruktion von Identität in den Romanen Helmut Kraussers, Würzburg 2010.

[8] So reflektiert der Erzähler eine der ersten Begegnungen mit Johanna: «In der linken Hand hielt ich den noch glühenden Stummel der Zigarette. Hätte ihn gerne in ihrer offenen Handfläche ausgedrückt, und hätte ich um Erlaubnis dazu gefragt, weiß Gott, ich glaube, sie wäre einverstanden gewesen. Hinterher läßt sich so etwas nicht mehr leicht beweisen, aber – sie hätte ja gesagt und mir die Hand gegeben. Ja. Ja!» (Schmerznovelle, S. 28).

[9] Conter stellt die Schmerznovelle in die Tradition der Amour-fou-Geschichte. Vgl. Claude D. Conter, “Zur Inthronisierung der Poesie im Gegenwartsroman. Zur Remythisierung romantischer Poesie im Werk von Helmut Krausser” in Sex – Tod – Genie. Beiträge zum Werk von Helmut Krausser, hg. v. Claude D. Conter, Oliver Jahraus, Göttingen 2009, S. 43-62.

[10] Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, Wien 1988, S. 57.

[11] Eva Horn, Trauer schreiben. Die Toten im Text der Goethezeit, München 1998, S. 15.

[12] Sigmund Freud, “Trauer und Melancholie” in Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud et al.,  20 Bnd., London 1940-52, X, S. 428-446 (S. 436). Freud räumt ein, dass es sich hinsicht­lich der Melancholie im Gegensatz zur Trauer nicht immer um den realen Verlust eines Liebesobjektes handeln muss, sondern dass sich dieser auch ideell, beispielsweise in Form einer Enttäuschung oder Kränkung, ereignen kann bzw. dass oftmals sowohl für Be­troffene als auch Therapeuten überhaupt unklar bleibt, was letztlich verloren gegangen ist. So Freud: «So würde uns nahegelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewußt ist» (“Trauer und Melancholie”, S. 3).

[13] Die erste Begegnung mit Ralf – «Es war ein schlimmer Moment, schlimmer als ich ihn mir vorgestellt hatte» (Schmerznovelle, S. 62) – lässt den Erzähler folgende Überlegungen anstellen: «Selbstverständlich hätte ich Palm fragen können, warum er ein Kleid trug und Reste von Lippenstift an den Mundwinkeln. Ich glaube indes, die Frage hätte ihm nicht wesentlich zugesetzt, er schien sich seiner Sache, seiner Entität ausreichend sicher. Ihm wäre schon etwas eingefallen» (S. 65).

[14] Die Dissoziative Identitätsstörung kann auf zwei Hochphasen zurückblicken, wäh­rend sie in der Zeit dazwischen weitgehend in Vergessenheit gerät: Ihre Entstehungszeit und erste Blüte von 1875-1910, wo sie als dédoublement de la personalité, alternierende Persönlichkeit oder double consciousness den zentralen Bestandteil des psychiatrischen Denkens darstellte, sowie ihre Renaissance in den neunzehnhundertsiebziger Jahren, die bis in die Gegenwart anhält. Während sie im neunzehnten Jahrhundert von Theoretikern wie insbesondere Alfred Binet und Pierre Janet in Frankreich, Morton Prince in den USA oder auch dem frühen Freud weitgehend der Hysterie zugerechnet wurde, bildete sich in den neunzehnhundertsiebziger Jahren aufgrund zunächst noch vereinzelter Fälle erneut eine psychiatrische Multiplenbewegung, welche die Multiple Persönlichkeitsstörung nun als eigenständiges Störungsbild auszumachen suchte. 1980 wurde die Multiple Persönlich­keitsstörung in das amerikanische Diagnosehandbuch für Geisteskrankheiten (DSM III) und 1992 in die von der WHO publizierte Internationale Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) aufgenommen und integrierte sich damit international in die Curricula der Psy­chiatrieausbildung. 1994 wurde das Störungsbild in der vierten Auflage des amerikanischen Handbuchs (DSM IV) in Dissoziative Identitätsstörung umbenannt.

[15] Vgl. hierzu American Psychiatric Association, Diagnostic and statistical manual of mental disorders: DSM-5, Washington 2013.

[16] Dass eine Dissoziative Identitätsstörung erst im Erwachsenenalter auftritt, wie dies Kraussers Novelle nahezulegen scheint, ist nach dem derzeitigen Stand der Forschung me­dizinisch nicht möglich.

