Ursula Klingenböck

(Wien)

«Nun also die Krähen»[1]
Krähen-Narrationen und -Narrative bei Monika Maron

[«Now then the crows». Monika Maron’s Crow-narrations and Crow-narrative]

abstract. This article focuses on Monika Maron’s Krähengekrächz (2016) and Munin oder Chaos im Kopf (2018). Adopting the approach of Literary Animal Studies, it primarily analyses the diegetic creature “crow”: the species “crow” as well as its individual exponent Munin, which is anthropomorphized, disposes of speech and agency and represents not just a narrated “object” but a narrating “subject”. Subsequently, Maron’s crow-narrations, concretizations of a metanarration / a (cultural) narrative “crow”, are shaped in their relationship to fictional (literature) and factual (popular science) narratives of the crow and evaluated on their importance for current animal-discourses.

0. Vorbemerkungen[2]

Innerhalb der Tier-Literatur der Gegenwart zeigt sich – neben den Konstanten Hund, Affe und Wolf – ein gesteigertes Interesse an Krähen. Der Krähen-Präsenz in der fiktionalen Literatur korrespondiert ein Krähen-Fokus in den Bereichen des (populären) Sachbuchs[3] sowie des (wissenschaftlichen) Feuilletons. Mit Monika Marons Krähen-Texten lenkt der folgende Beitrag das Interesse mit der Gattung Corvus auf ein Non-Flagship-Animal und forciert eine mit Arbeiten unter Einbeziehung bzw. mit Fokus auf Gegenwartsliteratur (exemplarisch die Monografie von Bodenburg 2012 sowie die Sammelbände von Borgards/Pethes 2013, Bühler-Dietrich/ Weingarten 2015, Spannring/Schachinger/Kompatscher u.a. 2015) bereits initiierte Ausrichtung der Literary Animal Studies auf zeitgenössische Literatur. Der Beitrag folgt in seinen theoretischen und methodischen Grundlegungen den Literary Animal Studies, in der Annahme einer Reziprozität des Verhältnisses von Worttieren und realen Tieren den Cultural Literary Animal Studies[4]. Der erste Abschnitt unternimmt – nach einer kurzen Sondierung von Marons Krähen-Texten – eine Konturierung des Narrativen, um es für die anschließende Analyse von Roman und Essay operationalisierbar zu machen. Ausgehend von der in dynamischen Entwürfen unterschiedlicher theoretischer Provenienz grundgelegten Relationalität von Texten sind Krähengekrächz und Munin oder Chaos im Kopf in einem zweiten Abschnitt über intertextuelle Modelle in Bezug zueinander sowie zu anderen fiktionalen und faktualen Krähen-Narrationen, aber auch zu einem in seinen Konstituenten erst zu bestimmenden Krähen-Narrativ zu setzen. Schließlich sind Krähen-Narration und Krähen-Narrativ in fachlichen und allgemeinen Diskursen um das Tier zu justieren.

