Achim Seiffarth

(Fulda)

Die Wiederkehr des Antiken in der Erzählung
Max Weber und Robert Musil

[The Return of Antiquity in Narrative Literature. Max Weber and Robert Musil]

abstract. Max Weber and Robert Musil have shared interests, not only in analyzing the “modern world”. With contemporary philosophy having apparently become merely aca­demic, and narration losing plausibility in history as well as in literature, they both choose the way of essayistic writing in order to substantiate their views. And in their search for a foundation they both go back to ancient philosophy, Weber to Plato and Musil to Plotinus.

Über die Felder

Im Roman handelt einer ausführlich die wissenschaftliche Psychologie ab, im wissenschaftlichen Aufsatz schreibt ein anderer über das Menschen­schicksal in aufgeladenen Worten, erzählt von Tod und Liebe. Denn beide, der Dichter und der Wissenschaftler, schreiben nicht mehr, wie es in den Feldern, in welchen sie sich bewegen, geboten wäre. Was sie zu begründen suchen: nicht weniger als eine je eigene Ansicht der Welt und des Lebens, kann sich nicht mehr mit den hergebrachten Mitteln begnügen. Weder die gelungene Erzählung noch die logische Erklärung allein reichen aus. Weber und Musil, beide verbinden Argumentation und Erzählung im Essay. Nur so, wenn überhaupt, kann, was sie schreiben, Überzeugungskraft entfalten.

Der Begründer einer Soziologie und der Verfasser eines riesigen Roman­fragments haben dabei nicht nur den Ausgangspunkt, sondern auch den Fluchtpunkt ihres argumentativen Erzählens oder erzählenden Argumen­tierens gemeinsam. Beide laufen gegen Ende ihres Schreibens auf eine Wie­deraufnahme antiken Denkens hinaus: der eine mit Platon und der andere mit Plotin.

Ob das eine Tendenz des Essayismus sei, vielleicht eine Neigung der Zeit? Spätere Autoren werden noch hinter das klassische Denken zurück­greifen und im Mythos landen, im Chthonischen oder was es sei, Ausflucht aus der Subjektivität des Essayismus suchen und das geht nicht gut aus, wie wir wissen.

Der Ausgangspunkt

Musil und Weber wählen essayistische Formen für das, was sie zu sagen haben. Was das bedeute, sollte sich abzeichnen, wenn wir den Begriff nicht zu weit ausdehnen und nicht bis Montaigne zurückgehen, zudem auch keine noch unerklärten Wörter aufmarschieren lassen wie «Moderne» oder «Dis­kurs»[1]. Diese gehören ihrerseits derselben Bewegung an, über die sie zu sprechen vorgeben und stehen für teils emphatische («Wir Modernen!»)[2] teils aporetische (auch im eigenen “Diskurs” wären Wahrheit und Macht verschränkt)[3] Positionen innerhalb der öffentlichen Bewegung des Den­kens im zwanzigsten Jahrhundert, die erst ausführlich erörtert werden müssten. Hingegen bewegt sich die Bestimmung des Essays, wie sie von Georg Lukàcs und Theodor W. Adorno vorgenommen wird, nah an dem, was ein Leser in den Texten selbst finden kann, wenn er einmal Adornos Polemik gegen das, was er Positivismus nennt, beiseite lässt[4]. Wogegen er im Übrigen den Essay auszeichnet: den Hang zur umfassenden Abhand­lung, das scheint eine fleißige Gefolgschaft gehabt zu haben, wie etwa Wil­helm Wundts oder Albert Schäffles Werke bezeugen[5]. Davon unterschiede sich, Adorno zufolge, der Essay. Dieser gehe, schreibt Adorno, von kultu­rell vorgeordneten, begrenzten Gegenständen aus und also nicht von ersten Prinzipien oder Anfängen und Definitionen: er schaffe keine neue Welt, auch keine begriffliche. Er nehme daher die Wörter in ihrem Alltagsge­brauch auf. Er gehe nicht systematisch vor. Er vereine den Anspruch der Schönheit mit dem der Wahrheit und verweigere sich daher der Trennung von Wissenschaft und Kunst. Das ist nicht an sich schon auffällig. Das Me­dium der Geschichtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts war die gelungene Erzählung, der Anspruch also stets zugleich ästhetischer Natur gewesen. Doch der Rückgriff auf diese Art der Darstellung ist nicht mehr möglich.

Für Vertreter der “Historischen Schule”, Leopold von Ranke etwa und Wilhelm Roscher, hatte die Erzählung zusammenhängender Episoden Ziel und Mittel der Geschichtswissenschaft dargestellt. Ob kurz oder lang, in der erzählten Geschichte zeigte sich ihnen in den historischen Ideen[6], wel­che der Erzähler jeweils aufzufinden hatte, nicht weniger als die verborgene Hand Gottes – des unaussprechlichen Einen, wie die Historisten in Plotins Tradition dachten, ohne es zu erklären[7]. Der nur zu ahnende Gott hinter allem – diese Vorstellungen drücken die Historisten: sei es Ranke oder Mo­mmsen, kaum einmal aus, doch Max Weber bringt sie in seinen ersten me­thodologischen Aufsätzen ans Licht, wo sie unmittelbar als unannehmbar erscheinen und verschwinden[8].

Damit ist der Weg zum einfachen Erzählen verbaut, wie es die Historis­ten pflegten. Wie soll nun der Historiker schreiben? Logisch folgernd aus Prinzipien? Systematisch beschreibend nach genauen Definitionen? Weber wählt die Form des Essays. Seine Protestantische Ethik erörtert in loser Folge schwache empirische Belege, teils ausführliche, nicht immer dem Argumen­tationsgang unterworfene literarische und Zitate aus religiösen Werken. Souverän erzählt der Verfasser auch von Italienern und Chinesen: Er kennt die Welt. An persönlichen Wertungen fehlt es dabei nicht: Weber bemän­gelt den Lebensstil der modernen Unternehmer, der ritterlichen Figur des Gründers der ersten kapitalistischen Unternehmungen hingegen gilt sein Lob. Er schließt mit der berühmt gewordenen Bild: «Nur wie “ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte”, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden» und der Warnung vor dem Sieg des von Nietzsche beschriebenen «letzten Menschen»[9]. Kurz: Weber beachtet die Grenzen wissenschaftlichen Schrei­bens nicht.

Musils Roman beginnt bei der Großwetterlage und führt dann nach Wien, was aber keine Bedeutung habe. Doch dann setzt die Handlung tat­sächlich in eben dieser Hauptstadt ein und scheint mit der Parallelaktion an eine Wirklichkeit Österreich-Ungarns gebunden, welche dem Untergang geweiht ist. Über diese Begrenztheit führen die allgemeinen Überlegungen hinaus, welche die Erzählung begleiten oder ergänzen. Nur so wird ein Zeit­roman aus dem Mann ohne Eigenschaften. Man hat das Werk wegen seiner allgemeinen Erörterungen auch kritisiert. So sprenge das Kapitel über die Gefühlspsychologie den Rahmen einer Erzählung[10]. Das ist richtig.

Weder Musil noch Weber beachten Gattungsgrenzen. Wer da jeweils die Protestantische Ethik und den Mann ohne Eigenschaften schreibt, schweift ab, nimmt auf, was sich auf dem Weg findet, fügt Fremdes ein und überlässt die Verbindung zwischen den disparaten Stücken mitunter ganz dem Leser. Damit ist der Essayismus Webers und Musils auch schon wieder über den Essay hinaus. Bei ihrer Art des Schreibens werden eigentlich Essays und anderes zu größeren Einheiten montiert. Denn über die Grenzen eines Es­say-Themas geht ihrer beider Anspruch ja weit hinaus. Es geht weder We­ber noch Musil um Kleinigkeiten, eingefasste kulturelle Erscheinungen, es geht beiden um die Welt ihrer Zeit.

