Stefan Krammer

(Wien)

Abenteuer Männlichkeit
Adoleszenz in Wolfgang Herrndorfs Roman «Tschick»

[Adventure Manhood
Adolescence in Wolfgang Herrndorf’s Novel «Tschick»
]

abstract. This article deals with literary constructions of masculinity in Wolfgang Herrndorf’s novel Tschick. The focus is on male adolescence as represented by the characters in the text. The study is guided by the question of how the male socialisation of adolescents is narrated in the novel. Themes such as the search for identity, friendship, sexuality and being an outsider are addressed. The analysis is based on theoretical perspectives offered by masculinity studies, intersectional approaches of identity research as well as genre-related reflections on young adult fiction.

Die Adoleszenz ist eine Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, die durch zahlreiche Veränderungen und Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet ist. Jugendliche sind dabei gefordert, mit ihren körperlichen Veränderungen umgehen zu lernen, sich von den Eltern loszulösen, neue Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen, ihre sexuellen Bedürfnisse zu integrieren und ihre Identität weiter zu entfalten (vgl. Streeck-Fischer 2004). Wesentlich ist dabei die Entwicklung einer Geschlechtsidentität, deren Ausgestaltung von vielfältigen sozio-kulturellen Faktoren beeinflusst wird: durch Vorbilder in Form von unmittelbaren Bezugspersonen (u.a. Eltern, Peergroup) und gesellschaftlich dominierende Geschlechtervorstellungen, wie sie als Teil eines vorherrschenden Geschlechterdiskurses über Personen der Öffentlichkeit oder Bilder aus den unterschiedlichen Medien vermittelt werden. Von zentraler Bedeutung ist allerdings, dass die Jugendlichen an der Konstruktion ihrer Adoleszenz beteiligt sind, sich gleichsam ihre Adoleszenz selbst «machen»: durch das Ausprobieren neuer Rollen, durch das Kennenlernen neuer Lebensfelder, durch die Gestaltung neuer Lebensentwürfe. Die Möglichkeiten des Erwachsenwerdens hängen aber ganz entscheidend von den Handlungspotenzialen und den Gestaltungsspielräumen ab, die Jugendlichen in dieser Phase zur Verfügung stehen (siehe Winter/Neubauer 2005, 207f.). In Bezug auf das Geschlecht ist dann bedeutsam, welche Vorstellungen von Mann- und Frausein Jugendliche überhaupt haben und welche Erwartungen sie damit verbinden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle von Kinder- und Jugendliteratur – eine Literatur also, die sich an junge Leser_innen richtet, deren Geschlechtervorstellungen noch weniger stark normiert sind, sodass diese immer wieder auch neu verhandelt werden können. Literarische Texte bieten dabei eine Orientierungshilfe: sei es durch Identifikation mit bestimmten Figuren, sei es durch das Eintauchen in neue Lebenswelten, sei es durch Konfrontation mit dem vermeintlich Anderen, das durch Differenz zu Abgrenzungen führt. Die Verlage leisten dabei ihren Beitrag, indem sie Publikationen und Buchreihen speziell für Mädchen oder Jungen auf den Markt bringen: Pferdebücher etwa, angefangen von Anna Sewells Black Beauty bis hin zu Carola Wimmers Ostwind – Zusammen sind wir frei, suggerieren dann, wie sich ein «typisches» Mädchen zu verhalten hat, wie aufopfernd es sich um Tiere kümmern soll und wie schwierig sich Freundschaften oder Liebesgeschichten gestalten können. Ein ganz anderes Bild zeichnen die Gossip-Girls-Serien von Cecily von Ziegesar, die gleichfalls von Stereotypen bestimmt werden: Die Mädchen sind dort meist reich, schön, blond und langbeinig, eine ist «a real bitch», und die Protagonistin zeigt mitunter mehr Anstand als die meisten anderen Mädchen. Die Jungen sind ebenfalls reich und «sexy» und natürlich heiß begehrt. Mithilfe allerhand trashiger Versatzstücke werden hier Geschichten präsentiert, die in überzeichneter Weise in eine heteronormative Welt einführen und zugleich weibliche Rollenklischees einzementieren, aber auch ironisieren. Wie weit die Leserinnen die Machart der Texte verstehen, hängt wohl auch von ihren anderen Lese- und Lebenserfahrungen ab (siehe Holzmann 2007, 102). Was die Jungen betrifft, denen eine gewisse Lesemüdigkeit, ja Leseschwäche attestiert wird, reicht das Angebot des Buchmarktes von Sachbüchern über Abenteuerromane bis hin zu Thrillern, Future-Fiction und Fantasy. Der Medienverbund mit Computerspielen oder Filmen scheint hierbei ganz entscheidend für die Lesemotivation zu sein. In den letzten Jahren erscheinen vermehrt auch Bücher mit männlichen Protagonisten, die auch junge Leser zur Identifikation einladen. Zu nennen wäre hier etwa die 2001 erschienene Novelle Zweier ohne von Dirk Kurbjuweit, die von der bedingungslosen Freundschaft von zwei Jungen handelt, oder Tobias Elsäßers Roman Abspringen aus dem Jahr 2009, in dem die pubertären Wirren des 14-jährigen Paul dargestellt werden. Bereits das mit Abbildungen von Spermien geschmückte Cover verrät, dass es hier ganz zentral um Männlichkeit und männliche Sexualität geht, und so beginnt der Roman gleich mit einem ejakulierten Höhepunkt.