1. Marons Krähen-Narrationen

Seit den 1980er Jahren erzählt Monika Maron zwar nicht hauptsächlich, aber immer wieder auch Tiere[5] – Hunde, Katzen und Singvögel (zu denen auch die Gattung Corvus gehört) – wie z.B. in der Projektion der Reinkarnationserzählung in Das Missverständnis (1982), in der zeichenhaften und die Peripetie initiierenden Imagination der Drossel in Flugasche (1981) sowie in der Ekphrasis der Schlachtfeld-Krähen von Henri Rousseaus La Guerre (1894) in Die Überläuferin (1986). Zentral werden sie in den beiden jüngsten Büchern, Munin oder Chaos im Kopf (2018)[6] und Krähengekrächz (2016). Mit Roman und Essay fokussiert der Beitrag auf Beispiele fiktionaler und nicht fiktionaler / faktualer Prosa, die – trotz ihrer unterschiedlichen Referenzbereiche – über die Qualität des Narrativen, verstanden als «Schlüsselkategorie»[7], zusammengeführt werden können[8]. Flankiert von aktuellen und vergangenen Begegnungen mit realen Tieren, deren kulturellen Repräsentationen und ihrer subjektiven Reflexion, erzählt Krähengekrächz von der Annäherung der autodiegetischen Erzählerin an eine Gruppe urbaner Krähen. Während der Band von der Literaturkritik (nicht zuletzt als Aktualisierung der “kleinen Form”) bemüht positiv aufgenommen wurde, hat der ebenfalls bei Fischer erschienene Roman Munin oder Chaos im Kopf stark polarisiert und heftige, insbesondere auf die (“rechte”) Ideologie des (als agitatorisch gelesenen) Textes fokussierte Kritiken provoziert[9]. Sitzen sie zum einen einer längst obsolet gewordenen Gleichschaltung von Autorin und Erzählerin auf, die auch Texte wie Monika Marons Links bin ich schon lange nicht mehr methodisch nicht rechtfertigen, immunisieren sie sich zum zweiten gegen die List eines unzuverlässigen Erzählens, und zum dritten verkennen sie die metaisierende Qualität des Romans in seiner literarischen Inszenierung öffentlich-medialer / narrativer (Inter)Diskurse[10], in der die Grenzen des Sagbaren ausgereizt werden. Als fiktionaler Text führt Munin in drei Handlungssträngen (das historische Ereignis des 30jährigen Krie­ges, die aktuelle Auseinandersetzung in einer namenlosen Straße Berlins – beide werden durch das Schreibprojekt der Protagonistin und, methodisch riskant, mehrfach aufeinander gespiegelt und da­durch potenziert –, die Handlung um Mina und die Krähe Munin) und geschichts- bzw. kulturpessimistisch coloriert[11], religiöse, politische und gesellschaftliche Dynamiken vor, um sie – zweifellos provokant – zur Disposition zu stellen. Motivisch und figürlich verknüpft sind die Handlungen durch eine von der Kritik zum Trumpf eines ansonsten problematischen Textes stilisierte Krähe.

2. Wort-Krähen – Krähen-Worte.

Krähengekrächz und Munin oder Chaos im Kopf interessieren zunächst als Einzel-Texte narrativer Qualität, als Narrationen. Verstanden als konkrete Manifestationen eines in den «temporären Formen»[12] “Essay” und “Roman” medialisierten und materialisierten Narrativs “Krähe” erzählen sie von “der” Krähe als zoologischer Gattung (Corvus), vor allem aber als historischem, kulturellem sowie mythologischem Konstrukt; sie erzählen aber auch von “einer” (ganz konkreten) Krähe: Minas Krähe Munin. In der Differenzierung der Text-Krähe/n in diegetische (Lebewesen in einem diegetischen Universum) und non-diegetische bzw. semiotische (Namen, Metaphern) Tiere folgt die Untersuchung ein Stück weit Borgards[13], in der Textanalyse fokussiert sie dagegen vermehrt auf narratologische Kategorien. Für eine Systematisierung des Analyseteils wird die Unterscheidung in “animal narratum” und “animal narrans” eingeführt: Marons Krähen interessieren als beobachtete und erzählte “Objekte” wie als – wiederum: erzählte – beobachtende und sprechende/erzählende “Subjekte”.

