Miša Glišič

(Ljubljana)

Hybride Konstruktionen als identitätsstiftende Verortung
in Vladimir Vertlibs Roman «Viktor hilft»

[Hybrid constructions as a means of creating and locating identity
in Vladimir Vertlib’s novel
«Viktor hilft»]

abstract. In Vladimir Vertlib’s novel Viktor hilft reinventing identity, linguistic and cultural hybridization processes as well as re-localizations can be explained. The author describes polyphonic situations in the cross-cultural narrative process and indirectly pluralizes the concept of culture, advocating a transcultural understanding of modern cultures. The identity of literary figures, which require the foil of otherness, constructs itself in an overarching field of cultures. The discourse about the other shapes their own self-image.

1. Einleitung

In Vladimir Vertlibs Roman Viktor hilft werden soziokulturelle Identifikations- und Kulturmuster in der modernen Zeit thematisiert. Phänomene der Hybridität, Rassifizierung und Stereotypisierung werden im Rahmen gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse und vielfältiger Globalisierungsprozesse verstanden. Der Autor zeichnet die Gesellschaft im Modus eines literarischen Dialogs mit, indem er sich mit der Diskrepanz zwischen Eigenem und Fremdem befasst und einen Kulturraum, das über die sprachlichen Grenzen hinausgeht, konstruiert. Vertlibs Schreiben belegt bereits jene Verflechtungen von Erfahrungen aus verschiedenen Kulturräumen, aus der transkulturelle Literatur[1] entsteht. Sein Roman kann als Ausdruck einer kul-turellen Grenzüberschreitung und transkultureller[2] Durchdringung verstanden werden, denn im Text werden die Koexistenz und Interferenz unterschiedlicher Kulturen und Sprachen ersichtlich. Im Zentrum des Geschehens steht Viktor, ein ehemaliger russisch-jüdischer Migrant, der sich als freiwilliger Helfer in einem Flüchtlingslager in Salzburg anmeldet. Der literarische Text behandelt ernste zeitgenössische Themen mit Humor und verwickelt diese in die Lebensgeschichte des Protagonisten. Die literarische Hauptfigur pendelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart und reflektiert ihr Leben in Form zwischenmenschlicher Beziehungen. Mit empathischer Schreibweise und poetischer Sprache setzt sich der Autor mit der gegenwärtigen kulturellen Alterität auseinander. Durch sprachliche Polyphonie entstehen nicht nur kontrastive Akzente, sondern auch fließende Übergänge zwischen verschiedenen Modifikationen des Fremden und des Eigenen, bei denen es zu einer Herausbildung hybrider Ausdruckformen kommt. Der vorliegende Artikel wird Diskursmuster und Repräsentationsformen verschiedener Kulturen im literarischen Text erötern und auf das Hybriditätspotenzial im komplexen Spannungsfeld regionaler und überregionaler Traditionen, kultureller und nationaler Identität verweisen.

2. Hybride narrative Praktiken

Der literarische Text ist geprägt durch interkulturelle Erfahrungen. Schon am Beginn der Erzählung wird Interkulturalität, also die Beziehung zwischen zwei Kulturen, mit einem komischen Redestil dargestellt, und zwar: «Deutschland an Österreich. Bitte kommen. […] Österreich an Deutschland?» (Vertlib 2018, S. 23). Die Kommunikationssituation findet in einem Transitlager für Flüchtlinge statt, in dem der Protagonist freiwillige Arbeit leistet und aushilft. Die Verbindung zwischen den beiden deutschsprachigen Ländern wird mit bestimmten Redemitteln im Telefonat dargelegt. Der Autor integriert humorige Stilmittel, die auch befremdlich wirken, in den Erzählprozess hinein. Dadurch wird der kulturellen Komponente eine Zwischenposition verliehen, schließlich ist bei der rhetorischen Frage am Ende des Satzes ein ironischer Ton des Protagonisten ersichtlich. Das Zitat kann als eine positive wie auch negative narrative Konstruktion verstanden werden.

Unter anderem können auf der Sprachebene auch Verfremdungseffekte[3] beobachtet werden. Diese kommen mit dem Gebrauch von Fremdwörtern hinsichtlich der Zeitdimension zustande:

In seiner Jugend hätte er viertel acht gesagt, doch hier verstand das niemand. «Viertel acht», flüsterte er und schloss zum wiederholten Male die Augen, doch er konnte nicht einschlafen. [….] «Tschétwertj wasjmówa». Viertel acht war die Welt, aus der er kam, viertel nach sieben war wie eine Perchtenmaske. (Vertlib 2018, S. 70)

Die resultierenden Verfremdungseffekte korrespondieren mit der hybriden sprachlichen Gestalt des Romans. Der Protagonist erschafft in seinen Gedanken ein hybride Sprachformulierung, bei der es zu einer Pluralisierung des Zeitverständnisses kommt. Der unbewusste Sprachwechsel bezieht sich auf die zwiespältige Denkweise der literarischen Hauptfigur. Mit dem Gebrauch fremdsprachlicher Ausdrücke, wie zum Beispiel «Allahu akbar» (Ebda, S. 98) entsteht im Text eine sogenannte sprachliche Polyphonie, die eine heterogene Sprachgemeinschaft darstellt. Dieses sprachästhetische Verfahren wird auch bei der Ausarbeitung kultureller Differenzen angewendet:

«Ich bin freiwilliger Flüchtlingshelfer in Salzburg», sagt Viktor. «Ich helfe diesen sogenannten Antisemiten, und zwar gerade, weil ich Jude bin».
«Das weiß ich». Bruno seufzt. «Nobody is perfect». (Ebda, S. 134)

Bei der Erfahrung des Fremden[4] und des Eigenen kommt es zu einer sprachlichen Übergangssituation. Auch sprachliche Neuprägungen sind bemerkbar, wie das Kompositum «Allahu-akbar-Freunde» (Ebda, S. 131), das in zynischer Weise die Zusammenschließung der orientalischen Gemeinschaft widerspiegelt. Mehrsprachigkeit wird als hybride Sprachform verstanden. Gefühle der ständigen Entfremdung und Einverleibung werden im kreativen Prozess des Schreibens bewusster, schneller und radikaler durchgeführt und die Sprache selbst wird immer neu erschaffen (vgl. Vertlib 2008, S. 61f.).