Männliche Adoleszenz wird auch in Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick verhandelt, mit dem sich dieser Beitrag auseinandersetzt. Im Zentrum der Geschichte stehen zwei männliche Jugendliche, die einen Lebensabschnitt durchlaufen, der für die Herausbildung von Männlichkeitsentwürfen von besonderer Bedeutung ist. Der Roman zeigt die Herausforderungen auf, die sich für die beiden Jungen in dieser Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein stellen, und veranschaulicht die gesellschaftlichen Bedingungen, die milieuspezifischen Ausprägungen sowie die Chancen und Risiken, die damit verbunden sind. Deutlich wird dabei, wie sehr sich Männlichkeit im Spannungsfeld zwischen Mythos, Repräsentation und Rollendruck konstituiert und dass Mannsein für Jugendliche eine ambivalente Angelegenheit darstellt, «die ein hohes Maß an Balance zwischen diskrepanten Erwartungen erfordert» (Meuser 2010, 431). Wenn der Roman das zum Thema macht, greift er auf unterschiedliche Männlichkeitskonzepte zurück und erzeugt zugleich in performativer Weise «Fiktionen des Männlichen» (vgl. Krammer 2018). Welche Strategien und Verfahren angewendet werden, damit diese glaubhaft erscheinen, soll im Folgenden untersucht werden. Dafür werden Erkenntnisse der Männlichkeitsforschung mit jenen der Literaturwissenschaft verbunden, um ausgehend von genderrelevanten Fragestellungen die literarischen Konstruktionen von Männlichkeit aufzuzeigen.

Zentral ist hierbei Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit, das jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis beschreibt, «welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frau gewährleistet (oder gewährleisten soll)». (Connell 2015, 130) Connell interessieren vor allem die unterschiedlichen Handlungsweisen, durch die Männer und Frauen ihre Positionen im Geschlechterverhältnis einnehmen, wie auch deren Effekte auf körperliche Erfahrungen, individuelle Entwicklungen und kulturelle Phänomene. Geschlecht wird dabei als körperreflexive Praxis verstanden, die sich in den Körper als sozialer Prozess, als Teil der persönlichen wie kollektiven Geschichte und als Gegenstand der Politik einschreibt (siehe ebd., 107). Connell geht dabei nicht nur den hierarchischen Strukturen zwischen Mann und Frau nach, sondern untersucht auch die Herrschaftsverhältnisse zwischen Männern. Diese werden – in der intersektionalen Verknüpfung mit anderen sozialen Kategorien (wie etwa ethnische Zugehörigkeit, Klasse und sexuelles Begehren) – nach den Prinzipien der Hegemonie, Unterordnung, Komplizenschaft und Marginalisierung strukturiert (siehe ebd., 129-135). Dieser Rahmen, innerhalb dessen sich spezifische Formen von Männlichkeit beschreiben lassen, ist auch für die Analyse literarischer Texte hilfreich, weil sich damit die Reproduktion geschlechtlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse erschließen lässt und die vielfältigen Beziehungen zwischen Männern reflektiert werden können. Dabei ist es freilich notwendig, die Spezifika literarischer Texte zu berücksichtigen und danach zu fragen, auf welche Weise Geschlecht in den Texten konstruiert wird, welche poetischen Mittel verwendet werden und welche Diskurse aufgegriffen bzw. in Gang gesetzt werden.

In Zusammenhang mit Herrndorfs Roman möchte ich insbesondere folgende Aspekte untersuchen: Wie wird die männliche Sozialisation der beiden Jugendlichen erzählt? Welche Männlichkeitskonzepte und Geschlechterkonstellationen werden dabei aufgerufen? Auf welche Weise wird Männlichkeit mit anderen Identitätskategorien verschränkt? Entlang dieser Fragestellungen soll gezeigt werden, inwiefern der Roman herkömmliche Vorstellungen von Männlichkeit affirmiert, dekonstruiert oder aber alternative Geschlechterent-würfe bereitstellt.

Zwischen literarischen Genres

Das Besondere an Herrendorfs Roman Tschick ist, dass er sich herkömmlichen literarischen Kategorisierungen verwehrt bzw. unterschiedlichen Genres zugeschrieben werden kann (siehe auch Hoffmann 2018, 141). Als erstes stellt sich die Frage, ob der Text zur Jugendliteratur oder nicht doch eher zur Erwachsenenliteratur gezählt werden soll. Was den Verlag und dessen Marketing-Strategien betrifft, würde vieles für letzteres sprechen, platzierte der Rowohlt-Verlag den Roman doch bei dessen Erscheinung 2007 in seinem allgemeinliterarischen Programm. Nichtsdestotrotz wurde der Roman 2011 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Plausibel erscheinen die Argumente, die Tschick in Zusammenhang mit Jugendliteratur bringen, aber allemal: Da wären erstens die für jugendliterarische Texte typischen Themen wie Identitätssuche, Grenzerfahrung, Abenteuersehnsucht, Freundschaft, erste Liebe, Sexualität, Außenseitertum und Einsamkeit. Da wäre zweitens auch die Sprache des Romans, die den Jargon von Jugendlichen imitiert, ohne dabei zu übertreiben. Die Erzählperspektive kommt ebenso den jugendlichen Leser_innen entgegen, wird dadurch doch der begrenzte Blick von Figuren auf die Welt gezeigt, die nicht alles verstehen und erklären können. Indem es keinen Wissens- und Erfahrungsvorsprung eines erwachsenen Erzählers gibt, werden vielfältige Identifikationsangebote für Jugendliche eröffnet. Zuletzt wären da noch die Bezüge an jugendliterarische Genres wie den Adoleszenzroman oder die Abenteuerliteratur zu nennen (siehe Kliewer 2015, 214).