[17] Vgl. James Glass, Shattered Selve. Multiple Personality in a Postmodern World, NY 1995.

[18] Ihab Hassan, “Prometheus as Performer: Toward a Posthumanist Culture”, The Georgia Review, 31/4 (1977), S. 830-850 (845).

[19] So gesteht sich der Erzähler sukzessive ein: «Ich fühlte mich von Johanna infiziert, und anstatt mich zu wehren, begab ich mich nach und nach auf eine Ebene mit ihr. Was ich an ihr heilen wollte, bewunderte und beneidete ich auch» (Schmerznovelle, S. 56).

[20] «Ich war der genialste Psychotherapeut der Welt» (Schmerznovelle, S. 38).

[21] Vgl. bspw. Oliver Jahraus, “Die Geburt des Autors aus dem Geist der Romantik”; Friedhelm Marx, “Schwarze Romantik? Helmut Kraussers Teufelsroman Der große Baga­rozy” in Sex – Tod – Genie. Beiträge zum Werk von Helmut Krausser, hg. v. Claude D. Conter, Oliver Jahraus, Göttingen 2009, S. 63-73.

[22] Im Vergleich zu anderen zeitgenössischen AutorInnen, welche die Brüchigkeit ihrer Figuren auch auf formaler Ebene in Form von Montagetechniken, wechselnder Erzäh­linstanz oder Sprachdekonstruktionen konsequent umgesetzt haben, wie beispielsweise Rainer Götz oder Elfriede Jelinek, bleibt Krausser in seinen Texten traditionellen Erzähl­techniken weitgehend verpflichtet.

[23] http://www.egs.edu/faculty/slavoj-zizek/videos/on-melancholy/ (accessed 22 Oc­tober 2018).

[24] Vgl. hierzu Jacques Lacan, Das Seminar, Buch X: Die Angst, Wien 2010.

[25] Sigmund Freud, “Jenseits des Lustprinzips” in Studienausgabe, hg. v. Alexander Mit­scherlich et al., 11 Bnd., F. a. M. 1969-1975, III, S. 213-272.

[26] So schreibt Freud: Die Melancholie «ist einerseits wie die Trauer Reaktion auf den realen Verlust des Liebesobjektes, aber sie ist überdies mit einer Bedingung behaftet, wel­che der normalen Trauer abgeht oder dieselbe, wo sie hinzutritt, in eine pathologische verwandelt. Der Verlust des Liebesobjektes ist ein ausgezeichneter Anlaß, um die Ambi­valenz der Liebesbeziehung zur Geltung und zum Vorschein zu bringen» (“Trauer und Melancholie”, S. 6).

[27] Sigmund Freud, “Totem und Tabu” in Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., 11 Bnd., F. a. M. 1969-1975, IX, S. 219-444.

[28] Ein ähnliches Zusammenfallen von Gewalt und Dissoziation findet sich auch in Kraussers Roman Thanatos, wo der Protagonist Johanser im Moment der Ermordung sei­nes Cousins Benedikt eine psychische Spaltung erfährt.

[29] Giorgio Agamben, Stanzen. Wort und Phantasma in der abendländischen Kultur, Zürich 2005, S. 38-39.

[30] Mit Lacan ließe sich Agambens Ansatz dahingehend weiterdenken – wie im voran­gegangenen Abschnitt bezüglich Žižek ausgeführt –, dass diese in der Negation stattfin­dende Aneignung des genuin durch Mangel gekennzeichneten Objekts in dem Verlust des Begehrens münden muss, da eben der für das Begehren notwendige Entzug des Objekts in dessen melancholischer Inbesitznahme verloren ginge.

[31] Avital Ronell, Dictations. On Haunted Writing, Bloomington 1986, S. 116-117.

[32] “Zur Inthronisierung der Poesie im Gegenwartsroman. Zur Remythisierung roman­tischer Poesie im Werk von Helmut Krausser”, S. 48.

[33] Eve K. Sedgwick, Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, NY 1985. – Sedgwicks Studie basiert auf René Girards Theorie mimetischen Begehrens, nach wel­cher nicht das Objekt selbst Begehren hervorruft, sondern das beobachtete Begehren eines Dritten das eigene Begehren bedingt. Girard entwirft hierfür den Begriff des “triangularen Begehrens”, im Rahmen dessen insbesondere die Beziehung der beiden RivalInnen an Be­deutung gewinnt. Vgl. René Girard, La Violence et le sacré, Paris 1985.

[34] Vgl. Julia Kristeva, Soleil noir. Dépression et melancholie, Paris 1987.