3. Kulturelle Differenz

Der Sprache selbst wird eine Kulturdimension zugeschrieben. So gelten bestimmte Wörter als Repräsentationen jeweiliger Kultur. Die sprachlichen Varietäten werden auf regionales Identitätsverständnis transferiert und markieren eine Grenzlinie zwischen Sprachen sowie Kulturen:

«Einmal gingen wir tatsächlich in eines jener Gasthäuser an der Alten Donau, die sie so mochte. Sie freute sich sehr darüber, die vielen Gelsen ebenfalls».
«Du meinst Mücken, nicht wahr?»
«Nimm diesen Insekten bitte nicht ihre regionale Identität».
«Sie stechen auch ohne Identität».
(Vertlib 2018, S. 64; Hervorh. v. Verf.)

«Der Beziehungsmodus des Selbst zu Anderen ist durch fortgesetzte Re- und Umorganisationen wie auch Ambivalenzen geprägt» (Gutjahr 2015, S. 44f.). Kontrastierungen zwischen Deutschen und Österreichern werden an folgender Anspielung veranschaulicht: «Österreicher müsste man sein!», verkündet Bruno Beck begeistert. «Die Ösis, die haben noch Pepp, Phantasie, Witz» (Vertlib 2018, S. 231). Die Bezeichnung «Ösi» wird teils scherhaft als auch teils abwertend gebraucht. Mit diesem Zitat werden auch Machtpositionen hervorgebracht, denn der deutschen Kultur wird indirekt eine hegemoniale Stellung attribuiert. «Alle Identitätsbegriffe sind davon abhängig, ihre Grenzen zu markieren – zu definieren was sie sind im Verhältnis zu dem, was sie nicht sind» (Hall 2004, S. 218). Das Andere wird von der Umgebung als fremd empfunden, determiniert und unterstellt:

Viktors Mutter war keine Zionistin und hatte ihre jüdische Herkunft stets als Bürde, als Ursache für Diskriminierungen und Demütigungen erlebt. Die blieben ihr allerdings auch in Wien nicht erspart. Ihren Beruf als Bauingenieurin konnte sie in Österreich nicht ausüben. Ihre guten Deutschkenntnisse, ihre ausgezeichneten Qualifikationen und einige Jahre Berufserfahrung spielten keine Rolle. […] Schließlich fand Mutter Arbeit als Supermarktkassiererin. Dies sei für eine Ausländerin, eine Alleinerzieherin mit Kind, «angemessen», hieß es. (Vertlib 2018, S. 80)

Kulturelle Unterschiede werden im Text im Hinblick auf die Religion dargestellt. Das patriarchale System des Islams wird als radikale Fremdheit empfunden. Im Transitkamp zeigt ein Araber überhaupt keine Fürsorge für seine Familie und untersagt dieser eine medizinische Behandlung: «Er sagt, dann soll das Kind eben sterben, er habe ja noch andere Kinder”, erklärte Abdallah und wandte sich ab» (Ebda, S. 89). Auch Konflikte zwischen Judentum und Islam sowie die existenzielle Bedrohung der Juden werden thematisiert:

Wegen der vielen Flüchtlinge. Die meisten sind Moslems, und Moslems hassen Juden, sagen meine Eltern. Wenn es eine Krise gibt, dann haben immer wir Juden zu leiden, sagt mein Vater. So viele Rechtsradikale, Moslems und Gutmenschen auf einem Haufen – das kann nicht gutgehen, jedenfalls nicht für Juden. Die Juden meint Papa, sind in Krisenzeiten irgendwann immer die Angeschmierten, egal, auf welcher Seite sie stehen. Entweder die Nazis schlagen Moslems und die Gutmenschen tot und gehen dann auf uns los, oder die Moslems schlagen die Nazis und die Gutmenschen tot und gehen dann auf uns los, oder Nazis, Moslems und Gutmenschen tun sich zusammen und gehen gemeinsam auf uns los. (Vertlib 2018, S. 117)

Aus dem oben aufgelisteten Zitat ist zu entnehmen, dass jede Kultur eine eigene allgemeine Vorstellung gegenüber anderen hat. Die literarischen Figuren versuchen sich selbst zu bestimmen, indem sie sich von dem kulturell Anderen abgrenzen. «Symbolische Grenzlinien sind […] zentral für jede Kultur. Differenz kenntlich zu machen, führt […] dazu, die Kultur abzuschotten und alles was als unrein oder anormal definiert wird, zu stigmatisieren und auszugrenzen» (Hall 2004, S. 120).