Geht man von Heinrich Kaulens Definition des modernen und postmodernen Adoleszenzromans aus, dann trifft diese bestens für Herrndorfs Roman zu, sowohl was den Darstellungsgegenstand als auch das konkrete Erzählverfahren betrifft. So ist Tschick ein Text, der den Übergang zweier Jugendlicher in die Welt der Erwachsenen zum Inhalt hat, wobei es ganz konkret um männliche Sozialisation geht. Diese Adoleszenzphase wird – um Kaulen zu zitieren – «als Prozess einer prekären Identitäts- und Sinnsuche aufgefasst und findet ihre Binnenstrukturierung in einer Reihe prägender Krisenerfahrungen oder Initiationserlebnissen, die sich auf wenige, genau festliegende Problembereiche beziehen» (Kaulen 1999, 7). Die beiden Jugendlichen arbeiten sich an gesellschaftlichen Normvorstellungen und traditionellen Rollenmustern ab. Sie greifen zumal darauf zurück und eignen sich diese in performative Weise an. Zugleich versuchen sie sich davon zu lösen und neue Denk- und Verhaltensweisen auszuprobieren. Ausverhandelt werden dabei identitäre Zuschreibungen und mögliche Transgressionen im Spannungsverhältnis zwischen Individuation und sozialer Integration. Wesentlich ist dann das Moment der Veränderung, der Grenzüberschreitung bzw. des Transitorischen, dem wiederum bestimmte Bewegungsmuster im topografischen Raum wie auch im Erzählraum zugeordnet werden können (vgl. dazu Kalteis 2006). Diese Bewegungen bilden sich im Genre der Road Novel ab, dem Tschick zugeordnet werden kann. Denn der Roman schildert die Reise von zwei Jugendlichen, die mit einem gestohlenen Auto aus ihrer begrenzten Welt in Berlin ausbrechen, um an verschiedenen Stationen in Ostdeutschland Neues kennenzulernen.

Derartige Abenteuerreisen kommen in der Jugendliteratur sehr häufig vor. Sie gehen auf die kanonisierten Âventiuren des Mittelalters zurück und bedienen seit dem 19. Jahrhundert ein verbreitetes jugendliterarisches Genre, das gerade auch von Jungen gerne gelesen wird. Herrndorfs Roman greift wesentliche Elemente auf und ironisiert sie zugleich. Die Jugendlichen kommen an unterschiedlichen Stationen vorbei, an Orten mitten im Nirgendwo, und treffen dabei auf eigenartige Menschen, mit denen sie Kontakt aufnehmen. Die bekannten Muster der Quest, das Jugendliche von Märchen oder Computerspielen kennen, werden dabei ad absurdum geführt (siehe Kliewer 2016, 215 und Baßler 2015, 72)

Die Erfolgsgeschichte des Romans ist wohl darin begründet, dass er jenseits von Schubladisierungen sowohl von Jugendlichen als auch von Erwachsenen gelesen wird. Er richtet sich dabei keineswegs dezidiert an ein weibliches oder männliches Lesepublikum. Und vielleicht ist es gerade diese Offenheit, die ihn mittlerweile zum Schul-Klassiker avancieren ließ, zu dem es zahlreiche didaktische Anregungen und Unterrichtsmaterialien gibt (vgl. dazu Krösen/Mielke 2016 und Loderhose/Kumschlies 2016). Der Roman ist bestens im Medienverbund eingebettet: Neben auditiven Adaptionen wie Hörbuch und Hörspiel folgte 2011 die Theaterfassung in der Bearbeitung von Robert Koall. Die erfolgreiche filmische Adaption in der Regie von Fatih Akin kam Herbst 2016 in die Kinos und erschien im März 2017 auf DVD. Eine Opernversion mit der Musik des Komponisten Ludger Vollmer wurde ebenfalls im März 2017 in der Regie von Roman Hovenbitzer am Theater Hagen uraufgeführt.

Zwischen Hegemonie und Marginalisierung

In Herrndorfs Roman Tschick sind es zwei 14-jährige Jugendliche, die sich mit einem gestohlenen Lada auf eine abenteuerliche Fahrt durch Ostdeutschland begeben und dabei auf der Suche nach ihrer Identität auch Möglichkeiten von Männlichkeit für sich entdecken. Das Abenteuer Männlichkeit beginnt aber nicht erst bei der gemeinsamen Reise, sondern bereits dort, wo der Roman zu erzählen anfängt. Was hier beschrieben wird und auf welche Weise das getan wird, wird als Erzählung männlicher Sozialisation lesbar, die sich an zwei Außenseiterfiguren konkretisiert:

Da gibt es zum einen Maik Klingenberg, den Ich-Erzähler des Romans, der in die achte Klasse eines Berliner Gymnasiums geht und mit seinen Eltern, einem gescheiterten Immobilieninvestor und dessen alkoholkranker Ehefrau, in einer Villa am Rande der Stadt wohnt. Maik wird zum Inbegriff eines wohlstandsverwahrlosten. Einsam fühlt es sich nicht nur zuhause, auch in der Schule findet er keinen richtigen Anschluss: Er hat weder Freunde unter den Schulkameraden, noch interessieren sich die Mädchen für ihn. Er sieht sich selbst als einen Langweiler, der von den anderen kaum wahrgenommen wird, nicht einmal mehr einen Spitznamen hat und deshalb zu Recht als «Schlaftablette» (Tschick, 35) bezeichnet werden kann. Das Selbstbild entsteht in Abgrenzung zu seinen Klassenkollegen, die seines Erachtens besser aussehen als er, lässig agieren und zu Partys eingeladen werden.