2.1. Erzählte Krähe/n

Abgesehen von moderat gebrauchten semiotischen Tieren[14] gibt es in Marons Roman diegetische Tiere: Haustiere, ausschließlich über ihre Spuren erschließbare und als “Schädlinge” kategorisierte Wildtiere und, gleichsam als Repräsentanten einer “neuartigen”, auf den (inner)urbanen Raum als gemeinsames Habitat von Menschen und nicht domestizierten Tieren fokussierenden Kategorie «Stadtwildtiere»[15], die Krähen. Munin oder Chaos im Kopf folgt elementaren narrativen Operationen, indem es sein selektiv-signifikantes Erzählen in einem seriell und taxonomisch verknüpften und in der individuellen Story über drei Handlungsstränge realisierten Plot-Schema organisiert[16]. Von besonderer Bedeutung für die Krähen-Erzählung ist die im Bereich der Motivation verortete «Zurechnung von Begebenheiten auf [hier: tierische] Akteure»[17]. Minas Krähe ist hochgradig individualisiert und personalisiert: Sie führt einen Namen[18], ist über das Distinktionsmerkmal einer fehlenden Kralle als disabled animal, per spontaner Zuschreibung durch die Protagonistin als weiblich markiert und damit über multiple Kontexte von “Otherness”[19] determiniert. Obwohl oder gerade weil die Krähen im Roman wesentlich über ihre Relationierung zu Nicht-Krähen (zu Tieren und insbesondere Menschen) charakterisiert werden, werden sie anthropomorphisiert – “menschliche” Eigenschaften wie Absicht, Einsicht, Tugend, Verstand, Gerechtigkeitsempfinden, Emotion, Moral, Ironie etc. werden auf Munin projiziert – und personifiziert. Dennoch ist die Subjektfähigkeit Munins über die Erzählinstanz eingeschränkt: Ihr Platz in der Narration wird der Krähe durch die fiktive und erheblich an der Diegesis partizipierende[20] Erzählerin (Mina Wolf, geschieden, jenseits der Fünfzig, freie Schriftstellerin und wohnhaft im Berlin der 2010er Jahre) hegemonial und aus menschlicher Perspektive zugewiesen. Obwohl Munin als Beobachterin zweiter Ordnung auftritt und mit Handlungsmacht (verstanden als Bedeutungen stiftende Aktivität zwischen Akteur*innen)[21] ausgestattet ist, erhält sie keine eigene «Blickrichtung», die sich in der Erzählweise der Innensicht «substantiieren»[22] würde: Was Munin wahrnimmt, denkt, fühlt wird ausschließlich über die Artikulation in der direkten Figurenrede hörbar.

2.2. (Erzählte) Erzählende Krähe

Was für das (erzählte) Sehen der Krähe gilt, trifft auch für deren (erzähltes) Sprechen als spezifisches Moment von Agency zu: Sprechen-Lassen ist ebenso wenig ohne Vereinnahmung möglich wie Sehen-Lassen, und trotz des Authentizität signalisierenden Registers der direkten Rede ist auch die Wiedergabe des Figurentextes (als Zitat von Fremdrede) durch eine menschliche Erzählerin und damit anthropozentrisch vermittelt[23]. Munin oder Chaos im Kopf erzählt mithin die menschliche Fiktion einer über Krähen-Worte artikulierten Krähen-Perspektive. In Munin sieht sich die Erzählerin mit zunächst fremden, non-[24] wie paraverbalen Zeichenangeboten und -deutungen, schließlich mit verbalen Äußerungen konfrontiert. Das Überraschende ist dabei weder die Sprechfähigkeit der Krähe an sich noch der gemeinsame verbalsprachliche Code (er bedarf keiner “Übersetzung”), sondern dessen Artikulation über eine “menschliche” Stimme, die jener der Erzählerin ähnelt. Über ihre innere oder äußere Qualität gibt die Form der dialogisierten Figurenrede (auch wenn die Wahrnehmung Minas wiederholt einer Versicherung, die Gesprächsanordnung mit einer Krähe einer Legitimation bedarf) zunächst keine Auskunft: Erst das Korrektiv einer Kontrollinstanz (Munins Stimme ist für Minas Freundin Rosa nicht hörbar) entdeckt das von der Krähe initiierte und von dieser durchgehend (!) kontrollierte Gespräch zwischen Mina und Munin als dialogischen (inneren) Monolog und damit als inszeniert[25]. Mina spricht zu einer physisch vorhandenen Krähe und hört ein (nur für sie wahrnehmbares), in der Krähe figuriertes und externalisiertes fremdes Eigenes / eigenes Fremdes[26]. Die Verortung des Dialogischen im Bewusstsein der Erzählerin bleibt nicht ohne Konsequenzen für die ontologische Konzeption der Krähe im Text: Indem ihre (verbale) Sprachmacht imaginiert, ein Übernatürliches durch die psychische Verfasstheit der (insofern unzuverlässigen) Erzählerin erklärt wird[27], reduziert der Roman die Krähe wenn nicht ex post, so doch an später Stelle im Text von einem in seiner Körperlichkeit und Anwesenheit realistischen, in seiner Sprachfähigkeit phantastischen Hybridwesen auf ein realistisches Tier in einem realistischen Erzähluniversum. Einer konfrontativen und insofern symmetrischen Konstruktion von Ich und Du als Repräsentanten von Wir- und Ihr-Gruppen, von Mensch und Krähe/Tier im (imaginierten) Dialog steht eine asymmetrische und wesentlich monologische Matrix von “Wir” und “Sie’[28] in den Erzählungen des 30jährigen Krieges und der aktuellen Situation im Quartier gegenüber. Entwickelt werden die (innerdiegetischen) Krähen-Narrationen im Erzähler- und Figurentext (beide kongruieren im Ich der Sprecher-Protagonistin), im Roman auch über die Rede der als “animal loquens” in alltäglichen und fachlich grundierten Kommunikationformaten (wie z.B. die philosophische Reflexion, das dialektische – und dialogisch inszenierte – Gespräch) sowie, in dessen kulturtechnischer Spezifizierung, als “animal narrans” (z.B. von “Familien”biographemen im doppelten Sinn von partieller Abstammungs-/Verwandtschafts- wie Gattungsgeschichte) konzipierten Krähe.