4. Selbst- und Fremdbilder

Der Autor operiert in seinem Roman mit Selbst- und Fremdbildern. Der Protagonist pendelt zwischen diesen und wird von den Mitmenschen we-gen seiner Offenheit gegenüber dem Fremden, also den Flüchtlingen, kritisiert: «Du kümmerst dich um irgendwelche Fremden, die unsere Grenzen und unser Sozialsystem stürmen und unsere Kultur zerstören» (Vertlib 2018, S. 157). Viktor hat seine eigene individualistische Anschauungsweise, die sich von der der Gesellschaft vollkommen unterscheidet. Er ist empathisch und versetzt sich immer in die Lage der betroffenen Kultur. Die kulturellen Missverständnisse werden in einer Dazwischen-Positionierung betrachtet:

Die Vorstellung, dass ein Muezzin in den frühen Morgenstunden manche Menschen mit dem Ruf «Allaaahu akbar!» in Angst und Schrecken versetzen würde, lässt Viktor schmunzeln. Wenn sich jemand morgen mit einem «Grüß Gott» auf den Lippen in die Luft sprengt, wird dann «Grüß Gott!» auf einem zu einem faschistischen Schlachtruf? (Ebda, S. 165)

Der Protagonist distanziert sich nicht von der scheinbaren Kulturproblematik und versucht diese in einer belustigten Art zu verstehen. Die Fremdfeindlichkeit wird in dem literarischen Werk modifiziert: «Heute wird man ja schon Neonazi bezeichnet und angezeigt, wenn man das alte Kinderlied Zehn kleine Negerlein singt» (Ebda 2018, S. 234; Hervorh. im Original). Obwohl sich “die Becks” als offen für andere Kulturen zeigen, ist das Geschwisterpaar mit Vorurteilen belastet und hat eine verinnerlichte fremdfeindliche Einstellung:

Ich habe nichts gegen Zuwanderer und bin überhaupt nicht fremdenfeindlich. In meinem Betrieb arbeiten Türken, Serben, Russen, sogar ein Assyrer aus dem Irak ist dabei, aber wir müssen darauf achten, dass wir in unserem eigenen Land nicht irgendwann zur Minderheit werden und dem Propheten Mohammed huldigen müssen. (Ebda, S. 235)

Die nationalen Identitäten europäischen Staaten konstruieren sich nie exklusiv in Abgrenzung, sondern immer auch in Austausch zum Anderen (vgl. Varela/Dhawan 2005, S. 19). Eine extreme Grenzüberschreitung im Text bildet die Umwandlung eines verachteten Fremdbildes in ein eigenes vorgeblich bedrohtes Gesellschaftsbild: «“Die Juden schicken uns das ganze Muselpack, sie haben den Masterplan für den Genozid an uns Deut-schen entwickelt. Was Juden heute tun, ist ihre Rache für die Gaskammern von gestern”. […] “Wir, die national gesinnten Bürgerinnen und Bürger, sind die Juden von heute, man will uns auslöschen”» (Vertlib 2018, S. 269f.). In diesem ambivalenten Zitat erreicht Xenophobie den Höhepunkt.

4.1. Identitätssuche

Die literarischen Hauptfiguren möchten zu einem Selbstverständnis gelangen. «Von den Hauptfiguren sind alle […] an ihre Grenzen gestoßen und dadurch natürlich gefährdet in irgendeiner Form zu stolpern und zu stürzen» (JMH)[5]. Der Protagonist ist innerlich gespalten, denn sein nicht realisierbarer Wunsch nach einem eigenen Kind wird unterdrückt. Viktor möchte den Mitmenschen behilflich sein und unbewusst seine menschliche Komponente, also den Wunsch nach einem eigenen Kind verwirklichen, deswegen befolgt er den Anweisungen seiner ersten Liebe Gudrun und sucht nach seiner vermeintlichen Tochter. Man könnte behaupten, dass das Mädchen für den Protagonisten ein fremdes und zugleich unzugängliches Ideal darstellt. Für Viktor ist eine Verortung nur durch eine Familiengründung vorstellbar. Wegen seiner Infertilität kann diese jedoch nicht erfolgen. Nichtdestotrotz durchläuft der Protagonist bei seinem Aufenthalt in einem anderen Ort ein Identifikationsprozess, bei dem er sich unter anderem auch seiner Entwurzelung bewusst wird. Sein Zwiespalt wird durch das Gespräch mit Beate immer größer:

Wer bist du denn? Ein Gestrandeter, der die schlimmste aller Möglichkeiten gewählt hat, mit dem Schicksal fertigzuwerden, nämlich die eigene Wurzellosigkeit zum Ideal zu erklären. Statt sie als Bürde zu akzeptieren, willst du sie anderen Menschen, die eine echte Heimat haben und eine authentische, unverfälschte Kultur besitzen, aufhalsen, willst sie zwingen, genau solche Multikultigutmenschen zu werde wie du. Dabei braucht du das alles nicht. (Vertlib 2018, S. 158)

Durch Identifikation wird die eigene Herkunft verdeutlicht und auf Ei-genschaften, die man mit anderen Gruppen teilt, hingewiesen. Es kommt zu einer Kongruenz mit der vorbildlichen Vorstellung, die auf kultureller Solidarität und innerem Verbundensein beruht. Jedoch wird Identifikation als eine prozesshafte Konstruktion, die immer andauert, verstanden (vgl. Hall 2004, S. 169).

4.2. Kulturelle Determiniertheit

Im Text werden alle Religionen, Traditionen und Lebensweisen, die von dem Christentum und dem deutschsprachigen Raum abweichen, als fremd empfunden. Im Interaktionsraum zwischen «gegensätzlichen» kulturellen Systemen entstehen Asymmetrien: […] In der alten Heimat wurde Großmutter fortan stets wie eine Fremde behandelt. Man erlaubte ihr nicht einmal, ihre Herkunft zu verleugnen. Was ihr ohnehin ins Gesicht geschrieben war, stand nun schwarz auf weiß in ihren Papieren: Nationalität – Juden (Vertlib 2018, S. 77; Hervorh. im Original). Im Gespräch mit der angeblichen Tochter Lisa wird die automatische kulturelle Zuschreibung in Frage gestellt: «Was bedeutet es für mich, dass ich plötzlich ein bisschen jüdisch bin und einen Migrationshintergrund in zwei Generationen habe?» (Ebda, S. 171) Viktor wird von “den Becks”, bei denen Lisa kurzfristig wohnt, reflexhaft als orthodoxer Jude wahrgenommen. Ihm werden stereotypische Merkmale gemäß religiösen Vorschriften zugeschrieben:

«Es gibt Lammbraten. Es ist zwar nicht koscher …»
«Ich bin nicht gläubig», fällt ihr Viktor ins Wort. «Ich esse alles. Schweinefleisch, Schalentiere, Schinken-Käse-Toast». (Ebda, S. 131)

Das Subjekt muss in Kenntnis nehmen, dass Repräsentationen schon bestehen und einer Wahrnehmung bedürfen (vgl. Hall 2004, S. 173). Interessant erscheint auch die Tatsache, dass sich “die Becks” ein Bildnis von Juden machen und davon in jeder Hinsicht überzeugt sind: «Kein Wunder, Juden sind sehr begabte Leute, sie sind so programmiert. Deshalb sind viele von ihnen reich und erfolgreich. […] Du hast jüdische Gene, deshalb bist du so begabt und fleißig» (Vertlib 2018, S. 261). Obwohl Lisa nicht die biologische Tochter von Viktor ist, wird ihre Persönlichkeit anhand ihrer Herkunft bestimmt. Nicht nur ihr Charakter, sondern auch ihr Aussehen entspricht den Traditionen des visuellen Judenbildes: «Schaut euch doch die Augen, die Ohren und das Kinn der beiden an», […] «erstaunlich, wie sich Vater und Tochter gleichen, vor allem ist es natürlich die Nase. Richtige eineiige Zwillingsnasen!» (Ebda, S. 136f.) Auch Viktor wird sofort in einer Raststätte als russischer Jude erkannt: «Sie sind doch auch russischer Jude. Das habe ich gleich gesehen, als Sie hereingekommen sind» (Ebda, S. 116). Der Protagonist erinnert sich an die Gewalt während der Schulzeit und an die skeptische Kritik der Lehrer bezüglich Ausländerfeindlichkeit: «Seinen Freunden und Bekannten präsentierte Viktor ein gelungenes Leben. Manchmal erzählte er, ausführlich und launig, wie er als Schüler verprügelt und beschimpft wurde, wie manche Lehrer meinten, ein Ausländer gehöre nicht ins Gymnasium […]» (Ebda, S. 81). Flüchtlinge werden als fremd, gefährlich, dunkelhäutig und kriminell determiniert. Lisa nutzt diese weitverbreitete öffentliche Meinung aus und belügt die Mitmenschen, dass sie vergewaltigt worden ist. Bei der Polizei beschreibt sie ein allgemeines Charakteristikum der Araber: «Ich habe jemanden beschrieben, der arabisch aussieht, so allgemein wie möglich: schmales, kantiges Gesicht, große feuchte Augen, gekraustes, dichtes, sehr dunkles Haar, olivfarbene Haut, große, schlanke Statur. Irgendwen musste ich beschreiben, damit die Sache glaubwürdig klingt» (Ebda, S. 149).

Durch den Verlauf der Erzählung verschwindet die stereotypische Anschauung, vor allem wird dies beim Gespräch zwischen Viktor und Ali, einen Syrer, deutlich: «Wissen Sie, Sie sind der erste Jude in meinem Leben!», verkündet er begeistert. «Ich habe noch nie Juden gesehen, nur immer so Sachen über Sie gehört, aber Sie sind nett» (Ebda, S. 193).

5. Transkulturelle Kulturentwurfe

«Die kulturellen Determinanten sind heute von der Makroebene der Gesellschaft bis zur Mikroebene der Individuen transkulturell geworden. Jedes Kulturkonzept, das die heutige Wirklichkeit erfassen will, und jede kulturelle Aktivität, die nicht retrograd sein will, muß sich dieser transkulturellen Verfas-sung stellen» (Welsch 1996, S. 278). Das Transkulturalitätskonzept ist auch im literarischen Text unübersehbar. Vor allem bezieht sich dieses auf die Mischelemente verschiedener Kulturen. Goethes bedeutendstes literarisches Werk ist kanonisiert und in der Kultur fest verankert. Die Anbindung an die deutsche Kultur wird folgedermaßen dargestellt: «Tante Tatjanas Freud, ein Österreicher, den sie in ihren Briefen als “Unternehmer” bezeichnet hatte, war […] ein Mensch, den man nicht unbedingt freundlich und kultiviert nennen konnte. Das Einzige, war Viktor von ihm in Erinnerung blieb, war sein grauhaariger Pudel namens “Faust”» […] (Vertlib 2018, S. 79; Hervorh. v. Verf.). Transkulturelle Verflechtungen treten in alltäglicher Kommunikationssituation in den Vordergrund, und zwar schon bei dem Vorstellungsprozess und der Begrüßung:

«Beate Beck! Nennen sie mich einfach Beate. Oder Bee. Alle nennen mich Bee».
Viktor bietet ihr nicht an, ihn «einfach Viktor» oder gar «Witja» zu nennen. […]
«Schalom!», sagt der Mann und grinst über das ganze Gesicht.
«Grüß Gott!», sagt Viktor. (Ebda, S. 128)