Die zweite zentrale Figur im Roman ist der titelgebende Protagonist Tschick, kurz für Andrej Tschichatschow. Der Name markiert ihn als den Anderen, unterstreicht zugleich seine fremde Herkunft und verweist auf seinen sozialen Status als Migranten. Der russische Spätaussiedler ist erst seit kurzem in Maiks Klasse, nachdem er es in nur vier Jahren von der Förderschule ins Gymnasium geschafft hat. Aus der Perspektive von Maik wird er zunächst als recht ambivalente Figur eingeführt: als «Asi» mit Schlitzaugen und extrem hohen Wangenknochen; billig gekleidet und stets mit demselben abgetragenen Hemd; wortkarg und mit komischem Akzent; apathisch, als wäre er kurz vor dem Koma; zudem erscheint er hin und wieder sichtlich betrunken zum Unterricht. Die offenbaren Indizien werden durch stereotype Zuschreibungen und Vorurteile überformt. So entstehen Gerüchte über seine Herkunft und sein familiäres Umfeld wie auch Phantasien über kriminelle Machenschaften, in die er verstrickt zu sein scheint: sei es durch Verbindungen zur Russenmafia, sei es durch Waffenschieberei oder Frauenhandel. Die Selbstinszenierung von Tschick befördert in ihrer Uneindeutigkeit derartige Imaginationen. Denn seine Familie ist – wie er ausführt – von überall: «Wolgadeutsche, Volksdeutsche. Und Banater Schwaben, Walachen, jüdischen Zigeuner» (ebd., 98). Die Walachei, in die die beiden Jugendlichen aufbrechen, um Tschicks Verwandte zu besuchen, steht in diesem Sinn für einen Ort, der Identität stiften kann, indem er eine genealogische Ordnung schafft. Die Doppeldeutigkeit des Ortsnamens, der einerseits eine historische Region im heutigen Rumänien beschreibt, andererseits metaphorisch eine abgelegene Gegend bezeichnet, lässt bereits erahnen, dass die gemeinsame Reise ins Ungewisse führt. Und ebenso wir die geografischen Koordinaten verlustig gehen, ist es auch um die hybride ethnisch-kulturelle Herkunft Tschicks bestellt. Zu Recht kann Tschick deshalb als eine «Figur der Grenzüberüberschreitung» (Osthues 2016, 72) gelesen werden.

Vor einem intersektionalen Zusammenhang ist auch die Männlichkeit der beiden Figuren zu bewerten. Die Jugendlichen sind zwar gleich alt, gehen zur selben Schule, leben in derselben Stadt, differieren aber sehr stark in Hinblick auf ihren sozialen Status (im Roman als Kontrast zwischen arm und reich dargestellt), ihren ethnisch-kultureller Hintergrund und ihr sexuelles Begehren (was erst durch Tschicks Outing deutlich wird). Damit werden im Roman auch die drei großen Differenzlinien class, race und sex/gender verhandelt (vgl. dazu Winker/Degele 2009). In der Konfrontation der beiden Figuren, wie sie der Roman inszeniert, wird dann so etwas wie eine eigene und eine fremde Männlichkeit entworfen. Das Eigene wird durch den deutschen Jungen Maik repräsentiert, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt und dessen Innenansichten präsentiert werden. Tschick hingegen verkörpert eine fremde Männlichkeit, die in den Kategorien Connells sowohl die Marginalisierung als auch die Unterordnung betrifft: Marginalisierte Männlichkeit entsteht nämlich in der Relation hegemonialer Gruppen in Bezug auf Differenzen, die sich – so wie im Falle Tschicks – auf soziale Strukturkategorien wie Klasse bzw. soziale Ungleichheit oder ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit beziehen. Untergeordnete Männlichkeit betrifft hingegen Tschicks Homosexualität, die als vermeintlich «verweiblichtes» Männlichkeitskonzept die heteronormativ und heterosexistisch strukturierte Geschlechterordnung konterkariert.

Zwischen Alltag und Medienwirklichkeit

Wer aber nun als Held der Geschichte zu begreifen ist (und ich meine hier Held durchwegs in seiner männlichen Konnotation), wird gleich zu Beginn des Romans in Zweifel gezogen:

Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee. Die Kaffeemaschine steht drüben auf dem Tisch, und das Blut ist in meinen Schuhen. Um ehrlich zu sein, es ist nicht nur Blut. Als der Ältere «vierzehn» gesagt hat, hab ich mir in die Hose gepisst. Ich hab die ganze Zeit schräg auf dem Hocker gehangen und mich nicht gerührt. Mir war schwindlig. Ich hab versucht auszusehen, wie ich gedacht hab, dass Tschick wahrscheinlich aussieht, wenn einer «vierzehn» zu ihm sagt, und dann hab ich mir vor Angst in die Hose gepisst. Maik Klingenberg, der Held. Dabei weiß ich gar nicht, warum jetzt die Aufregung. War doch die ganze Zeit klar, dass es so endet. Tschick hat sich mit Sicherheit nicht in die Hose gepisst. (Tschick, 7)

Der Anfang des Romans beschreibt zugleich das Finale der gemeinsamen Reise, die für Maik auf einer Station der Autobahnpolizei endet. Helden sehen wohl anders aus – dessen wird sich Maik angesichts seiner Lage bewusst. Allein auf sich gestellt, holt er sich in seiner Imagination Tschick als Komplizen an seine Seite, versucht ihn nachzuahmen und stilisiert ihn dabei zum männlichen Vorbild, der die Situation wohl heldenhafter meistern würde, als er selbst. Ihm fehlt es allerdings an jener Coolness und Lockerheit, die er seinem Freund zuschreibt und als Zeichen von Männlichkeit wertet. Einer, der noch in die Hosen macht, ist vielmehr Kind als richtiger Mann. Seine Ohnmacht am Ende des ersten Kapitels unterstreicht diesen Befund, der durch das Spiegelbild als Selbsterkenntnis in Szene gesetzt wird: «Für einen kurzen Moment sehe ich noch mein Spiegelbild auf dem Linoleum auf mich zukommen, und dann knallt es, und ich bin weg». (ebd., 11) Das Ich geht hier verloren, auch durch den Blick in den Spiegel, der im Erkennen des Anderen das Ich in Frage stellt. Jacque Lacan würde in Zusammenhang mit seinem Spiegelstadium wohl von einem imaginären Verkennen sprechen, von der «wahnhaften Identität», die das Spiegelbild liefert (Lacan 1991, 67).