Essayismus im Mann ohne Eigenschaften

Was genau ist essayistisch an Musils Roman? Zunächst sind hier von Anfang an längere Erläuterungen und argumentative und rhetorisch[11] aus­geführte Deutungen eingeführt, die nicht durch Auftritte von Romanper­sonen unterbrochen oder aufgenommen werden, etwa Kapitel 15 «Geisti­ger Umsturz». Bewertungen unklarer Zuschreibung («still und verlogen», «Gott sei Dank») treten auf. Diese Essay-Kapitel dienen der Vertiefung des geschichtlichen Zusammenhanges, in dem sich die Romanfiguren bewegen. Im bekanntesten dieser Essays geht es um den Essayismus selbst.

Dort vollzieht sich eine doppelte Bewegung: innerhalb des Erzählstrangs werden kürzere oder längere Essays eingeführt. Doch ist zugleich das Ganze dieses erzählten Lebens für essayistisch erklärt. Der Roman enthält Essays; das gesamte erzählerische Verfahren dient als Darstellung eines, nach den Worten des Erzählers, den Essayismus lebenden Menschen. Ge­dankeninhalt und Form sind ineinander verschränkt. Aber wenn das so ist, liegt der logische Schwerpunkt auf dem Essay oder, ganz wie man will, der Erzählung oder dem Essay über den Essayismus in Kapitel 62 des ersten Buchs. Kann hier Halt oder Grund des ganzen Werkes liegen?

Nach den ersten sechs Monaten seines «Urlaubs vom Leben» schickt sich Ulrich an, so etwas wie seine Lebensauffassung darzustellen. Sie er­scheint als Fortsetzung und Läuterung von Gedanken, welche ihn schon seit sechs Jahren beschäftigen sollen. Zunächst könnte das dort Entwickelte als Anwendung der von Adorno entwickelten Ideen erscheinen. Das gilt vor allem für die Art, in welcher Musil hier gegen die «Systemphilosophen» polemisiert. Wie er den Essayismus herausarbeitet, zunächst über das Ideal des «hypothetisch Lebens», ist allerdings eigenartig. Denn dieses solle zu­gleich «den Hauch der Widerruflichkeit, den ein junger Mensch fühlt» und den «Wunsch nach großen Zusammenhängen» ausdrücken – von letzterem ist dann aber nicht mehr ausdrücklich die Rede[12]. Denn es wird die Vorläu­figkeit aller Ichs, aller Formen und Grundsätze unterstrichen. Der «große Zusammenhang» könnte allenfalls in der folgenden Formulierung versteckt sein: «Und meint er einmal, den rechten Einfall zu haben, so nimmt er wahr, dass ein Tropfen unsagbarer Glut in die Welt gefallen ist, deren Leuchten die Erde anders aussehen macht», weshalb offenbar Ulrich dann nicht mehr von «Hypothese» sondern von «Essay» sprechen will. Zwar erscheint wei­terhin der «Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren We­sen und Natur […] ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten», zwar betrachtet Ulrich «alle moralischen Geschehnisse in ihrer Bedeutung als die abhängige Funk­tion anderer», aber der richtige Einfall, in der Form des Essays gedacht, könnte «die Welt anders aussehen» lassen. Denn zwar sei die Moral eine «Altersform» ohne Kraft und Halt. Doch könne «ein bewusster menschli­cher Essayismus» zu «einem einheitlichen Lebensgefühl» führen. Auf dem Weg dorthin soll Ulrich abgelegt haben, was «in einer zerstreuten, lähmen­den, entwaffnenden Weise gegen das logische Ordnen, gegen den eindeuti­gen Willen, gegen die bestimmt gerichteten Antriebe des Ehrgeizes wirkte». Offenbar geht dieser erneuerte Essayismus nicht als Ausdruck übermäßigen Nachdenkens und daher anhaltender Unentschlossenheit gegen die Hand­lung, sondern soll als konzentrierte Form in die Welt hinausführen. Nach all diesen Schilderungen von Ulrichs Entwicklung folgt die Definition

ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Nichts ist dem fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertig­keit der Einfälle, die man Subjektivität nennt, aber auch wahr und falsch, klug und unklug sind keine Begriffe, die sich auf solche Gedan­ken anwenden lassen.[13]

Was man «Subjektivität nennt», schließt er aus. Er will fertige Einfälle und Verantwortlichkeit, aber subjektiv bleibt das Ganze doch: Die «Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt» braucht ja nicht anderen anmutbar zu sein. Wie kommt der Es­sayist von innen, auch in seiner vollkommensten Gestalt, nach außen, in die Welt? In Musils Roman macht sich hier ein mystischer, fast autoritärer Klang bemerkbar. Hier steht etwas von «Essayisten und Meister[n] des in­nerlich schwebenden Lebens» – der Dichter als Meister? Musil erklärt: «ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion». Exemplarische Prophetie will, wer das schreibt: Verbindlichkeit ohne Zwang, eine, die aus dem Innern einzelner hervorkäme und andere in ihren Bann zöge. Ein solcher Essayismus würde, nach allem, an die Stelle der Moral treten und müsste daher von vorneherein mehr sein als ein Spiel des Subjekts. Aber wie?

Zwischen der Wahrheit der Wissenschaft und der Subjektivität liege das, was so geschaffen werde. Und man «nennt etwas, das weder eine Wahrheit noch eine Subjektivität ist, zuweilen eine Forderung». Eine normativ oder eine je persönlich zu nehmende? Aber welche? Und wie überzeugt sie? Wer da über Ulrich schreibt, meint nun, «es war ein Gebiet, das er betreten hatte» – eigentlich wohl eher die Forderung einer Forderung. Doch «es war ein “ganz Begreifen” und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft fern herüberträgt». Glaubwürdiger könnte da der Satz erscheinen: «Er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens».

Zusammenfassend: Der Mann ohne Eigenschaften hat ein Modell von schriftlicher oder Gedankenproduktion. Diese kann in kein System einge­fügt werden, sie muss ihren Grund in sich selbst tragen. Sonst bliebe alles am Subjekt haften. Schriften oder Gedanken sollen aber in die Welt hinaus wirken, als Forderung erfahren werden. Das Problem ist allgemeiner Natur. Der Essayist schreibt auf freiem Feld, jenseits aller Fach und Gattungsgren­zen, ohne Stütze in Denksystemen, akademischen oder wissenschaftlichen oder poetologischen Regeln, ohne Halt. Wie schafft er es, Verbindlichkeit zu erzeugen? Noch dazu, wenn er, wie Max Weber und Robert Musil, ein Gesamtbild der Zeit zu geben versucht? Die Anmutbarkeit, auf welche Mu­sil in seinem Kapitel über Essayismus hinaus zu wollen scheint, ist nicht mehr durch Anschluss ans Denken anderer zu gewährleisten. Er muss sie in der weiteren Erzählung zu begründen suchen. Wie kommt der Mann ohne Eigenschaften dazu, mehr zu sein als ein persönlicher Ausdruck eines einzel­nen Menschen? Wo entsteht die «Forderung»? Einen Ausweg findet sich in einer Erzählung, welche in Formen findet, die von weither kommen. In Erzählungen tritt eine erneuerte Antike auf. Das gilt sowohl für Max Weber wie für Robert Musil. Denn mit einer Antwort auf die Frage, ob Musil wich­tige Gedanken von Plotin übernommen habe, ist wenig getan. Plotin ist in einen größeren Teil des literarischen und historischen Schreibens seit Goe­thes Metamorphose der Pflanze direkt oder indirekt eingegangen[14]. Die Frage wäre, wie Musil von seinem Ausgangsstandpunkt aus die Lehre vom Einen aufgreifen kann.