3. Krähen-Narrationen, Krähen-Narrative und Krähen-Diskurse

Indem Marons literarische Krähen mit Borgards und im Sinne der Critical Literary Animal Studies als «Elemente spezifischer, aus Texten, Konzepten und Praktiken zusammengesetzter Konstellationen»[29] betrachtet werden können, liegt eine Lektüre der Krähen-Texte vor dynamischen – hier: intertextuellen und diskurswissenschaftlichen – Theoremen nahe. Im Sinne eines extensiven Text-Begriffs interessieren Krähengekrächz und Munin oder Chaos im Kopf in ihrer Relationalität – einerseits zu konkreten, medial unterschiedlich realisierten und materialisierten Krähen-Narrationen, andererseits zu einem abstrakten Krähen-Narrativ.

3.1. Quellen, Text und Prätext

Krähengekrächz wie Munin oder Chaos im Kopf stellen sich in die Tradition ganz konkreter Krähen-Narrationen und -Narrative – funktional beschreibbar als «einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten oder diesen zugrundeliegende[] Codes und Sinnsysteme[]»[30] –, in die sie sich auch einschreiben. Das augenfälligste Indiz ihrer Selbstverortung ist die Explizitmachung von Referenzen faktualen (insbesondere populäre Sachbücher, Medienberichte und private wie kommerzielle Social-Media-Blogs) und fiktionalen (Krähen-Gedichte, -Romane und -Filme) Zuschnitts über die Verfahren der (namentlichen) Setzung und des paraphrasierenden bzw. wörtlichen Zitats. Dem Essay ist mit dem Motto aus Reichholfs Rabenschwarzer Intelligenz, (2013) ein allographer Paratext/Peritext[31] von nicht nur die Lektüre steuernder, sondern – im Sinne eines universalen tierethischen und eines speziell auf die Krähe fokussierten tierschützerischen Interesses – auch obligatorischer, deklarativer und appellativer Funktion[32] vorangestellt. Ein Spezifikum ist das im wiederholten Selbstzitat – kokette und selbstironische Bezugnahmen der Erzählerin auf «die Autorin» (i.e. Maron) und ihr «Büchlein»[33] (i.e. Krähengekrächz), das sich für Minas Krähen-Studien nicht zuletzt aufgrund seiner Niedrigschwelligkeit und Kürze, aber auch aufgrund einer ihm vorneweg attestierten Seriosität als genau richtig erweist – ausgestellte intertextuelle Verhältnis. Die Methode und wohl auch Strategie einer genetisch-genealogischen Konstellierung (der zwei Jahre zuvor erschienene Essay wird als Vorstudie des erst zu schreibenden Romans eingeführt und für diesen funktionalisiert) ist aus Marons Schreib- und Publikationspraxis, so auch für ihre Tier-Texte, bekannt[34].