Aus dem Zitat sind kulturelle Verflechtungen und Übergänge ersichtlich. Die nicht homogenen Schichtungen innerhalb einer jeweiligen Kultur werden auf eine komische Weise, und zwar mit einer Wortübernahme von anderen Sprachen, gekennzeichnet. Es entsteht ein Sprachwandel, der heterogene Schichtungen innerhalb einer jeweiligen Kultur darstellt. Die Übernahme sprachlicher Bestandteile aus einer Sprache in die andere ist ein Anzeichen für den gegenwärtigen Globalisierungsprozess, der immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die literarischen Hauptfiguren möchten diesen Trend verfolgen und auf dem neusten Stand sein, obwohl dieser im Gegenteil mit ihrer ursprünglichen Sichtweise ist. Im Roman ist erkennbar, dass Transkulturalität für den Menschen schon habituell geworden ist: «Irgendwas hatte ich mir zusammengeschnorrt, ich war noch nicht wirklich hungrig, aber bald völlig erschöpft, und als ich gespürt habe, dass ich tierisch hungrig bin, hat mir eine Roma-Bettlerin einen Euro geschenkt…» (Ebda, S. 138; Hervorh. v. Verf.). Solidarität, Mitmenschlichkeit und Empathie werden mit dem kulturellen Austausch zur Darstellung gebracht. Die transkulturelle Komponente[6] ist ebenso im Medienbereich präsent. Sogar Beate, die eine antagonistische Anstellung gegenüber anderen Kulturen hat, ist transkulturell geprägt, nur ist sie sich dieser Tatsache nicht bewusst. Schon als Jugendliche schaut sie mit ihrer Familie die Fernsehshow «Dalli Dalli» (Ebda, S. 158), derer Name den westslawischen Sprachen entspricht. Ihr Brüder Bruno ist ebenso von anderen Kulturen begeistert, schließlich ist seine Lieblingsspeise afrikanischer Linseneintopf. «Strukturell zeichnen sich hybride Phänomene durch ihre Prozesshaftigkeit, ihre permanente Dekonstruktion von […] Dichotomien aus. Und die Neukonstruktion […] kultureller […] subjektiver Identifizierungen hängt damit immanent zusammen» (Struve 2013, S. 100). Die kulturelle Vielseitigkeit reflektiert sich bei der Wohnungsausstattung “der Becks”, die exotische Gegenstände in ihrem Besitz haben. «Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Einzelkulturen von eins […], sondern überschreiten diese, finden sich ebenso in anderen Kulturen. […] Zudem sind die zeitgenössischen Kulturen weithin durch Hybridisierung gekennzeichnet. (Welsch 2017, S. 14; Hervorh. im Original).

5.1. Kulturelle Hybridisierung

Kulturen werden im Text in einem kontinuierlichen Prozess der Hybridität verortet. «Der Schlüsselkonzept der Hybridität kennzeichnet eine Sphäre, in der man sich innerhalb eines Geflechts der Kulturen dem kulturellen Anderen aussetzt, was bedingt, daß die zähen Traditionen, an denen das eigene Selbstverständnis jeweils festgemacht wird, gleichsam verflüssigt werden können» (Bachmann-Medick 1996, S. 279). Die Aussprache von Viktors Frau Kerstin ist eine Mischung aus dem nördlichen und südlichen deutschen Dialekt und stellt eine Hybriditätsvariante dar:

Sie hatte eine helle Stimme, aber eine schnoddrige Aussprache, verschluckte Wortenden und Silben und begann, wenn sie aufgeregt war, ihre Sätze mit den Worten «Mensch!» oder «Mann!». Ein Freund aus Wien hatte Viktor erklärt, Kerstin sei ihrer ganzen Art so deutsch, wie man nur deutsch sein konnte. Preußisch hatte er hinzugefügt und ließ sich von dieser Zuschreibung auch dann nicht abbringen, als ihm Viktor erklärte, sie komme aus Württemberg. (Vertlib 2018, S. 65)

Viktors Herkunftsort kann stets als eine hybride Konstruktion verstanden werden. Bei der Frage nach seinen Wurzeln bezieht sich der Protagonist auf die gesamten Zwischenstationen aus seinem Leben: «Aus Freilassing in Oberbayern, das ist bei Salzburg», erklärt Viktor. «Aber eigentlich aus Wien in Österreich wo ich aufgewachsen bin, und davor aus Lemberg, Lwów, wie meine Eltern sagten, damals, als ich geboren wurde, Sowjetunion. Heute Lwiw in der Ukraine» (Ebda, S. 175). Die Antwort des Protagonisten fungiert als andauernde Hybridisierung, über die Folgendes behauptet wird:

Hybridität […] ist ein Prozess kultureller Übersetzung, der qualvoll ist, weil er nie abgeschlossen ist, sondern immer unentscheidbar bleibt. Es handelt sich nicht einfach um Aneignung oder Anpassung; es ist ein Prozess durch den Kulturen genötigt werden, ihr eigenes Referenzsystem, ihre eigenen Normen und Werte zu revidieren, indem sie sich von ihren gewohnheitsmäßigen oder «angeborenen» Transformationsregeln trennen. (Hall 2004, S. 208)

Der Protagonist ist auf dem neusten Stand bezüglich des Spielzeugmarkts und weiß, was er den Kindern im Transitlager kaufen wird: «Viktor hatte Spielsachen und Schokolade gekauft, Papier und Stifte und einige Bilderbücher – einen Plüschhasen hatte er besorgt, Legosteine, Wackelköpfchen, Star-Wars-Figuren aus Plastik, eine Barbiepuppe, ein blaues Pony mit rosafarbener Mähne, eine Hello-Kitty-Mütze (Vertlib 2018, S. 70; Hervorh. im Original). Die aufgezählten Sachen sind vielseitig und stammen aus mehreren Ländern. Die konkrete Spielsachenauswahl repräsentiert sozusagen eine Mischung verschiedener Spielzeughersteller der Welt und hat demnach ein Hybriditätspotenzial. Die Vermischung kultureller Anschauungsweisen zeigt sich auch bei Viktors variierbarer nationaler Zuschreibung: «Üblicherweise hält man mich in Deutschland für einen echten Wiener und in Wien für einen Bayern» […] (Ebda, S. 113).