Max Weber erzählt

In mehreren von Webers Werken spielen kurze oder längere Erzählun­gen eine wichtige Rolle. In der Protestantischen Ethik verdeutlicht er erzäh­lend, weil er kein anderes Mittel der Evidenzierung hat, das Leben der alten Zeit, um es dann dem heldenhaften Geist des zunächst einsamen modernen Unternehmers gegenüberstellen zu können[15]. Er nimmt auch literarische Erzählungen auf, etwa von Gottfried Keller, dann Bunyans Pilgrim’s Progress, aus dem er eine Szene komisch nacherzählt[16]. In Die protestantischen Sekten erzählt er selbst Erlebtes, etwa von einer Baptistentaufe: «Es war kalt und hatte die Nacht etwas gefroren. Ringsum an den Hängen der Hügel standen massenhaft Farmerfamilien, die in ihren leichten zweiräderigen Wagen aus der Nachbarschaft, teilweise aber auch von weither, gekommen waren»[17]. Damit nähert er sich der journalistischen Erzählung, wie er sie auch im ers­ten Russland-Aufsatz einsetzt, um das Thema einzuführen: «Am 9. Dezem­ber nachts fielen die ersten Revolverschüsse gegen das Militär, welches eine Versammlung umzingelte, Barrikaden entstanden […]»[18]. Zur großen his­torischen Erzählung findet er in der Wirtschafstethik der Weltreligionen zurück, vor allem in der Arbeit über das antike Judentum und die Propheten, aber auch in den anderen Studien, wo es zum Teil anekdotisch zugeht[19]. Doch ist das nicht mehr als das Erzählen der Historisten zu verstehen, welche den göttlichen Ideen nahezukommen dachten: die Studien über die «Weltreligi­onen» werden von einem berühmt gewordene Essay eingeführt, welcher die Sonderrolle des modernen Abendlandes vergleichend bestimmt und wer­den unterbrochen durch einen weiteren Essay, der als Verbindungsglied der großen Erzählungen steht, durch eine «Zwischenbetrachtung» über «Rich­tungen und Stufen der religiösen Weltablehnung». Dieser geht über das weit hinaus, was bis dahin historisches oder religionswissenschaftliches Schrei­ben gewesen war.

Schon der erste Teil des Titels: «Zwischenbetrachtung», erinnert an et­was wie kontemplative Praxis, vielleicht auch ans «Zwischenspiel» des ba­rocken Trauerspiels[20]: und den Blick aufs Wesen freigäbe. Tatsächlich stellt der Verfasser hier, dem barocken Muster nicht unähnlich, die Welt aus re­ligiöser Sicht «als Stätte der Unvollkommenheit, der Ungerechtigkeit, des Leidens, der Sünde, der Vergänglichkeit, der notwendig schuldbelasteten, notwendig mit immer weiterer Entfaltung und Differenzierung immer sinn­loser werdenden Kultur»[21] dar. Der Essay bewegt sich an Bereichen unseres Alltagslebens entlang und erklärt zwar die Spannung zu religiösen Forde­rungen, welche sich im Laufe der Geschichte jeweils eingestellt habe, doch dringt er bei seiner Behandlung der Wirtschaft, der Politik, der Kunst, der Erotik und der Wissenschaft niemals in rein fachliche, und das hieße ja auch: fachsprachliche Erörterungen vor. Hier beherrscht ein literarisches Muster die Erklärung, nämlich das Tolstoische des «Kreislauf[s] des alten einfachen organischen Bauerndaseins herausgetretenen Menschen»[22], und es wird gar Baudelaire zitiert, als Weber von «heiliger Prostitution der Seele» spricht – ein gewollt schockierender Kontrast[23] zum Heiligkeitsanspruch der zuvor genannten Mystiker und persönliche Stellungnahme des Schrei­benden. Was er dann zur «realisierte[n] Gewaltandrohung» zwischen Staa­ten, also zum Krieg schreibt, könnte auch als eine eher persönliche Ein­schätzung des Erlebten darstellen: Der Krieg «schafft», ein Künstler wohl, «ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine Ar­beit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus»[24]. «Pa­thos», «Hingabe», «Erbarmen», «Liebe zum Bedürftigen»: vier Begriffe reli­giösen Ursprungs. Damit nicht genug:

Und darüber hinaus leistet der Krieg dem Krieger selbst etwas, seiner konkreten Sinnhaftigkeit nach, Einzigartiges: in der Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes, die nur ihm eigen ist. Die Gemein­schaft des im Felde stehenden Heeres fühlt sich heute, wie in den Zei­ten der Gefolgschaft, als eine Gemeinschaft bis zum Tode: die größte ihrer Art.

Stellvertretendes Erzählen von einer Erfahrung: so erklärt Weber das Verhältnis des Krieges zur Religion. Aber wovon spricht er da? Einer Rück­kehr in glücklichere Zeiten, wie im Traum? Der «Einzelne» – «hier, und in dieser Massenhaftigkeit nur hier» – «kann glauben»: «dass er “für” etwas stirbt». Handelt es sich um eine Illusion? Dann jedenfalls eine hilfreiche, wie Weber unter rhetorischer Wiederaufnahme – wie in einer Rede, wo man an den Gegenstand längerer Sätze hin und wieder zu erinnern sich veran­lasst fühlen kann – ausführt: «Und von jenem Sterben, welches gemeines Menschenlos ist und gar nichts weiter, […]: – von diesem lediglich unver­meidlichen Sterben scheidet sich der Tod im Felde».

Nun ist solche Feier des Heldentodes von Seiten eines, welcher nicht an die Front hat gehen können, noch als kunstreich umgearbeitetes Versatz­stück staatlicher Propaganda zu lesen. Ganz allgemein geht es um das un­terstellte Erleben eines unbekannten Soldaten. Weber fährt aber fort und schreibt auch über «Erotik», welcher eine «Sonderstellung» zukomme. Um ihre Entwicklung nachzuzeichnen, bemüht er literarisches Erbe.

Von Archilochos für das «vorklassische(n) Hellenentum» geht er aus, schreitet fort über Sappho, über die er bemerkt, sie sei «an erotischer Er­lebnisfähigkeit von Männern unerreicht», erwähnt Perikles (und Aspasia) und gelangt zu Plato, für den der «“Kamerad”, der Knabe» das «begehrte Objekt»[25] gewesen sei. Die nächste Station stellt schon die «Ritterminne» mit ihrem «erotische(n) Vasallendienst» dar, auf welches die «doch wesent­lich maskulin agonale(n)» «Renaissancekonvention etwa noch des Cortigiano und der Shakespeareschen Zeit» und dann die «Salonkultur» folgen. Das letzte in dieser Reihe genannte Werk sind die von Rilke 1913 ins Deutsche übertragenen Lettres Portugaises[26].

Dann erst schildert Weber selbst die «erotische Beziehung»: sie scheine «den direkten Durchbruch der Seelen von Mensch zu Mensch zu gewäh­ren».

Allem Sachlichen, Rationalen, Allgemeinen so radikal wie möglich entgegengesetzt, gilt die Grenzenlosigkeit der Hingabe hier dem ein­zigartigen Sinn, welchen dies Einzelwesen in seiner Irrationalität für diese, und nur dieses andere Einzelwesen hat. Dieser Sinn und damit der Wertgehalt der Beziehung selbst aber liegt, von der Erotik aus ge­sehen, in der Möglichkeit einer Gemeinschaft, welche als volle Eins­werdung, als ein Schwinden des “Du” gefühlt wird […].

So «weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig un­zugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt»: ein symbolisti­sches Bild mystischen Gehalts[27]. Der Liebende fühle sich zurückkehren in eine verlorene Einheit und zugleich «den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages»[28].

Weber erzählt hier von einer Erfahrung, der unserer Welt und unseres Alltags im Gegensatz zur Einheit mit dem oder der Geliebten. Weber ver­sucht in einer ausgesprochen bildhaften und zugleich typisierenden Erzäh­lung das glaubhaft zu machen, was sonst nur im Schreiben der Mystiker geschildert wird. Die Erfahrung des Einen hätte ihn nun zu Plotin treiben können, zurück zum verborgenen Denken von Webers Lehrern. Wie viele seiner Zeitgenossen, hat Weber Maeterlinck gelesen, den Hauptvermittler neuplatonischen Gedankenguts[29]. Doch bei seiner Rückkehr in die Antike bleibt er seiner kritischen Haltung zum «Emanatismus» Leopold von Ran­kes, Wilhelm Roschers und Theodor Mommsens treu. Es ist seine Plato-Lektüre, die ihm die entscheidenden Begriffe liefert.

«Wissenschaft» und «Politik» als Beruf

Kann eine Rede ein Essay sein? Wenn sie gedruckt wird, nicht zweckge­bunden ist wie ein politischer Appell oder ein Enkomion, wenn sie nicht fachgebunden bleibt wie ein wissenschaftlicher Vortrag, vielleicht ins Dich­terische hinüberglitte, dann könnte sie es sein[30]. Die Fragen wären also zwei: Worum geht es? Und wie?