3.2. Krähen-Narrative / Krähen-Diskurse

Essay und Roman beziehen ihre wesentliche Legitimation zum einen aus explizit genannten Quellen, um diese über deren Auswahl erstmals oder erneut zu autorisieren und als dominierende Narrationen in Wissen und Orientierung stiftenden Kontexten[35] zu markieren; ob diese dabei affirmiert oder dekonstruiert werden, ist (soweit) nebensächlich. Zum anderen sind für Krähengekrächz und Munin oder Chaos im Kopf Referenzen relevant, die nicht als “feste” Texte im Sinne einer stabilen konkreten Narration /deren auktorialer und/oder medialer Fixierung gefasst, in ihrer Zirkulation und Kenntnis aber vorausgesetzt werden. Als (unterschiedliche) Narrative konstituieren sie zusammen ein als “Summe” aller tatsächlichen und möglichen Krähen-Erzählungen beschreibbares (Meta-)Narrativ. Die Frage nach der Phänomenologie der Krähe wird in Marons Roman für diverse historische Kontexte gestellt, in ihren unterschiedlichen Positionen über faktuale (auto/biografische) wie fiktionale (religiöse, mythologische, kulturelle, literarische) Narrative aufgerufen[36] und als veränderlich in der Zeit skizziert: So erscheint die Krähe (als Kundschafterin und Ratgeberin der Götter, Kriegs- und Totenvogel, intelligente Zeitgenossin des Menschen, unheimliche Bedrohung etc.) vieldeutig und widersprüchlich. Aber auch einzelne Narrative als solche werden in ihrer Ambivalenz ausgewiesen, z.B. tradiert die von Mina wie Munin gleichermaßen als Legitimations- und Konsekrationsnarrativ beanspruchte Paradiesgeschichte – u.a. in der “Form” des biblischen Schöpfungsberichts (Gen 2-3) – sowohl eine Geschichte der Gemeinsamkeit als auch eine der Separation von Tier und Mensch, die im metaphorischen Sehnsuchts- (Mina) oder Erinnerungsort (Munin) des Paradieses als re-transzendierbar[37] vorgestellt wird.