Die Suche nach diesem Ich wird im Roman nun auf unterschiedliche Weise zur Sprache gebracht. Entscheidend sind hierbei die verschiedenen Wirklichkeiten, mit denen der Roman operiert. Mit Moritz Baßler lassen sich drei Ebenen unterscheiden, die in einem komplexen Dreieck miteinander verwoben sind: erstens die Medienwirklichkeit («wie in Mafiafilmen»), zweitens die Alltagswirklichkeit («im richtigen Leben») und drittens die nicht-alltägliche, poetisch-heroische Wirklichkeit («bei der Mafia»). Wenn letztere, die zunächst nur als medial vermittelte bekannt und dadurch vorstellbar ist, nun tatsächlich Teil des eigenen Lebens wird, wird die Erzählung überhaupt erst in Gang gesetzt, weil es vorher gar nichts zu erzählen gibt (siehe Baßler 2015, 68). Durch die Begegnung mit Tschick fängt für Maik die Geschichte also an, indem nämlich die nicht-alltägliche, poetisch-heroische Wirklichkeit in den Alltag überführt wird. Zugleich aber, und das wird von Anfang an reflektiert, beginnt mit dem Übergang vom Alltag ins Abenteuer unweigerlich die Medienwirklichkeit zu greifen. Und diese besteht für Maik vor allem aus Büchern (etwa den Heldengeschichten von Graf Luckner), dem Fernsehen (beispielsweise aus Mafiafilmen und Krimis) und Computerspielen, die ihn insbesondere in seiner männlichen Sozialisation beeinflussen. Fiktion und Realität verschwimmen dort, wo die Erlebnisse des Alltags mit den Bildern aus den Medien in Bezug gesetzt werden.

In der Anfangssituation bei der Polizei wird Maik daher immer wieder auf sein Medienwissen aus dem Fernsehen zurückgreifen, um sich angemessen zu verhalten: «Ich möchte meinen Anwalt sprechen. Das wäre der Satz, den ich jetzt wahrscheinlich sagen müsste. Das ist der richtige Satz in der richtigen Situation, wie jeder aus dem Fernsehen weiß». (Tschick, 9) Und wenn er die abenteuerliche Reise mit Tschick beginnt, kommt er sich zunächst vor wie im Kino oder in der virtuellen Welt des Computerspiels. Doch das Ego-Shooter-Spiel wird durch die reale Fahrt ersetzt, die in der fiktionalen Erzählung dennoch nicht ganz von dieser Welt erscheint.

[E]s war ein ganz anderes Fahren, eine andere Welt. Alles war größer, die Farben satter, die Geräusche Dolby Surround, und ich hätte mich, ehrlich gesagt, nicht gewundert, wenn auf einmal Tony Soprano, ein Dinosaurier oder ein Raumschiff vor mir aufgetaucht wäre. (ebd., 104)

Die Differenz zwischen den Wirklichkeiten wird Maik am deutlichsten, als er selbst am Steuer sitzt. Obwohl ihn die Situation an das Spielen mit der PlayStation erinnert, erkennt er sogleich, dass das «richtige» Leben durch keine Grafikkarte realisiert werden kann (ebd., 215). Der Roman spielt mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen auch in formaler Hinsicht, wenn etwa die Erzählung von Maik in den erfundenen Plot einer Agentengeschichte mündet (ebd., 72f.) oder ein Kapitel mit der virtuellen Welt eines Computerspiels beginnt, in der sich Maik mit seiner Spielfigur befindet (ebd., 95).

Der erzählerische Kunstgriff ist konstitutiv für den gesamten Roman, erweisen sich doch die Helden aus den Medien als jene Vorbilder und Identifikationsfiguren, an denen sich die beiden Jugendlichen orientieren. Deren Verhalten reinszenieren sie nun auf ihrer abenteuerlichen Reise. Die Maskeraden des Männlichen sind dabei vielfältig. Sie werden als körperreflexive Praxis habituell eingeübt oder durch Verkleidung in Szene gesetzt. Denn um erwachsen auszusehen, müssen sie sich wie «richtige» Männer aufführen. Aus diesem Grund trainieren sie die Körperhaltung beim Autofahren, wobei Tschick wiederholt an Maik vorbeifährt, um erkennen zu können, «wie er am erwachsensten rüberkam» (ebd., 106). Maik verbindet Erwachsensein mit Lässigkeit, was er gestisch dadurch umsetzt, dass er bei der Autofahrt seinen Arm aus dem Fenster hängt und seinen Kopf auf den Arm legt (ebd., 104). Zur performativen Hervorbringung männlicher Identität werden schließlich verschiedenste Utensilien benötigt, um die Maskerade zu perfektionieren:

Er legte beide Schlafsäcke als Kissen auf den Fahrersitz, setzte meine Sonnenbrille wieder auf, schob sie ins Haar, steckte eine Zigarette in seinen Mundwinkel und klebte sich zuletzt ein paar Stücke schwarzes Isolierband ins Gesicht, um einen Kevin-Kurányi-Bart zu simulieren. (ebd., 106)

Ein Fußballstar fungiert hier als Role Model, dessen Bart steht metonymisch für eine Männlichkeit, die die Jugendlichen ersehnen. Dass es sich dabei nur um eine schlechte Kopie handelt, wird im Roman selbst karikiert, wenn nämlich der vermeintliche Bart mit Adolf Hitler assoziiert wird oder von vorbeifahrenden Autofahrern sogleich als Verkleidung entlarvt wird.