Der «Beruf zur Wissenschaft», «Der Beruf zur Politik»: Im Mittelpunkt stehen zunächst die äußeren Bedingungen derer, die Berufe in diesen Be­reichen ausüben. Dann erst geht der Sprecher auf das ein, um das es ihm wirklich geht: das, was er den «inneren Beruf» nennt. Erst entmutigt er die Zuhörer: in der Wissenschaft regiere «Hazard» oder «Zufall»[31], bei der gro­ßen Spezialisierung im Reich der Forschung, bei der allgemeinen Gering­schätzung im Feld des Journalismus und der Politik, sei auf äußere Vorteile und innere Freuden kaum zu hoffen. Die Fähigkeit zur Hingabe, auch zur rauschhaften[32], und eine gewappnete Seele sind das, was Weber als Eigen­schaften dessen ausmacht, welcher einer der beiden Bereiche sich widmen könne, ohne inneren Schaden zu nehmen.

Es handelt sich um ein Erziehungsprojekt, vorgetragen jenseits der fach­lichen Grenzen. Es geht um nicht weniger als den Menschen und «das Schicksal seiner Seele»[33], im Verhältnis zu zwei der wichtigsten Bereiche des menschlichen Lebens. Seltsame, aufgeladene Worte, ein weitreichender An­spruch eines, der seinen jungen Zuhörern Spezialisierung anempfiehlt. We­ber nimmt sich von der Empfehlung aus, stellt hier eigenes auf das Feld, welches einmal von der Philosophie besetzt war. Dabei bewegt er sich au­ßerhalb des akademischen Faches Philosophie. Auf universitäre Arbeiten bezieht er sich nicht. Er greift ohne Vermittlung auf ein Gründungswerk zurück. Seine drei Themen: Politik, Wissenschaft und Mensch, waren näm­lich mehr als zweitausend Jahre zuvor schon einmal bearbeitet worden: von Platon in seinem Staat. Eigenartig wäre Webers Wortgebrauch, wenn man Plato nicht mitläse. Weber setzt keine Fachsprache ein, aber ein Vokabular, welches auf anderen Text verweist. Wenn er von der Seele[34] spricht, welche zu «bändigen»[35] sei, vom Dämonen[36] und, am Ende des zweiten Vortrags, vom Politiker fordert, er müsse ein «Held» oder jedenfalls «gewappnet»[37] sein, dann weist das zurück auf das Gründungswerk der politischen Philo­sophie. Auch das Bild, welches Weber von der Auslese des Wissenschaftlers gibt, im Unterschied zu den von Impulsen getriebenen Studenten[38], steht dem Platonischen[39] Modell sehr nahe: der Auswahl der Regenten im Staat[40]. Sein schließlich dreigeteiltes Modell der Tugenden des Politikers lässt die gesamte europäische Tradition spätestens seit Descartes beiseite und greift über den «muot» der Ritterethik Platon wieder auf[41]. Er fordert «Leiden­schaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß»[42], letzteres definiert über den Mut zur Distanznahme: «die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein»[43]. Der Regent müsse einer sein, welcher ohne zu Wan­ken seinen Glauben bewahre, meint Platon, «innere Unerschütterlichkeit» müsse ihn auszeichnen[44].

Die Welt von Webers beiden großen Reden wird also über Jahrtausende politischer Theorie hinweg von einer längst außer Kraft scheinenden Schrift, im Übrigen von Bildungskenntnissen bestimmt. Weber zitiert wie einen gemeinsamen Bekannten den «alten Mill»[45], dann Bibelstellen[46], Nietzsche, Baudelaire, mehrmals Tolstoi[47] und Goethe, wobei Kenntnis des Verhältnisses von Leben und Dichtung im Werk des Klassikers sowie des­sen gemeinsame Bewertung unterstellt wird. Er nennt die Upanishaden, das «Bhagavadgita, in der Unterredung zwischen Krischna und Arjuna»[48]. We­ber bewegt sich von Feld zu Feld. Die Ordnung seiner Reden folgt eigenen Regeln. Wo er dabei zu eigenen Beschreibungen der Welterfahrung fort­schreitet, geht er über die Grenze aller Wissenschaft hinaus. Der moderne Mensch, schreibt er zum Beispiel: «der kann “lebensmüde” werden, aber nicht: lebensgesättigt. Denn er erhascht von dem, was das Leben des Geis­tes stets neu gebiert, ja nur den winzigsten Teil, und immer nur etwas Vor­läufiges, nichts Endgültiges»[49]. Für solche und andere inzwischen berühmt gewordene Sätze wie «Denn nichts ist für den Menschen als Menschen et­was wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann»[50], wird keine Gewähr gegeben. Hier spricht, schreibt einer in eigenen Worten, wie er unser Leben versteht. Sein Schreiben hat an solchen Stellen keine argumentative, son­dern nur eine darstellende Funktion. Wort wie «erhaschen» sind offenbar sorgfältig gewählt und dramatisch ist das Bild, welches Weber gegen Ende von Wissenschaft als Beruf entwirft. Platon darin nicht unähnlich (man denke an den Mythos von Er oder die Erzählung Diotimas im Gastmahl) beruft er sich hier auf alte Geschichten, die es so gar nicht gibt. «Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen wieder ihren ewigen Kampf»[51]. Weder von den griechischen noch von den germa­nischen Göttern wird ja in der Mythologie erzählt, sie hätten in ewigem Kampf untereinander gestanden. Zank und Streit ja, Eifersucht, aber kein Kampf. Der einzige große Kampf der Götter war der große Krieg gegen die Titanen in Hellas, gegen die Wanen im Norden Europas und gegen die Dämonen in Indien. Dabei handelt es sich aber um so etwas wie einen Klas­senkampf und er endet, als die Götter endgültig die Macht übernehmen. Als Weber diese «alten vielen Götter» als in «ewigem Kampf» begriffen dar­stellt, hat er das antike Material umerzählt[52].

Weber befindet sich, nachdem er die zeitgenössische Philosophie zur Fachwissenschaft rein spezialistischen Interesses erklärt hat, in einer Pla­tons vergleichbaren Position. Es gibt keinen vordefinierten Raum noch si­chere Rückbezüge mehr für das Denken jenseits der Einzelwissenschaften. Dieses Denken ist es, was Weber neu, auf eigene Weise gründet. Er tut es in Essays, in Aufsätzen, die kaum Fachbegrifflichkeit, sondern gewählte Worte verwenden für etwas, was jenseits der Disziplinen, irgendwo zwi­schen Wissenschaft und Dichtung anzusiedeln ist. Ihre Geltung beziehen diese Essays aus einer Erzählung, in welcher die Erfahrung aller – wie zuvor bei der typisierenden Erzählung der Liebeserfahrung – unserer Zeit Form gewinnt.

Musil erzählt

Was im Falle Webers zu einer Art ganz persönlicher Aufnahme antiker Philosophie («Dämon») und Umerzählung führt, die aber nicht mehr durch Autoritäten (etwa literarisch aufgearbeitete wie Platons Diotima) garantiert wird, sondern nur noch in altbekannten Bildern neu erzählt, das erscheint im Falle Musils hingegen als Verarbeitung namenloser, nicht zu identifizie­render Vorläufer. Der Essay nimmt sein Material auch von weither, er reißt es in seinem Lauf der immer auch subjektiven Darstellung mit – und kommt so über deren Grenzen hinaus.