5.2. Transnationale Dimension kultureller Transformation

Der Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha befürwortet eine Überschreitung verankerter Zugehörigkeiten und versteht die kulturelle Identität des Individuums als eine Verknotung multipler Sichtweisen. Er spricht von einer wechselseitigen Durchdringung von Kulturen, die unlösbar in- und miteinander verschlungen sind. Demnach kann eine Verortung nur innerhalb eines «Dazwischen der Kulturen» erfolgen (vgl. Bhabha 2000). An Bhabhas Hybriditätskonzept lässt sich zeigen, dass die Individuen von heute eine Patchwork-Identität verfügen und Kulturen durch Heterogenität gekennzeichnet sind. Im Text wird Identität als Kontinuität begriffen. Die soziale Verortung ist wegen mehrerer kultureller Gebundenheiten niemals abgeschlossen und befindet sich in einem Bewegungsprozess: «Aber mein Freund ist Russlanddeutscher. Ich bin Jüdin, er ist Deutscher, wir reden Russisch miteinander, wir fühlen uns Deutsche, als Russen und als Europäer. Wir haben natürlich längst die deutsche Staatsbürgerschaft und schwärmen beide für Kanada» (Vertlib 2018, S. 113). Eine transnationale Dimension, die sich vor allem auf das humane Gemeinschaftsverständnis bezieht, kommt mit folgender Aussage zum Vorschein: «Russen, Araber, Österreicher, wird sind alle in erster Linie Menschen, Gott hat uns alle gleich geschaffen» (Ebda, S. 18f.). Die unvermeidliche kulturelle Ausweitung wird mit folgenden Worten ausgedrückt: […] Hier gibt es Moslems, in Israel gibt es Moslems. Man kommt ihnen sowieso nicht aus. Nicht einmal in Australien» (Ebda, S. 120). Der Roman weist auch auf Moralvorstellungen, die über kulturelle Grenzen hinweg reichen, hin: «Wenn ich ein Kind sehe, das leidet, frage ich nicht, ob es Flüchtling nach der Genfer Konvention und durch wie viele sogenannte sichere Drittländer es gekommen ist, sondern helfe ihm» (Ebda, S. 236). Viktors Großmutter identifiziert sich trotz grausamer Kriegsereignisse und Verfolgung mit der österreichischen Kultur:

[…] sie hatte eine kindliche Begeisterung für Wien, eine Stadt, die selbst niemals gesehen hatte, sondern nur aus Erzählungen und von alten Fotographien kannte. In ihrem Zimmer hing ein Bild von Kaiser Franz Joseph an der Wand […]. Niemand, auch nicht die Nachbarn, mit denen sie und ihre Familie eine Wohnung in der Lemberger Innenstadt teilen musste, wusste, ob dies als antisowjetische Propaganda oder als pure Dekoration gedeutet werden sollte. […] Doch in der Sowjetunion der Nachkriegszeit schien, nach allem, was in den Jahrzehnten davor geschehen war, Franz Joseph schon viel zu fern und zu fremd, als dass er Großmutter gefährlich werden konnte. (Ebda, S. 78)

Das oben aufgeführte Zitat kann als eine soziale Grenzüberschreitung gedeutet werden. Die Großmutter deplatziert sich fiktiv an einem unbekannten, fremden Ort, der zugleich vertraut erscheint. Identitäten sind niemals einheitlich, denn sie konstruieren sich aus unterschiedlichen, ineinandergreifenden, auch antagonistischen Positionen in einem historischen Transformationsprozess (vgl. Hall 2004, S. 170). Eine kulturelle Transgression kann beim Servieren der Nachspeise beobachten werden. Beate bietet den Gästen gleich mehrere Desserts an: «Es gibt Apfelkuchen, Himmbersorbet oder türkisches Baklava. Wer möchte was?» (Vertlib 2018, S. 144). Alle aufgelisteten Nachtische stammen aus verschiedenen Teilen der Welt und symbolisieren die Aufhebung kultureller Grenzen, denn weltweite Esstraditionen haben sich in das zeitgenössische Gesellschaftssystem längt integriert. Im Text wird sowohl auf die Ortslosigkeit hingewiesen: «Das prägende Merkmal unserer Zeit ist ihre Ortlosigkeit» (Ebda, S. 259).

6. Räumlichkeit

Der Roman setzt sich mit räumlichen Bewegungen auseinander. Im Vordergrund stehen die aktuelle Flüchtlingskrise und die Migrationserfahrungen von Flüchtlingen. Die Identität von literarischen Figuren wird durch Räume dargestellt. Der Protagonist befindet sich in einem transitorischen Prozess zwischen den Kulturen. Schon sein Wohnort in Freilassing, einer Stadt, die sich am Grenzgebiet zwischen Österreich und Deutschland befindet, ist ein Indiz für seine gespaltene Zwischenposition. Das Zwischen-Kulturen-Sein wird im Sinne beweglicher Selbstentwürfe als fortgeführtes Unterwegssein verstanden (vgl. Gutjahr 2015, S. 42). Viktor wird erst am Ende der Erzählung bewusst: «Irgendwann bin ich abgereist, aber ich bin nie wirklich angekommen» (Vertlib 2018, S. 283). Den Räumen[7] wird eine Machtpositionierung zugeschrieben. In der Hauptstadt Österreichs fühlt sich der Protagonist zerrissen und hilflos. Wien wird als fremd und schrecklich empfunden:

Das Wien seiner Kindheit war für ihn in erster Linie ein Ort der Schäbigkeit und der Armut, eine Stadt der gewalttätigen Männer und der keifenden alten Frauen, die über Ausländer, Gastarbeiter oder Juden, über alleinerziehende Frauen, verzogene Kinder und faule, langhaarige Studenten herzogen, Menschen, denen er, das jüdische Gastarbeiterkind und Sohn einer Alleinerzieherin, ohnmächtig ausgeliefert war, solange er noch klein und schwach war. (Vertlib 2018, S. 239)