Wenn für Krähen-Narrative im Folgenden eine diskurswissenschaftliche Perspektivierung gewählt wird, ist das in einem funktionalen wie in einem strukturellen Naheverhältnis von narrativer und diskursiver Praxis grundgelegt: Kann das Erzählen einerseits als kommunikative Operation, die Erzählung als «semantischer und kommunikationspraktischer Möglichkeits­r[a]um[]»[38] des Diskurses verstanden werden, konvergieren Narrativ und Diskurs andererseits in ihrer dynamischen und reziproken Konzeption. In einem nicht nur aus narratologischer Sicht (die Vermittlung durch mehrere Sprecher-Stimmen) polyphonen Konzept referiert Munin oder Chaos im Kopf auf unterschiedliche Kommunikationspraktiken, die Profilierung der Krähe erfolgt sowohl über spezielle (wissenschaftliche, populärwissenschaftliche) als auch über allgemeine (öffentliche, mediale) Diskurse und deren Interferenzen. Marons Texte rufen natur-, kultur- und religionswissenschaftliche Parameter, Methoden, Darstellungs- und Deutungskonventionen auf. In der zunächst indirekten, in weiterer Folge direkten, unvermittelten, unstrukturierten und subjektiven Gelegenheitsbeobachtung wird Minas Wohnung zur liminalen Zone, zur Schnittstelle von Feld- und Labordesign. Aus den physiologischen und verhaltensbiologischen Beobachtungen und ihrer Beschreibung werden – zum Teil vorausgewusst durch die Lektüre populärer Tiersachbücher und ihre Konstanten, z.B. Verhalten, Sozialleben, Intelligenz und Lebensraum, aber auch Verfemung und Verfolgung der Krähe, mithin: eines Sachbuch-Narrativs – durch (mitunter großzügige) Schlussfolgerungen Erkenntnisse gewonnen bzw. nacherzählt. Wie ethologische und soziobiologische Ansätze misst Munin oder Chaos im Kopf eine auch in der Fachliteratur tendenziell und insbesondere über ihre intellektuellen Leistungen aufgewertete Krähe an anderen Arten, vor allem aber am Menschen und ist also auch über eine narratologisch fundierte Argumentation hinaus anthropozentrisch. Aufgrund seiner historisierenden Qualität erschließt sich der Text nicht allein und nicht in erster Linie aus gegenwärtigen/jüngsten Forschungen: So rechnet der Roman ein angeborenes, als zweckmäßig anerkanntes und das Tier durch die Zuschreibung von Verhaltenssicherheit (moralisch) erhöhendes Instinktverhalten ursächlich einer Naturkraft oder göttlichen Macht zu[39] und bestärkt damit vitalistische Anschauungen.

Was Kister mit Blick auf eine (autobiografistisch orientierte) Literaturkritik bemerkt hat – nämlich «genau hin[zu]schauen bzw. -[zu]hören, wer hier im Einzelnen spricht»[40] –, erweist sich damit auch für die Lektüre von Munin oder Chaos im Kopf als Form gewordenes Krähen-Narrativ produktiv. Die insbesondere von Genette über die erzähltheoretische Kategorie (der Stimme) etablierte Frage «Wer spricht?»[41] ist für die aktuelle Untersuchung insofern zu wenden, als zunächst interessieren muss, wer sich in Monika Marons Roman in welche Krähen-Narrative stellt, in weiterer Folge, wie er/sie sich zu ihnen verhält. Die erzählte urbane Gesellschaft, als deren Teil auch Mina gelten muss, folgt in ihren Mensch-Tier-Relationierungen (und nicht nur für diese!) speziesistischen Prämissen. Die gegenläufigen Modelle – das anthropozentrische Minas und das theriozentrische Munins, die sich als Manifestationen eines Ich in seinen widersprüchlichen Positionen fassen lassen, werden jeweils durch Zugeständnisse an zoologische (den Menschen “exklusiv” auszeichnende Eigenschaften und Fähigkeiten sind auch bei Tieren zu finden / sind Manifestationen ihrer tierlichen Verfasstheit), tierethische (Kognitivität, Emotionalität)[42] und (allgemeiner) antiessenzialistische, insbesondere kulturtheoretische wie poststrukturalistische (Subjektivierung und Agency) Perspektiven[43] paralysiert, das Narrativ eines hegemonialen Verhältnisses von Mensch und Nicht-Mensch/Tier dadurch mehrfach aufgebrochen. Für eine extradiegetische Perspektivierung des Romans wird just eine metaphysische Frage relevant: In der Konfrontation dualistischer (Munin) und monistischer (Mina) Denkmodelle modelliert der Text die Grenze von Gott und Nicht-Gott und mit ihr die Grenze von Tier und Mensch nicht nur limitroph[44], sondern er kehrt das auch gegenwärtige Diskurse dominierende Mensch-Tier-Gefälle um: Der behaupteten Gottesidentität des Tieres wird das Zugeständnis von Gottesähnlichkeit an den Menschen ironisch gegenübergestellt. Indem eine Entscheidung im Sinne eines «unabgegoltene[n] Ende[s]»[45] aufgeschoben wird, induziert der Text nicht nur innerhalb der Diegese[46] Einstellungs- und Verhaltensänderungen, sondern auch für eine extratextuelle Realität und wird damit auch über das Erzählte hinaus produktiv.