Ob Musil im Mann ohne Eigenschaften verschiedene – und welche? Buber? Persische Denker? – Mystiker und, direkt oder indirekt, neuplatonisches Gedankengut aufnehme, sei hier nicht die Frage, sondern: wie er dies tue. Der Mann ohne Eigenschaften ist ja kein philosophisches Thesenwerk, welches größere Gedankenstücke anderer Denker einfach aufnehmen könnte. Nur in der Entwicklung der Hauptpersonen steckt der Antrieb des Erzählens hier. Damit zeichnet sich Musils Roman gerade vor dem ja vergleichbaren Monsieur Teste Valérys aus[53]. Denn die Hauptfigur wird vom Franzosen zwar in mehreren Anläufen, aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt, aber sie steht schon so da, wie sie ist und dann stirbt. Der Leser kann sich Leben und Denken des vorerzählten, dieses äußerst selbstbeherrschten und ge­dankenvollen Herrn zum Vorbild nehmen oder untersuchen. Auch ohne nähere Untersuchung wird er, gleichsam an der Rück- oder Unterseite eines sehr rationalen Denkens, auf mystische Elemente stoßen[54]. Aber diese lie­gen in der Gedankenlogik eines gläsernen Denkens. Denn dem ist alles Licht oder alles dunkel, also nichts.

Die mystischen Elemente brauchen im Monsieur Teste nicht innerhalb ei­ner Erzählung eingeführt zu werden. Alles ist immer schon da. Nicht so im Mann ohne Eigenschaften. Der Roman hat zwei Teile, welche von unterschied­lichen Gesprächspartnern nicht nur, sondern auch von zwei verschiedenen Denkweisen bestimmt sind. Die Frage wäre dann: Wie wird ein Ulrich, wel­cher dem Essayismus anhängt, zu dem, der sich im Blütenschnee des Som­mergartens Gesprächen über das tausendjährige Reich hingibt?

Zunächst treten Fragen auf, welche mit dem Entwurf des Essayismus zu tun haben. Es ist nicht Ulrich selbst, der sie stellt. Die Gedankenbewegung ist auf drei Figuren verteilt: Ulrich, Walter und Clarisse. Zunächst weist Walter auf eine Schwäche von Ulrichs Ideen hin: Er wendet ein, «dass man sich dein Leben nach der Art der Kunst, oder wie du es nennen willst, über­haupt nicht vorstellen kann» und dass es jedenfalls «nichts anderes als das Ende der Kunst!» bedeute. «Es wirkte. Sogar Ulrich brauchte eine Weile, bis er sich gefasst hatte»[55]. Clarisse geht es hingegen weniger um mögliche Auswirkungen. Sie drängt Ulrich zu einer Folgerung aus seinem Denken, welches in Richtung mystischer Tradition führen müsste. Das Bild des Lo­ches tritt hier erneut auf[56].

“Hast du nicht selbst einmal gesagt, dass der Zustand, in dem wir le­ben, Risse hat, aus denen sozusagen ein unmöglicher Zustand hervor­schaut. […] Ich mache Musik oder male; das ist aber so, wie wenn ich eine spanische Wand vor ein Loch in der Mauer stellen würde […] und du hast gesagt, daß man zu diesem Loch aus Trägheit und Ge­wohnheit nicht hinsieht oder sich mit bösen Dingen davon ablenkt. Nun, das Weitere ist einfach: durch dieses Loch muss man hinaus! Und ich kann das! Ich habe Tage, wo ich aus mir hinausschlüpfen kann”.[57]

Was das heiße?

Dann steht man – wie soll ich das sagen? – wie geschält zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist. Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammenge­wachsener Zwilling verbunden. Es ist ein unerhört großartiger Zu­stand; alles geht ins Musikalische und Farbige und Rhythmische.

Das, fügt sie hinzu, habe er gemeint. Von mehreren Personen wird hier die wahre Intention der Hauptperson herausgearbeitet. Wie von dieser Aus­führung angestoßen, hat Ulrich, als er allein ist, eine neue Empfindung, wel­cher dem sehr ähnlich ist, was Clarisse kurz zuvor beschrieben hat. Es

geschah um ihn wunderliches Gefühl. In allen Zimmern brannten noch die Lampen, die Clarisse, als sie allein war, überall angezündet hatte, und der überfluss des Lichts strömte zwischen den Wänden und Dingen hin und her, den dazwischen liegenden Raum mit einem fast lebenden Etwas ausfüllend. Und wahrscheinlich war es die in jeder schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtge­fühl seines Körpers veränderte, denn dieses immer vorhandene, wenn auch unbeachtete Selbstgefühl des Körpers, ohnehin ungenau be­grenzt, ging in einen weicheren und weiteren Zustand über.

Es konnte, da ja

kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat […]. nur die Bezie­hung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser Verände­rung unterworfen war, und von dieser Beziehung wieder nicht der ge­genständliche Teil, noch Sinne und Verstand, die ihm nüchtern ent­sprechen, sondern es schien sich ein tief wie Grundwasser ausgebrei­tetes Gefühl zu ändern, worauf diese Pfeiler des sachlichen Wahrneh­mens und Denkens sonst ruhten.[58]

Ulrich schläft ein. Damit endet das erste Buch. Dieses letzte Kapitel heißt, eins zwei drei: «Die Umkehrung». Im zweiten Buch tritt der beschrie­bene Zustand innerhalb eines Tages wieder auf. Etwas geschieht mit Ulrich, auch wenn er sich bemüht, dies durch Rückgang auf einen wissenschaftli­chen Sehepunkt zu normalisieren

“Wir alle sind ja Organismen”, dachte er beschwichtigt, “die sich in einer unfreundlichen Welt mit aller Kraft und Begierde gegeneinander durchsetzen müssen. Aber mit seinen Feinden und Opfern zusammen ist jeder doch auch Teilchen und Kind dieser Welt; ist vielleicht gar nicht so losgelöst von ihnen und selbständig, wie er sich das einbil­det”. Und das vorausgesetzt, schien es ihm durchaus nicht unver­ständlich zu sein, daß zuweilen eine Ahnung von Einheit und Liebe aus der Welt aufsteigt.

Die Erfahrung der großen Einheit hätte demnach eine einsichtige Grundlage und – das ist dann unvermeidlich – müsste jedermann zugäng­lich sein.

Auch die weitere Erfahrung Ulrichs ist von größter Allgemeinheit. Es geht um das Wandern in einer fremden Stadt. «Denn jedesmal, wenn ihn seine Reisen in Städte führten, mit denen er durch keinerlei Geschäft ver­knüpft war, liebte er sehr das daraus entstehende besondere Gefühl der Einsamkeit». Gänzlich unpersönlich geht es in dieser Erzählung zu: «Der Blick», «dieses Gehn», «das Erleben» sind die Subjekte hier. Der Erzähler selbst tritt nur als «einer» auf, dem etwas geschehen könne, nämlich dass in ihm «das Gefühl» geweckt werde, «als gehöre der Körper nicht mehr einer Welt an, wo das sinnliche Ich in kleine Nervenstränge und -gefäße einge­schlossen ist, sondern einer von unwacher Süße durchfluteten». Dies erklärt er seiner Schwester als «Folge eines Zustands ohne Ziel und Ehrgeiz war oder die Folge herabgeminderter Persönlichkeitseinbildung, vielleicht aber auch nichts anderes als der “Urmythos der Götter”, jenes “Doppelgesicht der Natur”, jenes “gebende” und “nehmende Sehen”, wohinter er nachge­rade drein war wie ein Jäger»[59]. Die allgemeinste Erzählung bekommt eine dem Alltagsdenken einleuchtende und eine zweite, aus dem Alltag hinaus­weisende Deutung. Es scheint alles offen, und doch ist in der Reihung sol­cher Erlebnisse eben der «Jäger» zu sehen.

Solche Steigerungserfahrungen rufen allerdings Agathes Spott hervor. Von religiösen Deutungen will sie, die ehemalige Schwesternschülerin, nichts wissen: «“Früher hat man das den unerforschlichen Ratschlüssen Gottes zugeschrieben” antwortete Agathe stirnrunzelnd und hatte den Ton eines, der von Selbsterlebtem spricht, und nicht gerade respektvoll». Sie ver­sucht auch, einzelne Äußerungen Ulrichs nachzuvollziehen, hat dabei aber Schwierigkeiten.