Die Reise ermöglicht es den beiden Jugendlichen, unterschiedliche Rollen einzunehmen, wobei sie auf archetypische Vorstellungen von Männlichkeit zurückgreifen. Das ist dem Genre der Abenteuerliteratur geschuldet, in die sich der Roman mit seiner Narration einschreibt und die er zugleich persifliert: So erweisen sich die beiden Jugendlichen als Entdecker und Eroberer, die sich ohne Kompass und Straßenplan auf den Weg machen. «Landkarten sind für Muschis» (ebd., 104), sagt Tschick und meint in der sexistischen Abwertung von Frauen seine Männlichkeit betonen zu können. Im Roman erscheinen die Jugendlichen aber keineswegs so souverän, wie ihre flotten Sprüche vermuten ließen. Sie fahren vielmehr ohne Plan und Ziel durch Deutschland und scheinen nirgendwo anzukommen. Aus der Not wird schließlich eine männliche Tugend gemacht: Denn die Orientierungslosigkeit spiegelt jene Situation wider, in der sich die Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit ihrer Identität befinden.

Des Weiteren werden die beiden als Bezwinger der Natur in Szene gesetzt. Am deutlichsten wird das durch ihre Fahrt abseits von Straßen und Wegen durch Felder und Kuhherden dargestellt. Wenn sie dann auch noch ihren Namen mit dem Auto ins Weizenfeld schreiben wollen, wird deutlich, wie sehr sie die Landschaft in Besitz nehmen wollen, besiegelt durch ihre Signatur, die sie als Zeichen der Eroberung hinterlassen. Das Auto wird dabei zum Signum der Männlichkeit, wird damit doch das Abenteuer erst möglich, auf das sich die beiden einlassen. Dementsprechend geben sie sich auch als «Automobilisten» (ebd., 124) aus, in der klaren Abgrenzung zu einer Gruppe von Radfahrer_innen, auf die sie während ihrer Reise treffen und die sich «Adel auf dem Radel» (ebd.) nennt. Dass sie noch gar nicht alt genug sind, um überhaupt Auto fahren zu dürfen, spielt in der Selbstbenennung keine Rolle. Auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden haben sie ihre Fahrräder mit dem gestohlenen Lada getauscht, der zwar als Statussymbol wenig hergibt, aber als motorisiertes Vehikel jenen Freiraum bietet, der für die Erkundung der eigenen Männlichkeit nötig ist. Interessant ist hierbei auch, dass Tschick zunächst mit einem kaputten Damenfahrrad auftaucht, Maik dann aber mit dem klapprigen Lada zur gemeinsamen Reise verführen kann.

Durch das Auto wird ihnen auch die Rolle als Techniker zuteil. Wie versiert sie darin sind, können sie dann unter Beweis stellen, als ihnen der Sprit ausgeht. Sie wissen zwar theoretisch, wie man Benzin aus fremden Autos stiehlt, praktisch können sie das aber nicht bewerkstelligen. Dass ihnen ausgerechnet ein Mädchen behilflich sein wird, ironisiert und dekonstruiert zugleich die traditionellen Geschlechtervorstellungen.

Zwischen Hetero- und Homosexualität

Als das Mädchen namens Isa Schmidt auftaucht, werden die beiden Jungen vor eine neue Herausforderung gestellt und müssen nun auch ihre Männlichkeit in Hinblick auf ihr Verhältnis zu Frauen klären. Im Fall von Maik kommt es zu einer körperlichen Annäherung, die für ihn zu einer irritierenden Erfahrung wird. Nachdem Maik Isa auf deren Bitte die Haare geschnitten hat und noch darüber nachdenkt, wie er ihr sagen kann, wie schön er das gefunden hat, fragt Isa ihn unvermittelt: «Hast du schon mal gefickt?» Maik verneint und gibt dadurch zu erkennen, doch noch kein ganzer Mann zu sein. Als sie nachfragt, ob er denn wolle, lehnt er ab (ebd., 171). Die Direktheit, mit der Isa über Sexualität spricht, ist Maik fremd und sorgt für eine Verwirrung der Gefühle, die den Jungen als Romantiker ausweist. Die reale Körperlichkeit, mit der er nun konfrontiert ist, steht in deutlichem Kontrast zu seinen Schwärmereien für seine Klassenkollegin Tatjana Cosic, die ihn weder als Person, geschweige als potenziellen Partner wahrnimmt. Maiks Männerphantasie wird als verschwommenes Spiegelbild des Mädchens auf den Turnsaalboden der Schule projiziert. In seiner Imagination sieht er die Glitzerhosen, die die Mädchen tragen, und ihre Oberteile. Fernes Gekicher ist aus der Mädchenumkleide zu hören. Bedeutsam ist auch, dass Tatjana der eigentliche Grund für Maiks Abenteuer ist. Ihre Party, zu der er nicht eingeladen ist und bei der er dennoch auftaucht, um sein Geschenk zu überreichen, bildet den Anfang der Reise. Die erstaunten Blicke von Tatjana nimmt er gleichsam auf die Reise mit und malt sich aus, dass sie auch weiterhin alles beobachtet kann: «Auf der ganzen Reise habe ich mir vorgestellt, dass sie uns sehen kann». (ebd., 8) Sein Agieren ist daher vor dem Hintergrund zu bewerten, dass er Tatjana imponieren und ihr demonstrieren möchte, dass er als Mann für sie in Frage kommt. Das Ende des Romans gibt ihm schließlich auch Recht. Denn nach der Reise ist Maik plötzlich interessant für sie, seine Schrammen im Gesicht machen ihn zu einem Helden: «[D]a stehen die Frauen drauf» (ebd., 17).