4. Resümee

In Monika Marons Krähen-Texten werden Konzepte von Tieren (und, ergänze: von Menschen) zum einen über narrative Verfahren, zum anderen über ihre Konstellierung zu anderen Krähen-Narrationen und -Narrativen, auf die sie als bereits bestehende referieren und die sie als künftige entwerfen, sowie zu den diese kommunizierenden Diskursen von neuem ausgehandelt. In Krähengekrächz und Munin oder Chaos im Kopf werden Mensch-Tier-Theorien und -Praxen daher nicht nur repräsentiert, sondern auch beobachtet und reflektiert. Indem sie in einem konfrontativen dynamischen Entwurf Momente der Stabilität und Legitimität der vorgeführten Ordnung eruieren und gleichzeitig in ihrer Konstruiertheit offenlegen und in Frage stellen, kann Essay und Roman – immer vor den Prämissen eines reziproken Verhältnisses von Text und Lebenswelt sowie der Möglichkeit einer Transformation von Wissen und seiner Praktiken[47] – Effektpotenzial auf den aktuellen Diskurs um Tierliches und Menschliches zugeschrieben werden. Munin oder Chaos im Kopf ist daher auch über die gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Brisanz der Romanhandlung hinaus als hoch politischer Beitrag zum aktuellen wissenschaftlichen und allgemeinen (Tier)Diskurs zu lesen.

Literatur

Maron, Monika: Krähengekrächz. Frankfurt am Main: S. Fischer 2016.

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[1] Monika Maron: Krähengekrächz. Frankfurt am Main: S. Fischer 2016, S. 12.

[2] Redaktionsschluss des Beitrags 31/03/2019.

[3] Josef H. Reichholf: Rabenschwarze Intelligenz. Was wir von Krähen lernen können. München: Herbig 2009, Dieter Glandt: Kolkrabe & Co. Verhalten und Strategien intelligenter Lebenskünstler. Wiebelsheim: Aula-Verlag 22015, Cord Riechelmann: Krähen. Ein Portrait. Illustration: Falk Nordmann. Berlin: Matthes & Seitz 72018.

[4] Überblick bei Roland Borgards (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 1-5 sowie 225-243.

[5] Zusammenstellung bei Elke Gilson: Nachwort. In: Maron: Krähengekrächz, S. 53-[62].

[6] Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf. Roman. Frankfurt am Main: Fischer 2018.

[7] Vera Nünning: Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie. In: Forum Marsilius-Kolleg 6 (2013), S. 1-17.

[8] Zur narrativen Qualität von fiktionalen und faktualen Texten vgl. Dominik Schreiber: Narrative der Globalisierung. Gerechtigkeit und Konkurrenz in faktualen und fiktionalen Erzählungen. Wiesbaden: Springer 2015, S. 13-55, zu Wissen und Narration bzw. epistemischen Narrativen vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012, S. 329-340.

[9] Vgl. z.B. Bert Rebhandl: Monika Marons neuer Roman: Gender-Wahn und explosive Thesen. In: Der Standard (17.04.2018). LINK (Zugriff: 20.10.2018); Rainer Moritz: Monika Maron erzählt von Berlin, als bräche hier gleich ein Krieg aus. In: NZZ 23.02.2018, LINK (Zugriff: 20.10.2018).

[10] Vgl. Willy Viehöver: Diskurse als Narrationen. In: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider u.a. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. 3., erw. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 193-224, hier: S. 183-184.

[11] Vgl. Julia Encke: Die Angst in ihrem Kopf. In: FAZ (11.03.2018), LINK (Zugriff am 20.10.2018).