Wie hatte Ulrich gesagt? […] “Es scheint, dass eigentlich nur Men­schen, die nicht viel Gutes tun, imstande sind, sich ihre ganze Güte zu bewahren”! Aber in dem Augenblick, wo sie diesen Satz hatte, ein­leuchtend so, wie ihn Ulrich gesprochen haben musste, kam er ihr durchaus unsinnig vor.[60]

Andere Mittel sind nötig, der anderen Seite von Bewusstseinszuständen eine überzeugende Form zu geben. Ulrich studiert die Schriften der Mysti­ker, er unterrichtet sich «über die Wege des heiligen Lebens»[61]. Er selbst findet nun dichterische Worte für das, was er meint:

es ist dem ähnlich, dass man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles, und jenseits am Ufer scheinen die Dinge nicht auf der Erde zu stehn, sondern schweben in der Luft mit einer zarten Überdeutlichkeit, die beinahe schmerzt und verwirrt. Es ist ebensowohl eine Steigerung wie ein Verlieren in diesem Eindruck. Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. Du stehst hüben und die Welt drüben, überich­haft und übergegenständlich, aber beide fast schmerzhaft deutlich, und was die sonst Vermengten trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein Aus- und Einschwin­gen. Ihr schwimmt wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft, aber es ist kein Ufer da und kein Ast und nichts als dieses Schwimmen!

Die Schwester scheint eher überrascht als überzeugt: «Ulrich dichtete wohl» – «Agathe sah ihn erstaunt an, aber auch mit unruhiger Freude». Auf ihre Bitte um Erläuterung antwortet er zunächst mit verschiedenen Zitaten aus den Schriften «der Heiligen». Beide finden eigene Erfahrung in diesen Worten wieder. Ulrich meint, es handele sich um etwas, was alle kännten: für die

Mehrheit unseres Volkes […] sind Einsamkeit, Blümelein und rau­schende Wässerchen der Inbegriff menschlicher Erhebung: Und auch noch in diesem Edelochsentum des ungekochten Naturgenusses liegt die missverstandene letzte Auswirkung eines geheimnisvollen zweiten Lebens, und alles in allem muß es dieses also doch wohl geben oder gegeben haben!

Die Frage bleibt, wie das doch von allen Gefühlte auszudrücken sei.

Die «Heiligen» «sprechen von einem überflutenden Glanz. Von einer unendlichen Weite, einem unendlichen Lichtreichtum. Von einer schwe­benden “Einheit” aller Dinge und Seelenkräfte»[62]. Hier führt nun Agathe Ulrichs vorhergegangene Erzählung über seine Stadterfahrung ein. Liegt also in den Worten «der Heiligen» die Deutung dessen, was Ulrich erlebt hatte? Was «diese Frommen von den Abenteuern ihrer Seele erzählen», er­klärt Ulrich, «das ist zuweilen mit der Kraft und rücksichtslosen Überzeu­gung einer Stendhalschen Untersuchung geschrieben». Doch seien sie dann nicht annehmbar, wenn sie einfach in ihrem Gottesglauben Halt suchten. «Denn von diesem Augenblick an erzählen sie uns natürlich nicht mehr ihre schwer beschreiblichen Wahrnehmungen, in denen es keine Haupt- und keine Tätigkeitsworte gibt, sondern sprechen in Sätzen mit Subjekt und Ob­jekt, weil sie an ihre Seele und an Gott wie an zwei Türpfosten glauben». Was also fehle, sei Genauigkeit und gedankliche Strenge. «Es ist ewig schade, daß keine exakten Forscher Gesichte haben!». Doch der einzige «exakte Forscher», der bis hier genannt wurde, ist Stendhal.

Wiederum führt Agathe die Erfahrung ihrer Schulerziehung gegen alles Reden von zweiten Welten ins Feld. Ulrich schließt: «Glaube darf nicht eine Stunde alt sein! Das ist es!». Wie sollte aber dergleichen mitteilbar sein? Si-cher nicht in abstrakten Abhandlungen. Nur der Erzähler oder der Dichter könnte solche Augenblicke des wahrhaftigen Glaubens darstellen. Was er schriebe, wäre dann ein Muster für alle anderen, die, anderwärts lebend, in einem beliebigen Moment Vergleichbares wahrnähmen. Dieses Erleben sei universell, meint Ulrich: «auf die Bücher weisend, fuhr er nach einer kleinen Weile fort: “Das sind christliche, jüdische, indische und chinesische Zeug­nisse; zwischen einzelnen von ihnen liegt mehr als ein Jahrtausend. Trotz­dem erkennt man in allen den gleichen vom gewöhnlichen abweichenden, aber in sich einheitlichen Aufbau der inneren Bewegung”»[63]. In der Gegen­wart sei dergleichen in der Feier der Intuition und einer aus dem Alltag aus­gegrenzten «Ferialstimmung» zu sehen.

So wird ein an Nietzsches Zarathustra gemahnendes Glaubensbekennt­nis Ulrichs möglich.

Ich glaube, dass alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind. Ich glaube, dass keine richtig sind. Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte. Ich glaube, dass nichts zu Ende ist. Ich glaube, dass nichts im Gleichgewicht steht, sondern dass alles sich aneinander erst heben möchte. Das glaube ich; das ist mit mir geboren worden oder ich mit ihm.[64]

Was er glaubt, ist offenbar unmittelbar der Erfahrung des Anderen ent­nommen. Der Hinweis auf Nietzsches Seiltänzer fehlt nicht[65]. Doch dringt Ulrich – dies der Unterscheid zu Nietzsche – nicht zu einer wirklichen For­derung oder einem Ideal vor. «Ich bin, wie es scheint, ohne mein Zutun mit einer anderen Moral geboren worden», sagt er, aber nicht, was diese «andere Moral» sei. Es dürfte erlaubt sein, zu schließen, es sei keine:

man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, et­was sei gut oder schön, es wird mir gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht. Ob ich davon zum Leben geweckt werde oder nicht. Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauder in meiner Fingerspitze. Aber ich kann auch nichts beweisen.

Und diesen Gedanken zu folgen, habe keinen Sinn. Es ende «in Däm­merung. In Nebel und Quatsch. In gliederlose Langeweile». Alles, was ginge, wäre demnach das Bekenntnis zu einem anderen Erleben, welches nur in der Erzählung lebendig erhalten werden kann. Das geschieht min­destens zweimal ausführlich im weiteren Verlauf des nachgelassenen Ro­mans. Einmal geht es um die Weltsicht des Kindes im Vergleich zu der des Erwachsenen. Zum Erleben des Kindes

«möchte ich sagen, dass damals Innen und Außen kaum noch getrennt waren. Wenn ich auf etwas zu kroch, kam es auf Flügeln zu mir her; und wenn sich etwas ereignete, das uns wichtig war, so wurden davon nicht etwa bloß wir erregt, sondern die Dinge selbst begannen zu ko­chen. Ich will nicht behaupten, daß wir dabei glücklicher gewesen sind als später. Wir besaßen uns ja noch nicht selbst; eigentlich waren wir überhaupt noch nicht, unsere persönlichen Zustände waren noch nicht deutlich von denen der Welt abgeschieden».[66]

Das habe er als Erwachsener verloren. «Zur Entschädigung haben wir es allerdings als Erwachsene dahin gebracht, bei jeder Gelegenheit denken zu können “Ich bin”, falls uns das Spaß macht» Ulrich schließt mit der Be­merkung, «daß ich die Liebe zu dieser Art Ichsein und dieser Art Welt ver­loren habe».

Dieser dem Anspruch nach von allen nachvollziehbare Bemerkung eines Verlusts wird doch wieder ein tatsächliches Einheitserleben entgegenge­stellt. «Atemzüge eines Sommertages» ist das Kapitel überschrieben,

Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, auch Lebens- und Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen still­zustehen, aus der Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen. “Da ward mir das Herz aus der Brust genommen”, hat ein Mystiker gesagt: Agathe erinnerte sich des­sen.[67]

Denn jetzt werden Zitate aus den Büchern «der Heiligen» in die Erzäh­lung des Erlebens eingewebt. Über diese Art der Beweisführung kommt die Erzählung nicht hinaus. Es ist ja auch keine andere zu haben.