Über die europäische Zugänglichkeit wird Folgendes behauptet: «Die Festung Europa hat eines ihrer gepanzerten Tore für kurze Zeit einen Spaltbreit geöffnet und bald wieder zugeschlagen» (Ebda, S. 185). An diesem Zitat lässt sich zeigen, dass kulturelle Räume offen und zugleich geschlossen sind. Jeder soziale Raum ist konstituiert durch die differenzierbaren Beziehungen zum Anderen (vgl. Hall 2004, S. 222). Unzugänglichkeit und Disparität werden mit dem Symbol der Grenze verdeutlicht: «Wenn ihr die Grenze und gleichzeitig das deutsche Volk seid, welche Völker wohnen dann diesseits und jenseits der Grenze?» (Vertlib 2018, S. 236). Die Grenze repräsentiert Trennung und Verbindung zugleich und sollte in einem kreativen Schwebezustand gebracht werden (vgl. Bhabha 2012, S. 81). Der Protagonist versucht sich mithilfe der Imagination zu verorten. Die Beziehung des Selbst zum Anderen beginnt als imaginäre und symbolische Begegnung im Traum: «[…] sein fiktives Kind stets vor Augen und stellte such vor, wie es heranwuchs und sich entwickelte, überlegte such, wie es aussehen könnte, welche Anteile es von Ihm hätte und was er ihm von seiner Familiengeschichte weitergeben würde […]» (Vertlib 2018, S. 116). «Die wechselnden Verortungen von Figuren im Raum sind selbst bedeutungs- und identitätsstiftende Akte, bei denen die kulturellen Wissensordnungen und gesellschaftlichen Hierarchien […] ständig neu gesetzt, reflektiert oder transformiert werden» (Hallet/Neumann 2009, S. 25).

6.1. Zwischenraum

In Zwischenräumen finden Kulturkontakte, die zu Durchmischungen führen, statt. «Die Globalisierung verwandelt die Welt in einen dezentrierten […] kosmopolitischen Raum, aus dem Hybridität hervorgeht» (Toro 2002, S. 33). In den sogenannten Zwischenräumen entsteht eine kulturelle Überschneidungssituation, bei der er es zu Überlappungs- und Vermischungsprozessen kommt. Das Büro der Sozialarbeiterin kann als ein Zwischenraum interpretiert werden:

Alles in diesem Raum erinnert an die tristen Verwaltungsräume im Camp Asfinag, bis auf ein paar Details, die sofort Viktors Aufmerksamkeit wecken. Rechst vom Fenster […] hängt ein gerahmtes Bild an der Wand. Das einen kalligrafisch kunstvoll gestalteten, geschwungenen Schriftzug auf Arabisch zeigt, schwarz auf grünem Hintergrund. Viktor kann nicht Arabisch, aber diese Worte erkennt er: Allahu akbar, Gott ist der Größte. Gleich neben diesem Bild hängt ein Kruzifix aus Holz und auf der anderen Seite des Fensters ein Foto, welches das Interieur einer Synagoge zeigt. Besonders auffallend sind eine Menora, der siebenarmige Leuchter, und ein großes rundes Fenster, in dessen Schiebe ein Magen David, der sechszackige Stern, eingearbeitet ist. (Vertlib 2018, S. 195f.; Hervorh. im Original)

Im Verwaltungsraum befinden sich unterschiedliche religiöse Symbole des Christentums, Judentums und Islams. Die Einrichtung repräsentiert eine Kooperation mit andersartigen religiösen Gemeinschaften und weist in einem einheitlichen Raum verwandte Elemente auf. Die religiösen Gegenstände stehen beieinander und entwickelt ein hybrides kulturelles Zeichensystem. Bei den theoretischen Auseinandersetzungen mit Phänomenen der Migration, Identität und Globalisierung artikuliert der Kulturwissenschaftler Bhabha affektiv die Präsenz des Anderen im Ich (vgl. Struve 2017, S. 16). Das russisch-jüdische Lokal, das sich in der Judengasse befindet, erfüllt nach der postkolonialen Theorie von Bhabha die Funktion eines dritten Raumes. In diesem Raum geht das Eigene in das Fremde über und es entsteht ein Dazwischen, in dem sich Hybridität endgültig entfaltet:

Das russisch-jüdische Lokal hatte Viktor schon bei seinem ersten Spaziergang durch die Stadt ausgemacht. Dass es sich in der Judengasse befindet, macht die Sache noch stimmiger. Das Interieur ist mit einer ganzen Sammlung russischer wie jüdischer Nippes dekoriert. Das Spektrum reicht von russischen Puppen und einemhinter der Kassa auf einem Regal ausgestalteten Samowar über Reproduktionen des russischen Landschaftsmalers Lewitan, fliegenden Ziegen und Schtetlim­pressionen von Chagall bis hin zu alten Fotografien von Odessa, einschließlich einer besonders großen, eine halbe Wand einnehmenden […]. Ein Bild des Schriftsellers Isaak Babel darf natürlich auch nicht fehlen. Auf der Speise karte befindet sich allerdings neben Blini, Kwas, Borschtsch, koscherem Wein, Falafel und Gefilte Fisch auch ein klassisches deutschen Angebot mit Würstchen, Sauerbraten, Schnitzel, Kebab und Schinken-Käse-Toast, die Kellnerin spricht Deutsch mit türkischem Akzent. (Vertlib 2018, S. 248f.)

Im genannten Raum kommt es zu einer Neufassung von Kulturen. Der dritte Raum ist eine räumlich fundierte Vorstellung eines Kontaktraums, eines Vermischungsraums, eines Zwischen- und Überlappungsraums von Grenzzonen und Grenzsituationen. Es handelt sich um einen Ort der Auseinandersetzung in und zwischen den Kulturen, in dem Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremdem destabilisiert werden können. Dieser Raum besteht aus Überlagerungen widersprüchlicher und differenter Schichten einer Kultur (vgl. Bachmann-Medick 2014, S. 205).

