Warum wollte Kafka nicht, dass Gregor Samsa als Insekt gezeichnet würde (Die Verwandlung), und warum will sein Trapezkünstler nur noch auf zwei Trapezen turnen (Erstes Leid)? / Perché Kafka non desiderava che Gregor Samsa venisse rappresentato graficamente come un insetto (La metamorfosi) e perché il suo trapezista vuole esercitarsi unicamente su due trapezi (Primo dolore)?

Autori

  • Karlheinz Fingerhut

DOI:

https://doi.org/10.13130/mde.v0i4.2.9771

Abstract

[DE] Unter Berufung auf Schopenhauers Dictum, dass alles, was wir von der Welt wissen, unsere subjektive Vorstellung sei, behauptet Max Brod, dass das Schöne und das Neue identisch seien. Er bezieht sich dabei auf eine Theorie der „Apperzeption“, nach der Neues als Umstrukturierung von Bekanntem ästhetisch wirke. Kafka kritisiert das, besonders den Begriff Apperzeption, sieht aber durchaus, dass neue und überraschende Wahrnehmungen ästhetisches Bewusstsein schaffen könnten. In seinen eigenen Erzählungen versucht er, überraschend Neues durch die Umgestaltung geläufiger Vorstellungen zu schaffen. Deshalb möchte er auch nicht, dass das Innovative seiner Erzählung Die Verwandlung durch eine Visualisierung des Verwandelten als Ungeziefer überlagert würde. Er unternimmt es immer wieder, geläufige Vorstellungen, wie sie in Märchen oder gymnasial bekannten griechischen Sagen vorliegen, durch Umerzählungen zur Grundlage ästhetisch anspruchsvoller, mehrdeutiger Texte zu machen. Dabei sprechen seine Texte in versteckter Weise immer auch von ihm selbst und seinem Schreiben. Er setzt sich auf diese Weise auch immer neu mit dem Freund Max Brod auseinander. Das zeigt sich einmal in dem Entwurf seiner Erzählung Das Urteil als Gegenentwurf zu Brods Roman Arnold Beer, das zeigt sich in den zahlreichen Reiter – und Turnerfiguren und durchzieht sein Früh – wie Spätwerk.

[EN] 

Max Brod, in reference to Schopenhauer’s dictum that everything we know about the world represents our subjective concepts, maintains that the Beautiful and the Innovative are identical. In doing so he takes recourse to a theory of ‘apperception’ according to which the artistic redesign of known aspects has an aesthetic effect. Kafka criticizes this theory, in particular the concept of apperception; he concedes, however, that new and surprising perceptions can indeed bring into being a new aesthetic consciousness. In his own narratives, Kafka uses the redesign of current perceptions to try and create surprisingly new aspects. In his narrative Die Verwandlung he therefore takes exception to the possibility of the innovative aspect being superimposed by the visual representation of the metamorphosis as vermin. Time and again Kafka takes current perceptions, as they can be found in fairy-tales or in well-known Greek mythology, and attempts to make them into the basis of aesthetically ambiguous texts through the method of re-narration. These texts, in a covert way, always refer back to the author himself and his writing. Thus he constantly takes issue with his friend Max Brod. All this becomes obvious in the draft of his narrative Das Urteil as counter-project to Brod’s novel Arnold Beer, as well as in the numerous characters of riders and gymnasts, pervading his early and also his late oeuvre.

Keywords: Aesthetic experiences; Innovation; Mental model – text model; Artistic design – redesign; Autoreferentiality of literary texts


Riferimenti bibliografici

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Pubblicato

2017-12-26