Die heterosexuelle Matrix, in die sich der Roman einschreibt, wird durch Tschicks Outing konterkariert. Das Entscheidende dabei ist, dass Tschicks sexuelles Begehren kaum zum Problem gemacht wird. Freilich hat er Schwierigkeiten, über sein Geheimnis zu sprechen, und es ist gleichsam ein Freundesbeweis, dass er sich Maik gegenüber outet. Spannend ist hier, wie darüber gesprochen wird. Tschick erklärt nämlich seine Homosexualität in der Periphrase, dass er nicht an Mädchen interessiert ist. Das wiederum eröffnet auch für Maik neue Perspektiven, aber er kommt alsbald zum Schluss:

[I]ch dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen, aber ich schaffte es nicht. Ich mochte Tschick wahnsinnig gern, aber ich mochte Mädchen irgendwie lieber. (ebd., 214)

Auch wenn durch das Outing die Männerfreundschaft nicht gefährdet scheint, werden auf der Handlungsebene nun doch die Rollen vertauscht. Nicht mehr Tschick lenkt den Wagen, nun ist es Maik, der am Steuer sitzt. Maik scheint durch sein Bekenntnis zur Heterosexualität gleichsam in seiner Männlichkeit gestärkt und bestärkt. Bei Tschick ist hier das Gegenteil der Fall. Die Szene steht deutlich in Kontrast zu einem Dialog, den Maik und Tschick noch vor der Reise geführt haben. Dort inszeniert sich Tschick als wahrer Frauenheld, beschimpft Maik als schwul, weil er langweilig ist und nicht zu Tatjanas Party gehen möchte:

Aber für Leute wie mich, die noch im Saft stehen, ist die Party ein must. Simla ist da. Und Natalie. Und Laura und Corinna und Sarah. Nicht zu vergessen Tatjana. Und Mia. Und Fadile und Cathy und Kimberley. Und die ultrasüße Jennifer. Und die Blonde aus der 8a. Und ihre Schwester. Und Melanie. (ebd., 77f.)

Tschick bedient sich hier der Camouflage, überspielt sein homosexuelles Begehren durch ein übertriebenes Verlangen nach Frauen. Erst die gemeinsame Reise mit Tschick ermöglicht es ihm, offen über seine Sexualität zu sprechen. Dabei ist der Roman voll an Allusionen, was männliche Homosexualität betrifft. Auffallend ist dabei, dass diese zunächst allein von Tschick ausgehen und vor allem der Provokation von Maik dienen. Immer wieder bezeichnet er diesen in pejorativer Weise als Schwulen: sei es, weil er langweilig ist, sei es, weil er sich an Regeln hält, sei es, weil er Tschick ironisch als Liebling bezeichnet, sei es, weil ihn Mädchen nicht interessieren, sei es, weil er unmännlich agiert. Die Zuschreibungen, die Tschick trifft, werden schließlich als direkte Fragen formuliert «Also, bist du schwul?» (ebd., 85) und auch diskursiviert: Tschick erzählt beispielsweise von seinem schwulen Onkel aus Moskau und will damit seine offene Haltung gegenüber Homosexualität zum Ausdruck bringen. Zugleich reduziert er diesen Onkel auf dessen obszönes Auftreten, wenn er ihn «in einer Lederhose mit hinten Arsch offen» (ebd.) beschreibt.

Weitere Stereotype ruft Tschik Maik gegenüber auf, wenn er gestisch männliche Homosexuelle imitiert, indem er mit der Hand unsichtbare Fliegen wegwedelt. Die Abwertung von Homosexualität, wie sie durch pejorative Benennungen und klischeehaften Zuschreibungen erfolgt, ist einer hegemonialen Männlichkeit geschuldet, die gleichgeschlechtliches Begehren als «falsch» diskreditiert und für schwule Männer eine recht simple Erklärung hat: «es fehlt ihnen an Männlichkeit» (Connell 2015, 203). Der Mangel wird dann durch vermeintlich weibliche Attribute kompensiert, die den männlichen Homosexuellen zugeschrieben werden. Aus diesem Grund agiert Tschick auch in einer übertriebenen Männlichkeit, um seine Homosexualität zu verstecken. Dazu gehört es auch, abfällig über Homosexuelle zu sprechen, weil damit die Dominanz hegemonialer Männlichkeit erhalten bleibt.

Homosexualität spielt später auch im Aufeinandertreffen mit Isa auf der Müllkippe eine Rolle. Nun ist es das Mädchen, das die beiden Jugendlichen mit heftigen Beschimpfungen wie «Russenschwuchtel» (ebd., 151) oder «der Schwule mit dem Kanakenfreund» (ebd., 153) konfrontiert. Anlass dazu bietet das vertraute Bild, das die Jungen abgeben, wie auch die Tatsache, dass ihre Lippen nach dem Verzehr von Brombeeren geschminkt erscheinen. Toni Tholen wertet die aggressive Begegnung der Jugendlichen als Resonanzraum desolater Familienverhältnisse, die Müllkippe spiegelt gleichsam die Missverhältnisse in den geschlechtlich-familial markierten Identitätsverläufen der Figuren wider (vgl. Tholen 2014, 382). Deutlich wird dabei, dass sie die patriarchale Ordnung hinter sich gelassen haben und nun auch offen für andere identitäre Modelle sind, die die Möglichkeit der Selbstbestimmung mit einschließen.