Ulrich entwirft zwar ein Programm für sich selbst, welches den Rückzug aus gesellschaftlichem Umgang bedeute, gar ein Programm für die Mensch­heit, «einen Jahrzehnt- Jahrhundert- oder Jahrtausendplan»[68], aber die Grund-lage bildet immer solche Darstellung eigenen Erlebens. Es kann mit der Geschwisterliebe verbunden sein oder nicht, es kann mehr oder weniger erfolgreich auf die Moral ausgeweitet werden – das ist die Leitfrage der Ge­schichte einer Testamentfälschung –[69], es bleibt essayistisch, also argumen­tativ erweiterte Erzählkunst, welche hier ein anderes Erleben zeigt und for­dert. Nicht, dass das Erzählen essayistisch geworden sei, sollte überraschen, sondern die Tatsache, dass das Denken erzählerisch wird, weil es nur so Zugang zu etwas bekommen kann, was keine begriffliche Festlegung und keine Regelhaftigkeit verträgt. Nicht das Denken siegt über das Erzählen, sondern umgekehrt. Letzterem ist daher auch jeder Rückbezug auf geistige Traditionen untergeordnet. Tritt das Wort «Genie» auf, wird ein Notizzettel mit den wichtigsten Äußerungen Goethes, Wielands, Kants, Hölderlins und Schleiermachers hervorgezogen. Was die Denker gesagt haben, hat nur Wert in der Erzählung[70].

Die wichtigsten unter diesen sind keine Modernen. Hier werden nicht Locke oder Hobbes oder Mandeville zitiert. Kant wird außer in der Genie-Liste von Graf Leinsdorf genannt und von Arnheim, welcher auch Fichte kennt, von Ulrich nur im Vorbeigehen im «Abriss über Gefühlspsycholo­gie», auch als Anerkenner Swedenborgs neben Goethe[71]. Hegel tritt in Do­kor Schwungs Gedanken auf. Hinweise auf Platon hingegen finden sich an wichtigen Stellen. Der Hermaphroditismus wird unter Verweis auf Plato erwähnt[72]. Unschwer erkennt man in Ulrichs Gesprächen mit General Stumm das sokratische Modell wieder[73]. Ironisch platonisch mutet auch die Ausführung über das «Gabeligsein» an[74]. Plotin hingegen wird namentlich nur einmal erwähnt[75], aber die ganze Ausrichtung des Erzählstroms an möglichen Erfahrungen des großen, des anderen Einen sind eindeutig neu­platonischen Musters[76].

Musil und Weber schreiben ohne vorgegebene Regeln, ohne auf die be­stätigende Kraft von abgesteckten und eingerichteten Bereichen, wie es die Wissenschaften sind, bauen zu können. Also nehmen sie Klassisches auf. Dem Essay gemäß nicht die Klassiker welterklärender Disziplinen, der Bi­ologie oder der Psychologie oder der Politikwissenschaft, sondern solche, welche sich dem Einzelnen und in diesem der Welt überhaupt widmen. Diese Denker aus alter Zeit sind nicht mehr verbindlich. Verbindlichkeit dessen, was sie sagen, beziehen Musil und Weber aus dem Zwang der Re­flexion, vor allem aber aus der Kraft der Erzählung.

Weber stößt das Plotinsche Erbe zurück, gibt das vertrauensvolle Erzäh­len seiner Vorgänger auf und findet zum Essay. In solchen nimmt er dann Platos Denken auf. Von Plotin zu Plato führt sein Weg. Der Mann ohne Ei­genschaften führt zu Plotinischem Denken. In diesem Reigen spricht sich das Ungenügen einer Zeit am eigenen Subjektivismus wie an dem aus, was die moderne Philosophie hervorgebracht hat. In den folgenden Jahren werden die prophetischen Töne Blochs und Lukàcs’ – aber auch Bäumlers und sei­ner Freunde – zeigen, worauf der Essayismus hinausgehen kann.



[1] Dafür typisch: Birgit Nübel: Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin – New York (DeGruyter) 2006; Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann (Hg.): Der Essay­ismus um 1900, Heidelberg (Winter) 2006.

[2] Vgl. etwa Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, München (Beck) 2004, S. 13-19.

[3] Vgl. etwa Ulrich J. Schneider: Michel Foucault. Darmstadt: (Wissenschftliche Buchge­sellschaft (Primus-Verlag)) 2004, S. 93.

[4] Georg von Lukàcs: Über Form und Wesen des Essays, in: ders.: Die Seele und die Formen, Berlin (Fleischer) 1911, S. 1-39; Theodor W. Adorno: Der Essay als Form, in: ders.: Noten zur Literatur; Frankfurt 1981, S. 9-33.

[5] Vgl. etwa so allerschließende Werke wie: Wilhelm Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntnis und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. Zwei Bände, Stuttgart (Enke) 1880 und 1883; Albert Schäffle: Bau und Leben des socialen Kör­pers, vier Bände, Tübingen 1875-1878.

[6] Vgl. Wilhelm von Humboldt: Die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Werke I, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesell­schaft) 2010, S. 585-606.

[7] Das zeigt sich ausdrücklich nur in den wenigen theoretischen Schriften dieser Histo­riker, etwa in Wilhelm Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides mit einer Ein­leitung zur Ästhetik der historischen Kunst überhaupt, Göttingen (Vandenhoeck) 1842. Vgl. auch Daniel Fulda: Wissenschaft als Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860. Berlin (de Gruyter) 1996.

[8] Vgl. dazu: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen (Sie­beck) 1922, demnächst auch in der Max Weber Gesamtausgabe. Dazu: Achim Seiffarth: Die Sprache Max Webers. Eine soziologische Untersuchung, Marburg (tectum) 2016, vor allem S. 185-195.

[9] Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geit des Kapitalismus, hgg. v. Dirk Kaesler, (Beck) 2006, S. 205.

[10] Gemeint ist Kapitel II, 71. Kritik etwa in: Marie-Louise Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters, München (List)1972, S. 283f. Oder: Johannes Hösle: Wirklichkeit und Utopie in Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften”, in: Karl Dinklage (Hg.): Robert Musil. Studien zu seinem Werk, Reinbek (Rowohlt) 1970, S. 82-91, S. 86.

[11] Rhetorische Mittel sind etwa Parallelismen wie «niemand wusste» – «niemand ver­mochte», wiederholte Gegenüberstellungen: «es war» – «aber», Anführung von allgemein Beobachtbarem (Ethos), wie «wovon man noch heute die Spuren in den Straßen und Mu­seen sehen kann»), aphoristische Zuspitzungen: «dass alle Leute, die daran beteiligt sind, die Erfolge eines vorangegangenen guten Abschnitts zu zerstören das Gefühl haben, sie zu verbessern».

[12] GW1, S. 249.

[13] GW1, S. 253.

[14] Vgl. dazu Daniel Fulda: Wissenschaft als Kunst, a.a.O.

[15] Max Weber: Die protestantische Ethik, a.a.O. S. 52.

[16] Ebda. S. 97.

[17] Ebda. S. 281f.

[18] Max Weber Gesamtausgabe (MWG), Tübingen (Mohr-Siebeck) 1984ff., I/10 S. 301f.

[19] Vgl. etwa «Der Glückspilz von Vaidika», MWG I/20 S. 525 Anm.198.

[20] Vgl. dazu Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (Gesammelte Schriften I.1, S. 202-430), Frankfurt (Suhrkamp) 1991, S. 369.

[21] MWG I/19 S. 519.

[22] MWG I/19 S. 506.

[23] «Cette sainte prostitution de l’âme qui se donne tout entière, poésie et charité, à l’im­prévu qui se montre, à l’inconnu qui passe». (Les Foules, in: Le Spleen de Paris; Charles Baudelaire: Œuvres complètes, Paris (Gallimard) 1975 S. 29). Da geht es um die große Liebe des Flaneurs und «prostitution» ist kaum negativ zu verstehen, während in Webers allein stehendem Zitat der einfache Kontrast von beanspruchter Heiligkeit tatsächlicher Unmoral («Prostitution» nicht im Werksinne Baudelaires, sondern im Alltagsverständnis) hervortritt.

[24] MWG I/19 S. 492.

[25] MWG I/19 S. 505.

[26] Marianna Alcoforado: Portugiesische Briefe (übers. v. Rainer Maria Rilke), Leipzig (Insel) 1913.

[27] MWG I/19 S. 507.