7. Schlussfolgerung

Vladimir Vertlibs neuster Roman ist eine Reflexion der heutigen Zeit, die durch globale Migrationen charakterisiert ist. Die Entfremdungserscheinungen moderner Gesellschaft applizieren sich auf die Schreibweise des Autors, die nicht nur eine besondere Sprachästhetik, sondern auch eine Poetik der Migration und des Fremden, die den Leser auffordert, sich eine Begegnung mit dem Anderen vorzustellen, entwickelt. Der literarische Text enthält Komponenten der Fremdheit und stellt kulturelle Unterschiede mit einem sprachästhetischen Verfahren in den Vordergrund. Das Problem kultureller Fremderfahrung hat sich nachdrücklich als wichtigster Kontext li-terarischer Texte und ihrer kulturspezifischen Rezeption etabliert (vgl. Bachmann-Medick 1996, S. 12). Der Protagonist hinterfragt seine eigenen Erfahrungshorizonte in einem Nebeneinander von völliger Fremdheit und absoluter Vertrautheit. Die stattfindenden Übergänge zwischen den Kulturen im Text verflechten unterschiedliche Daseinsformen und versuchen diese in eine Relation zu setzen. Das Verhältnis von Ich und Welt und den Entwicklungs- und Selbstfindungsprozessen wird in einem plurikulturellen Horizont veranschaulicht. Im Sinne dessen sollten sich die gegenwärtigen Kulturen an menschliche Gemeinsamkeiten richten und dazu beitragen, dem Dazwischen einen Eigenwert zu verleihen. Die produktive Perspektive einer speziellen Form von Hybridität liegt in der räumlichen Konstellation multipler Identitäten, die mit diesem Roman aufgerufen wird. Anschließend sind «Räume in der Literatur […] menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungswesen zusammenwirken» (Hallet/Neumann 2009, S. 11).

Literatur- und Quellenverzeichnis

Primärliteratur

Vertlib, Vladimir: Viktor hilft, Wien: Paul Zsolay Verlag 2018.

Sekundärliteratur

Bachmann-Medick, Doris: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive. In: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, hrsg. von Doris Bachmann-Medick, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 262-298.

Bachmann-Medick, Doris: Kultur als Text? Literatur- und Kulturwissenschaften jenseits des Textmodells. In: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektive, hrsg. von Ansgar Nünning und Roy Sommer unter Mitarbeit von Stella Bunter, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 147-159.

Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 5. Auflage mit neuem Nachwort, Reinbek bei Hamburg: Rowolth Taschenbuch Verlag 2014.

Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000.

Bhabha, Homi K.: Vorwort. In: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Aus dem Englischen von Kathrina Menke, hrsg. und eingeleitet von Anna Babka und Gerald Posselt, Wien/Berlin: Verlag Turia + Kant 2012.

Gutjahr, Ortrud: Interkulturalität psychoanalytisch? Migration und Konstruktionen der Anderen in Literatur und Film. In: Interkulturalität. Konstruktionen des Anderen, Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 34, hrsg. von Ortrud Gutjahr, Würzburg: Königshausen & Neumann Verlag 2015.

Hall, Stuart: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg: Argument Verlag 2004.

Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, hrsg. von Wolfgang Hallet und Brigit Neumann, Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 11-32.

Nünning, Ansgar: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler Verlag 1998.

Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden: Springer Verlag 2013.

Struve, Karen: Grundlagen der postkolonialen Theorie. Homi K. Bhabha. In: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, hrsg. von Dirk Göttsche, Axel Dunkel und Gabriele Dürbeck, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2017, S. 16-20.

Toro, Alfonso De: Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept. In: Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, hrsg. von Christof Hamann und Cornelia Sieber, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2002, S. 13-52.

Varela Castro Mar, Maria Do/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: Transkript Verlag 2005.

Vertlib, Vladimir: Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur, 2. bearbeitete Auflage, Dresden: Thelem Verlag 2008.

Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart: Reclam Verlag 1996.

Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Realität – Geschichte – Aufgabe, Wien: new academic press 2017.

Onlinequellen

Jüdisches Museum Hohenems: Viktor hilft – Lesung und Gespräch mit Vladimir Vertlib 2018. Youtube, LINK [30.03.2019].



[1] In den literarischen Texten von Vladimir Vertlib zeigen sich inter- und transkulturelle Weltanschauungen im Hinblick auf die diskursiven Darstellungen der Alltagskultur, bei denen Selbst- und Fremdbilder unter die Lupe genommen werden.

[2] Transkulturalität lässt sich als eine dynamische Interaktion unterschiedlicher Identitäten und Kulturen verstehen.

[3] Im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie werden diese als ästhetische Verfahrensweisen in der Kunst, bei denen das Gewöhnte bzw. Bekannte fremd gemacht und die unsichtbaren Bewegungsgesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens parabelhaft zur ästhetischen Anschauung gebracht werden, verstanden (vgl. Nünning 1998, S. 552).

[4] In der zeitgenössischen Literatur ist eine Variation kultureller Repräsentationen des Fremden und des Eigenen, die per Dekonstruktion operieren, präsent.

[5] Lesung von Vladimir Vertlib mit Hanno Loewy am 15. November 2018 im Jüdischen Museum Hohenems. Im Folgenden JMH.

[6] Hybride Kulturen werden im Sinne einer komplexen Mischung und spannungsrei-chen Überlagerung von kulturellen Differenzen verstehbar (vgl. Bachmann-Medick 2004, S. 154).

[7] Raumdarstellungen erschließen die Wirklichkeit und werden in literarischen Texten als kulturelle Bedeutungsträger, die eine anschauliche Manifestation von Kulturen darstellen, verstanden (vgl. Hallet/Neumann 2009, S. 11).