[12] Mit Referenz auf Niklas Luhmann vgl. Schreiber: Narrative der Globalisierung, S. 21.

[13] Borgards: Tiere, S. 226.

[14] Der Wolf im Nachnamen der Protagonistin, der Vogel im Hybridwesen des «wundersame[n] Menschenvogels», das Tier als Metapher der Stadt und als Vergleichsreferenz des Menschen.

[15] Vgl. LINK (Zugriff: 20.10.2018).

[16] Vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 27-110.

[17] Ebd., S. 79.

[18] Neben Hugin ist Munin einer der Raben Odins, deren (sprechende) Namen für Weisheit und Erinnerung stehen.

[19] Borgards: Tiere, S. 5.

[20] Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 3., erw. u. überarb. Aufl. Berlin: de Gruyter 2014, S. 89.

[21] Für eine produktive Begriffs- und Methodenkritik an Donna Haraways Agency-Konzept vgl. Julia Bodenburg: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000. Freiburg im Breisgau: Rombach 22012, S. 61-71.

[22] Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 94.

[23] Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie, S. 143.

[24] Mina unterstellt Körperhaltungen und -bewegungen der Krähe Bedeutung und ahmt diese nach, um sich die Krähe lesbar zu machen, Maron: Munin, S. 68-69.

[25] Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie, S. 195.

[26] Einmal als Tier identifiziert, bekommt es für Mina die Qualität eines Unheimlichen, vgl. Maron: Munin, S. 205 sowie S. 229.

[27] Munin wird dadurch zu einem explained supernatural agent, Hans Richard Brittnacher: Vom Risiko der Phantasie. In: Gerhard Bauer/Robert Stockhammer (Hrsg.): Möglichkeitssinn: Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 46.

[28] Zu Wir-Sie-Konzepten des Erzählens vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 96-101.

[29] Borgards: Tiere, S. 234.

[30] Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1-31, hier: S. 15.

[31] Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S.

[32] Textfunktionen nach Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Erich Schmidt 2001.

[33] Nahezu stereotyp Maron: Munin, S. 57, 155, 181.

[34] Vgl. für Marons Roman Ach Glück (2007) die Frankfurter Poetikvorlesung Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche von 2005.

[35] Vgl. Schreiber: Narrative Globalisierung, S. 15.

[36] Die Paradieserzählung der Genesis (bei aller Datierungsunsicherheit jedenfalls vor Christus); Peter Hagendorfs Tagebuch (1625-1649) als zeitgenössisches Dokument des Dreißigjährigen Krieges; dessen spätere Literarisierung in den Texten Annette von Droste-Hülshoffs: dem Epos Die Schlacht im Loener Bruch 1623, veröff. 1838, sowie dem Gedicht Die Krähen, veröff. 1844, in die Erzählgegenwart (Mitte der 10er Jahre des 21. Jahrhunderts) von Marons aktuellen Texten.

[37] Vgl. Bodenburg: Tier und Mensch, S. 56.

[38] Christian Pundt: Medien und Diskurs: Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens. Bielefeld: transcript 2008, S. 162.

[39] Anstatt es über (s)ein evolutionäres Entstehen zu begründen wie die moderne Verhaltensbiologie.

[40] Stefan Kister: Rabenschwarze Nachtgedanken. In: Stuttgarter Zeitung (22.03.2018), LINK (Zugriff am 20.10.2018).

[41] Gérard Genette: Die Erzählung, München: UTB 22010, S. 151.

[42] Was Munin tatsächlich abgeht, ist fiktionale Paktfähigkeit, Maron: Munin, S. 156.

[43] Vgl. Borgards: Tiere, S. 1-3.

[44] Ebd., S, 2 mit Bezug auf Derrida.

[45] Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 63.

[46] Insbesondere für Mina, explizit: Maron: Munin, S. 218.

[47] Viehöver: Diskurse als Narrationen, S. 187.