[28] MWG I/19 S. 507.

[29] MWG II/5 S. 339, II/9 S. 395. Vgl. dazu Hajduck S. 6 Anm. 13 und Peter Sprengel: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin (ESV) 1993, S. 235.

[30] Vgl. dazu auch Rudolf Kassner: Der Künstler und der Platoniker. Aus einer Rede über den «Kritiker», in: Die Mystik, der Künstler und das Leben, Leipzig (Diederichs) 1900, S.1-13, S.1.

[31] Im Einzelnen: Hasard – Zufall – Zufälligkeiten – Zufall – Hazard – «Hazard» – «reine Äußerlichkeiten» – «absoluter Zufall» – wilder Hasard – Hasard, MWG I/17 S. 75 – 83.

[32] Da ist es auffällig, dass Weber den Rausch des einmal in Klammern so erläutert: «im Sinne von Platons “Mania”». Bei Platon spricht Sokrates im Phaidros vom Rausch. Er verteidigt den Rausch gegen eine allgemeine Nüchternheitsforderung. Die aufgezählten Beipiele sind drei: die Prophetinnen und Weissager in Delphi und anderswo, dem in der Not zu den Göttern Betenden sowie die Dichter. Sie alle erführen, so Sokrates, die er­leuchtende Kraft des Rausches. Von Denkern und Forschern ist dabei naturgemäß die Rede, denn für Platon ist die Wahrheitssuche etwas ganz anderes. Weber überträgt hinge­gen den Rausch des Künstlers also auf den Wissenschaftler – vielleicht unterscheidet er sie nicht grundsätzlich.

[33] MWG I/17 S. 80.

[34] Im ersten Text taucht das Wort viermal auf, im zweiten zehnmal, etwa MWG I/17 S. 229.

[35] MWG I/17 S. 229. Vgl. Platon, Werke II, Bd. 2 (übersetzt von Friedrich Schleier­macher), Reinbek (rororo) 2004, 505 A/B.

[36] Zweimal im ersten, viermal (davon einmal m christlichen Sinne als Teufel: MWG /17 S. 241).Etwa: MWG I/17 S. 111 – Wolfgang Schluchter sieht in dieser letzten Erwäh­nung einen Bezug auf Goethe. So könnte er freilich nicht erklären, warum Weber hier von «Fäden» spricht: «wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fä­den hält». Denn die kommen in Goethes «orphischen Urworten» nicht vor, sondern nur bei Platon: Der Dämon «führte die Seele zu Klotho, dicht an ihre Hand und die kreisende Spindel». Wolfgang Schluchter: Nachwort zu: Max Weber: Wissenschaft als Beruf/ Politik als Beruf, Studienausgabe, Tübingen (Mohr-Siebeck) 1994, S. 91-116, S. 115. Platon: Der Staat, S. 466 (620e). Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Bd.1, S. 359.

[37] MWG I/17 S. 252.

[38] MWG I/17 S. 79: «Nun ist es aber eine Tatsache, dass der Umstand, dass die Stu­denten einem Lehrer zuströmen, in weitgehendstem Maße von reinen Äußerlichkeiten be­stimmt ist: Temperament, sogar Stimmfall, – in einem Grade, wie man es nicht für möglich halten sollte». In gewisser Weise auch: «In einer Rede über Politik als Beruf werden Sie unwillkürlich eine Stellungnahme zu aktuellen Tagesfragen erwarten.» MWG I/17 S. 157.

[39] Platons Einfluss, mindestens als «Bildspender», wird in «Wissenschaft als Beruf» bis zum Schlusssatz deutlich: «wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält» (MWG I/ 17 S. 111). Webers Kenntnis von Platons Staat scheint gründlich gewesen zu sein, geht jedenfalls über die seines Kritikers hinaus, wenn er in sei­nem Konfuzianismus-Aufsatz (MWG I/19 S. 356) auf die grundlegende Rolle der Arbeits­teilung im Modell Platons hinweist und David J. Calcraft darin eine Fehldeutung sieht (In­terweaving Past and Present, Farnham und Burlington (Ashgate) 2008 S. 129). Weber be­zieht sich offensichtlich auf 369d-370c (Staat, S. 140f.).

[40] Platon: Der Staat, S. 182 ff., S. 57ff. (401b- 404a, 536e-540a).

[41] Zu diesem Zusammenhang vgl. Paul Tillich: Der Mut zum Sein, Berlin-New York (De Gruyter) 1991, S. 14ff.

[42] MWG I/17 S. 227.

[43] MWG I/17 S. 248.

[44] Platon: Staat S. 237 (442c), S. 315 (503c).

[45] Gemeint ist John Stuart, nicht «der ältere», der Vater James Mill.

[46] Weber nennt das 53. Kapitel des Jesajasbuches und den 21. Psalm. Solche Bibel­kenntnis ist vermutlich typisch protestantisch.

[47] Zentral etwa MWG I/17 S. 88.

[48] MWG I/17 S. 243.

[49] MWG I/17 S. 88.

[50] MWG I/17 S. 81.

[51] MWG I/17 S. 101.

[52] Allenfalls ist bei Nietzsche der ewige Konflikt von Apollo und Dionysos zu finden. (Die Geburt der Tragödie, Werke, Hamburg (dtv) 2009, Bd.1, S. 9-156). Ein Kampf zwi­schen Klarheit gegen Rausch würde ja in Webers Konfliktmodell passen, aber welches Entscheidungsproblem täte das nicht?

[53] Paul Valéry: Monsieur Teste, Paris (Gallimard) 1946.

[54] So im «Gebet des Herrn Teste»: «Donnez, ô Noir, – donnez la suprême pensée”», S. 59. Und in den Worten des Abbés auch gleich die Kritik daran finden: «Mystique sans Dieu! … Lumineux non-sens! … Voilà qui est bientôt dit! … Fausse clarté … Un mystique sans Dieu, Madame, mais il n’est point de mouvement concevable qui n’ait sa direction et son sens, et qui n’aille enfin quelque part! … Mystique sans Dieu! … Pourquoi pas un Hippogriffe, un Centaure!» Teste S. 51.

[55] GW2, S. 367.

[56] Vgl. «das Loch, welches man Seele nennt» GW1, S. 185ff.

[57] GW2, S. 659.

[58] GW2, S. 664.

[59] GW3, S. 723.

[60] GW3, S. 729.

[61] GW3, S. 750f.

[62] GW3, S. 753.

[63] GW3, S. 766.

[64] GW3, S. 769f.

[65] «Die Moral, die uns überliefert wurde, ist so, als ob man uns auf ein schwankendes Seil hinausschickte, das über einen Abgrund gespannt ist”, sagte er “und uns keinen ande­ren Rat mitgäbe als den: Halte dich recht steif!» (GW3, S. 766).

[66] GW3, S. 902.

[67] GW4, S. 1232.

[68] GW3, S. 826.

[69] Ausführlich etwa GW3 S. 792-802.

[70] GW4, S. 1258.

[71] GW4, S. 1203.

[72] GW3, S. 903.

[73] GW4, S. 1259-1264, Zwischenlösung mit «Ich weiß es wirklich nicht».

[74] GW4, S. 1224f.

[75] GW4, S. 1255.

[76] Vgl Stefan Hajduk: Spuren der Antike bei Robert Musil. Zum «Mann ohne Eigen­schaften» im transhistorischen Kontext griechischer Philosophie, in: Studia theodisca, v. 22 (2015) S. 5-32, http://riviste.unimi.it/index.php/StudiaTheodisca/article/view/6472 (22.8.2016). – Die Erfahrung des Einen im «anderen Zustand», das ist neuplatonisches Erbe, das geht auf Plotin zurück. Man braucht allerdings keine 1600 Jahre zurückzugehen, um auf diesen Denker zu stoßen. Dessen Denken hatte gleichermaßen Goethes «Meta­morphose der Pflanzen» wie Rankes und den Historismus seiner Gefolgsleute geprägt. Die Ahnung des unausdrückbaren Einen, auf das doch alles in jeder Äußerung verweist, hat von Ranke bis Mommsen die deutschsprachige Geschichtsschreibung durchweht.