Zuletzt werden die beiden Jungen durch den vereinsamten Rentner Horst Fricke mit Homosexualität konfrontiert. Mit seiner Frage «Habt ihr denn ein Mädel?» (Tschick, 184) kommt er schnell auf den Punkt und gibt unmissverständlich zu verstehen, dass er sie für zwei hübsche Jungs hält. Die sexuellen Anspielungen verdichten sich, als er ihnen ein Bild seiner Freundin zeigt, die in einer Uniform posiert und androgyn erscheint. Frickes Hinweis auf Ernst Röhm, der von den Jugendlichen freilich nicht entschlüsselt werden kann, greift als Subtext männliche Homosexualität auf: Röhm lebte als Führer der Sturmabteilung offen seine Homosexualität aus und brachte in seiner engeren Umgebung im Führungsstab der SA zahlreiche Homosexuelle unter. Nach Röhms Ermordung in der so genannten «Nacht der kalten Messer», in der Hitler sich 1934 zahlreicher potentieller Konkurrenten entledigte, nahm die gezielt betriebene Verfolgung Homosexueller durch die Nationalsozialisten drastisch zu. Fricke schreibt sich als Mitglied der Widerstandgruppe Ernst Röhm in dessen Schicksalsgemeinschaft ein und stellt mit seinem historischen Exkurs als Erzählung über die Liebe die sexuelle Identität der Jugendlichen auf den Prüfstand.

Tschicks Outing erfolgt wenig später im Roman und wird gleichsam durch die vielfältigen Anspielungen im Roman vorbereitet. Tschick knüpft dabei an das erste Gespräch mit Maik an, bei dem er ihn aufgrund seiner mangelnden Initiativen gegenüber Tatjana als schwul bezeichnet, und deckt seine Camouflage als Frauenheld auf. Rückblickend betrachtet wird deutlich, wie sehr Tschick um Maiks Aufmerksamkeit buhlt und mit welchem Imponiergehabe er dabei seine eigene Männlichkeit unter Beweis zu stellen versucht. Die verbalen Provokationen und der beiläufige Körperkontakt dienen ihm vor allem dazu, sich über Maiks sexuelle Identität ein Bild zu machen. So gesehen kann die Annäherung zu Recht als «diskrete und erst im Nachhinein sich aufklärende Liebensgeschichte» (Thiersch 2014, 316) gelesen werden. Tschick wünscht sich eine ganz «normale» Beziehung, will «einfach Urlaub wie normale Leute» (Tschick, 95) machen. Normalität wird zu einem Code, den Jugendliche laut Winter und Neubauer Jugendliche als Orientierung und Bewältigungsform im Zusammenhang mit Männlichkeit heranziehen. Dabei geht es nicht unbedingt um Unterwerfung unter den sozialen Druck (etwa der Peergroup), sondern «vielmehr um das Ausbalancieren unterschiedlicher Tendenzen und darum, sich zu integrieren, indem sie sich nicht allzu sehr von den anderen unterscheiden» (Winter/Neubauer 2005, 216). Aufgrund der Differenzen (u.a. sexuelles Begehren, sozialer Status) bleibt Tschick eine derartige Integration aber verwehrt. Was ihm bleibt, ist die Sehnsucht, diese in der Zweisamkeit mit Maik zumindest ein Stück weit zu realisieren.

Fazit

Das Abenteuer Männlichkeit, das die beiden Jugendlichen mit ihrer Reise unternommen haben, entspricht einem Initiationsritus, bei dem sie ihre vertraute Umgebung verlassen, um sich fernab davon ihrer Identität bewusst zu werden. Räumliche Grenzen werden dabei überschritten, um auch normative zu überwinden. So eröffnet die Reise einen unbestimmten Möglichkeitsraum, «der etablierte Ordnungen außer Kraft setzt und das Experimentieren mit Neuem erlaubt» (Koller 2014, 55). Durch die Begegnung mit anderen werden sie zugleich mit der Frage konfrontiert, wer sie selbst eigentlich sind. Am Ende der Reise wird die Entwicklung deutlich, die die Figuren durchgemacht haben. Das gemeinsam erlebte Abenteuer lässt sie nun selbstsicherer agieren, macht sie Vorurteile überwinden, hat sie zu Freunden werden lassen. In der Konfrontation mit dem Anderen bzw. Fremden werden eigene Deutungsmuster in Frage gestellt, freilich ohne eine schlüssige neue Orientierung anzubieten. Die Reise ermöglicht es aber, andere Lebensweisen kennenzulernen, neue Perspektiven einzunehmen und mit unterschiedlichen Verhaltensweisen zu experimentieren. Der Roman thematisiert in dieser Hinsicht Prozesse der Aneignung und Abgrenzung, Individualisierungstendenzen unter dem Druck gesellschaftlicher Normvorgaben, Bewertungen von Formen männlicher Körperlichkeit und Sexualität wie auch das Ausbalancieren von Widersprüchen. Auf der geschlechtlichen Ebene werden verschiedene Rollen durchgespielt, die zumal stark stereotypen Formen von Männlichkeit entsprechen, wie sie in der Medienwelt präsentiert werden und im gesellschaftlichen Diskurs vorherrschen. Der Roman ironisiert diese aber auch durch hyperbolische Darstellungen und durch ein Spiel mit Identitäten, das vorherrschende Geschlechterrollen in Frage stellt. Das Spiel ist nicht immer von Leichtigkeit durchdrungen, vielmehr verdeutlicht es die «habituellen Verunsicherungen» (Meuser 1998, 121), denen die Jugendlichen in der Phase der Adoleszenz ausgesetzt sind. Direkte Bezugspersonen erweisen sich als Vorbilder wenig geeignet, denn der Vater verkörpert die patriarchale Gewalt, der es gerade zu entkommen gilt. Im Schlussbild wird der väterliche Ballast im Pool versenkt – als Befreiungsschlag, der metaphorisch in den Uterus der Mutter zurückführt. Insofern ist auch das Ende – zumindest für Maik – tröstlich, denn er darf noch ein wenig Kind bleiben. Das ist Tschick aufgrund seiner familiären Situation, die im Text gleichsam eine Leerstelle bildet, nicht vergönnt. Das Heim, in dem er landet, steht für jene Exklusion, die Tschick von Anfang an widerfährt. Als der immer schon Andere wird er von der Gesellschaft ausgeschlossen.

 

 

 

Literatur

Primärliteratur

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Sekundärliteratur

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